Es war einmal …
Mit diesen Worten beginnen die meisten Märchen und sie sind ein guter Anfang für meine Geschichte.
Es war einmal vor gut zwanzig Jahren ein ziemlich schüchterner Junge, der gerade seine Aknepickel sowie einige überflüssige Pfunde verloren und sein Abitur geschafft hatte. Sein Name war Arvid Johannson.
Seine Prinzessin hatte der junge Mann noch nicht gefunden. Irgendwie besaß kein Mädchen – oder keine junge Frau – das gewisse Etwas, von dem er erwartete, dass es ihn berühren oder vielmehr wie ein Blitzschlag treffen würde.
In Ermanglung seiner persönlichen Prinzessin lud er Sophia Eglund zum Abschlussball ein. Sie war ein hübsches, ebenfalls sehr schüchternes Mädchen. Genau wie ihre Zwillingschwester Charlotte, die zu diesem Ball mit Jules Brauer ging.
Jules‘ Mutter war Französin, die seinem Vater nach Deutschland gefolgt war. Jules war groß, schlaksig, hatte hellbraune Haare und Sommersprossen.
Obwohl die Brauers nur wenige Häuser von den Johannsons entfernt wohnten, waren die beiden Jungen nicht näher befreundet. Das lag vielleicht an ihrer unterschiedlichen Freizeitgestaltung. Während Jules im Verein Leichtathletik, Kurzstreckenlauf und Weitsprung trainierte, spielte Arvid Klavier und Gitarre.
Entsprechend unterschiedlich waren ihre Leistungskurse, sodass sie auch während ihres Abiturs kaum in Berührung kamen.
An diesem sommerlich warmen Maitag wollte es das Schicksal, dass beide junge Männer zeitgleich ihre Ballpartnerin abholten und zusammen vor dem Haus im Brahmsweg ankamen.
Herausgeputzt in schwarzen Anzügen, Jules mit einem weißen, Arvid mit einem hellblauen Hemd, das – nach Aussage seiner sicherlich voreingenommen Mutter – perfekt zu seinen meerblauen Augen passte, standen sie beide vor der weißen Haustür.
Bevor einer der beiden mehr als hallo sagen konnte, öffnete Herr Eglund die Tür und ließ sie herein. Nervös und mit feuchten Handflächen warteten sie auf die beiden Mädchen, die wenig später die Treppe herunterkamen. Sophie in einem zart rosafarbenen und Charlotte in einem fliederfarbenen Cocktailkleid.
Beide sahen mit ihren hochgesteckten Haaren und dem ungewohnten Makeup sehr hübsch aus, doch weder Jules‘ noch Arvids Herzschlag erhöhten sich bei ihrem Anblick.
Galant, wie es von ihnen erwartet wurde, führten sie die Mädchen zu ihren Fahrzeugen und fuhren nacheinander zu dem Saal, in dem der Abiball stattfinden sollte. Ihre Eltern würden später dazukommen.
Der Abend war … schön, ohne aufregend zu sein. Sie tanzten. Jules mit Charlotte und Arvid mit Sophie. Sie redeten, tranken Sekt und ein oder zwei viel zu süße Cocktails. Zu den angesagten Kids, die auf der Terrasse rauchten und – mehr oder weniger heimlich – den ein oder anderen Flachmann herumgehen ließen, gehörten sie nicht.
Nach Mitternacht brachten sie die Mädchen nach Hause, jetzt mit dem Taxi, da sie zu viel Alkohol getrunken hatten.
Zweckmäßigerweise teilten sie sich zu viert einen Wagen. Vor dem Haus angekommen geleiteten sie die Mädchen, wie man es ihnen beigebracht hatte, bis zur Haustür und verabschiedeten sich mit einem Kuss von ihrer jeweiligen Begleitung.
Dieser Kuss bedeutete nichts, er wurde gegeben, weil es erwartet wurde, und ebenso wurde er angenommen. Die Zwillingsschwestern gingen ins Haus und die beiden jungen Männer machten sich auf den Heimweg.
Eine Zeit lang gingen sie schweigend nebeneinander her, wussten nicht, was sie sagen sollten. Arvid warf seinem Begleiter von Zeit zu Zeit verstohlene Blicke zu.
Jules‘ hellbraune Haare hatten sich von den Zwängen einer Frisur befreit und fielen wirr durcheinander. Noch nie war Arvid aufgefallen, wie schön geschwungen seine Lippen waren, die Unterlippe ein wenig voller als die obere. Und was für lange Wimpern er hatte … oder was für eine gerade Nase.
Jules war etwas größer als er, ungefähr fünf bis zehn Zentimeter. Wenn er den Arm heben und ihm, Arvid, um die Schulter legen würde …
Arvid erschreckte über seine eigenen Gedanken. Immer wieder hatte er versucht zu verdrängen, dass er Jungs attraktiv fand. Das war nicht richtig, Jungs mochten Mädchen, Männer heirateten Frauen, jedenfalls in der kleinen Vorstadt, in der sie aufwuchsen. In der großen weiten Welt mochte das vielleicht anders sein …
Plötzlich fragte Jules ihn, was er nun, nach dem Abschluss der Schule, machen würde und Arvid erzählte ihm von seinem Plan, Musik zu studieren.
Auf Arvids Gegenfrage erklärte Jules, dass er Sport studieren wollte. Sie stellten fest, dass sie beide nach Köln gehen würden.
Waren sie zum Beginn des Weges zügig gegangen, so wurden sie nun mit jedem Schritt langsamer. Sie redeten, erzählten sich von ihren Vorstellungen und Plänen.
„Bist du in Sophie verliebt?“, fragte Jules unvermittelt.
Arvid sah ihn an und schüttelte den Kopf. „Du in Charlotte?“
„Nein“, sagte Jules und senkte kurz den Blick. „Ich mag Mädchen … nicht … also, ich mag sie schon, aber nicht …“
Er verstummte und sah Arvid mit großen, unsicheren Augen an.
Arvid schluckte, sah auf seine Schuhe und dann wieder auf Jules. „Mir geht es ähnlich“, flüsterte er und fragte sich, wo er zum ersten Mal im Leben den Mut hernahm, dies zu gestehen. Lag es an der lauen Nacht? Dem Alkohol? Oder an Jules neben ihm, der ihm irgendwie die Sinne vernebelte?
