ein Martin Holt Krimi
von
Sam Jira
Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden. Ähnlichkeiten rein zufällig.
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Mein Dank richtet sich an all jene, die an mich glauben, mich unterstützen, die ein offenes Ohr für mich haben und jede Frage bereitwillig beantworten.
Die Geschichte musste erzählt werden, doch nur durch euren Zuspruch ist ein Buch daraus geworden.
Sam Jira
Ein Schrei – sein Schrei – durchbrach die Stille der Nacht. Mühsam kämpfte er sich durch die Dunkelheit, die schwer auf seiner Brust lag, ihm die Luft zum Atmen nahm, drohte, ihn zu ersticken.
Panik breitete sich in ihm aus. Wie ein Ertrinkender, der die Wasseroberfläche durchbrach, kam er zurück ins Licht.
Doch mit dem Licht kamen die Bilder. Blut, überall war Blut gewesen. Verspritzt auf den Wänden, auf dem Teppich, vom Bett tropfend …
… er konnte immer noch sehen – hören – wie der nächste Tropfen schwer in die Blutlache fiel, konnte den schweren metallischen Geruch wahrnehmen ...
Es war ihr Blut, ihre Haare, ihre ...
Schmerz, alles an ihm, in ihm war rasender Schmerz. Er hatte verloren, alles verloren. Eddie hatte gewonnen. Für ihn blieben nur die Finsternis - und der Schmerz.
Seine Hand tastete, fand das kühle Glas der Flasche. Gierig trank er in sehnsüchtiger Erwartung der Dunkelheit, des Vergessens.
Wenn es jemals ein Vergessen gab, wenn es jemals ein Ende gab ...
Vier Jahre später
Martin Holt ahnte, dass ihn Thomas Keller nicht zu einem Fall von Wirtschaftskriminalität in die Lützowstraße 3 schickte. Der immer noch so vertraut abstoßende Geruch der Verwesung schlug ihm entgegen, als eine blasse, junge Polizistin die Tür zu der Dachgeschosswohnung öffnete, in der laut Namensschild Berit Möller wohnte.
Jetzt stand er ihr gegenüber in dem winzigen kleinen Flur, der ihnen kaum genug Platz ließ, sich nicht zu berühren, und sah sich neugierig um.
Viel zu sehen gab es nicht. Neben ihm an der Wand waren zwei schlichte, schwarze Haken befestigt, die als Garderobe dienten. Ein langer, schwarzer Wollmantel hing dort über einem Paar hoher, schwarzer Stiefel. Die Wände waren in hellem Zitronengelb gestrichen und eine von ihnen zierte ein Wand-Tattoo aus chinesischen Schriftzeichen, deren Bedeutung er nicht kannte.
Drei Türen gingen außer der Eingangstür von dem Flur ab. An einer war ein Frau-Mann-Piktogramm angebracht und hinter einer anderen waren Stimmen zu hören.
Martins Blick blieb wieder auf der rothaarigen Polizistin hängen. Der Geruch, der in jede Pore einzudringen schien, setzte ihr, genau wie ihm, zu. Mit bemüht konzentriertem Blick sah sie auf einen Punkt über seiner linken Schulter, die hellen blauen Augen weit aufgerissen. Fast war er versucht, sich umzudrehen und zu sehen, worauf sie starrte.
Die Tür, hinter der, leise Stimmen zu hören waren, öffnete sich und gewohnt selbstsicher trat Ramona Immermann, die Leiterin des Kommissariats 1.1 K – Straftaten gegen das Leben, landläufig als Mordkommission bekannt – mit ihrer energiegeladenen Persönlichkeit in den ohnehin schon engen Flur. Bis vor vier Jahren, bis zu seinem letzten Fall für die Mordkommission, war sie seine Chefin gewesen.
„Martin, schön, dass du da bist.“ Die Hand ergreifend, die sie ihm entgegenstreckte, sah er in ihre so trügerisch sanften, braunen Augen. „Hallo Ramona und: Nein!“ Langsam zog sie ihre Hand zurück. „Es gibt kein nein. Ich habe mit Thomas gesprochen, angesichts der Situation bist du bis auf weiteres zu diesen Mordermittlungen abgeordnet.“ Sie sah die Ablehnung in seinem Gesicht. „ Ich brauche dich. Ich habe versucht, dich so lange wie möglich da herauszuhalten, aber wir müssen es beenden!“
„Du hast genügend gute und fähige Ermittler in deinem Kommissariat, lass mich da raus. – Ich kann das nicht mehr! Ich will das nicht mehr!“ Der süßliche Geruch des Todes drang in den Flur, in seine Kleider, in seine Haut. Erinnerungen stiegen in ihm auf, Bilder, die ihn seit vier Jahren verfolgten und die er bisher zu unterdrücken vermochte. Übelkeit breitete sich in seinem Magen aus und er war froh, noch nicht gefrühstückt zu haben.
„Glaub mir bitte, ich würde es nicht tun, wenn ich nicht müsste.“ Auch wenn er wusste, was für eine gute Schauspielerin sie war, nahm er ihr das schlechte Gewissen beinah ab.
Man musste kein Hellseher sein, um zu wissen, warum Ramona so verzweifelt war. Dies war die achte Frauenleiche in ebenso vielen Monaten. Presse und Öffentlichkeit wollten genau wie ihre Vorgesetzten endlich Ergebnisse von ihr sehen. Ein Serienmörder war keine gute Werbung für eine Stadt.
Es war erst knapp vier Jahre her, da hatte schon ein Serienmörder die Stadt in Atem gehalten. War dies ein Nachahmungstäter? Wie konnte es schon wieder ein solches Monstrum in der Stadt geben? Und warum war die Polizei nicht in der Lage, dem Ganzen ein Ende zu bereiten? Hysterie machte sich breit. Martin konnte sich vorstellen, wie viele panische Meldungen über das vermeintlich gesehene Gespenst täglich in den Dienststellen eingingen.
Zeitungsberichte schürten die Angst der Menschen, gaben obskure Ratschläge und Sicherheitstipps. Verschiedene Privatpersonen hatten hohe Prämien für Hinweise ausgesetzt und erleichterten die Arbeit der Polizei dadurch nicht wirklich. Je länger die Jagd dauerte, desto mehr ‚Zeugen‘ und abgedrehte Selbstankläger meldeten sich. Ufos wurden genauso gesichtet und verantwortlich gemacht, wie der bevorstehende Weltuntergang vorhergesagt.
Martin versuchte sich die Berichterstattung so weit wie möglich zu ersparen, er
wollte nicht erinnert werden. – Und bisher war ihm das auch ganz gut gelungen.
Doch allem konnte er nicht entgehen. Die Medien hatten den Mörder das „Gespenst“ getauft. Laut Presse gab es in keinem der Fälle Anzeichen eines gewaltsamen Eindringens, es gab keine verwertbaren Spuren, keine Zeugen, keine Hinweise auf die Identität des Täters. Scheinbar unsichtbar tauchte er auf, mordete und verschwand.
„Ich wäre euch keine Hilfe.“ Bevor sie antworten konnte, wurde die zweite Tür geöffnet und eine vermummte, weiß gekleidete Gestalt trat zu ihnen in den Flur, verstärkte die klaustrophobische Enge. Ein Schwall des Verwesungsgestanks folgte ihr und nahm ihnen die Luft zum Atmen. Dunkle Bilder stiegen aus Martins Erinnerung auf. Aufgrund der altmodischen Hornbrille, die über dem Mundschutz zu sehen war, wusste er, dass es sich um Robert Hassel handelte, den Chef der Kriminaltechnik. Vor vier Jahren war er ebenfalls durch eine schlicht weiße Zimmertür getreten, Schweißperlen auf dem kleinen Stückchen Stirn, das zwischen Kapuze und Brille zu sehen war. ‚Geh nicht hinein!‘ Warnend, zurückhaltend hatte er ihm die Hand auf die Schulter gelegt, doch er hatte ihn beiseite gestoßen, war vorbeigestürmt. Verfolgt von Roberts Stimme, die etwas Unverständliches hinter ihm herrief, hatte er die Tür – und mit ihr das Tor zu seiner persönlichen Hölle – aufgestoßen, sah das Grauen, das ihn seit jener Nacht verfolgte. Es hatte einen Moment gedauert, bis er begriff, dass es wirklich Iris war, die dort auf dem Bett lag. Zu irreal und fremd sah alles aus.
