Wie lange bin ich schon nicht mehr hier gewesen? Während ich mit meiner Oma am Arm langsam auf die hell erleuchtete Kirche zugehe, rechne ich nach: dreizehn Jahre ist es her. Damals wohnten wir in Oma Mimis Haus, bis mein Vater Karriere machte und wir begannen durch die Welt zu ziehen.
Die Glocken beginnen zu läuten und ich hebe den Blick zum Kirchturm. Weiß verputzt setzt er sich von dem dunklen Abendhimmel ab. Ein Stern erstrahlt an der uns zugewandten Seite. Ich muss lächeln, mit diesem Kirchturm verbinde ich ganz besondere Erinnerungen.
Wenig später betreten wir das dunkle Kirchenschiff. Die Beleuchtung ist nicht eingeschaltet. Jeder Besucher erhält ein Teelicht in einem bunten Glas. Diese Lichter tauchen die Kirche in ein anheimelndes Licht. An einem deckenhohen Weihnachtsbaum im Altarraum brennen unzählige kleine elektrische Lämpchen.
In meiner Jugend waren es noch echte Kerzen, die der Küster, Herr Hering, vor dem Gottesdienst entzündete. Die ganze Familie ging damals am Nachmittag in die Andacht mit Krippenspiel. Der Pastor, Kuno Flansch, sah für uns mit seinen grauen Haaren uralt aus. Ob er inzwischen in Rente ist?
Oma Mimi zieht mich in eine Bank, die im Schatten der Empore liegt, und ich hoffe, dass ich nicht gleich einschlafe. Schnell werfe ich einen Blick auf mein Handy, erst 22:45 Uhr, noch eine Viertelstunde, bis der Gottesdienst anfängt. Ich sehe mich um, in der schwachen Beleuchtung kann ich nur die Personen erkennen, die in nächster Nähe sitzen. Vor uns in der Reihe sitzt Fräulein Rehlein, meine ehemalige Deutschlehrerin. Ob sie sich noch an mich erinnert? Wahrscheinlich nicht, ich war ein stilles, unauffälliges Kind, ganz anders als Mirko. Meine Mundwinkel zucken, als ich mich daran erinnere, wie Mirko Fräulein Rehlein fast in den Wahnsinn getrieben hat.
Mirko … Genau in diesem Moment läuten erneut die Glocken und mit einem Mal sind alle Erinnerungen wieder da. Mirko, ich und der Glockenturm …
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Konfirmandenunterricht. Jeden Donnerstag nach der Schule saßen wir in dem kleinen, nach Staub riechenden Zimmer im Gemeindehaus. Mirko und ich immer in der letzten Reihe. Mirko zeichnete kleine Kaninchen, Schweinchen und Papageien auf den Umschlag seines Blocks. Pastor Flansch redete und redete und redete. Ich könnte heute nicht mehr sagen, was er uns erzählte – und auch damals hätte ich es nicht gewusst. Seine Stimme wirkte einschläfernd auf meinen Geist. Egal wie sehr ich mich anstrengte, ich konnte mich nicht konzentrieren, wenn er redete. Mirko ging es nicht anders. In regelmäßigen Abständen seufzte er neben mir. Mit dem Ellenbogen stieß ich ihn in die Seite. Mit großen Buchstaben schrieb er ‚laaaaangweilig‘ auf seinen Block, ich kicherte und nickte.
„Was ist so komisch, Gero? Willst du uns daran teilhaben lassen?“ Pastor Flansch sah mich über seine Brille hinweg an. Schnell schüttelte ich den Kopf und spürte, wie mir die Hitze in die Wangen stieg.
„Und du, Mirko, magst du uns erzählen, was so lustig ist?“
Unter dem Tisch trat ich Mirko, damit er nichts Falsches sagte. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass seine Zunge oft schneller war als sein Kopf.
„Wie wäre es, wenn ihr zwei uns mal eben die zehn Gebote aufsagt?“ Pastor Flansch erhob sich und stellte sich vor unseren Tisch.
„Die müssen wir doch erst nächste Woche auswendig können“, empörte sich Mirko und die Augenbrauen unseres Pastors zogen sich bedrohlich zusammen.
„Wenn ihr das nicht könnt, dann habe ich nach der Stunde eine geeignete Beschäftigung für euch. Die wird euch die Langeweile schon vertreiben.“ Fast freundschaftlich zwinkerte er uns zu und ging wieder zu seinem Pult.
Nach neunzig Minuten war der Unterricht vorbei. Mirko und ich blieben sitzen und warteten, was sich Pastor Flansch für uns ausgedacht hatte.
„So. Dann wollen wir mal sehen …“ Er blieb vor uns stehen und schob seine Brille wieder hoch, zog dann hinter seinem Rücken zwei Staubtücher hervor. „Der Glockenturm. Von oben bis unten. – Und die Tribüne. Die Anna schafft das nicht mehr.“ Anna war die Ehefrau des Küsters und stand genau wie ihr Mann kurz vor der Rente.
„Wir sollen putzen?“
„Ja, genau. Vielleicht passt ihr das nächste Mal besser auf, dann bleibt euch das erspart.“ Mit einem Nicken entließ er uns.