Jules blieb stehen abrupt stehen und sah ihn an. „Du meinst …“
„Ich weiß nicht genau, was ich meine“, sagte Arvid und lächelte Jules schief an. „Ich meine, Mädchen interessieren mich nicht übermäßig.“
„Und Jungs?“, fragte Jules atemlos.
„Ich …“, Arvid räusperte sich und holte tief Luft. „Mehr als Mädchen.“
Jules trat einen Schritt näher. „Magst du einen besonders?“
„Bis heute nicht“, flüsterte Arvid zur Antwort und sah Jules in die Augen. Was für Augen! Sie blickten sich einfach nur an, spüren die Einzigartigkeit des Moments.
Hatte er nicht darauf gewartet? Doch Arvid rechnete nicht damit, dass ihn dieses Gefühl bei einem Mann überkommen würde, dass er einen Prinzen und keine Prinzessin suchte.
Einsetzender Regen brachte sie dazu weiterzugehen. Nach einigen Schritten nahm Jules Arvids Hand und dieser verschränkte ihre Finger miteinander. Es fühlte sich für ihn wie ein Traum an.
Viel zu schnell kamen sie an Arvids Zuhause an. Aus dem Garten der Nachbarn drang laute Musik zu ihnen. Heidrun feierte ihren vierzigsten Geburtstag lautstark. Gerade als die beiden unter das Blätterdach der Eiche im Vorgarten der Johannsons traten, erklang Marianne Rosenbergs ‚Er gehört zu mir‘.
Jules drehte sich zu Arvid um, grinste ihn an und deutete eine Verbeugung an. „Würdest du mit mir tanzen?“
Arvid nickte überrumpelt und Jules zog ihn an sich heran. Bevor er wusste, wie ihm geschah, tanzten sie. Jules konnte gut tanzen – und führen. Perfekter als bei jedem Tanz mit Sophia bewegte er sich in Jules‘ Arm im Schatten des Baumes.
Auf Marianne Rosenberg folgte Billy Joel und sein ‚Honesty‘. Jules blieb stehen, sah Arvid tief in die Augen, zog ihn ganz nahe heran und legte ihm die Hände auf die Hüften.
Arvid zögerte einen Moment, ehe er seine Hände in Jules‘ Nacken verschränkte. Jetzt bewegten sie sich kaum noch, wiegten sich nur sacht im Takt. Als die Musik endete, spielte der Rest der Welt keine Rolle mehr. Folgte ein anderer Song oder Stille? Verging die Zeit oder blieb sie stehen?
Langsam senkte Jules seinen Kopf, kam Arvid immer näher, bis sich ihre Lippen zum ersten Mal berührten.
Und sie lebten glücklich bis an das Ende ihrer Tage …
Ja, wir waren glücklich! Wir küssten uns so lange, bis meine Mutter den Kopf aus der Haustür steckte und sich suchend umsah. Über die Schulter rief sie zu meinem Vater: „Wo bleibt der Junge nur? Vielleicht sollten wir ihn suchen?“
Die Antwort von meinem Vater konnten wir nicht hören, nur das ergebene Seufzen meiner Mutter. „Aber in zehn Minuten fahre ich los.“ Sie verschwand wieder im Haus.
„Du solltest reingehen“, flüsterte Jules an mein Ohr. Ich nickte und küsste ihn.
„Sehen wir uns morgen?“, fragte ich und löste meinen Mund wenige Millimeter von seinem.
„Ich komme nach dem Frühstück zu dir.“ Ein letzter – oder vorletzter – oder auch vorvorletzter Kuss und Jules verschwand im Dunkel, während ich langsam zur Haustür ging. Nein, eigentlich schwebte ich, getragen von tausend Schmetterlingen in meinem Bauch und dem glückseligen Vakuum in meinem Kopf.
Kaum berührte mein Schlüssel das Schloss, wurde die Tür aufgerissen. Meine Mutter zerrte mich ins Haus, drückte mich kurz und heftig, ehe sie mich ein Stück zurückschob.
„Wo kommst du jetzt erst her? Es ist schon nach drei Uhr. Warst du so lange mit dieser Sophie zusammen? Du hast doch keinen Unsinn gemacht? So gern ich Großmutter werden will, doch nicht jetzt schon.“
„Nun beruhig dich.“ Mein Vater trat in den Flur und legte ihr den Arm um die Schulter. „Arvid ist volljährig, er ist kann so lange wegbleiben, wie er will. In ein paar Wochen zieht er nach Köln und muss ganz allein auf sich aufpassen. – Und ich denke, unser Sohn weiß, wie man verhütet.“ Mein Vater zwinkerte mir zu und mir schoss das Blut in die Wangen. Zum Glück wusste er nicht wieso.
„Ich …“ Mir fehlten die Worte. „Ich gehe ins Bett.“ Bevor einer von beiden etwas dazu sagen konnte, verschwand ich nach oben in mein kleines Reich. Hinter mir konnte ich noch die Stimmen meiner Eltern hören, die empörte meiner Mutter und die beruhigende meines Vaters.
Ich wohnte unter dem Dach, hatte ein großes Zimmer mit einem bodentiefen Fenster auf der Giebelseite und einem kleinen Duschbad. Nur über die Bodenklappe kam man in mein Reich. Seit ich den Dachboden zusammen mit meinem Vater umgebaut hatte, weigerte sich meine Mutter mein Zimmer aufzuräumen. Die Stiege war ihr zu steil. Leider war sie auch zu steil für mein Klavier, sodass ich zum Üben nach unten gehen musste.
An diesem Abend zerrte ich nur meine Kleider vom Körper und schmiss mich auf mein Futonbett vor dem Fenster, sah hinaus auf die Felder, die sich an unseren Garten anschlossen, und dachte an Jules, die Küsse, meine Gefühle und freute mich auf seinen Besuch am nächsten Tag. Würden wir uns wieder küssen? Hier oben in meinem Zimmer? Und sollte ich mit meinen Eltern darüber sprechen?
Den Gedanken an meine Eltern verdrängte ich schnell und gab mich meinen Fantasien von Jules hin.
Es begann eine wundervolle Zeit. Wir trafen uns jeden Tag und als seine Eltern eine Woche später für zwei Wochen nach Frankreich fuhren, zog ich praktisch zu ihm. Meine Eltern stellten erstaunlich wenige Fragen und gaben sich mit meinen mageren Antworten zufrieden.
