„Wer nicht verzeiht, obwohl er liebt, beraubt sich selbst der Liebe.“ (Jakob, Liebeswirbel)
Nur noch zwei Tage bis zum Fest der Liebe. Die Fenster der umliegenden Häuser werden durch Lichterbögen und Sterne erhellt, in den Vorgärten stehen beleuchtete Rentiere und Weihnachtsmänner.
Schnee ist nicht angesagt, doch die Temperaturen, die sich dauerhaft im Frostbereich halten, sind der Jahreszeit angepasst.
Zurzeit ist es dermaßen kalt, dass ich meine Füße nicht mehr spüre. Trotz der Thermosocken und der dicken Winterstiefel. Dies liegt allerdings weniger an der Gradzahl, sondern ist vielmehr der Tatsache geschuldet, dass ich schon fast zwei Stunden mehr oder weniger bewegungslos hier stehe und das Haus anstarre, in dem ich nicht mehr willkommen bin.
Warum stehe ich dann hier? Warum gehe ich bei jeder Gelegenheit hier vorbei? Fahre auf jedem Weg mit dem Auto diese Straße entlang?
Weil in diesem eigenwillig renovierten, windschiefen Fachwerkhaus der Mann lebt, den ich über alles liebe.
Mein Name ist Hannes Ingrimm und ich bin der größte Idiot auf der weiten Welt! Vor wenigen Wochen war ich noch der glücklichste Mensch des Universums, doch – typisch für die Gattung Mensch – wusste ich diesen Zustand durch eigene Dummheit zu beenden.
Ich klärte Missverständnisse nicht auf, verstrickte mich in meinen dummen Lügen und Ausreden, bis Ajith mich für einen verlogenen Betrüger hielt und aus seinem Leben verbannte.
Zu spät habe ich versucht, ihm alles zu erklären und mich zu entschuldigen. Ajith ist ein stolzer Mann, der ein einmal gefälltes Urteil nicht wieder revidiert und darum beschlossen hat, mich aus seinem Leben zu verbannen.
Die Tür mit dem grünen Kranz aus Tannenzweigen öffnete sich und eine alte Frau kommt mit ihrem übergewichtigen Mops aus der Praxis. Beide quälen sich die wenigen Stufen hinunter und schlurfen dann langsam die Straße entlang.
Mein Wunsch zu Weihnachten? Eine Chance, mit Ajith zu reden, seine Bereitschaft, mir zuzuhören, einfach die Möglichkeit, meine Dummheit zu erklären.
Ein Schatten tritt an das beleuchtete Praxisfenster. Ajith? Mein fast erfrorenes Herz schlägt schneller.
Bitte, bitte, bitte, flüstert mein Mund lautlos, komm und erlöse mich. Doch der Schatten verschwindet, ohne sichtbar Notiz von mir zu nehmen.
Warum stehe ich hier, obwohl ich tief in meinem Herzen weiß, dass Ajith nicht der Mann ist, der verzeiht.
Vor knapp einem Jahr schwebte ich im siebten Himmel, heute befinde ich mich in der Hölle. Wie ist es so weit gekommen?
Am zweiten Advent des vergangenen Jahres wurden wir zu einem Notfall hierher gerufen. Ein älterer Mann war während der Behandlung seiner Katze zusammengebrochen.
Ich bin Rettungssanitäter. Mein Abiturdurchschnitt war zu schlecht, um direkt das Medizinstudium aufzunehmen. Da ich mir jedoch keinen anderen Beruf vorstellen kann, beschloss ich die notwendigen Semester auf die Zulassung zu warten. Um nicht Zeit zu verschwenden, wurde ich Rettungssanitäter.
Der Tag war regnerisch kalt und dies war unsere letzte Fahrt vor Schichtende. Ein wenig wunderten wir uns, an einem Sonntag zu einem Notfall in eine Tierarztpraxis gerufen zu werden. Später wurde mir klar, dass es für Ajith selten ein Wochenende ohne Arbeit gab. Tiere in Not waren ihm immer willkommen.