„Staubwischen? Der hat sie doch nicht mehr alle!“ Mirko zeigte der geschlossenen Tür einen Vogel.
„Nun komm schon, ich habe keine Lust auf noch mehr Stress“, entgegnete ich und zog Mirko in Richtung des Glockenturms. Gemeinsam stiegen wir die Stufen hoch, bis unter das Dach. Hier hingen drei unterschiedlich große Glocken. In früheren Zeiten wurde das Glockenspiel durch drei Männer gespielt, inzwischen wurde es elektronisch gesteuert.
Mirko trat an eins der Fenster und blickte hinaus. „Komm her, Gero, von hier kann man ganz weit sehen.“
Ich trat neben ihn. Ein toller Ausblick. Es war Mai und die weiß blühenden Kirschbäume wirkten von hier oben wie riesige Wattebäusche. Noch zwei Wochen, dann hatten wir diese wöchentliche Tortur hinter uns.
„Gero?“
Ich drehte den Kopf. Mirko hatte eine Stupsnase mit unzähligen Sommersprossen, rotbraune Haare und hellblaue Augen, in die ich jetzt sah.
Wir kannten uns seit Jahren, waren zusammen in den Kindergarten gegangen, hatten die Grundschule hinter uns gebracht und besuchten dieselbe Klasse am Gymnasium. Von Anfang an waren wir die besten Freunde, vor ein paar Wochen jedoch war etwas passiert. In mir veränderten sich die Gefühle für Mirko. Auf einmal stellte ich mir vor, wie es wäre ihn zu küssen …
Schnell schlug ich die Augen nieder, während ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen kroch. Bevor ich mich wegdrehen konnte, hielt Mirko mich fest. Er legte eine Hand unter mein Kinn und zwang mich ihn anzusehen. Ungewohnt ernst war der Blick, mit dem er mich forschend betrachtete. Mein Herz raste, schlug hart gegen meine Brust. Erkannte er, was ich fühlte? Würde er mich dafür verachten, auslachen oder hassen?
Auf einmal beugte er sich vor und küsste mich. Eine schnelle, harte Berührung unserer Lippen. Überrumpelt starrte ich Mirko an. Was war das?
Nervös biss er sich auf die Lippen, schaute über meine Schulter. „Ich dachte … hatte das Gefühl …“, stammelte er und zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, errötete Mirko.
Fühlte er ähnlich wie ich? Ohne länger darüber nachzudenken, legte ich meine Hand in seinen Nacken, zog ihn heran und küsste ihn mindestens genauso ungeschickt.
Der Kuss wurde länger und weitere folgten. Mit jedem wurden wir besser …
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Nachdem das Glockengeläut verhallt ist, beginnt die Orgel. Der Pastor und einige Kirchenvorstandsmitglieder gehen durch die Kirchenbänke nach vorne in den Altarraum. Ich kann nur erkennen, dass es sich nicht mehr um den grauhaarigen Pastor Flansch handelt, der die kleine Gruppe anführt. Bevor ich Oma Mimi fragen kann, beginnt die Orgel erneut und die Gemeinde stimmt ein Weihnachtslied an.
Vor dreizehn Jahren bedeutete das Weihnachtsfest den Abschied von meinem alten Leben. Wir gingen für zwei Jahre nach Brasilien und ich musste Mirko verlassen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das überleben sollte. Schwarz und schwer lag die Angst vor den Tagen ohne Mirko auf meiner Seele.
Von jenem 17. Mai bis zum 27. Dezember waren wir zusammen, ein Paar. Nicht dass es unserer Umgebung besonders auffiel, wir waren schon immer unzertrennlich. Jeden Tag sahen wir uns, trafen uns oft in dem Glockenturm, den wir, nachdem wir festgestellt hatten, dass ihn sonst eigentlich nie jemand betrat, zu unserem Versteck erkoren. Wir liebten uns heimlich, weniger aus Angst vor den möglicherweise ablehnenden Reaktionen unserer Umgebung, als vielmehr in einem völlig egoistischen Gefühl, unsere Liebe mit niemandem teilen, sie nicht erklären oder rechtfertigen zu müssen, nicht Freunde oder Mitschüler darüber tratschen zu hören. In unserem Glockenturm konnten wir unsere Gefühle genießen, sie ausprobieren und auch uns ausprobieren.
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Ein Rippenstoß meiner Oma bringt mich zurück in die dunkle Kirche. Der Pastor geht die schmale Treppe zur Kanzel hoch. Ich seufze, ob er genauso langweilig predigt wie Pastor Flansch? Dann schlafe ich garantiert gleich tief und fest!
Oben in dem Licht der kleinen Leselampe, die die Notizen vor ihm auf dem Pult erhellt, kann ich sein Gesicht sehen. Mein Atem stockt. Das kann nicht sein!
Ein kleines Kichern neben mir macht mir deutlich, dass es wahr ist – und dass ich wahrscheinlich gerade ziemlich dümmlich mit offenem Mund aus der Wäsche schaue.
Dort oben steht Mirko. Dreizehn Jahre älter, doch unverkennbar mein Mirko.
Mein Mirko? Halt, stopp, ich zügele meine Gedanken. Damals war er mein Mirko, oben in der Abgeschiedenheit unseres Turmes, wenn wir uns liebten und nicht nur die Kirchenglocken fröhlich bimmelten.