Diese zwei Wochen waren das Paradies auf Erden. Wir waren jung und ausgehungert. Wir wollten Sex, ständig, dauernd und überall. Ich frage mich, was Sylvie, Jules‘ Mutter, sagen würde, wenn sie wüsste, dass wir in jedem Raum ihres Hauses einschließlich Küche und Wäschekeller Sex hatten.
Jeden Zentimeter, Millimeter von Jules‘ Haut musste ich erkunden, kosten und fühlen. Wollte wissen, was er nicht mochte, mochte, sehr mochte und was ihn in den Wahnsinn trieb.
In diesen zwei Wochen kam keiner von uns ernsthaft auf die Idee, wir sollten miteinander schlafen, also klassisch, wie Heteros das tun. Für uns gab es genug auszuprobieren, als dass wir uns darüber Gedanken machten.
Viel zu schnell war die Zeit vorbei und wir schrubbten am letzten Tag vor der Rückkehr von Jules‘ Eltern das Haus.
Wenn sich Sylvie über ihr vor Sauberkeit glänzendes Heim wunderte, sagte sie nichts. Vielleicht dachte sie auch, Jules hätte eine Fete gegeben und war glücklich, dass nichts zerbrochen, beschädigt oder gestohlen war. Sogar in dem Weinkeller seines Vaters fehlten nur zwei Flaschen Champagner, den wir weniger getrunken, als zu Testzwecken missbraucht und herausgefunden hatten, dass Champagner aus dem Bauchnabel eines geliebten Menschen getrunken besonders lecker ist.
Zu unserem Glück studierten wir beide in Köln. Jules bezog im Sommer ein kleines Zimmer in einem Studentenwohnheim, ich zog bei meiner Patentante Marlies ein.
Marlies war die jüngere Schwester meines Vaters und wir hatten schon immer ein sehr gutes Verhältnis, also gestand ich ihr am ersten Abend, was ich vor meinen Eltern verborgen hielt, dass ich schwul war und einen festen Freund hatte.
Dies auszusprechen machte mich aufgeregt und glücklich. Marlies freute sich für mich, versprach meinen Eltern nichts zu sagen, das wollte ich irgendwann selbst übernehmen, und half uns eine gemeinsame, bezahlbare Wohnung in Köln zu suchen.
Nach zwei Monaten fanden wir ein winziges Einzimmerapartment unter dem Dach. Ein großer Raum mit Pantryküche und kleinem Balkon. Im Sommer war es dort kochend heiß, im Winter eisig kalt. Doch es war unser erstes Zuhause. Den ganzen Sommer lief der Ventilator und den ganzen Winter verbrachten wir mehr oder weniger im Bett.
Obwohl wir in einer Stadt mit entsprechender Szene lebten, beide keinerlei Erfahrungen außer den gemeinsam gemachten besaßen, kam keiner von uns auf die Idee, sich nach etwas anderem – einem anderem umzusehen.
Wir gingen aus, gingen tanzen und genossen es, unsere Liebe in einschlägigen Diskos und Kneipen offen auszuleben. Aber genauso liebten wir es, anschließend gemeinsam nach Hause zu gehen und uns in unserem Bett zu vergnügen.
In dieser Zeit kamen wir auf die Idee, miteinander zu schlafen. Beide waren wir unsicher, wussten nicht, ob wir das wollten, ob es uns Spaß machen würde. Immerhin wusste ich, was Jules in der Hose hatte.
Eines nachts, nachdem wir schon stundenlang getanzt und getrunken hatten, gingen wir in den Darkroom. Neugier und schlichte Geilheit trieb uns dort hinein.
Dieser erste Besuch war ebenso aufregend wie abstoßend. Fasziniert sah ich mich um, betrachtete verschämt und erregt die anderen Paare. Sah, wie sich Männer vorbeugten, ihren Hintern ihren Partner entgegenstreckten und dort im Halbdunkel genommen wurden. Offensichtlich machte es ihnen Spaß. Jules schob mich an ein freies Stück Wand und küsste mich. Für einen Moment vergaß ich die Umgebung.
Seine Hände knöpften meine Jeans auf, machten sich am Reißverschluss zu schaffen. Bevor ich wusste, was geschah, ging er vor mir in die Hocke und nahm mein Glied in seinen Mund.
Ein immer wieder faszinierender Anblick, wenn mich seine braunen Augen unter den Fransen seiner Haare hervor begehrlich ansahen, während er mich verwöhnte. Und er wusste genau, was er tat.
Ich blendete alles aus, konzentrierte mich nur auf Jules. Da wir beide vor unserer Beziehung nie Sex hatten und auch jetzt nur miteinander, verzichteten wir auf Kondome und Jules schluckte mein Sperma, als ich mich stöhnend in seinen Mund ergoss.
„Hey, wenn du willst, stell ich dir meinen Schwanz auch gern zur Verfügung“, sagte eine heisere Stimme neben uns. Ein riesiger Kerl hatte sein Glied schon aus seiner Hose befreit und massierte es träge, während er auf Jules hinabschaute. Sofort zog ich meinen Geliebten hoch in meinen Arm.
„Verpiss dich, der gehört mir“, knurrte ich ihn an.
Der Typ lachte leise und hob eine Hand. „Okay, okay. Wenn du es dir mal anders überlegst, Süßer, bin ich bereit.“ Mit einem Zwinkern zu uns drehte er sich um.
Jules versteckte seinen Kopf an meinem Hals und lachte leise.
„Besonders komisch fand ich das nicht“, brummte ich. „Lass uns nach Hause gehen, ich will dich in etwas mehr Privatsphäre genießen.“
Von diesem Tag an ging mir die Vorstellung nicht mehr aus dem Kopf und ich sprach mit Jules darüber. Er war sofort begeistert, wollte es ausprobieren. Und wir blieben ein weiteres Wochenende in unserem Bett und probierten aus, wie es war, miteinander zu schlafen. Wir brauchten diese zwei Tage, bis wir es richtig schafften. Also so, dass es uns Spaß machte und nicht in einem Desaster oder einem Lachflash endete.
Letztlich erweiterte es unseren Horizont von gemeinsamen Spielarten um eine weitere, war aber nie die einzig wahre, sondern nur eine unter vielen.
In der Zeit des Studiums, Jules studierte Sport und ich Musik und Geschichte auf Lehramt, probierten wir alles aus, was uns Spaß machte – oder von dem wir ausgingen, dass es uns Spaß machen könnte. Kaum einen Tag, an dem wir nicht Sex hatten.
