Blau. So blau wie der Himmel an diesem Sommertag, mit zart schwarzer Zeichnung. Noch nie sah ich etwas Schöneres. Mit offenem Mund und staunend betrachtete ich schwarze Linien, die auf dem Blau ein perfektes Muster bildeten.
„Marlon! Verdammt!“ - Arnd!
Der Ruf ging unter in dem Lärm und Krach, der an mir vorüber rollte. Verwundert und erschrocken sah ich auf und gerade noch fünf oder sechs Jungs an mir vorbeilaufen. Den Ball, dem sie folgten, konnte ich nicht sehen, der musste schon weiter vorne, näher am Tor sein. Näher an dem Tor, das ich verteidigen sollte.
Ich beobachtete, wie der Ball an Arnd, der über den nassen Rasen hechtete, vorbei ins Tor rollte.
„Marlon!“ Die Stimme unseres Trainers, der zugleich mein Vater war, erklang und automatisch zog ich den Kopf ein. Ein letzter Blick auf den wunderschönen blauen Schmetterling, der vor meinen Füßen auf einem kurzstieligen Gänseblümchen saß und mich vom Fußballspiel abgelenkt hatte, dann trabte ich über den Platz zu meinem Vater. Die Augen meiner Mannschaftskameraden folgten mir und ich ahnte, dass mehr als einer sich wünschte, Rudi würde mich auswechseln. Ich wünschte mir dies auch, doch ich hatte wenig Hoffnung darauf. Mein Vater war der festen Überzeugung, mich dadurch zum Fußball zu bekehren, in dem er mich jeden Tag trainieren und bei jeder Gelegenheit spielen ließ.
Es war ja nicht so, dass ich das Spiel hasste, sondern es lag mir einfach nicht. Ich fand das Betrachten eines blauen Schmetterlings viel spannender als das Jagen nach einem Ball und der einzige Grund, warum ich mich nicht weigerte mitzuspielen, war Arnd, mein bester Freund.
Kaum bei meinem Vater, den ich hier nur Rudi nennen sollte, angekommen, bekam ich die übliche Standpauke zu hören, die immer in dem Ausspruch: ‚Was soll ich bloß mit dir machen?‘ endete.
Nimm mich vom Platz, wäre meine Antwort gewesen, aber das wollte er nicht hören. Jungs spielten Fußball und rauchten heimlich. - Ich war erst 8 Jahre alt und selbst mein Vater war der Meinung, für das Rauchen sei ich noch zu jung. Das würde er erst später von mir erwarten. Natürlich nur zum Ausprobieren, denn eigentlich sollte ich Profifußballer werden und die rauchten nicht!
„Setz dich auf deinen Hintern! Stefan, geh du auf den Platz.“ Leicht konsterniert sah ich meinen Vater an. Ich durfte draußen bleiben? Wow, das war fast zu gut, um wahr zu sein.
Dankbar hockte ich mich an den Spielfeldrand und sah den anderen zu. Nein, eigentlich sah ich Arnd zu … wenn mich nicht der blaue Schmetterling ablenkte, der immer wieder über die Gänseblümchen tanzte.
In diesem Sommer musste ich nie wieder spielen und im nächsten, mit neun Jahren, hatte mein Vater den Versuch aufgegeben, aus mir einen Fußballstar zu machen. Trotzdem fuhr ich immer mit zu den Spielen und saß beim Training auf der Bank. Immerhin spielte Arnd dort unten und er war mein bester Freund.
Arnd war das krasse Gegenteil von mir: seine Haare waren schwarz wie die Nacht, während meine so blond wie ein Weizenfeld kurz vor der Ernte waren; seine Augen waren dunkelbraun, fast schwarz, meine waren sehr hellblau; seine Haut wirkte auch im Winter gebräunt, während ich auch Ende August noch aussah wie ein bleicher Froschbauch; Arnd war fröhlich, extrovertiert und ein guter Sportler, ich träumerisch, introvertiert und ziemlich unsportlich.
In der Schule war es genauso wie auf dem Sportplatz: Während alle fleißig ihre Aufsätze schrieben, ihre Matheaufgaben rechneten oder in ihren Schulbüchern lasen, wanderten meine Gedanken ab, folgten den Vögeln und Flugzeugen am Himmel, lauschten dem Brummen einer Hummel und webten daraus in meiner Fantasie Geschichtsteppiche.
Was zur Folge hatte, dass ich nach der vierten Klasse mit Ach und Krach eine Empfehlung für die Realschule bekam, während Arnd auf das Gymnasium wechseln konnte.