Die Röte, die bei diesen Gedanken in mein Gesicht steigt, hat weniger etwas mit Scham als mit erhöhtem Blutdruck und einer schnelleren Blutzirkulation, die zu einem gewissen Druck in meinem Schritt führt, zu tun. Unsere gemeinsamen sieben Monate waren erfüllt mit unerschöpflichem Forscherdrang. Empirisches Lernen bekam eine neue Bedeutung. Als ich in das Flugzeug stieg, kannte ich jeden Zentimeter von Mirko, wusste, was er liebte, was ihn antörnt, wie er schmeckte und roch. Habe ich jemals einen Mann gründlicher und eingehender studiert? Kenne ich den Körper irdendeines anderen Mannes genauso gut? Zumindest kann ich mich an keinen erinnern.
„Ich wusste, du erkennst ihn wieder“, flüstert Oma Mimi mir mit einem Zwinkern zu. Erstaunt sehe ich sie an, wieder kichert sie sehr undamenhaft. „Meinst du wirklich, ich habe nicht gesehen, was zwischen euch los war? Dummkopf!“
Genau das hatte ich gedacht, dass keiner sehen konnte, was zwischen uns lief. Offensichtlich täuschte ich mich. Mein Blick fährt hoch zur Kanzel. Jetzt erst dringt seine Stimme zu mir durch. Tiefer, reifer und doch unverkennbar Mirko. Ich verstehe nicht wirklich, was er sagt, dazu bin ich zu verwirrt, überrollt von den Ereignissen.
Der letzte Tag dort oben im Glockenturm …
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„Ist es das Ende?“ Mirko stand an die Fensteröffnung gelehnt. Im Winter war es kalt hier oben, die Schlafsäcke, in denen wir die kühlen Tage verbracht hatten, standen zusammengerollt an der Treppe.
„Ja“, antwortete ich und hasste mich für meinen kühlen Ton. Doch wenn ich meinen Gefühlen nachgeben würde, könnte ich Mirko niemals verlassen. Schon jetzt zerriss es mich.
„Können wir nicht wenigstens Freunde bleiben, uns schreiben? Vielleicht könnte ich dich – oder du mich – mal besuchen …“
Genau hörte ich in seiner Stimme, was ich fühlte: die Angst, den anderen, unsere Liebe zu verlieren. Doch wie sollten wir sie erhalten, tausende von Kilometern getrennt, ohne Hoffnung uns wiederzusehen?
„Das hat doch keinen Zweck! Warum hinauszögern, was unvermeidbar ist?“ Innerlich starb ich, während ich meinen Schlafsack hochhob und mich der Bodenklappe zuwandte. „Ich denke nicht, dass wir uns wiedersehen, warum sollten wir also unsere Zeit mit Briefeschreiben verschwenden.“
Und schnell rannte ich die Treppe hinunter, spürte die Tränen, die meine Wangen hinabliefen, und floh nach Hause, in die Hektik des bevorstehenden Umzugs. Keiner sah meinen Kummer, außer Oma Mimi. Sie versuchte mich mit heißer Milch und Schokolade ein wenig zu trösten. Wobei ich nie gedacht hätte, dass sie wusste – oder ahnte, warum ich wirklich am Boden zerstört war.
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Ich kann Mirko nicht begegnen! Auf keinen seiner Briefe habe ich geantwortet, keine seiner verzweifelten Bitten um ein Wort erhört. Damals konnte ich das nicht. Heulend habe ich mit jedem seiner Briefe auf meinem Bett gelegen, habe mir verzweifelt gewünscht bei ihm zu sein und war nicht in der Lage meine Zerrissenheit, meinen Schmerz in Worte zu fassen. Was sollte es uns helfen, wenn wir beide wussten, wie sehr wir litten? Es gab keine Möglichkeit, diesen Zustand zu ändern.
Musste er mich nicht hassen? Oder verachten? Auf jeden Fall würde es eine peinliche Begegnung werden. Ein Treffen, dem ich mich in diesem Moment nicht gewachsen fühlte.
„Müssen wir ihm begegnen?“, flüsterte ich Oma Mimi ins Ohr.
„Ich dachte, du würdest dich freuen …“ Ein Blick in meine Augen sagt ihr, dass ich mich gerade überhaupt nicht freue, sondern Angst vor einem Zusammentreffen habe.
„Dann sehen wir zu, dass wir ohne Handschlag an ihm vorbeikommen“, sagt sie und legt mir beruhigend die Hand auf den Arm. Zum Glück ist der Gottesdienst bald beendet und Oma schiebt mich geschickt mit dem Strom der Menschen durch die weit geöffnete Kirchentür, an deren einen Seite Mirko steht und die Hände der Besucher schüttelt, ihnen ein frohes Weihnachtsfest wünscht.
Genau in dem Moment, als wir schon fast weg sind, hebt er den Kopf und unsere Blicke kreuzen sich. Erkennt er mich? Ich weiß es nicht, Oma schiebt mich von hinten weiter und ein älterer Herr zieht Mirkos Aufmerksamkeit auf sich.