Wir fanden Freunde, aus der sich eine Clique von sechs Leuten herauskristallisierte, mit der wir regelmäßig unterwegs waren.
Alle waren schwul wie wir, doch die anderen hielten unser „Pärchending“ für ziemlich schräg. Sie wollten sich ausprobieren und Erfahrungen sammeln, ehe sie überhaupt über eine Beziehung nachdachten.
Jules und mir war das egal. Für uns stand unsere Beziehung nie zur Debatte, ebenso wenig wie die Treue. Ein einziges Mal überlegten wir, einen dritten Mann in unser Bett zu holen, verwarfen den Gedanken aber schnell wieder. Dazu waren wir beide viel zu eifersüchtig.
Immer noch war alles wie in einem niemals endenden Märchen.
Wann veränderten sich die Dinge? Wann wurde unser Leben ruhiger, langweiliger und begann einzuschlafen?
Ich kann es heute nicht mehr sagen, doch im Laufe der Jahre schlich sich Routine in unser Leben ein. Spätestens, als wir unsere Studiengänge beendet hatten und in ein geordnetes Berufsleben starteten.
Ich ging ins Referendariat an ein Gymnasium, Jules wurde Trainer in einem großen Fitnessstudio. Regelmäßige Arbeitszeiten, oft nicht gerade kompatibel miteinander. Jules arbeitete von Mittag bis in die Abendstunden, ich von morgens bis nachmittags. Wir sahen uns seltener, waren öfter müde und unser Sexleben war bei Weitem nicht mehr so aufregend wie die ersten Jahre.
Wahrscheinlich ist das normal und wir machten uns auch keine Gedanken darüber. Wir hatten immer noch mehrmals in der Woche Sex miteinander, auch wenn nicht mehr so wild und ungestüm. Jetzt mussten wir unseren Sex unserem Alltag und unseren gemeinsamen Zeiten anpassen.
Ausgleich boten uns die Urlaubsreisen. Wir fuhren regelmäßig weg, nach Italien, England, Norwegen, Spanien oder auch nur ein paar Tage an die Ostsee. In diesen Zeiten war alles wieder beim Alten. Sex vor dem Aufstehen, nach dem Frühstück, unter der Dusche, auf dem Küchentisch, auf dem Sofa oder auch auf dem Balkon. Wir holten nach, was uns der Alltag raubte.
Noch immer kam mir alles perfekt vor, genau wie in einem Märchen.
Vor vier Jahren hat Jules sich selbstständig gemacht, wir waren gerade fünfzehn Jahre zusammen. Natürlich war dies eine gemeinsame Entscheidung, denn ich war nicht nur finanziell, sondern auch persönlich davon betroffen. Immerhin sah ich meinen Partner nun noch seltener. Doch es war Jules‘ großer Traum und wenn ich meinen von dem begnadeten Pianisten mangels Talent nicht verwirklichen konnte, sollte er wenigstens seinen umsetzen.
Mit dieser Entscheidung endete unser Märchen. Nicht dass wir das sofort sahen oder merkten, erst war alles fast wie immer. Nur verbrachten wir noch weniger Zeit miteinander. Aber gewisse Opfer muss man in der ersten Zeit bringen. Wir fuhren auch nicht mehr in den Urlaub, das Studio lief schleppend an, Jules hatte weder die Zeit noch wir beide das Geld, um in den Urlaub zu fahren.
Wann begannen wir weniger zu reden und mehr zu streiten? Wann schlief ich ohne ihn ein? Seit wann gehe ich ohne Kuss aus dem Haus?
Alles geschah langsam, schleichend. Wir drifteten auseinander, verschlossen die Augen davor. Ich vergrub mich in meiner Arbeit, Jules sich im Studio.
Unsere Streitereien wurden heftiger – und wir versöhnten uns nicht mehr jedes Mal. Wir konnten einen Streit über Tage ausbreiten, gingen uns in dieser Zeit aus dem Weg, bis wir uns oberflächlich wieder zusammenrauften. Keiner von uns wollte darüber sprechen, diskutieren und hinterfragen, warum wir uns auseinanderlebten.
In meinem Leben gab es keine anderen Männer, aber zum ersten Mal, seit ich Jules kannte, nahm ich sie als Männer mit sexueller Ausstrahlung wahr.
Ich denke, Jules merkte genauso wie ich, dass wir uns auf den Abgrund zubewegten, doch ebenso wie ich war er zu feige, zu bequem und in seinem Alltag verfangen, um darüber zu sprechen.
Bis gestern die lang aufgebaute Bombe explodierte und mein – unser Leben in Fetzen riss. Seit Jules vor neun Stunden unser Apartment verließ, sitze ich auf der Dachterrasse, rauche – was ich eigentlich vor fünf Jahren aufgegeben hatte, nachdem ich es im Studium, sehr zu Jules‘ Unwillen, begonnen hatte – und trinke den teuren Rotwein, den wir aus unserem letzten, eine Ewigkeit zurückliegenden Italienurlaub mitgebracht hatten.
Die schlimmsten Dinge haben wir uns an den Kopf geschmissen, unkontrolliert und voller Wut. Worte, die ich ihm niemals sagen wollte, Vorwürfe, die nicht stimmten, oder zumindest nicht in dem Ausmaß. Alles nur wegen einer Belanglosigkeit, die ich im Laufe des ausbrechenden Konflikts vergessen habe. War es ein Glas, das nicht in den Geschirrspüler gestellt wurde? Ein benutztes Handtuch, das nass auf dem Boden im Bad lag? Oder die Frage, ob man Milch direkt aus der Verpackung trinken sollte?
Ein Streit kann reinigend sein, früher waren unsere Auseinandersetzungen das, wir redeten, schrien uns an, schmollten, sahen ein, einen Fehler gemacht zu haben und landeten im Bett. Hinterher lachten wir darüber, wie sehr wir uns über etwas aufgeregt hatten, was es letztlich gar nicht wert war.
Wann haben wir verlernt zu streiten und uns zu versöhnen?
Ich starre mit müden Augen in die aufgehende Sonne. Der erste Tag ohne Jules. Erst bei diesem Gedanken spüre ich das ganze Ausmaß des Schmerzes. Bis gerade konnte ich kühl analysieren, mich geradezu emotionslos erinnern, doch jetzt schlägt die Erkenntnis ein. Jules ist weg. Er hat einen kleinen Koffer gepackt – jenen, den er sonst immer zu Tagungen oder Seminaren mitnimmt – und ist gegangen. Wohin weiß ich nicht.