Zuerst nahm er nur das Blut wahr, verteilt auf Boden und Wänden. ‚Zum ewigem Gedenken – Eddie‘ stand dort in krakeligen, blutigen Buchstaben an die Wand geschrieben. Und dann die Haare. Er – Eddie, das Monster – hatte ihr die Haare abgeschnitten, die blonden Locken lagen überall, rötlich verfärbt in den Blutlachen, auf dem dunklen Teppichboden, auf den Möbeln und der Lampe. Als er alles realisiert hatte, die gebrochenen Knochen, die in abstrakter Weise von ihrem Körper abstanden, die ausgerissenen Fingernägel, die abgeschnittenen Extremitäten und den klaffenden Schnitt quer über ihren Bauch; all die Qualen und der Schmerz, die in dem Zimmer waren, die sie hatte aushalten müssen, seinetwegen, war er zusammengebrochen. Schmerz und Verzweiflung waren dunkel über ihm zusammengeschlagen. Er konnte sich nicht erinnern, wie er aus dem Zimmer gekommen war, was in den nächsten Stunden geschehen war. Von diesem Moment an, war alles egal. Seine Welt hatte ihren Mittelpunkt verloren – und das war seine Schuld. Eine Schuld, für die es keine Buße und von der es keine Erlösung gab.
Über ein Jahr gefüllt mit Depressionen und haltlosem Trinken war jener Nacht gefolgt. Wut und Selbstzerstörung trieben ihn weg von allem, weg von allen. In einem Kokon aus zerstörerischem Selbsthass und unendlichem Selbstmitleid gefangen, stieß er alle weg, schob alles von sich. Zeitweise fehlten ihm Tage, Wochen, von denen er nicht wusste, wo und wie er sie verbracht hatte. Es gab Tage, an denen er mittags aufwachte, (meistens) irgendwo innerhalb der Wohnung, in einem Chaos der Verwüstung und Zerstörung. Er erreichte ein Stadium, in dem ihm alles egal war, nur das Erreichen des täglichen Pegels, des schwarzen Vergessens zählte. Brandflecken von glühenden Zigaretten auf Teppich und Sofa sprachen von dem Glück, das er hatte, nicht bei (mehr oder weniger) lebendigem Leib verbrannt zu sein; blaue Augen, aufgeschlagene Knie und verschmutzte Kleidung erzählten von Stürzen, Schlägereien, von denen er nicht wusste, wo oder wann sie geschehen waren.
Er hatte keinen an sich herangelassen, seine Schwester aus der Wohnung geschmissen, als sie weinend versuchte, zu ihm durchzudringen. Hatte sich gesuhlt in dem Selbstmitleid, zu dem seine Trauer im Laufe der Zeit verkommen war. Es war ihm erst viel später – als er schon längst trocken war – klar geworden, dass er zur Trauer in diesem Stadium schon nicht mehr wirklich fähig war. Der Verlust war nur noch Begründung für den andauernden Alkoholmissbrauch, das Stillen seiner Sucht.
Irgendwann, er saß im Stockdunkeln auf der Treppe zu seiner Wohnung, eine Plastiktüte mit klappernden Bierflaschen von der nahegelegenen Tankstelle zu seinen Füßen, eine Flasche Johnny Walker zum Viertel geleert in der Hand, zu betrunken, um die Treppe hinaufzukommen, war ihm bewusst geworden, dass es nur zwei Möglichkeiten gab: entweder er musste seinem Leben ein Ende setzten oder völlig neu beginnen, ansonsten würde er in dieser täglichen Hölle langsam und qualvoll zugrunde gehen.
Eine schwere Entscheidung, für ein paar Tage war er dem freiwilligen Sterben näher als dem Leben, doch das wäre feige gewesen. Seine Zeit war noch nicht abgelaufen und er selber besaß nicht das Recht, es zu beenden. An der Klippe stehend war ihm bewusst geworden, dass er nicht aus Trauer, sondern aus Feigheit sterben wollte – und das war ein Grund, den er nicht gelten lassen konnte. Also hatte er versucht bei null anzufangen, den Alkohol in den Ausguss gegossen (jede Faser seines Körpers hatte verlangt ihn zu trinken, statt ihn zu vergeuden), seine Wohnung völlig ausgeräumt und neu – vielleicht etwas spartanisch – eingerichtet. Er wechselte das Dezernat, weg von Mord und Totschlag, schloss sich einer Gruppe des Blauen Kreuzes an und versuchte eine Zeit lang in therapeutischen Sitzungen bei einem jungen, ihn immer ein wenig an einen verschlafenen Uhu erinnernden Psychiater, ein neues Leben zu beginnen. Auch wenn ihm das nicht gelungen war, lernte er, ohne Alkohol zu leben sowie Strategien jene Bilder, Erinnerungen – zumindest am Tag – zu verdrängen und zumindest zu überleben. Tag für Tag die Hölle in Schach zu halten.
Wie ein Déjà vu zogen die Erinnerungen an ihm vorbei, hinterließen dieses Gefühl tiefer Hoffnungslosigkeit und Trauer in ihm.
„Martin! Es tut mir leid, dass es notwendig ist, dich da hineinzuziehen.“ Robert streckte ihm, nachdem er den Gummihandschuh abgestreift hatte, die schwarz behaarte Hand entgegen. Warm und tröstlich fühlte sich diese ungewöhnlich große Hand an.
„Warum ist es notwendig? Was soll ich hier?“ Ramona und Robert tauschten einen schnellen Blick, bevor Robert antwortete: „Das musst du dir selber ansehen. Ich meine, - vielleicht würde es ...“ Unsicher sah er wieder Ramona an, die den Kopf schüttelte.
„Wir haben überlegt, ob es reicht, wenn du dir die Tatort-Fotos ansiehst, doch ich kenne deine Art zu arbeiten und weiß, dass dir das nicht reicht“, erklärte sie.
Es hat sich viel verändert, wollte er sagen, und heute wären Tatort-Fotos wahrscheinlich schon zu viel, doch in seinem Inneren wusste er selbst, dass er es sehen musste, wenn er sich damit beschäftigen sollte. Was er nicht wusste, war, ob er es ertragen konnte. Sein Magen rebellierte und wollte diese Wohnung, dieses Haus verlassen und alles was er ahnte, ganz schnell verdrängen. Gleich um die Ecke am Steintor gab es mehr als eine Kneipe, die Tag und Nacht geöffnet hatte. Ein schöner, starker Drink wäre jetzt bestimmt nicht schlecht; eine Woche Vollrausch würde den Geruch und seine Befürchtungen vielleicht im Schwarz versinken lassen. Doch das war keine Alternative mehr, seit drei Jahren war er trocken, vor drei Jahren hatte er sich für das Leben, das Überleben entschieden und daran hatte sich – noch – nichts geändert.