In dem riesigen Haus, das Oma zurzeit alleine bewohnt, angekommen, verschwindet Oma Mimi gleich gähnend in ihr Zimmer. Ich tigere durch Wohnzimmer, Küche, Wintergarten und Flur. Mirko. Erinnerungen ziehen an mir vorbei. Viele, von denen ich gar nicht mehr wusste, dass sie sich noch irgendwo in mir verbargen. Kleinigkeiten, die sich tief in mein Herz gegraben haben.
Mühsam verscharrte ich sie, schaufelte Erde darüber und ließ sie nicht mehr zu. Doch wie ein Springteufel kommen sie heute Nacht alle hervor. Der Garten breitet sich vor den bodentiefen Fenstern aus. Einen Moment dauert es, ehe ich sehe, dass es schneit. Kleine Flöckchen fallen vom Himmel, bedecken sachte Bäume, Büsche und den Rasen.
Vielleicht gibt es doch noch weiße Weihnachten.
Was mache ich hier? Bin ich wirklich ein Idiot und nutze die Chance, die sich mir bietet, nicht? Wenn Mirko mich hasst, dann wird er mir das sagen!
Ich springe auf, schlüpfe in die Winterstiefel und meine Parka, wickele den regenbogenfarbenen Schal, den Oma mir gestrickt hat, zweimal um meinen Hals und stapfe los.
Der Pastor wohnt in dem Gemeindehaus gleich neben der Kirche. Ein großer weißer Stern leuchtet in dem überdachten Eingangsbereich. Ich umrunde das Haus. Vom Garten aus kommt man zu der großen Terrasse. Vielleicht brennt kein Licht mehr und Mirko schläft schon …
Doch sanfter Schein erhellt den Schnee, der jetzt in dicken Flocken fällt.
Was, wenn Mirko nicht alleine ist? Vielleicht hat er Familie, ist bi, nicht schwul? Oder einen Partner? Kurzfristig wird mir schlecht. Ich kann doch nicht davon ausgehen, dass er niemanden hat und nur auf mich wartet. Fast drehe ich wieder um …
Nein, ich muss es zumindest herausfinden.
Im Schatten der Hecke gehe ich weiter in den Garten, bis ich in das Wohnzimmer sehen kann.
Als Erstes sehe ich den großen, offenen Kamin, in dem ein Feuer brennt. Davor stehen ein gemütlich aussehender Sessel und daneben ein kleiner Beistelltisch.
Bevor ich mich weiter umsehen kann, betritt Mirko mit einem Becher in der Hand den Raum und geht zu dem Sessel. Seine Haare locken sich noch immer im Nacken.
Noch während mein Kopf darüber nachdenkt, ob ich es wirklich wagen soll, gehen meine Füße los, über den knirschenden Schnee, die Schräge zur Terrasse hoch.
Sieht Mirko den Schatten, der sich über den Rasen auf sein Haus zubewegte? Auf jeden Fall steht er auf, kommt an die Tür und schiebt sie auf. Davor bleibe ich stehen. Wir schauen uns in die Augen. Meine Gefühle machen einen Zeitsprung, nichts scheint sich für sie in den letzten dreizehn Jahren verändert zu haben.
„Gero.“ Nicht als Frage formuliert, nur eine Feststellung. Ich schlucke. Aus seinem Ton kann ich nichts herauslesen. Keine Freude, keine Wut, keine Abneigung …
„Hallo, Mirko“, sage ich und mein Herz schlägt in meiner Kehle, ich muss mich räuspern.
Mit einem Mal grinst er und sieht genauso aus wie damals. „Du siehst aus wie ein Schneemann! Willst du vielleicht hereinkommen?“
Ich nicke nur und folge ihm ins Innere. Wohlige Wärme empfängt mich.
„Bleib stehen, ich hole Handtücher, damit nicht gleich das ganze Wohnzimmer schwimmt, wenn du taust.“ Mit einem Zwinkern ist er weg.
Das Zimmer ist groß und gemütlich. Die beherrschenden Farben sind Braun und Dunkelrot. In einem kleinen Zimmer würden sie bedrückend wirken, hier passt es gut.
„Einmal zum Abtrocken.“ Mirko wirft mir ein Handtuch zu. „Wenn du mir deine Jacke und deine Stiefel gibst, hänge ich sie im Wirtschaftsraum auf.“
Wenig später sitze ich mit einem Becher heißen Tee in der Hand und in eine warme Decke eingehüllt auf dem Sofa. Mirko mir zugewandt daneben. Über den Becherrand hinweg blickt er mich immer wieder an, ist aber offensichtlich nicht bereit, das Gespräch zu eröffnen.
„Viel gemütlicher hier als beim alten Flansch“, sage ich und schaue ihn ebenfalls über den Rand meines Bechers an.
Mirko lacht. „Na ja, viel schlimmer ging es ja auch nicht.“
Warum springt alles in mir immer noch auf ihn an? In den letzten Jahren habe ich wenig bis gar nicht an ihn gedacht, warum schlägt er heute wie ein Blitz bei mir ein und legt alle vergrabenen Gefühle wieder frei?
„Nein, das war schon schrecklich“, bestätige ich. „Warum bist du Pastor geworden?“
„Das ist eine schwierige Frage. Ausgerechnet ich, der ich mich nur konfirmieren ließ, weil du es getan hast.“ Mirko lächelt und ich will ihn unbedingt küssen, traue mich aber nicht.