Zu einem anderen Mann? Wieder schlägt der Schmerz zu und ich kann den Gedanken nicht ertragen. Sofort meint meine Fantasie, mir genau diese Bilder zeigen zu müssen. Vielleicht ist er bei diesem Raoul, dem neuen Trainer im Studio. Ein junger, heißblütiger Brasilianer mit glühenden, dunklen Augen. Dass er Jules anschmachtet, war nie zu übersehen, auch wenn dieser das vehement bestritt.
Vielleicht weil es wahr ist? Weil er mit Raoul ein Verhältnis hat? Kann ich mir wirklich vorstellen, dass Jules mich betrügt? Ich will es nicht, doch was weiß ich noch von dem Mann, mit dem ich zusammenlebe?
Gedankenverloren stecke ich mir eine weitere Zigarette an, ignoriere den dumpfen Kopfschmerz. Wann hatten wir das letzte Mal Sex miteinander? Mühsam krame ich in meinen Erinnerungen, doch nur negative Begegnungen fallen mir ein. Hat Jules mich in den letzten Wochen nicht vermehrt abgewiesen? War er nicht noch müder und lustloser als sonst? Oder bilde ich mir das nur ein?
Wann war der Punkt, an dem wir diese Entwicklung hätten aufhalten können? Und warum haben wir es nicht getan?
Ich habe jedes Warnzeichen ignoriert, habe mich in Sicherheit gewiegt und jede Anstrengung, unsere Beziehung zu hinterfragen und wiederzubeleben, vermieden. Wird schon wieder. Ist normal, wenn man so lange zusammen ist. Kann nicht mehr immer alles rosig sein.
Blödsinn! Warum kann es nicht mehr rosig sein? Warum sollte der Verlust des Begehrens normal sein? Warum habe ich zugelassen, dass der Alltag mein Märchen zerstört?
Mit geschlossenen Augen lege ich den Kopf auf die Lehne des Strandkorbes und erinnere mich an mein Märchen, mein Wunder, meinen Traum … meinen Jules.
Mir fällt sofort sein erstes ‚Ich liebe dich‘ ein. Es war nach der ersten Nacht in unserer eigenen Wohnung, eigentlich war es zu warm, um aneinandergekuschelt zu schlafen, doch wir waren nicht bereit auseinander zu rutschen. Schweiß, Sperma, Lust und Liebe klebten uns zusammen.
Ich war mir sicher, noch nie so glücklich gewesen zu sein wie in diesem Moment – bis Jules mir leise „Ich liebe dich“ ins Ohr flüsterte. Für einen Augenblick befürchtete ich, vor Glück zu platzen, dann hob ich mein Gesicht, sah ihm tief in die wunderschönen Augen und erwiderte das Bekenntnis.
Wann hatte ich diese drei kleinen Worte das letzte Mal zu Jules gesagt? Oder er mir?
Die Antwort fiel mir nicht ein. Wie so viele andere Dinge auch nicht. Wann hatten wir das letzte Mal zusammen geduscht, im Bett gefrühstückt, Champagner aus dem Bauchnabel getrunken, uns auf der Terrasse geliebt oder nur gemeinsam auf dem teuren Außensofa gelegen, dass wir im letzten Sommer angeschafft hatten?
Wir hetzten nur noch aneinander vorbei, benutzten uns gegenseitig als Mülleimer für den Stress des Tages und vergaßen, dass dieser von Zeit zu Zeit entleert werden musste.
Die Sonne war ein leuchtender Feuerball zwischen den Häusern, langsam stieg sie in das kräftige Blau dieses Tages auf. Heute vor neunzehn Jahren begann alles. Die Erkenntnis, dass heute unser Jahrestag ist, verkrampft meinen Magen. Letztes Jahr hat Jules in zum ersten Mal vergessen, dieses Jahr ist er nicht da – und ich weiß nicht, ob er wiederkommt.
Liebe ich Jules noch? Oder ist es nur die jahrelange Gewöhnung, die Routine, die uns zusammenhält? Sind wir nur zu bequem, uns allein durch den Alltag zu schlagen? Oder warten wir nur auf die passende Gelegenheit, zu gehen? Ist Raoul diese Gelegenheit für Jules?
Liebe ich Jules noch – oder nicht? Ich stelle ihn mir vor, wie er gestern aus dem Bad in das Schlafzimmer kam, nackt und mit feuchten Haaren. Ich lag im Bett und starrte an die Decke, das Buch, das ich vorgab zu lesen, lag auf meiner Brust.
Er war schön wie immer. Jules hat keinen Bodybuilder-Körper, er ist muskulös, hat einen flachen Bauch mit einem angedeuteten Sixpack und einen wundervollen Rücken. Ich liebe seinen Rücken, die breiten Schultern, den Schwung der Wirbelsäule, die schmale Hüfte, den runden Po mit den beiden Grübchen darüber. Seine Haut ist zart und er liebt es, wenn ich mit meiner Zunge seinem Rückgrat folge und mich am Ende direkt über seinem Steiß festsauge.
Doch gestern sagte ich nicht, dass mir sein Anblick gefiel, ich fragte nicht, ob er zurück ins Bett käme und er beachtete mich gar nicht, sondern zog sich an.
Das letzte Mal, dass wir Sex am Morgen hatten, ist ewig her – und eigentlich war es nicht am Morgen, sondern für uns das Ende einer langen Nacht, die wir auf der Hochzeit von Freunden verbracht hatten.
Das war im letzten Frühjahr, fast genau vor einem Jahr und es war wirklich heißer Sex, der letzte, an den ich mich erinnere. Wir liebten uns das erste Mal mit heruntergelassenen Hosen im Flur, ungeduldig schnell und fast grob. Die Kleider verloren wir auf dem Weg in die Küche, dort nutzte Jules die optimale Höhe der Küchentheke für einen Blowjob, für den ich mich in der Hängematte auf der Dachterrasse revanchierte. Wir endeten im Bett, wo Jules mit mir schlief, unendlich langsam und geduldig. Mehr wie ein Tanz, im Rhythmus unserer eigenen Melodie. Vielleicht war dies die letzte große Liebeserklärung, die wir uns machten, ohne es in Worten auszusprechen.