„Ich muss dir ehrlich sagen, dass ich nicht weiß, ob ich das kann. Allein der Geruch – und Roberts Anblick – bringen Bilder und Gefühle zurück, dass ich fluchtartig diese Wohnung verlassen möchte.“
Beide sagten nichts, was hätten sie auch sagen sollen, sie wollten, dass er es tat. Kurz schloss er die Augen, dann straffte er die Schultern. „Okay, dann zeig mir, warum ich hier bin.“
„Kleinen Moment noch, wir sind gleich fertig. Tom und Maike packen gerade zusammen und mehr als drei Menschen passen nicht in das Zimmer.“ Mit einem müden Nicken verschwand Robert wieder hinter der weißen Tür. Erneut drang der scheußlich süße Verwesungsgeruch in den kleinen Flur. Aus dem Augenwinkel sah Martin, dass die junge Polizistin mühsam ein Würgen unterdrückte, ihre Sommersprossen leuchteten rötlich auf der Blässe ihrer Haut. Er konnte sie gut verstehen.
„Ich muss eine rauchen!“ Ramona strich mit einer hektischen Bewegung durch ihre militärisch kurzen Haare. Ihren auffordernden Blick erwiderte Martin mit einem Kopfschütteln. Noch ein Laster, von dem er sich – kürzlich erst – verabschiedet hatte. Die Versuchung mit Ramona zu gehen war groß, aber wenn er die Wohnung verließ, würde er nicht zurückkehren.
„Vielleicht nimmst du stattdessen die junge Kollegin mit. Ich denke, ein wenig frische Luft würde ihr guttun.“ Ramona nickte kurz. Ihm dankbar zulächelnd folgte ihr die Polizistin. Mit einem leisen Klick schloss sich die Tür hinter den beiden. Allein mit seinen schwarzen Gedanken blieb er in der Enge stehen, lehnte den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen. In der Stille hörte er leise Geräusche, hier ein Klappern, da ein Flüstern. Dann endlich öffnete sich die Tür und zwei vermummte Gestalten kamen mit den verschiedensten Koffern und Kisten beladen heraus. Die vordere reichte ihm kaum bis zur Schulter: Maike Voss. Sie schob ihren Mundschutz herunter und lächelte ihm ein wenig schief zu, während ihre riesigen dunklen Augen Mitleid auszudrücken schienen. Vor vier Jahren war sie auch im Team gewesen. Er versuchte zurückzulächeln, hatte aber das Gefühl, dass es eher einer Grimasse ähnelte.
Robert räusperte sich neben ihm und reichte ihm ein Paar Gummihandschuhe und Schutzüberzieher für seine Schuhe. „Dann – lass uns gehen.“ Martin nickte, unterdrückte den Impuls, einfach durch die offene Wohnungstür zu flüchten, und folgte ihm in den Raum.
Es war ein schöner Morgen und die Sonne, die er in dem beengten Flur vergessen hatte, flutete durch ein riesiges Dachflächenfenster in den kleinen Raum, gab ihm helle Weite.
Martin blieb an der Tür stehen. Erinnerungen kamen, die Bilder von damals überlagerten das Bild vor ihm. Dunkelheit und Übelkeit stiegen auf. Für einen Moment fürchtete er, ohnmächtig zu werden, dann war es vorbei. Nicht, dass der Schmerz, die Erinnerungen fort gewesen wären, traten sie in den Hintergrund, in dem sie immer gegenwärtig waren. Das Bild vor ihm überlagerte die Empfindungen, wurde scharf und deutlich. Dies war ein neuer Tatort, hier war kein Platz für seine persönlichen Gefühle.
Flach die mit Verwesungsgeruch versetzte Luft einatmend, konzentrierte er sich auf seine Aufgabe und sah sich im Zimmer um.
Das Zimmer war weiß, anders ließ es sich nicht beschreiben: weiße Wände, weißer Teppich, weiße Rose in einer weißen Vase auf einer weißen Kommode, ein weißer Schrank und ein 140 cm breites weißes Bett. Über dem Bett ein weißer Wandteppich mit schwarzen geometrischen Formen, daneben ein weißer Nachttisch mit einer weißen Nachttischlampe und einem weißen Radiowecker. Stand all dies Weiß für Unschuld? Den Wunsch nach Unschuld?
Es gab kein Buch, kein Handy oder Telefon. Das klare, kalte Weiß gab dem Raum das Flair eines Tiefkühlschrankes. Für seinen Geschmack war es viel zu viel steriles Weiß.
Doch jetzt war das Weiß befleckt. Dunkelrotes, zum größten Teil geronnenes Blut gab dem Raum ein fast surreal anmutendes Aussehen. Hier eine rote Pfütze auf dem weißen Teppich, dort eine Blutspur an der Wand und ein Sprühregen blutiger Tropfen auf der Kommode. Gekrönt mit dem Grund seines Hierseins:
Nummer 8 – in Gedenken an Iris für Martin - Eddie
Es war mit einem Finger geschrieben, ungelenk und verschmiert. Genau wie damals.
Auf dem Bett, unter den Worten, lag die Leiche: Berit Möller. Die blonden Haare abgeschnitten auf einem lockigen Haufen neben dem Bett. Über dem Kopf eine durchsichtige Plastiktüte, die sich eng an ihr Gesicht presste. Die Augen waren offen, vorgequollen und der Mund weit aufgerissen. Konservierte Panik und Todesangst.
Der Anblick der Leiche bestätigte, was ihm der Geruch schon verraten hatte: der Mord war schon vor einer Woche, letzten Mittwoch, vier Wochen nach dem vorhergegangenen Mord, geschehen. Es war ein Mord des Gespenstes, es war sein zeitliches Muster. Alle vier Wochen eine Leiche.
War sie hübsch gewesen? Es ließ sich nichts mehr darüber sagen. In ihrem Gebiss fehlten die beiden oberen Schneidezähne. Robert, der ihn beobachtete, war seinen Gedanken gefolgt. „Er hat ihr die beiden Zähne herausgebrochen, der Doc meint, bevor sie gestorben ist, und unter das Kissen gelegt. – Grausige Anspielung auf die Zahnfee.“
Ihre Arme waren verrenkt, die Unterarme gebrochen, genau wie ihre Schienbeine.
Martin wusste jetzt, warum er hier war. Warum ihn Ramona Immermann nicht länger aus den Er-mittlungen heraushalten konnte. Der Mörder hatte es so gewollt. Eddie war zurück!
„Fingerabdrücke?“ Martin hörte, dass seine Stimme rau klang, räusperte sich. – „Nein, ich vermute, er trug wie immer Gummihandschuhe.“ Robert schüttelte den Kopf.
„Gab es schon vorher Nachrichten?“ – „Nein, sonst hätte die Immermann dich doch schon längst geholt.“ Da hatte er wohl recht.
Durch die gebrochenen Arme und Beine sah sie wie die grausige Parodie einer Gliederpuppe aus. Martin trat einen Schritt näher. Knöchel und Handgelenke waren mit Kabelbindern an das Bett gefesselt gewesen. Die durchtrennten Reste der Binder lagen neben den Streben der Gitter. Es war ein weiß lackiertes Stahlrohrbett mit einem hohen geschwungenen Kopfteil und einem tieferen Fußteil. An beiden Händen fehlten die Ringfinger. – Wie bei Iris …
„Der Doc vermutet, dass er sie wahrscheinlich erst nach ihrem Tod aufgeschlitzt hat. Er schneidet sie immer erst nach dem Tod auf. Sozusagen als Abschluss.“ Robert warf ihm einen kritischen Seitenblick zu. Vielleicht befürchtete er immer noch einen Zusammenbruch. „Allerdings hat er ihr bei lebendigem Leibe vorher vier ca. 2 cm breite und ca. 20 cm lange Streifen Haut vom Rücken abgezogen, alle Nägel herausgerissen und die Finger abgeschnitten, ebenso die Arme und Beine gebrochen. Außerdem hat er sie mit dem Einführen eines harten scharfkantigen Gegenstandes in die Scheide verletzt.“
Sie hatten ihn, Eddie, das Monster, entgegen seiner eigenen Ankündigung damals nicht gefasst. Der Mann, den sie für Eddie hielten, hatte sich selber um-gebracht. An der Ermordung von Iris war er unschuldig. Ob er auch an den anderen Morden unschuldig war? Martin hatte den Fall nicht weiter verfolgt. Es hatte ihn nicht mehr interessiert. Sollten doch alle Ergebnisse falsch sein, ihm war das egal. Iris war tot und letztendlich war das seine Schuld.