„Nach dem Abitur habe ich ein halbes Jahr Latein und Geschichte auf Lehramt studiert. Dabei habe ich jemanden kennengelernt, der mich dazu gebracht hat, mich mit einem Theologiestudium auseinanderzusetzen.“ Nachdenklich sieht Mirko in seinen Becher und mir gefällt die Idee nicht, dass dieser jemand mehr für ihn war.
„Nein, es war eine Frau“, beantwortet Mirko meine unausgesprochene, aber anscheinend meinem Gesicht deutlich abzulesende Frage mit einem schiefen Grinsen. Ich sollte mich bemühen, meine Gefühle nicht offen zu zeigen. Immerhin habe ich kein Recht darauf, eifersüchtig zu sein.
Aber wenn ich ihn ansehe, dann ist alles wieder da, dann ist er mein Mirko und ich will eigentlich nichts anderes, als mit ihm ins Bett zu gehen, ihn durchzuvögeln – oder mich von ihm durchzuvögeln lassen, da bin ich flexibel – und dann in seinem Arm einzuschlafen. – Und das nicht nur heute …
Der Gedanke erschreckt mich selbst.
Hallo, Gero, komm runter von diesem Trip! Diesen Mann hast du seit dreizehn Jahren nicht gesehen, du weißt gar nichts von ihm, hast keine Ahnung, wie er tickt, und denkst an eine gemeinsame Zukunft? Wenn du dich nicht wieder einkriegst, kommen noch die Männer mit den weißen Jacken!
„Jedenfalls beschloss ich zu wechseln und Theologie zu studieren. – Ja, ich weiß von all jenen, die es für unmöglich halten, schwul und in der Kirche zu sein. – Bei der Katholischen Kirche gebe ich ihnen vollkommen recht. – Und nicht nur zu sein, sondern sie noch zu vertreten, doch die Kirche ist im Wandel und ich will ihn mitgestalten, weil ein Wandel in der Kirche auch einen Wandel in der Gesellschaft bedeutet.“ Seine Augen glänzen, er lehnt sich vor und berührt mein Knie. „Ich darf homosexuelle Paare segnen, das ist mehr Anerkennung, als ihnen die Politik zugesteht. Vor meinem Gott sind sie gleich, vor dem Gesetz nicht.“
Sein Enthusiasmus war mitreißend. Ich lege meine Hand auf seine. „Auf jeden Fall scheinst du deine Arbeit zu lieben.“
„Ja, das tue ich.“
Von seiner Hand geht eine Hitze aus, die sich langsam auf meinem Bein ausbreitet. Sie kriecht zwischen meine Beine, sorgt für ein leises Pochen in meinem Unterleib. Kann ich nur an Sex denken?
„Und was machst du?“
„Ich bin Lehrer. Für Spanisch und Französisch. Mit meinen Eltern habe ich so lange im Ausland gelebt, dass ich schon fließend Spanisch sprach, der Rest ist mir leichtgefallen.“ Auf Brasilien folgte Spanien, danach ging ich zum Studieren nach Deutschland. Meine Eltern reisten weiter: Chile, Südafrika und jetzt Ungarn.
„So, so, du kannst also französisch“, sagte Mirko mit einem anzüglichen Lächeln.
„Das konnte ich schon, bevor ich Deutschland verließ, wenn du dich erinnerst.“
„Ja, ich erinnere mich gut.“ Für einen Moment sieht er traurig aus und mein Herz wird schwer, dann lächelt er wieder. „Und wie kommt es, dass du dieses Jahr Weihnachten hier bist?“
„Ich bin der Einzige der Familie, der in diesem Jahr Weihnachten mit Oma Mimi verbringen kann. Sonst war ich meist – immer – unterwegs und alle anderen trafen sich hier.“ Ich war gerne gekommen, ohne von Mirko gewusst zu haben, denn ich mochte meine Oma. Wenn ich lange nicht hier war, lag das nicht an Oma Mimi, sondern meinem eigenen Problem mit meinem Weggang.
„Bist du allein hier oder hast du … einen Freund?“ Statt mich anzusehen, betrachtet Mirko interessiert seinen Tee.
„Nein.“ Kurz überlege ich, die Aussage näher zu erläutern und von meinen vielen Fehlgriffen zu berichten. „Und du?“
Mirko lächelt und sieht mir in die Augen. „Nein, ich habe mein Herz nur einmal verschenkt, alle anderen waren nur vorübergehende Freizeitgestaltung.“
Ich wage nicht zu glauben, dass er mich meint. Das kann nicht sein! Immerhin sind dreizehn Jahre eine lange Zeit und wir waren pubertierende Jugendliche, als wir uns trennten, gerade fünfzehn Jahre alt.
„Und er hat dich nicht geliebt?“, frage ich und spüre, wie sich mein Magen zusammenzieht.
„Ich glaube, er hat mich genauso geliebt wie ich ihn, aber er musste gehen und vielleicht ist es ihm gelungen mich zu vergessen.“ Mirko lehnt sich ein Stück vor und ich kann ihn riechen. Ein Duftgemisch aus einem wirklich geilen Aftershave und seinem Eigengeruch, der noch viel geiler ist, umgibt ihn. Verdammt, ich will ihn!