Der Orgasmus war großartig, lange aufgebaut, mehr als nur körperliche Erfüllung, sondern die Gewissheit eins zu sein mit dem Mann, den ich über alles liebte.
Damals war ich mir sicher, kann diese Gewissheit auch in der Erinnerung spüren und doch hatten wir uns in den folgenden Wochen und Monaten auseinandergelebt, zugelassen, dass dies ein einmaliges Erlebnis blieb.
Begehre ich Jules noch? Will ich ihn berühren, spüren, riechen? Ich denke an das Gefühl seiner Haut unter meinen Fingerspitzen, seine Reaktionen auf meine Berührungen.
Ja, ich begehre ihn noch, will ihn immer noch – und habe doch zugelassen, dass dieses Gefühl in dem alltäglichen Nebeneinander untergeht. Theoretisch kann man seinen Partner immer haben, also kann man es sich leisten, dass Arbeit, Müdigkeit und alle möglichen Probleme scheinbar wichtiger werden. Liebe, Sex und Zärtlichkeiten laufen ja nicht weg, der Partner ist morgen auch noch da, wenn es einem besser geht, man ausgeschlafen ist oder einfach den Kopf frei hat. Dabei habe ich übersehen, dass alles andere immer mehr Gewicht bekam und Jules immer weiter in den Hintergrund schob. Er war ja immer da, lief nicht weg, musste meine Launen ertragen, wie ich seine.
Doch wenn die eine Seite der Wippe fehlt, dann wird die andere irgendwann zu schwer. Auf unserer fehlten eindeutig die guten Tage, das Glück, der Sex, diese Seite vernachlässigten wir, ignorierten sie und ließen die andere Seite immer schwerer werden.
Jetzt sitze ich hier im Licht der aufgehenden Sonne und weiß nicht, ob ich den Mann, den ich mein ganzes Leben geliebt habe, verloren habe.
Ich nehme mein Handy und wähle Jules‘ Nummer, sehe sein Bild, aufgenommen im letzten Urlaub an der Ostsee. Wir hatten fantastische zehn Tage, Sonne satt und ständig gute Laune. Ich muss lächeln bei dem Gedanken.
Es tutet. Einmal, zweimal, dreimal, dann werde ich weggedrückt. Ich hole tief Luft, bin nicht bereit, mich so einfach abweisen zu lassen und wähle erneut.
Wieder das Tuten, Einmal, dann bekomme ich eine Nachricht: >Kann gerade nicht, melde mich später.<
Das Herz wummert in meiner Brust. Warum kann er nicht? Steckt er gerade in Raoul? Eifersucht schießt wie eine Fontäne in mir hoch.
>Bist du bei Raoul?<, tippe ich ein.
>Wir reden später!<
Das ist keine Antwort – oder ist es doch eine? Ich überlege kurz erneut zu schreiben, verwerfe den Gedanken aber, genauso wie die Idee, das Handy einfach über die Brüstung unserer Dachterrasse zu werfen.
Ich schenke den Rest Rotwein in mein Glas und zünde mir eine Zigarette an. Wann ist später und was bedeutete das? Ruft er mich an? Vielleicht, wenn er seinen Schwanz aus Raoul gezogen hat? Eifersucht ist wie ein Gift, das jeden vernünftigen Gedanken zerfrisst.
Weil ich dringend Ablenkung brauche, gehe ich nach drinnen. An der Terrassentür überlege ich die Zigarette auszumachen, ich rauche nicht in der Wohnung, doch warum? Mit der Zigarette im Mundwinkel setzte ich mich an das Klavier, lege die Finger auf die Tasten, schließe die Augen und vergesse alles. Ich lasse mich tragen von den Tönen, die nur meinen Gefühlen folgen. Während ich spiele, denke ich nicht, sondern fühle nur, fühle Eifersucht, Liebe und Sehnsucht, verwebe alles zu meiner Melodie, immer das Bild von Jules vor meinen Augen.
Ich liebe ihn noch und wenn ich eine Chance habe, werde ich um ihn kämpfen.
Als der letzte Ton verklingt, fühle ich mich leer, vollkommen ausgehöhlt.
„Ich weiß nicht, wann ich dich das letzte Mal so habe spielen hören.“
Meine Augen schließend bleibe ich sitzen, kann gerade nicht reden, doch das weiß Jules. Seine Hände legen sich auf meine Schultern, massieren sanft die verspannten Muskeln. Was bedeutet das? Eine Geste aus alter Gewohnheit, schon tausendmal vollzogen? Oder eine gewollte Berührung, eine Brücke über dem Abgrund, der sich zwischen uns aufgetan hat?
Zögernd lege ich meine Wange auf seine Hand.
„Ich liebe dein Spiel“, sagt er leise, setzt sich neben mich auf den Klavierhocker. „Wenn du nur deiner eigenen Melodie folgst, die alles über dich aussagt. – Du bist dann genauso offen wie beim Sex.“
Die letzten Worte hat er mir ins Ohr gehaucht und eine Gänsehaut kriecht mir über den Nacken. „Ich bin ein Idiot, Arvid, ein dummer, egoistischer, rücksichtsloser, gefühlloser und gedankenloser Trottel, der dich nicht verdient.“
Ich wende überrascht meinen Kopf, sehe ihn an. Offen begegnet Jules meinem Blick.
„Ich sah nur noch das Studio, war besessen davon. Darüber habe ich dich, uns vergessen. Du warst für mich in all den Jahren eine Konstante in meinem Leben und ich konnte mir nicht vorstellen, dich zu verlieren.“ Er lehnt seine Stirn gegen meine. „Ich nahm uns beide für selbstverständlich und war enttäuscht, wenn deine Welt sich nicht nur um mich drehte. Du zogst dich zurück und statt das zu hinterfragen, habe ich geschmollt, fühlte mich vernachlässigt, warf dir vor, mich nicht genügend zu lieben und gab dir, da ich es nie offen aussprach, keine Chance dich zu erklären.“
Das wäre ein guter Zeitpunkt, mich zu küssen, denke ich, doch Jules sieht mich weiterhin nur an.
„Dann kam Raoul in das Studio.“
Die wenigen Worte reichen, dass mir kalt wird, ich will mich von Jules lösen, doch er hält mich mit seiner Hand in meinem Nacken fest.