Der Mörder von Iris, ob nun das Monster Eddie oder nicht, war nach der Tat einfach verschwunden, keine abschließende Botschaft, keine weiteren Morde. Als hätte sich die Erde aufgetan und das Monster verschlungen. Zurück in die Hölle, aus der es gekommen war.
Nach einiger Zeit trat die Suche in den Hintergrund, nicht offiziell, aber doch im Ergebnis. Es gab keine brauchbaren neuen Spuren und viele gingen davon aus, dass das letzte Opfer, außerhalb der Serie, nur für Martin getötet worden war. Doch auch die Ermittlungen in seinem persönlichen Umfeld führten zu keinem Ergebnis.
Martin hatte das damals nicht interessiert, er war so tief in seinem Schmerz versunken, dass sogar der Gedanke an Rache ihm egal war. Nie wieder fragte er nach den Ermittlungen, auch nicht in den letzten drei Jahren. So oft er an Iris dachte, so wenig konnte er an ihren Mörder denken, er schottete sich gegen jeden dieser Gedanken ab. Wollte nicht darüber nachdenken, wollte all die Wut und den Hass – und die Verzweiflung nicht, die an diesen Gedanken hingen.
Konnte es sein, dass Eddie nicht Tobias Zurich gewesen war und nun zurückkehrte? Der Mord unterschied sich in vielen Punkten von den Morden des Monsters, das er gejagt hatte, aber er ähnelte in vielem dem Mord an Iris. Zumindest den Details nach, die in seinem Kopf fest verankert waren.
Auf jeden Fall wusste der Mörder von den Botschaften, deren genauer Inhalt nie veröffentlicht wurde, und dass sie an ihn gerichtet waren. Er war spät dran, Eddie hatte die erste Botschaft bei seinem vierten Mord hinterlassen, nachdem die Polizei – er – den Zusammenhang der ersten drei Fälle erkannte.
Das erste Opfer, Britta Rösser, war während des Geschlechtsaktes erwürgt worden. Sie war eine drogenabhängige Prostituierte, darum waren sie anfangs von einem ‚Arbeitsunfall‘ ausgegangen. Bei ihr fanden sie Speichelproben des Mörders, die sich allerdings in keiner Kartei wiederfanden. Britta war mehrfach tief in die Brust gebissen worden. Der Täter, ihr mutmaßlich letzter Kunde, hatte ihr sogar ein Stück Brust herausgebissen, das sie nie gefunden hatten. Scheinbar ein durchgedrehter Freier, schwer zu ermitteln. Dort draußen auf der Straße wollte keiner mit ihnen reden. – Oder konnte keiner mit ihnen reden, denn dort kümmert man – nein, frau, sich in erster Linie um ihr eigenes Überleben. Und der Kampf war so hart, dass keine Zeit blieb, sich für das Leben der anderen zu interessieren.
Sechs Wochen später wurde Ruth Jobst ermordet. Eine 55-jährige Frührentnerin, die sich stark gewehrt haben musste. Sie war geschlagen und erwürgt worden, es gab keine Spuren von Vergewaltigung oder freiwilligem Geschlechtsverkehr, ihre Kleider waren völlig zerrissen. Allerdings vermuteten sie, dass der Täter durch die Tochter des Opfers gestört worden war, die mehrfach vergeblich an der Tür geklingelt und letztlich die Polizei geholt hatte. Der Mörder war über den Balkon der Wohnung, die im Hochparterre lag, geflohen. Es gab keine Spuren, nicht einen Fingerabdruck des Täters.
Genau vier Wochen später wurde Ulrike Roth ermordet. Der Mörder war in ihr Haus gekommen, nachdem der Ehemann zur Arbeit und der Sohn in die Schule gegangen waren. Die kleine Tochter hatte sie selbst noch in den Kindergarten gebracht. Eine Nachbarin sah sie nach Hause kommen und wechselte noch ein paar Worte mit ihr.
Es gab an dem Haus keine Spuren gewaltsamen Eindringens, sie musste den Täter selbst hinein-gelassen haben. Ulrike Roth wurde mit einer Plastiktüte erstickt, ihr wurden die Beine und einige Finger gebrochen. Nach dem Eintritt des Todes hatte der Mörder ihr mit einem scharfen Messer einen Stern in den Unterleib gestochen. Es sah zum ersten Mal aus, als hätte es ihm Spaß gemacht, sein Opfer zu quälen. Hier fanden sie einen halben Fingerabdruck, an der Plastiktüte, von dem sie aber nicht mit Sicherheit sagen konnten, ob er dem Täter gehörte.
Anfangs gingen sie von drei getrennten Fällen aus. Er war verantwortlich für die Fälle von Britta Rösser und Ulrike Roth. Wobei er den Fall Rösser auch für das ausgeartete Sex-Spiel eines abartigen Freiers hielt und – wie er zugeben musste – angesichts des grausigen Todes von Ulrike Roth nicht allzu große Priorität beimaß. Bei einer morgendlichen Besprechung unter der Leitung von Ramona hatte er auf die Bilder der drei Frauen gestarrt, die an einer Pinnwand nebeneinander in seinem Blickfeld hingen, und mit einem Mal war ihm bewusst geworden, wie ähnlich sie sich waren. Alle hatten lange, glatte, blonde Haare, waren mit über 177 cm ziemlich groß, hatten hohe Wangenknochen und große, weiche, hellblaue Augen. Das konnte, das war sicher ein Zufall, aber ...
Dieses ‘aber‘ beschäftigte ihn in der nächsten Woche. Entweder gab es einen Zusammenhang, eine Verbindung zwischen den Frauen, oder wenn nicht, gaben diese Nachforschungen ihm die beruhigende Gewissheit, auch diese Frage überprüft zu haben.
Es waren drei vollkommen unterschiedliche Frauen mit völlig anderen Lebenssituationen, sozialen Umfeldern, Freunden und, wie im Fall von Ulrike Roth, sogar mit einer Familie. Alle drei lebten in unterschiedlichen Stadtteilen, kauften in verschiedenen Geschäften ein und gingen zu anderen Ärzten.
Fast hätte er den Gedanken verworfen, da war ihm der Zufall behilflich: Ein Zettel an der Pin-Wand von Ulrike Roth und die Abbuchung eines Friseurbesuchs bei Britta Rösser führten ihn zu der Verbindung zwischen den beiden Frauen. Beide besuchten denselben Friseur in der Innenstadt. Eine kurze Nachfrage bei Karola Jacob, die für den Fall Ruth Jobst verantwortlich war, brachte zutage, dass auch Ruth Jobst zu diesem, in der Stadt angesagten, Friseur ging. - Auch wenn ihm nie einleuchten wollte, warum Britta Rösser, die das Geld für ihren Drogenkonsum hart auf dem Strich verdiente, es für den Luxus eines Haarschnittes bei diesem Friseur ausgegeben hatte.
Mit diesem Ergebnis und seinem Verdacht ging er zu Ramona, die ihn nach anfänglichem Zögern weiter ermitteln ließ. Der Gedanke an einen verrückten Serienkiller in der Stadt verunsicherte sie und eigentlich war es angenehmer, an drei unterschiedlich motivierte Mörder zu glauben, doch die offen-sichtlichen Übereinstimmungen konnte sie nicht ignorieren.