Mein Mund ist staubtrocken und mein Herz rast. Ich sehe in seine wunderschönen Augen, die nur wenige Zentimeter entfernt sind. Ohne weiter darüber nachzudenken, überbrücke ich die letzten Zentimeter und küsse ihn.
Kein Zögern, kein Erstaunen, Mirko geht sofort auf meinen Kuss ein. Sein Arm umfasst mich, zieht mich näher. Bereitwillig folge ich, lasse mich auf seinen Schoß ziehen. Augenblicklich spüre ich, dass er ebenso erregt ist wie ich.
Diese Information lässt alle Schranken fallen. Ich will ihn, er will mich und nichts steht diesem Bedürfnis im Weg.
Mirko lässt sich auf den Rücken fallen und zieht mich mit. Verlangend lasse ich mein Unterleib kreisen und er stöhnt in meinen Mund. Schon vor all den Jahren hatten mich die Töne, die er beim Sex von sich gab, angemacht. Kehlig und rau schienen sie ganz tief aus seinem Inneren zu kommen, direkt aus seinem heißen Schwanz.
„Lass uns auf den Glockenturm gehen“, sagt er heiser.
„Bist du verrückt, es ist kalt!“
„Na und? Früher hat uns die Kälte auch nicht gestört.“ Mirko lacht leise.
„Das ist dreizehn Jahre her …“, entgegne ich.
„Du bist alt geworden?“
Empört kitzele ich ihn. „Ich bin nicht alt“, schmolle ich.
„Dann komm!“ Kichernd hält er meine Hände fest. „Lass uns gehen.“ Er setzt sich mit mir auf.
„Du meinst das ernst“, stelle ich fest und stehe auf.
„Ja“, sagt Mirko und nimmt mein Gesicht in seine Hände. „Bitte, Gero.“ Dann küsst er mich und ich weiß, ich kann ihm nichts abschlagen.
Der Glockenturm ist kleiner, als ich ihn in Erinnerung habe. Oben ist es kalt und zugig. Ich sehe hinaus, von oben wirkt die schneebedeckte Landschaft unberührt, verzaubert.
Mirko rollt eine Isoliermatte aus, breitet die beiden Schlafsäcke darauf aus und verbindet sie mithilfe der Reißverschlüsse. Sogar an ein Kissen hat er gedacht – und Teelichter, die er überall verteilt. Ich helfe ihm alle zu entzünden, ehe wir uns ausziehen und kichernd schnellstens in den riesigen Schlafsack klettern.
Wir kuscheln uns aneinander, auf einmal von einer gewissen Scheu gepackt, und sehen uns in die Augen.
„Erinnerst du dich noch an unsere erste Nacht hier oben?“ Mirko legt seine Hand auf meine Wange. „Es war nicht so kalt …“
„Nein, kalt war es den Tag nicht.“ Natürlich erinnere ich mich. In dieser Nacht war es warm, sehr warm, und hier oben war es heiß, sehr heiß! Zum ersten Mal gingen wir weiter, beschränkten uns nicht nur aufs Küssen und harmloses Fummeln. Wir hatten uns auch eine Decke mitgebracht …
„Ich war aufgeregt und schrecklich verliebt in dich.“ Zärtlich küsst er mich. „Und ich hatte furchtbare Angst, dich zu enttäuschen.“
„Du mich?“ Erstaunt sehe ich ihn an. „Du bist … warst so perfekt – nein, du bist es!“
„Bin es?“ Erstaunt sieht er mich an.
„Verdammt, ja!“ Ich küsse ihn, ziehe ihn an mich heran. Sein heißer Körper presst sich gegen mich. Das Blut rauscht auf seinem Weg in meinen Unterleib durch meine Ohren. Er bringt mich immer noch in Sekundenschnelle von null auf hundert. Genau wie damals, hoffentlich komme ich nicht wieder peinlich frühzeitig, nur von der intensiven Berührung.
Seine Hände gleiten über meinen Rücken, Gänsehaut folgt ihnen. Kraftvoll umfasst er meinen Hintern, knetet ihn, drückt dabei mein Becken gegen seins. Sein Schwanz gegen meinen. Ich stöhne in seinen Mund.
Er löst seinen Mund ein winziges Stück. „Du bist geil! Ich will dich!“ Ich spüre die Bewegung seiner Lippen, nur eine feine Berührung, wie sein Atem, der mich streift – genug jedoch, um mich um den Verstand zu bringen.
„Nimm mich“, raune ich heiser, reibe mich an ihm. Diesmal stöhnt Mirko hörbar auf. Wieder fährt mir der raue Ton direkt zwischen die Beine. Ich lege mein Bein über seine Hüfte, schlinge es um seinen Oberschenkel. Ich brauche seine Nähe.
Erneut treffen sich unsere Münder, Zungen, vermischt sich unser Atem. Ich koste ihn, erinnere mich an seinen Geschmack, das Gefühl seiner Nähe und der Lust, die er in mir weckte. Nur wenige Monate, die ersten Erfahrungen, die erste Liebe, und doch habe ich nichts vergessen, alles ist wieder da, mit einem Schlag und genauso intensiv wie vor dreizehn Jahren.