„Hör mir zu, bitte“, fleht er leise. „Raoul schmachtete mich an, bewunderte mich, streichelte mit seiner Aufmerksamkeit mein Ego. Je mehr er mich offen anhimmelte, desto mehr warf ich dir vor, mich nicht mehr zu lieben. Legte jedes Wort auf die Goldwaage und deutete alles als Ablehnung, Kälte und Desinteresse. – Ja, es schmeichelte mir, von dem jungen, attraktiven Kerl hemmungslos bewundert zu werden. Gestern, nach unserem Streit, dachte ich mit, wenn du mich nicht mehr liebst, dann wäre es doch vielleicht an der Zeit, etwas Neues auszuprobieren.“
Wieder will ich mich abwenden, will die Worte, die mich bedrohen, nicht hören, doch Jules hält mich unerbittlich fest.
„Ich bin zu ihm gefahren, er hat mir seine Adresse schon vor einiger Zeit mit dem offenen Angebot, ihn zwecks gemeinsamer Leibesübungen zu besuchen, zugesteckt. Ich habe geklingelt, bin in die Wohnung und habe ihn geküsst.“
Mein Herz bricht und mir entkommt ein Schluchzen. Ich will das nicht hören, habe aber keine Kraft mich zu wehren.
„Genau zweimal habe ich ihn geküsst, dann ließ ich ihn los, drehte mich um und bin aus der Wohnung geflohen. Ich wollte ihn nicht, weder küssen noch mit ihm Sex haben – oder irgendetwas anderes.“
Jules hebt mein Gesicht sanft an. „Ich will immer noch nur dich küssen“, murmelt er und senkt seine Lippen auf meine. Einen Augenblick brauche ich, bis ich ihm antworte, zögernd auf seinen Kuss eingehe.
„Du bist die Liebe meines Lebens, ich war nur dumm und blind, darum vergaß ich diese unglaublich wichtige Erkenntnis.“
„Ich war genauso dumm und blind. Schon längst hätte ich mit dir reden müssen, dir sagen müssen, was mich stört, was ich mir wünsche. Doch ich dachte, du musst das wissen und wenn du es nicht beachtest, liebst du mich nicht mehr.“ Ich rutsche auf Jules‘ Schoß, lege meine Hände um sein Gesicht. „Du bist auch die Liebe meines Lebens.“
Liebevoll küsse ich ihn, streiche mit meinen Lippen über die seinen, ehe ich sacht mit meiner Zunge um Einlass bitte. Es scheint mir eine Ewigkeit her, dass ich Jules auf diese Weise geküsst habe. Unsere Zungenspitzen begegnen, umkreisen sich, beginnen einen zärtlichen Tanz. Meine Hände wühlen sich in sein Haar, seine Arme legen sich um meine Taille.
Unser Kuss wird immer leidenschaftlicher und wir drohen von dem schmalen Hocker zu fallen. Jules legt seine Hände unter meinen Hintern und hebt mich hoch. Erschrocken halte ich mich an seinem Nacken fest und lache, als er mich herumwirbelt.
„Wo fangen wir an?“, fragt er mich mit einem eindeutig zweideutigen Grinsen.
„Wo immer du willst“, antworte ich.
„Wir sollten endlich dieses wunderbare Sofa auf unserer Terrasse einweihen.“ Schon sind wir auf dem Weg hinaus. Schwungvoll legt Jules mich unter das muschelförmige Zelt, das die Sitzfläche, die die Größe eines Bettes hat, überdacht. Langsam krabbelt er zwischen meine Beine.
„Viel zu lang habe ich dich nicht mehr angesehen, deinen Körper betrachtet, gestreichelt, mit meinen Lippen liebkost und in Besitz genommen.“ Jules streift sein Shirt ab und wirft es achtlos auf den Boden. Mit meinen Augen streife ich über seinen Körper, betrachte die gut definierten Muskeln unter der glatten Haut.
„Ich kann verstehen, dass Raoul geil auf dich ist. Du bist wunderschön“, sage ich und strecke die Hand aus, streichele über seine Brust, seinen Bauch und öffne die Knöpfe seiner Jeans.
„Ich? Nein, du.“ Jules beugt sich zu mir runter, küsst mich. „Verzeih mir, dass ich dir das manchmal nicht genügend zeige – oder vergessen habe, es dir zu zeigen.“
Während er mich küsst, gleiten seine Hände unter mein Hemd.
„Brauchst du das noch?“, fragt er heiser.
Noch während ich überlege, was er meint, zieht er so kraftvoll an dem Stoff, dass die Knöpfe der Gewalt nachgeben und nach allen Seiten wegspringen. Sofort erobert sein Mund die freigelegte Haut, küsst, knabbert und leckt sich über jeden Zentimeter.
Ein Stöhnen entkommt mir, zu lange ist es her, dass er über mich hergefallen ist. Bereitwillig und ungeduldig gebe ich mich seinen Liebkosungen hin.
Der Knopf meiner Jeans gibt sich unwillig und Jules knurrt. Ich befürchte schon, dass auch dieser sich gleich verabschiedet, da rutscht er durch die Öffnung.
Jules küsst sich weiter, folgt dem aufgleitenden Reißverschluss, zerrt die Hose über meinen Hintern und legt die Lippen auf meine Erektion unter dem dünnen Stoff der Pants.
Sein Atem ist heiß, er presst ihn durch das Gewebe und ich wölbe mich ihm entgegen, will mehr, will ihn auf meiner Haut spüren. Doch er hört auf, weicht ein Stück zurück, zerrt die Jeans von meinen Beinen, lässt die Pants folgen.
Mit einem hungrigen Lächeln betrachtet er mich.