Die Auflage war, mit möglichst viel Taktgefühl unauffällig zu ermitteln, bis sie sich sicher waren, da der Friseur einer der angesehensten Stylisten in der hannoverschen High Society war. Sogar die Frau des ehemaligen Kanzlers soll schon bei ihm gesehen worden sein.
Obwohl sie auf Diskretion achteten, prangte nach nur drei Tagen auf der ersten Seite eines bekannten Boulevardblatts:
Haarschnitt des Todes
Serienmörder wählt seine Frauen im Friseursalon aus den Schönsten der Stadt.
Neben dem Namen des Friseurgeschäfts wurde auch sein eigener Name genannt. Seine Rolle als leitender Ermittler, der dem Monster von der Leine auf die Spur gekommen war, wurde ebenso beschrieben, wie Kritik an der Polizei geübt, die die Öffentlichkeit bis dahin noch nicht vor der drohenden Gefahr gewarnt hatte.
Ramona fluchte und forderte den Kopf des Schuldigen, doch wie so oft wussten einfach zu viele Leute zu viel.
Eine Woche später, auf den Tag genau vier Wochen nach dem dritten Mord, gab es keine Zweifel mehr: Wiebke Bauer war das vierte Opfer des Monsters, Eddies, von ihm benannt nach dem Monster von Iron Maiden. Jenem Maskottchen der Band, das jedes Albumcover zierte.
Eddie, das Monster, das war er in den nächsten Wochen für ihn. Sein ganzes Streben war es, diesem Monster ein Gesicht zu geben, es zur Strecke zu bringen.
Über dem Bett von Wiebke Bauer stand die erste Nachricht für ihn:
Nr. 4 Für Martin Holt, meinen Entdecker, in tiefer Dankbarkeit
In Blut mit ungelenker Hand geschrieben. Die Jagd begann, der Fall bekam oberste Priorität. Jetzt gab es eine Soko unter seiner Leitung. Mit Haut und Haaren verschrieb er sich diesem Fall.
Oft kam er spät und manchmal gar nicht nach Hause. Iris hatte es klaglos ertragen. Immer war sie da, wenn er nach Hause kam, erschöpft, frustriert und hoffnungslos. Wenn er sich wortlos, weil er nicht mehr reden wollte, konnte, auf das Sofa fallen ließ, war sie da. Mit einem Glas Wein, zarten Händen, die seine Stirn massierten, ihrer Gegenwart, in der er alles fallenlassen konnte. Wie oft hatte ihr Zuspruch ihn aufgebaut, ihn weitergetrieben in den nächsten Tag, die nächste Aufgabe, die nächste Spur, die doch wieder im Sande verlief. Er hatte sie gebraucht, sie so sehr geliebt, dass es manchmal wehtat und es ihr doch viel zu selten gesagt, ihre Gegenwart, ihre Liebe viel zu selbstverständlich hingenommen.
Vier Wochen nach Wiebke Bauer tötete Eddie Katharina Meier. Jeder Mord wurde brutaler und blutiger. Manches Mal hatte er das Gefühl in dem ganzen Blut zu ertrinken, es verfolgte ihn in seine dunklen Träume.
Die zweite Botschaft lautete:
Nr. 5 Vielleicht wirst du mich kriegen, doch ich werde dich besiegen
Es bestand kein Zweifel, wer gemeint war.
Dann hatten sie einen Verdacht, einen Verdächtigen, einen Mann, der eine Zeit lang in dem Friseurgeschäft ausgeholfen hatte, in dem alle fünf Frauen Kundinnen waren. Ein schneller Zugriff. Doch Tobias Zurich war fort. Aber sie hatten einen Namen, nach dem sie fahnden konnten. Ein Abgleich zeigt: dass Haare und Speichel von ihm stammten. Damit hatte er endlich ein Gesicht, das er suchen konnte.
Der Zufall half ihnen und innerhalb kürzester Zeit hatten sie einen neuen Hinweis – doch Zurich war wieder fort, bevor sie ankamen. Ein kleines, schmieriges Hotel in der Nähe des Steintors, ein noch schmierigerer Portier, der zwar den Zimmerschlüssel herausgegeben hatte, sich aber an nichts erinnern konnte – wollte. Vielleicht war es Zurich gewesen, vielleicht nicht. Die Fingerabdrücke, die sie letztendlich in dem schmutzigen kleinen Zimmer fanden, bestätigten, dass es Tobias Zurich war.
In dieser Zeit hatte er das Gefühl, nie Zuhause, immer unterwegs, ständig auf Abruf und unter Hochspannung zu sein. Da gab es kaum Zeit für Iris, doch sie sagte nie etwas. Immer baute sie ihn auf, war für ihn da.
Einzig als sie ihm sagte, dass sie schwanger war, nahm er sich Zeit, einen Tag Urlaub von der Jagd. Ging mit ihr zur Ärztin, um das Wunder zu sehen, den winzig kleinen Punkt, der ein neues Leben bedeutete. Sie war so glücklich ... sie waren so glücklich!
Alles bekam eine neue Dimension. Er musste es beenden, schnell beenden, um Zeit und Ruhe für seine Familie zu haben. Eine eigene Familie, er hatte nicht gewusst, was dies für ihn bedeutete, bis es soweit war. Zum ersten Mal überlegte er, sich versetzen zu lassen. Mit jedem Tag wurde es reeller, konnte er es mehr glauben. Er hatte das Gefühl vor Liebe und Stolz zu platzen.
Trotz all ihres Einsatzes tötete Eddie eine weitere Frau, Isabell Schneider, eine 36-jährige Grundschullehrerin. Bestialisch und mit leidenschaftlicher Gewalt wurde sie in ihrer Wohnung gefoltert und letztlich ermordet, erstickt mit einer Plastiktüte.
Nr. 6 Nicht du, nur ich kann es beenden
… stand an der Wand über der verstümmelten Leiche.
Belohnungen in unglaublicher Höhe wurden für Hinweise ausgesetzt, jeder verfügbare Beamte eingesetzt – und doch kamen sie ihm nicht näher. Tobias Zurich schien vom Erdboden verschwunden.
Immer fieberhafter wurde ihre Suche, sie hatten das Gefühl, jeden Stein umzudrehen, unter dem er sich verkrochen haben konnte. Kurz nach der Tat bekamen sie einen Hinweis, waren sie ihm dicht auf den Fersen, doch es gelang ihm wieder, schneller zu sein und das schäbige Männerwohnheim rechtzeitig zu verlassen.
Dann endlich wieder ein Hinweis, eine andere Stadt, übermüdet und erschöpft fuhren sie los. Es waren gerade drei Wochen seit der Ermordung von Isabell Schneider vergangen, noch eine knappe Woche Zeit bis zum nächsten Mord. – Hofften sie.
Kein Hotel, eine kleine leer stehende Wohnung in einem großen, anonymen Appartementhaus, mitten in einer Hochhaussiedlung in Hamburg. Ein vermummtes Einsatzkommando stürmte die Wohnung, doch keine Spur von Tobias Zurich, nur Leere. Ein unbewohntes Appartement, kein Hinweis, dass in den letzten Tagen überhaupt jemand dort gelebt hatte. Soweit er sich erinnerte, war auch später kein einziger Hinweis gefunden worden. Alles nur eine Finte, eine Ablenkung.
Noch während sie die Wohnung durchsuchten, kam ein Anruf für ihn, durchgestellt von der Zentrale. Die Stimme verzerrt, schrill in seinen Ohren. „Hallo, Martin, ich habe etwas für dich.“ Ein Moment Pause, dann Iris, ihre Stimme bemüht ruhig, doch er konnte die unterdrückte Panik hören. „Martin?“ – „Iris?“ Fassungslos starrte er den Hörer an.