Mirko dreht sich auf den Rücken, zieht mich auf sich. Die kalte Luft, die mich streift, lässt mich frösteln und ich schmiege mich an ihn. Er zieht mich ein Stückchen höher, damit seine Finger mich bequem erreichen. Verrückt, wie sich Erinnerungen und Gegenwart verbinden. Unser erstes Mal, ich auf ihm, aufgeregt und kichernd. Seine Finger, die zwischen meinen Backen glitten – gleiten. Wieder sind sie erstaunlicherweise feucht. Wie schafft er es, Gleitmittel zu verwenden, ohne dass ich es merke? Eigentlich ist es egal, ich schiebe meine Knie höher neben seinen Brustkorb, öffne mich weit für ihn. Massierend erkundet Mirko mich, während sein Mund mich schier in den Wahnsinn treibt. Seine Küsse waren schon immer das beste Mittel, mein Gehirn zu schmelzen. Manchmal habe ich mich gefragt, ob er heimlich geübt hat, doch seiner Aussage nach gab es vor mir niemanden in seinem Leben – und da wir beide erst vierzehn waren, glaubte ich ihm. Er ist ein Naturtalent.
Sein Finger durchdringt den Muskelring, dehnt mich und in meinem Körper pulsiert das Verlangen gleich einem Fieber. Ich will – muss ihn spüren!
„Kondom“, hauche ich in sein Ohr und er lacht atemlos.
„Noch immer so ungeduldig?“, wispert er und löst eine Hand von mir. Statt einer Antwort küsse ich ihn nur fordernd. Wenig später hält er mir die knisternde Verpackung vor die Nase.
Langsam rutsche ich tiefer in den Schlafsack, gönne mir eine Reise über seinen Körper. Nur ein paar Härchen wachsen um seine hellen Brustwarzen, ich widme beiden ein paar Momente. Mirko stöhnt, seine Hände fassen in meine Haare. Ich liebe seinen sensiblen Körper. Ob die verschiedenen Stellen, die ich in fast wissenschaftlicher Akribie erforscht habe, noch immer empfindlich reagieren? Ich erinnere mich an jede von ihnen, lasse meinen Mund und meine Zunge auf die Wanderschaft gehen.
Habe ich je wieder einen Körper derart gut gekannt? Es ist dunkel in dem Schlafsack, sonst könnte ich sehen, ob auch jeder Leberfleck noch an seinem Platz ist und wie viele dazugekommen sind.
Endlich legen sich meine Lippen um seinen Schwanz. Auch seinen Geschmack erkenne ich wieder … mein erster Blowjob, hier im Glockenturm. Aufregung und Angst, etwas falsch zu machen … salzig und fremdartig … die Erfahrung, Lust zu spüren, indem ich Lust schenkte … die Sonne schien in den Turm, ich sah von unten hoch in Mirkos Augen, spürte nicht nur seine Erregung, sondern konnte sie dabei betrachten.
„Gero“, keucht Mirko. „Wenn du so weitermachst …“
Ich muss lächeln, reiße vorsichtig im Dunkeln die Packung auf. „Heb mal die Decke an“, knurre ich und ein wenig flackerndes Licht erreicht mich, als Mirko meinem Wunsch nachkommt. Geschickter als damals rolle ich das Gummi über sein wunderschönes Glied. Leicht gebogen, seidig glatt und nicht zu groß.
„Komm her“, flüstert Mirko und ich schiebe mich über seinen Körper nach oben. Draußen ist es immer noch kalt, doch das berührt mich nicht mehr. Das Feuer in mir brennt heiß genug. Wir küssen uns.
Endlich schiebe ich mich tiefer, bis ich Mirkos Erektion spüre. Der Rest ist einfach, vertraut. Es fühlt sich nicht an, als sei es dreizehn Jahre her.
Meine Hände lege ich auf seine Brust, stütze mich ab, damit ich sein Gesicht sehen kann, und bewege mich langsam. Ein wundervolles, berauschendes Gefühl, ihn in mir zu spüren. Beim ersten Mal war alles schwieriger, ein wenig schmerzhaft und ungeschickt.
Durch halb geschlossene Augenlider sieht Mirko mich an, den Mund leicht geöffnet, atmet er keuchend. In seinem Blick liegt Begehren – und Liebe, oder? Will ich das nur, weil ich es fühle? Genau wie damals, als mir klar wurde, dass ich Mirko mit jeder Faser meines Herzens liebe.
Genießend steigere ich das Tempo, kämpfe gegen den Drang, schneller zu werden. Dieser Moment muss ausgekostet werden, sein Körper im Licht der flackernden Kerzen, hier oben, an unserem Platz.
Mirkos Finger krallen sich in meine Arme. „Komm her, küss mich“, fordert er und ich folge seinem Wunsch. Näher kann man einem Menschen nicht kommen – ein gutes Gefühl.
Mirko dreht uns, bis er auf mir liegt. „Ich habe lange auf dich gewartet“, murmelt er und küsst mich sanft. „Fast hatte ich die Hoffnung aufgegeben, dich wiederzusehen.“ Seine Hände wühlen in meinem Haar, sein Blick liebkost mich und ich lächele.