Zum Glück war es nur ein kleiner Schwächeanfall. Der Mann wollte auf keinen Fall mit uns ins Krankenhaus fahren, auch wenn Ajith ihm versicherte, dass sein kleiner Kater gut versorgt würde.
Niemals werde ich den ersten Blick in Ajiths wunderschöne, braune Augen vergessen. Vor meinem Kollegen betrat ich das Zimmer. Ajith beugte sich über den Mann, der auf dem Sofa lag und dem der ganze Wirbel um seine Person sichtlich unangenehm war.
Ajith sah auf und ein Blitz schlug in mein Herz. Für einen Moment fehlten mir die Worte, ich schwebte ohne Bodenkontakt. Ein Lächeln glitt über seine Züge und mein Magen schlug einen Purzelbaum.
Erst Joschi, der in mich hineinlief, weil ich abrupt stehen geblieben war, holte mich so weit zurück, dass ich die Distanz zum Sofa überbrücken konnte. Zum Glück waren die nächsten Schritte Routine.
Obwohl es keine besorgniserregenden Ergebnisse gab, wollten wir den Mann mit in die Klinik nehmen. Er jedoch weigerte sich vehement.
Nachdem geklärt war, dass es seinem kleinen Kater gut ging, bot Joschi an, wir könnten ihn zumindest nach Hause fahren. Dem konnte der Mann zustimmen.
Glücklicherweise agierte Joschi die meiste Zeit, denn ich war zu nichts in der Lage – außer Ajith anzusehen.
Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, ob Ajith überhaupt schwul oder bi war und ich nur den Hauch einer Chance hatte.
Darüber machte ich mir erst Gedanken, nachdem wir wieder im Wagen saßen. Ajith Merhan, dieser Name ging mir den Rest des Tages nicht mehr aus dem Kopf. Kaum zu Hause, überlegte ich, wie ich den Mann wiedersehen konnte. Er war Tierarzt und lebte nicht allzu weit von uns entfernt.
Das einzige Tier in unserem Haushalt war das Kaninchen Rübe meiner Schwester. Zwei Tage hielt ich es aus, dann steckte ich Rübe in seinen Transporter und fuhr mit ihm in die Praxis.
In dem Wartezimmer befanden sich drei Patienten mit ihren Besitzern: ein hauptsächlich roter Papagei, ein Bernhardiner und ein winziges Fellknäuel, das zwischen den Fingern seines Herrchens fast nicht zu sehen war.
Mit Rübe auf dem Schoß wartete ich mehr oder weniger geduldig darauf, aufgerufen zu werden.
Währenddessen grübelte ich darüber nach, woher Ajith wohl ursprünglich kam. Auf den ersten, vorurteilsbehafteten Blick vermutete ich Indien, konnte damit aber völlig falsch liegen.
Der Bernhardiner war der Nächste, nachdem eine Katze in eine Decke gehüllt auf dem Arm ihrer Besitzerin das Sprechzimmer verlassen hatte.
Nach dem Bernhardiner folgte der Papagei, anschließend das Fellknäuel. Nun saß ich ganz allein in dem Wartezimmer und starrte auf die Fotografie eines sehr glücklich wirkenden Schweines in seiner Schlammpfütze.
Endlich kam das Fellknäuel auf dem Arm seines Besitzers raus und ich war dran.
Als Ajiths Augen hinter der dunkel gerahmten Brille mich beim Eintreten erfassten, stieg eine Armada Schmetterlinge in meinem Magen auf. Wildes, hektisches Geflatter, Herzschlag stark erhöht und das Sprachzentrum blockiert, musste ich einen leicht debilen Eindruck vermitteln.
„Und wo liegt das Problem?“ Ajiths Stimme war samtweich mit einem leicht heiseren Unterton und einem kaum hörbaren Akzent. Konnte er nicht einfach weiterreden und ich starrte ihn dabei an?