„So doch nicht!“ Die Stimme eisig, dann ein Geräusch ähnlich dem Brechen eines Zweiges, - dann ein Schrei, der ihm das Herz gefrieren ließ. „IRIS!“ Er schrie in sein Handy, nutzlos und überflüssig.
„Sie lässt dir schöne Grüße bestellen. Schade, dass du zu spät zu unserer Party kommst.“ Höhnisches Lachen beendete das Gespräch. Das Handy zerschellte an der Wand.
Wie verrückt fuhr er den Wagen zurück, jagte ihn unter Missachtung aller Regeln über die A7, quer durch die Stadt. Dass er bei dieser Fahrt keinen Menschen verletzt oder getötet hatte, war ein Wunder.
Als er bei der Adresse ankam, die die Kollegen ihm nannten, nachdem sie das Handy geortet hatten, war es zu spät ...
Mühsam zwang er seine Gedanken zurück in das Zimmer, zurück zu Berit Möller.
Wer immer sie getötet hatte, kannte Eddie, das Monster, genau. Auch wenn Martin sich nicht vorstellen konnte – wollte, dass er zurückgekehrt war. Worauf sollte er all die Jahre gewartet haben? Wo hatte er sich vier Jahre lang verkrochen? Warum sollte ihn die Hölle wieder ausgespuckt haben?
„Ich brauche alle Akten, die neuen und die alten.“ Martin sah auf das Bild hinter Ramonas Schreibtisch, abstrakte Kunst, von Merle, vermutete er. Scheußlich auf jeden Fall. Sie nickte. „Alles was du willst. – Was denkst du?“
„Ich hoffe, dass ‚er‘ es nicht ist. – Aber der Täter weiß verdammt viel.“ Nachdenklich folgte sein Blick der hellen roten Linie auf dem Gemälde. Wie eine Blutspur zog sie sich spiralförmig durch die Wirbel der dunklen deprimierenden Farben.
„Ich weiß, was du meinst.“ Sie nickte. „Aber warum? Das ist doch Wahnsinn!“ – „Das Ganze ist Wahnsinn.“
Früher hätte er einen LKW anmieten müssen, um alle Ermittlungsakten mitzunehmen, heute war alles, was er für eine erste Übersicht brauchte, auf dem Laptop, der in seiner Tasche steckte und beim Gehen leicht gegen seine Hüfte schlug. Wie viel schwerer wog der Inhalt.
Nach dem Gespräch mit Ramona machte er sich auf den Weg nach Hause. Es gab zu vieles, worüber er nachdenken musste. Zu viele Altlasten, die er abarbeiten musste, bevor er den Kopf frei hätte. Bei der morgigen Besprechung würde Ramona ihn offiziell als Mitglied des Teams vorstellen.
Teil einer Mordermittlung. Es machte ihn ein bisschen nervös, es war lange her, einige der Kollegen kannte er noch von früher, sie waren vertraut mit seiner Geschichte. Für die anderen war er ein Teil der Akten, ein Beteiligter. Was würden sie in ihm sehen? Ein Opfer? Den unfähigen Ermittler, dem es nicht gelungen war, das Monster zu stoppen, bevor es sich seine Frau holte. Hatten sie Mitleid? Oder waren sie verärgert, eine ‘Altlast‘ aufs Auge gedrückt zu bekommen? Sein Gesicht in die Sonne streckend, versuchte er, die Gedanken abzustreifen. Es war egal, was sie dachten, weder er noch sie konnten etwas an der Situation ändern. Er setzte die Sonnenbrille auf.
Außerdem hatte Ramona recht, das Gespenst musste aufgehalten werden. Er dachte an Berit Möller, sie war erst 27 Jahre alt gewesen. Das achte Opfer eines Serienmörders, einer Bestie. – Sie musste sich gut tarnen, wieso ließen die Opfer sie widerstandslos in ihre Wohnungen? – Ein Bild von Berit hatte im Wohnzimmer auf dem Regal gestanden. In dem langen schwarzen Mantel, der an dem Haken in dem engen Flur hing, stand sie vor einem kleinen See, im Hintergrund war ein einziger blattloser Baum zu sehen, und sah ernst in die Kamera. Sie war hübsch gewesen, lange blonde Locken fielen auf ihre Schultern, eine ihrer Strähnen hatte der Wind in ihr Gesicht geweht. Ihre Hand war in der Aufwärtsbewegung und im nächsten Moment hätte sie die widerspenstige Strähne aus ihrem Gesicht gestrichen. Es war so sinnlos!
Vielleicht lag etwas in der Luft dieser Stadt, Eddie war nicht der erste Serienmörder Hannovers, immerhin konnte sich die Stadt mit einem besonderen Exemplar, Fritz Haarmann, schmücken. Sogar nette kleine Liedchen waren über ihn gedichtet worden. – Wie viele junge Männer hatte er in seiner Dachgeschosswohnung in der Roten Reihe getötet? 20? 30? Aus dem Stegreif konnte er das nicht sagen, aber es waren einige gewesen. Auch wenn das schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts und damit lange her war, war ein Serientäter vielleicht doch nicht ganz so ungewöhnlich für diese Stadt.
Die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel, gab einen ersten Vorgeschmack auf den Frühling, selbst wenn die Luft noch eisig kalt war und der Ostwind auf der Haut brannte. Martin sah sich um, er hatte den Wagen vor dem Kommissariat geparkt. Gerne hätte er noch einen Kaffee, Cappuccino oder ähnliches für die Heimfahrt gehabt, aber der nächste Coffee-Shop war in der Stadt oder der Calenberger Neustadt, was auch nicht näher war.
Auf der anderen Seite der Straße stand eine blonde Frau und schaute sich suchend um. Martin stutze, ging langsam über die Straße. Sie trug eine leuchtend grüne Lederjacke und er hätte gewettet, dass sie die farblich passenden Schuhe trug. Während sie ungeduldig von rechts nach links blickte, schob sie die Unterlippe leicht vor und wippte mit dem linken Fuß. Er musste lächeln, grüne Wildlederstiefelletten! Exakt der Farbton der Jacke.
Noch immer hatte sie ihn nicht gesehen, genauso wenig wie die vorbeigehenden Passanten, die sie anstarrten. Es fiel ihr nicht auf, weil sie es gewohnt war. Kaum einer, der nicht nach der hochgewachsen Blondine mit dem ausgeprägten Schmollmund und den unendlich langen Beinen, die heute in modisch engen, schwarzen Hosen steckten, geschaut hätte. Erst als er sie fast erreicht hatte, blieb ihr Blick flüchtig abschätzend auf ihm hängen. Ihre Augen weiteten sich, dann fiel sie ihm mit einem Aufschrei um den Hals. „Martin! Wie schön!“ Und wie immer bei ihr, klang es wahr – und gleichzeitig etwas übertrieben, wie in einer mittelmäßigen Vorabendsoap.
„Judith! Was machst du hier?“ Strahlend war sie einen Schritt zurückgetreten, die Hände auf seinen Oberarmen. „Ich treffe mich mit meiner Mutter. Du erinnerst dich an Rosalie? Sie spricht oft von dir. – Wir wohnen wieder hier. – Erik hat endlich meinem Betteln nachgegeben und sich hierher versetzten lassen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie lange ich geredet habe. Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten, aber erst als ich ihm gedroht habe, ihn zu verlassen, hat er nachgegeben. Aber du kennst ihn ja, manchmal muss man ihn zu seinem Glück zwingen.“ Wie damals sprach sie schnell, fast atemlos. Erik, ihr Mann, sein ehemals bester Freund, war also auch hier. Nicht, dass er das bei ihren Worten nicht befürchtet hatte.