Im Gegensatz zu meinen Eltern war die Vorstellung für mich nicht schlimm, auf die Realschule zu wechseln. Beängstigend war es, dies ohne Arnd zu tun!
Arnds und meine Eltern lernten sich bei einem Geburtsvorbereitungskurs kennen und befreundeten sich. Meine Freundschaft mit Arnd bestand somit schon immer, es gab keinen Tag in meinem denkenden, fühlenden Leben, an dem ich nicht mit ihm befreundet war. - Es gab nicht mal einen, an dem ich ihn nicht sah oder mindestens sprach.
Arnd passte auf mich auf, brachte mich manches Mal durch den Tag und sorgte dafür, dass die Anderen nicht über mich lachten. Ihm war es zu verdanken, dass ich überhaupt eine Realschulempfehlung erhalten hatte. Ohne ihn wäre ich verloren gewesen!
Wie sollte ich durch sechs Jahre Schule kommen, ohne dass mich jemand ermahnte, mir hinterher sagen konnte, welcher Stoff durchgenommen wurde oder aufpasste, dass ich mich nicht als Hans-guck-in-die-Luft lächerlich machte? Allein der Gedanke, einen Klassenraum ohne Arnd an meiner Seite zu betreten, versetzte mich in Panik. Ich sah mich durch ein Spalier grölender und johlender Fremder gehen, die über mich lachten, während sie mit dem Finger auf mich zeigten.
Wie jedes Jahr in den Sommerferien mieteten unsere Eltern ein gemeinsames Ferienhaus in Dänemark. Wir fuhren immer gleich zum Beginn der Ferien. Ich musste also direkt im Anschluss an unsere Entlassung aus der Grundschule, die alle anderen Kinder meiner Klasse jubelnd feierten, meine Sachen packen.
Natürlich wusste ich schon länger von der Empfehlung, die Frau Rodermund ausgesprochen hatte, da meine Eltern mich ja an der weiterführenden Schule innerhalb bestimmter Fristen anmelden mussten. Die traurig vorwurfsvollen Augen meines Vaters und die deprimierten Dackelfalten meiner Mutter hatte ich also schon überlebt. Auch ihr Getuschel über meine Chancen und dass alles ja noch gut werden konnte.
Auf der Fahrt nach Dänemark saßen Arnd und ich immer in einem Wagen und spielten, redeten oder schauten aus dem Fenster. Oft spielten wir das Wolkenspiel: Wir mussten sagen, was wir in einer Wolke sahen, und dann eine Geschichte dazu erzählen. Ein Spiel, das mir gefiel und in dem ich gut war. Stundenlang konnte ich mir Geschichten zu den Wolkenformationen ausdenken. Lustige, die Arnd zum Lachen brachten oder auch spannende Heldenstorys, die ihn fesselnd lauschen ließen.
Das Haus war in diesem Sommer noch größer und besaß einen Wintergarten mit Pool. Die Ferien begannen sehr früh und das Wetter war sehr unbeständig in diesem Juni. Ein Pool war nicht die schlechteste Idee, zumal gerade Arnd Schwimmen liebte. Ich war ein mittelmäßiger Schwimmer und planschen wollte ich höchstens mit Arnd, von dem ich wusste, dass er Rücksicht auf mich nahm.
Doch das Haus war nicht nur so groß, weil es den Pool gab, sondern weil meine Cousine Jaqueline mit ihren Eltern ebenfalls anreiste.
Es war der schlimmste Urlaub meines Lebens! Jaqueline hasste mich, machte mich bei jeder Gelegenheit schlecht und hing die ganze Zeit an Arnds Arm. Was seine Eltern auch noch sehr unterstützten. Statt zu sechst machten wir jetzt zu neunt Ausflüge und irgendwie schaffte es Jackie, wie sie genannt werden wollte, immer neben Arnd zu sitzen, zu gehen und mit ihm zu reden.
Arnd gegenüber war sie fröhlich und unternehmungslustig. Ständig hatte sie Ideen, was wir machen könnten und immer waren es Unternehmungen, von denen sie wusste, dass sie mich nicht interessierten - oder ich sie nicht bewältigen konnte.
Sie überredete unsere Eltern zu einem Ausflug in ein Schwimmbad mit riesiger Rutsche, von der ich nicht mal unter Androhung von Gewalt gerutscht wäre. So konnte sie mit Arnd den ganzen Tag die Wendeltreppe nach oben rennen und rutschen.