Irgendwie schaffte ich es unter seinem Blick, das Kaninchen aus seinem Transporter zu holen und wenig eloquent zu erklären, dass ihm eigentlich nichts fehlte, aber er mal grundsätzlich untersucht werden sollte.
Sanft nahm Ajith Rübe hoch, tastete ihn vorsichtig ab. Warum war ich nicht das graue Kaninchen unter seinen langen, schlanken Fingern?
Anschließend horchte er Rübe ab. Wie vermutet war alles in Ordnung. Nur seine Krallen waren etwas zu lang und bevor ich etwas sagen konnte, kürzte er sie.
Wenig später stand ich vor der Praxis, ohne ein Wort – also das richtige Wort – gesagt zu haben. Der Besuch hatte mich nicht weitergebracht.
Im Internet suchte ich nach Ajith Mehran und fand neben den Praxisinformationen noch einige andere Fotos. Offenbar engagierte sich Ajith im Tierschutz. Auf einem der Bilder stand er neben der jungen Frau, die ich in seinem Haus gesehen hatte. Der Text darunter verriet mir, dass es sich um seine achtzehnjährige Tochter Meena handelte.
Er hatte eine Tochter! Wie hoch waren die Chancen, dass er bi war? Egal wie niedrig, mein Herz wollte ihn nicht einfach aufgeben. Da lag etwas in seinem Blick, das mir Hoffnung machte.
Jedes Bild, das ich finden konnte, sah ich mir an und lud zwei besonders gut getroffene herunter – und löschte sie wieder, weil ich mich wie ein Stalker fühlte.
Einen Bericht über den Tierarzt und seine Praxis fand ich, aus dem ich erfuhr, dass Ajith 39 Jahre alt und vor 16 Jahren gemeinsam mit seiner Tochter nach Deutschland gekommen war.
Ajith war 16 Jahre älter als ich. – Störte mich überhaupt nicht. Wenn ich nur einen Weg in sein Herz finden würde …
Nach zwei weiteren Tagen lieh ich mir die Katze Pieps von meiner besten Freundin und ging mit ihr wieder in die Praxis.
Ajith betrachtete mich mit einem Lächeln und untersuchte die völlig gesunde Katze. Wieder fand ich nicht den Mut, ihn anzusprechen. Tausend Worte hatte ich mir im Vorfeld zusammengelegt und keins davon kam über meine Lippen. Warum konnte ich ihn nicht einfach unverbindlich zu einem Kaffee einladen?
Seine Blicke sagten mir zumindest, dass er nicht abgeneigt war – oder bildete ich mir das nur ein?
Erfahrungen hatte ich so gut wie keine. Seit vier Jahren vermutete ich, dass mein Interesse an Mädchen im Vergleich zu meinen Freunden nicht tief genug ging und seit zwei Jahren war ich mir sicher, nur auf Männer zu stehen.
Aber bis auf zwei wenig erfolgreichen Besuche einer einschlägigen Diskothek gab es keinen Kontakt.
Ich stamme aus einer erzkonservativen katholischen Familie. Solange wir klein waren, mussten wir jeden Sonntag mit in die Kirche gehen. Homosexualität gab es, aber sie durfte niemals ausgelebt werden. Schwul zu sein war eine Prüfung, diese war zu bestehen und dem widernatürlichen Trieb nicht nachzugeben. Meine Mutter würde der Schlag treffen und mein Vater ausrasten.
Nun war ich jedoch verliebt und wusste nicht, wie ich dies dem Mann klarmachen sollte. Über meine Eltern würde ich mir später Gedanken machen.
Der Hund meiner Tante kam mir zur Hilfe. Schon seit einiger Zeit hatte er kahle Stellen und der Tierarzt, der sich normalerweise um ihn kümmerte, fand kein Mittel dagegen.
Am Montag schleppte ich also den übergewichtigen Mischling Herrn Meier – er sah aus wie eine dicke Presswurst – zu
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Gabriele Oscuro
Bildmaterialien: Samjira / Bildmaterial: Pixabey
Lektorat: bella / Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 15.12.2015
ISBN: 978-3-7396-2826-4
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