„Wenn ich gewusst hätte, dass du hier bist …“ Warum hatte Oma Mimi mir das nie erzählt?
Mirko steigert das Tempo und der Gedanke zerstiebt. Er schiebt sich dabei näher, hebt mein Becken leicht und trifft meine Prostata. Denken eingestellt, nur noch fühlen, nur noch Lust. Ich schlinge Arme und Beine um ihn, gebe mich seinen Stößen hin und lasse mich immer höher tragen … bis zum Gipfel …
„Gero.“ Mit meinem Namen auf den Lippen presst sich Mirko in mich, wird geschüttelt von seinem Orgasmus, reißt mich mit. In seinen Armen stürze ich, falle, fliege. Ich verbrenne, schmelze, löse mich auf, bis ich nur noch Befriedigung bin. Glücklich. Zufrieden.
„Ich liebe dich, Gero“, haucht Mirko und ich halte mich an ihm fest, um nicht fortzufliegen.
„Ich liebe dich auch, Mirko“, antworte ich leise.
Wir sehen uns in die Augen. Kann das wahr sein? Dreizehn Jahre sind verschwunden, es gibt keinen Zweifel. Dies ist der Mann, den ich liebe, immer geliebt habe und hoffentlich immer lieben werde.
„Manchmal werden Weihnachtswünsche doch wahr“, sagt Mirko und legt seine Hände an meine Wangen.
„Bin ich dein Weihnachtswunsch?“, frage ich nach, obwohl ich die Antwort in seinen Augen lese.
„Ja, schon lange, doch auf manche Geschenke lohnt es sich zu warten“, erwidert er grinsend.
Da stimme ich ihm zu. Auf diesen Moment zu warten hat sich gelohnt. Ich will nicht, dass er sich löst, doch er muss das Kondom entfernen. Wie wäre es ohne störendes Gummi miteinander zu schlafen? Ein neuer Gedanke, denn bisher ging Sicherheit vor. – Wenn wir aber ein Paar wären …
Stopp, meine Gedanken nehmen schon wieder drei Schritte auf einmal.
Mirko rollt sich neben mich, zieht mich eng an sich. Jetzt spüre ich die Kälte wieder und krieche vollständig in den Schlafsack.
„Ich weiß, das geht alles verdammt schnell …“ Mirko sieht mich an. Wir liegen Nase an Nase und schielen dabei leicht. „… aber ich würde gerne jedes Jahr mit dir Weihnachten feiern.“
Sprachlos starre ich ihn an. Wenn meine Gedanken schnell sind, sind seine im Turbogang.
„Ich meine …“ Mirkos Wangen färben sich rot. „Ich habe nicht zu hoffen gewagt …“
Wenn er stottert, ist er noch süßer!
„Glaubst du, dass man hier in der Gegend einen Lehrer für Spanisch und Französisch braucht?“, frage ich und muss über seine Mimik lächeln, von Erstaunen über Erkenntnis zu Freude.
„Du meinst, du würdest ernsthaft darüber nachdenken?“
„Nein, ich will nicht darüber nachdenken, ich will bei dir sein!“ Ich küsse ihn. „Aber nur, wenn wir manchmal auch in einem Bett schlafen.“
„Wo immer du willst! Im Bett, auf dem Sofa, im Keller …“
„Auf dem Küchentisch, in der Badewanne, unter der Dusche …“, ergänze ich und küsse ihn fordernd. „Und ab und zu hier oben.“
„Du meinst, von Zeit zu Zeit können wir hier oben die Glocken läuten lassen?“, fragt er grinsend und bezieht sich auf eine gängige Redewendung zwischen uns von damals.
„Hier und an vielen anderen Orten“, antworte ich.
„Mit dir immer und überall!“
Das wollte ich hören.
Ein Jahr später
Die Kirche ist voll. Ich sitze neben Oma Mimi im Schatten der Empore. Seit sieben Monaten lebe ich hier, wohne gemeinsam mit Mirko im Pfarrhaus. Entgegen meiner Befürchtungen stören sich die wenigsten an unserem Zusammenleben. Die Gemeinde und der Kirchenvorstand stehen hinter uns. Wir sind ein positives Signal, meinte der Superintendent erst vor Kurzem zu mir.
Ein paar Austritte hat es gegeben, die Eintritte überwiegen jedoch.
Wären wir abgelehnt worden, wären wir gemeinsam gegangen. Da gab es keinen Zweifel. Immer noch kann ich es nicht fassen, wie sicher ich mir war – bin. Nicht der leiseste Zweifel. Mirko und ich gehören zusammen.
Lächelnd betrachte ich ihn, während er auf der Kanzel steht, auf die Gemeinde schaut. Meine Liebe, mein Lebensgefährte und bald mein Mann.
Weihnachten ist die Zeit der Wunder, sagt man. Ich habe mein Weihnachtswunder erlebt – und erlebe es jeden Tag aufs Neue. Während ich auf seine Worte lausche, wünsche ich jedem Menschen dieses Wunder. Das Wunder der Liebe, das die Welt ein kleines bisschen besser macht.
Texte: Gabriele Oscuro
Bildmaterialien: Samjira / Bildmaterial Pixabay
Lektorat: bello / Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 20.12.2015
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