„Welche aussichtsreiche Stelle hat ihn denn hergelockt? Suchen wir einen neuen Polizeichef?“ Sie knuffte ihn leicht in die Seite. „Hör auf. Du weißt, dass du ungerecht bist.“ Nein, er war nicht ungerecht, und das wusste sie auch. Doch sie hatte Erik geheiratet und sich entschlossen, nur das Beste in ihm zu sehen. Er hingegen sah nur das Schlechteste in Erik, zumindest seit er ihm Judith weggenommen hatte.
„Okay, vielleicht bin ich das. – Wie geht es dir? Du siehst großartig aus.“ Das stimmte, sie war strahlend schön, wie gerade eben einer Modezeitschrift entstiegen. Ihre Mähne umschloss perfekt gestylt das schmale, leicht geschminkte Gesicht. Niemals wäre Judith ungeschminkt vor die Tür gegangen, nicht einmal zum Bäcker oder um die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen.
„Mir geht es großartig! Ich bin wieder Zuhause. Bei meinen Freunden und meiner Familie. – Es war nicht einfach in einer so großen Stadt. Alles war so grell und oberflächlich. Leuchtende Gesichter, leere Fassaden. Alles Schein und wenig Sein. Ich habe keine Freunde gefunden, alle waren so – so kalt. Egoistisch.“ Dann wurde ihr Gesicht ernst. „Du siehst auch gut aus. Wie geht es dir? – Ich meine, als wir damals zur Beerdigung ...“ – „Ihr wart da? Nimm es nicht persönlich, aber ich habe keine Erinnerung an diesen Tag und wer da war – oder nicht. – Es war eine – dunkle Zeit.“ Von diesem Tag hatte er nur wenig in Erinnerung: jede Schaufel Erde die krachend auf den hölzernen Sarg fiel, den kalten, einsamen Geruch der Erde …
Wenn Iris‘ Eltern nicht darauf bestanden hätten, dass sie eine ‘ordentliche‘ Beerdigung bekommt, hätte er sie verbrennen lassen. Die Vorstellung, dass sie dort unter dem Druck der Erde langsam verrottete, war zeitweise unerträglich gewesen. So wie die Beerdigung, die endlose Zeit, bis der Sarg in der Schwärze des Loches verschwand, und sein dringendes Bedürfnis, sich mit ihm in dieser Dunkelheit begraben zu lassen. Und irgendwie hatte er genau das getan: sich in der Dunkelheit begraben.
„Es war grauenhaft! – Oh, Martin, es tut mir so leid!“ Spontan schlang sie wieder die Arme um ihn. Er konnte ihr Parfum riechen, herb und fruchtig, ganz anders als früher, als ein Parfüm für sie nicht warm und lieblich genug sein konnte.
Es war ein fremd-vertrautes Gefühl, als er ihre Umarmung erwiderte. Es weckte Erinnerungen – und kurz ein heftiges Verlangen – in ihm. Von dem ersten Tag an, an dem er Judith begegnete, begehrte er sie. Von ihr ging immer eine erotische Spannung aus, die ihm manche schlaflose Nacht bereitet und ihn vor Eifersucht rasend gemacht hatte. Als er sich damals von ihr getrennt hatte, war der körperliche Entzug von ihrem Körper, dem Sex mit ihr, schwer zu ertragen gewesen. Manches Mal hatte er seinen Stolz aufgeben, sie anrufen und sie anbetteln wollen, nur um ihren Körper, ihren ungezügelten Sex zu bekommen. Daraus hatte er gelernt, sexuelle Abhängigkeit nicht zu unterschätzen.
Nur weil es Erik gewesen war und seine Wut und sein Stolz dadurch stärker als jedes andere Gefühl waren, hatte er nicht angerufen, aber manche Nacht mit Whiskey vor dem Telefon verbracht und sich mühsam überredet, dass er sie nicht brauchte, ihren Körper, ihre Hände und ihre grenzenlose Fantasie …
„Wenn das nicht Martin Holt ist. An seinen störrischen rötlichen Locken und seiner langen, schlanken Gestalt immer noch zu erkennen.“ Die tiefe, fast männliche Stimme von Rosalie, Judiths Mutter, riss ihn aus seiner Erinnerung.
Aufrecht auf einen Stock gestützt stand sie nur wenige Schritte von ihnen entfernt neben einem Taxi und ließ sanft die Autotür ins Schloss fallen. Ihre Haare waren inzwischen vollständig ergraut und ihr Gesicht war mit einem Spinnennetz aus Fältchen überzogen, doch ihre dunklen Augen funkelten immer noch glänzend. Man konnte sehen, dass sie früher eine Schönheit wie ihre Tochter gewesen war.
„Ich weiß bis heute nicht, wie meine dumme Tochter dich verlassen konnte. Ich hätte dich festgehalten und vom Fleck weg geheiratet. Etwas Besseres hätte sie nicht bekommen können, hat sie ja auch nicht.“
Errötend löste sich Judith von ihm. „Mutter, hör auf.“ – „Warum? Ich bin alt, störrisch und senil, ich kann sagen, was ich denke. Und ich denke, dass Martin der bessere Mann für dich gewesen wäre. Dann hätte ich heute bestimmt Enkel.“ Wenn es möglich war, wurde Judiths Röte noch eine Nuance tiefer.
„Es wird Zeit zu gehen. – Ich hoffe, wir sehen uns noch.“ Sie lächelte ihm gequält zu und zerrte ihre Mutter fort, bevor er mehr als ‚Ja‘ sagen konnte.
Rosalie Berger, Judiths dominante, herrische Mutter. Ihr ganzes Leben lang hatte Judith versucht, ihren hohen Ansprüchen gerecht zu werden. Wobei sich ihre Ansprüche auf das gute Aussehen ihrer Tochter und einen passenden, angemessenen Schwiegersohn bezogen. Darum war sie damals auch nicht so begeistert von ihm gewesen, wie es heute schien. Immer hatte sie ihn kritisch betrachtet und oft genug ihrer Tochter geraten, sich einen passenderen Freund zu suchen. Judith hatte ihm von den endlosen Diskussionen erzählt.
Nachdenklich ging Martin zu seinem Auto. Warum kam ein Karrieremensch wie Erik Wiesner hierher zurück? Was konnte es hier zu erreichen geben, was es in der Hauptstadt nicht gab? Oder sollte er wirklich nur Judith zuliebe zurückgekommen sein? Liebte er sie so sehr, mehr als sich selber? – Unwahrscheinlich. Eins war ihm immer klar gewesen, sogar als er glaubte, dass Erik sein bester Freund sei: Niemanden liebte Erik mehr als sich selbst.
Er legte die Tasche mit dem Laptop auf den Beifahrersitz, steckte den Schlüssel ins Zündschloss, einer Begegnung mit Erik würde er nicht ausweichen können. Doch heute war das fast egal, die Wut und der verletzte Stolz waren in den Geschehnissen der letzten zehn Jahre verschwunden – oder doch verblasst. Nie wieder würde er Erik vertrauen, doch er hasste ihn auch nicht mehr. Im Grunde war er ihm gleichgültig, hoffentlich sah Erik das genauso.
Erst war er der Kälte trotzend eine kurze Runde in der Eilenriede laufen gegangen, hatte anschließend ewig unter der heißen Dusche gestanden, um wieder halbwegs warm zu werden, und sich anschließend etwas zu Essen gemacht (der Nudelauflauf wurde langsam auf dem Teller kalt). Jetzt saß er vor dem Laptop, starrte ihn an und suchte einen Grund, ihn nicht zu öffnen. Darin war alles, was er nicht sehen wollte, alles, woran er nicht denken wollte. – Und doch wusste er, dass er ihn öffnen musste, sehen musste, was ihn solange nicht interessiert hatte. Was war nach Iris Tod aus dem Fall geworden? Welche Spuren hatte er übersehen? Und hätte er sie gesehen, würde Iris dann noch leben?