Sicher fragte mich Arnd, ob das für mich okay sei, doch was sollte ich sagen? Nein, setz dich zu mir? Also saß ich unglücklich den ganzen Tag auf einer Liege, las ein Buch und ertrug die vorwurfsvollen Blicke meiner Eltern. - Ganz zu schweigen von den triumphierenden Jaquelines.
In diesem Sommer verbrachte ich die meiste Zeit allein mit meinen Büchern. Es sollte ein Vorgeschmack auf das kommende Schuljahr werden. Zwar wurde ich nicht übermäßig gemobbt, aber ich fand auch keine Freunde, hatte Schwierigkeiten, meine Gedanken auf den Unterricht zu konzentrieren und zweifelte an dem Sinn des Lebens. In den ersten Wochen sah ich Arnd noch häufig, regelmäßig trafen wir uns oder telefonierten abends. Doch während ich nie etwas Neues erzählen konnte, begegnete er lauter netten Leuten, verabredete sich mit Mitschülern, ging zu Geburtstagen und nahm an einer Fecht-AG teil. Von dieser und den tollen, coolen anderen Fechtern erzählte er mir ständig. Bis der Tag kam, an dem er nicht anrief und seine Mutter mir sagte, dass er über das Wochenende mit Lutz, einem guten Freund, wie sie betonte, und dessen Eltern nach Hamburg gefahren sei.
Es war der Anfang vom Ende unserer Freundschaft. Nicht, dass wir uns ‘entfreundeten‘ oder es zum Streit kam. Nein, ganz Unspektakulär verlief sie wie die letzten Wellen des Meers bei Ebbe im Sand.
Ich ging zur Schule, versuchte den Anschluss zu halten, saß ganze Nachmittage lang auf dem Balkon und starrte in die Wolken, ein Geschichts-, Mathe- oder Physikbuch auf den Beinen. Meine Gedanken ware überall, doch nicht bei den trockenen Worten auf meinem Schoß.
Im nächsten Schuljahr kam Corinna an unsere Schule und mein Leben veränderte sich erneut. Warum und wieso habe ich nie verstanden, doch Corinna beschloss vom ersten Tag an, dass wir Freunde würden. Sie war klein, rothaarig und völlig überdreht. Nie konnte sie still sitzen, immer zuckte und wippte etwas an ihr. Sie liebte Musik, Tanzen und den ganzen Tag durch die Gegend laufen. Sie war genauso gegensätzlich zu mir wie Arnd. Doch sie entschied sich für mich. Schon am ersten Schultag stand sie nachmittags vor meiner Tür und schleifte mich in die nächste Eisdiele. Ich war überfahren von ihrem Temperament, doch schnell erkannte ich, dass sie genau das war, was ich brauchte. Wir ergänzten uns perfekt. Sie trieb mich an und ich erdete sie. Zusammen wurden wir gut, richtig gut. Es gab scheinbar keine Grenzen. Ich war in Sprachen gut, sie in Mathematik und Naturwissenschaften. Ich brachte sie durch Deutsch, sie mich durch Physik. Ich unterstützte sie in Kunst, sie mich in Sport. Bis zur zehnten Klasse waren wir unzertrennlich.
Arnd sah ich in dieser Zeit kaum. Unsere Eltern trafen sich zwar noch, aber irgendwann gingen wir nicht mehr mit. Ich hörte nur oft von meinen Eltern mit leisem Bedauern in der Stimme, wie toll es bei ihm lief und wie beliebt er war.
Toll lief es bei mir auch, nur beliebt würde ich nie werden. Dünn und groß, mit Haaren, die immer nach gerade aufgestanden aussahen, mit meiner Brille, die ich in der achten Klasse bekam, und meiner schweigsamen Art war ich für die Heldenrolle nicht geeignet. Anders als Arnd, der groß und muskulös geworden war. Er war ein Sportler, ein strahlender Gewinner. - Bis zu dem Tag, als er unfreiwillig als schwul geoutet wurde. Wir waren gerade in der neunten Klasse, als meine Eltern diese Neuigkeit nach Hause brachten. Auf einmal gar nicht mehr so traurig darüber, dass wir nicht mehr befreundet waren. Sie ahnten nicht, dass ihnen das Gleiche bevorstand. Das ahnte ich zu diesem Zeitpunkt selber nicht. Wie bei den meisten Dingen hinkte ich auch in dieser Entwicklung hinterher. Ich interessierte mich weder für Jungs noch für Mädchen und war zufrieden mit meiner Freundschaft zu Corinna.