„Du bist noch schöner geworden im Laufe der Jahre“, sagt er und streichelt meine Schenkel. „Ich habe heute Nacht viel nachgedacht. Erst war ich verdammt wütend auf dich, dann habe ich mich erinnert, an unseren ersten Kuss, an unsere Leidenschaft, all die Dinge, die wir miteinander teilten. Die winzig kleine Wohnung, die unser Paradies war. Die guten und auch die schweren Zeiten, die wir miteinander verbracht haben.“ Er beugt sich zu mir runter und küsst mich zart. „Ich habe versucht zu verstehen, was geschehen ist, wann wir uns verloren haben …“ Sanft nimmt er mein Gesicht in seine Hände, streichelt mit den Daumen über meinen Mund, sieht mir tief in die Augen. „Dann wurde mir klar, dass wir uns nicht verloren, sondern uns nur verlaufen haben. Ich will keinen anderen Mann, ich will kein Leben ohne dich, ich will wieder zurück – zurück zu dir, zu uns.“ Er küsst mich und in dieser Berührung spüre ich alles, unsere Liebe, unser Verlangen und dass wir zusammengehören. „Und jetzt werden wir sehen, ob wir es immer noch schaffen, uns durch die ganze verdammte Wohnung zu lieben.“
Ich lache mit glücklich flatternden Schmetterlingen in meinem Bauch, während Jules aufsteht und sich von seinen restlichen Kleidern befreit. Bewundernd betrachte ich ihn, was er genießt und sich mit seinen Händen über den Körper streicht, um träge seinen Schwanz zu umfassen und zu massieren. Instinktiv lecke ich mir über die Lippen, entlocke ihm ein Grinsen. Wieder krabbelt er zwischen meine Beine, diesmal jedoch fährt er mit seiner Zungenspitze an der Innenseite entlang. Allein der Blick, mit dem er mich bedenkt, lässt mein Blut schneller fließen. Wie ein Raubtier der Beute nähert er sich meinem harten Glied, umkreist es, ohne es zu berühren. Kleine saugende Küsse auf der empfindlichen Haut meiner Leisten, zärtliche Bisse an meinen Hüften, Zungenmalerei über meine Bauchdecke.
Als er in meine Bauchnabel stupst, quietsche ich empört. Ich hasse das Gefühl und Jules weiß das genau und grinst mich nur an, ehe er über meine Eichel leckt, sie umkreist und schließlich zwischen seine Lippen nimmt.
In der warmen Höhle seines Mundes verwöhnt mich seine Zunge und ich hebe mein Becken, will mehr, doch er weicht zurück.
Unwillig brumme ich, will endlich mehr, doch Jules lässt sich nicht drängen. Er legt seine Hände unter meine Knie, drückt meine Beine nach oben und widmet sich meinen Hoden. Er weiß verdammt genau, wie er mich in den Wahn treiben kann. Meine Hände suchen Halt, doch es gibt nichts, an dem ich mich festhalten könnte. Ich winde mich unter seinen Zärtlichkeiten, die er zwischen Hoden und Schwanz aufteilt.
„Verflucht, dreh dich um, ich will dich spüren“, stöhne ich und richte mich auf, um ihm in die Augen sehen zu können. Die Lust hat seinen Blick verdunkelt. „Komm, Baby, ich will dich auch schmecken“, locke ich und strecke meine Hand nach ihm aus.
Jules kommt hoch, rutscht mit seinem Oberkörper über meine erhitzte Haut und küsst mich. „Du bist ungeduldig.“
„Ich bin geil, verdammt“, knurre ich und küsse ihn fordernd. „Gib mir deinen wunderschönen Schwanz und ich bin still.“
„Weil du dann nichts mehr sagen kannst“, sagt er glucksend, kommt aber meinem Wunsch nach und dreht sich über mir.
Ich liebe sein hartes, leicht nach oben gebogenes Glied, die seidig zarte Haut über der pulsierenden Hitze. Mit der Zunge nehme ich den ersten klaren, schweren Tropfen von der Spitze. Zäh zieht er einen kleinen Faden. Ich lecke einmal über die Länge und nehme ihn dann langsam auf.
Einen Moment gibt Jules sich mir hin, dann widmet er sich wieder meiner Erektion. Ich liebe diese Position, auch wenn sie anspruchsvoll ist. Immer schwankend zwischen der Lust, nur zu geben oder nur zu nehmen. Doch ich liebe den Anblick seiner schweren Hoden, seiner runden Backen, die ich mit meinen Händen umfassen und kneten kann. Sein Geschmack auf meiner Zunge, während er mich mit seiner Zunge, seinem wahrhaft unvergleichlichen Mund verwöhnt.
Lange kann ich heute Morgen diese Position nicht genießen, viel zu viel Zeit ist vergangen, seit wir Sex hatten, zu groß ist mein Verlangen und zu früh spüre ich, wie mein Orgasmus naht, sich alles in meinem Unterleib zusammenzieht. Zum Glück geht es Jules über mir nicht besser und kurz darauf spüre ich, wie sich sein Körper versteift, sein Becken zuckt und er sich in meinen Mund ergießt. Das reicht, damit ich ihm folge und mich fallen lasse. Der Orgasmus erfasst, reißt mich mit, schenkt mir diesen kurzen, wunderbaren, perfekten Moment völligen Glücks.
Jules lässt sich neben mich fallen, dreht sich nur noch um, damit er seinen Kopf auf meiner sich hektisch bewegenden Brust ablegen kann. Ich schlinge meine Arm um ihn und genießen diesen die sanften Nachwehen des Orgasmus.
„Warum gleich haben wir das so lange nicht mehr gemacht?“, fragt Jules und dreht sich ein wenig, dass er mich ansehen kann.
„Ich weiß nicht“, antworte ich und küsse ihn auf die Nasenspitze. „Auf jeden Fall sollten wir nicht wieder so lange warten.“
„Hm, wie lange brauchst du, ehe wir weitermachen können?“ Er zieht vielsagend die Augenbrauen hoch. „Immerhin wollten wir uns durch die ganze Wohnung vögeln.“
„Lieben, nicht vögeln.“
„Von mir aus auch das.“ Er zieht mich eng an sich heran. „Aber erst muss ich mich einen kleinen Augenblick ausruhen. Mir fehlen ein paar Stunden Schlaf.“
„Du wirst doch alt“, necke ich ihn, kuschele mich aber dicht an ihn.
„Darüber reden wir später noch einmal. – Und jetzt schlaf, damit du nachher fit bist.“
Zum Glück schützt uns der zeltartige Baldachin vor der Sonne, denke ich und schließe meine Augen, lasse mich mit dem glücklichen Gefühl, Jules im Arm zu halten, in den Schlaf treiben.
Mit meinem letzten bewussten Gedanken hoffe ich, dass wir in Zukunft klüger mit unserer Liebe umgehen und sie nicht wieder in der Routine des Alltags vergraben.
Texte: Gabriele Oscuro
Bildmaterialien: Bildmaterial Pixabay bearbeitet von Caro Sodar
Lektorat: Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 28.04.2016
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ein großes Dankeschön an Caro Sodar für das wundervolle Cover.