Mit einer langsamen Bewegung, als befürchte er, ihm könne eine giftige Schlange entgegenspringen, öffnete er den Laptop. Leise surrend fuhr er hoch, unruhig stand Martin auf, ging in die Küche, füllte Wasser in den Wasserkocher und stellte ihn an. Ging zurück.
Der Anmeldebildschirm. Mit fahrigen Bewegungen tippte er das Passwort ein, vertippte sich, Fehlermeldung, tippte noch einmal, der Willkommensgruß und der Desktop erschienen, schwarz und leer, nur mit dem weißen Mauszeiger mitten auf dem Bildschirm. Während der damaligen Mordermittlungen wäre jetzt Eddie, das Monster, als Hintergrundbild erschienen. Sein Mund war trocken und seine Hände feucht. Wieder stand er auf, sehnte sich nach einer Zigarette, nach einem Glas Rotwein oder einer kalten Dose Bier – oder einem Whiskey. Es blubberte in dem Wasserkocher. Doch eigentlich wollte er keinen Espresso. Er nahm eine Flasche Wasser aus dem Schrank, öffnete und leerte sie zur Hälfte. Ging zurück zum Wohnzimmertisch, ließ sich auf das Sofa fallen. Zog den Laptop auf seine Knie und öffnete, nach einem kurzen Zögern, die – neue – Akte. Die Vergangenheit musste noch warten, auch wenn er wusste, dass er sie abschließen musste, konnte er es heute noch nicht. (Würde er wirklich jemals in der Lage sein, die Akte seiner eigenen Frau zu öffnen? Allein der Gedanke an die Bilder, die ihn erwarteten, die detailliert das wiedergaben, was in seinem Kopf war, machte ihm Angst.)
Annette Wagner, 27 Jahre, war das erste Opfer der neuen Serie.
Ein vorsichtiges Herantasten. Sie war an eine Heizung gefesselt und mit einer Reitgerte so heftig geschlagen worden, dass ihre Haut an verschiedenen Stellen aufgeplatzt war. Anschließend mit einem phallus-artigen Gegenstand vergewaltigt und schließlich mit ihrem eigenen BH erwürgt worden. Gefunden wurde sie von der durch eine besorgten Freundin alarmierten Polizei, nachdem sich Annette drei Tage nicht gemeldet hatte. Ein Mord, den noch keiner als Beginn einer neuen Serie erkannte. Es gab keinerlei Einbruch- oder Kampfspuren. Hauptverdächtiger war der Ex-Freund, Kevin Regner, der wüste Beschimpfungen und Drohungen nach der erst kürzlich vollzogenen Trennung ausgestoßen hatte und als sehr jähzornig und gewalttätig galt. Nach Aussage ihres Nachbarn, der oft die lauten Streitereien hörte, und der Freundin des Opfers lauerte er ihr ein paar Mal auf und bedrohte sie lautstark. Tagelang hatte Oberkommissarin Johanna Winter – sie musste neu sein, der Name sagte ihm nichts - ihn verhört.
Ohne Ergebnis, er hatte kein Alibi, stritt aber hartnäckig ab, irgendetwas mit der Ermordung seiner Ex-Freundin zu tun zu haben. Da es an der Leiche keine Spuren gab, die auf Kevin hindeuteten, mussten sie ihn letztlich gehen lassen.
Andere vielversprechende Spuren gab es nicht. Annette Wagner war eine zurückhaltende junge Frau, die in einer kleinen 2-Zimmer-Wohnung in einem anonymen Mehrfamilienhaus wohnte. Keiner hatte an dem Tat-Abend oder in der Nacht etwas gehört oder gesehen. Es gab keine verwertbaren Hinweise am Tatort, der Täter war entweder sehr vorsichtig gewesen oder doch der Ex-Freund, dessen Spuren sie natürlich überall in der Wohnung fanden.
Das zweite Opfer war genau vier Wochen später getötet worden. Simone Marquardt, 35 Jahre, verheiratet, hatte eine fünfjährige Tochter, Louisa. Der Ehemann fand seine Frau, als er abends von der Arbeit nach Hause kam, die kleine Tochter war an diesem Nachmittag zu Besuch bei einer Freundin.
Im gemeinsamen Schlafzimmer lag sie, mit Kabelbindern an die Heizung neben dem Bett gefesselt, die Haare waren abgeschnitten und über ihrem wild aufgeschlitzten Körper verteilt worden. Sie war mit einem harten, biegsamen Stock – wahrscheinlich einem Rohrstock geschlagen und anschließend mit einem Antennenkabel, das aus der Wand gerissen worden war, erwürgt worden. Auch sie war mit einem phallusartigen Gegenstand vergewaltigt worden. Einbruchsspuren negativ. In dieser Akte, bearbeitet von Oberkommissar Harald Krüger – ihm war auch dieser nicht bekannt - fand sich noch kein Hinweis auf den ersten Mord, keine Andeutung eines Zusammenhangs. – Wie auch, die Zeichen waren nicht sehr deutlich, nur die Art der Vergewaltigung ähnelte sich. Allerdings sprach der Pathologe in diesem Fall von einem messerartigen Gegenstand, der das gesamte Gewebe zerstört, regelrecht zerfetzt hat. Also auch hier keine 100%-Übereinstimmung.
Im ersten Fall sprach auf den ersten Blick alles für eine Beziehungstat. Und auch im zweiten gab es relativ schnell schon zwei Verdächtige: Einen arbeits-losen Maurer, der in der Nachbarschaft wohnte und verschiedene junge Frauen mehr oder weniger eindeutig belästigt hatte, sowie einen vorbestraften Vergewaltiger, der erst seit einigen Monaten wieder auf freiem Fuß war.
Es stellte sich heraus, dass beide ein Alibi besaßen. Andere Hinweise auf einen möglichen Täter wurden in den folgenden Wochen nicht gefunden.
Es vergingen fünf Wochen, bis die Leiche der 22-jährigen Tanja Vogel, einer allein lebenden Chemiestudentin, gefunden wurde. Der Zeitpunkt ihres Todes wurde von der Gerichtsmedizin auf sechs Tage früher datiert, genau vier Wochen nach dem Mord an Simone Marquardt.
Tanja Vogel wurde mit Kabelbindern an ihr Bett gefesselt, mit dem Rohrstock so stark geschlagen, dass es kaum eine Stelle auf ihrem Körper gab, die nicht mit Verletzungen bedeckt war. Anschließend hatte der Mörder ihr eine Gefriertüte über den Kopf gezogen und mit einer Nylonschnur eng an ihrem Hals befestigt. Sie war langsam und qualvoll erstickt. Vergewaltigt wurde sie mit einem runden, länglichen Holzgegenstand. In ihrer Vagina wurden Splitter eines Holzes gefunden, aus dem billige Besenstiele hergestellt werden. Ihre Haare waren abgeschnitten und am Tatort verteilt, mehrere Fingernägel waren herausgerissen worden. – Wieder eine Ähnlichkeit zu dem Mord an Iris, er erinnerte sich an die blutigen Fingerkuppen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Sam Jira
Bildmaterialien: Dein-eBook -Cover Bonnyb. Bendix Bildmaterial / Pixabay
Lektorat: Martin Schubert, C. Rathke, catwoman
Tag der Veröffentlichung: 16.09.2016
ISBN: 978-3-7396-7404-9
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