Von Zeit zu Zeit schwärmten wir mal für einen Filmstar oder eine Sängerin, aber das war alles sexfrei, zumindest von meiner Seite aus. Corinna ließ sich zu diesem Zeitpunkt auch nicht über irgendwelche diesbezüglichen Interessen aus.
Nur am Rande bekam ich mit, dass es für Arnd wohl nicht besonders lustig war, die Klasse ihn mobbte und er nach einem halben Jahr die Schule wechselte. Ich überlegte ihn anzurufen, wusste jedoch gar nicht, worüber ich mit ihm reden sollte. Was tat er in den letzten Jahren? Was interessierte ihn? Und würde er denken, ich riefe nur aus Sensationsgier an? Also ließ ich es sein!
In der zehnten Klasse ging mir auf, dass ich am selben Ufer fischte wie Arnd. Ich verliebte mich heftigst in unseren Kunstlehrer. Jens Hofmann war groß, dunkelhaarig und trug an seinen Hemden immer die obersten beiden Knöpfe geöffnet. Ein paar vorwitzige Brusthaare - nicht so viel, dass es wie ein Urwald wirkte - waren sichtbar und brachten mein Blut in Wallung. Die ganzen Stunden wechselte mein Blick zwischen diesen Haaren, seinem Mund, der so schön geschwungen war, und seinen dunklen Augen, die jeden so freundlich ansahen. Ich stellte mir vor, er spräche nur mit mir, würde mich aufhalten nach der Stunde, mir gestehen, dass er mich auch mochte, mich küssen … Zu diesem Zeitpunkt war mein Gehirn mit der Vorstellung zu küssen schon restlos überfordert und überhitzte.
Zu meinem Glück war Corinna die Einzige, die sah, was mit mir los war, und auf sie konnte ich mich einhundertprozentig verlassen. Niemals hätte sie mich den anderen zum Fraß vorgeworfen.
Irgendwann nach der Schule sprach sie mich darauf an und mit puterrotem Kopf erzählte ich ihr von meinen Gefühlen. Corinna lachte nicht, sie nahm mich in den Arm und tröstete mich, ob der Sinn- und Hoffnungslosigkeit einer solchen Verliebtheit.
Unsere Noten hätten Corinna und mir erlaubt, zum Gymnasium zu wechseln, doch wir waren uns beide sicher, das nicht zu wollen. Zu viel hatten wir schon von den Schwierigkeiten derjenigen gehört, die diesen Schritt gewagt hatten.
Corinna entschied sich für eine Ausbildung als umwelttechnische Assistentin, die zwar auch rein schulisch war, aber ihren Interessen entgegenkam. Ich rutschte mit viel Glück und dem Einfluss meines Patenonkels in eine Ausbildung zum Mediengestalter bei einem Produktionsstudio für Werbefilme.
Der Computer, den ich in den letzten Jahren lieben gelernt hatte, als Arbeitsinstrument einzusetzen war perfekt!
Von Arnd hörte ich in dieser Zeit wenig. Unsere Eltern trafen sich regelmäßig, doch wenn sie über Arnd sprachen, so kamen die Informationen nie bei mir an. Ab und an begegneten wir uns, ohne mehr als einen freundlichen Gruß zu wechseln.
In dem Jahr, in dem ich meine Ausbildung beendete, feierten meine Tante und mein Onkel Silberhochzeit. Natürlich bestand meine Mutter darauf, dass ich mitgehen sollte, ansonsten drohte sie mit Enterbung.
Für die Veranstaltung musste ich mir noch einen Anzug kaufen, da ich aus meinem Konfirmationsanzug herausgewachsen war. Ich hasste Anzüge und war froh, einen Job gewählt zu haben, in dem ich keine tragen musste. Wie lächerlich fand ich die Jungs, die bei der Bank gelernt hatten und immer in ihren schicken Anzügen durch die Gegend liefen. Den ganzen verdammten Tag würde ich mich in dem grauen Ding unwohl fühlen.
Der Freitag war für einen Apriltag ungewöhnlich heiß. Schon auf dem Weg in die Kirche fluchte ich über meinen Anzug und bekam einen Ellenbogencheck von meiner Mutter.
Kaum saßen wir, begann die Orgel zu spielen und wir mussten wieder hoch. Im Aufstehen fiel mein Blick auf einen jungen Mann auf der anderen Seite der Kirche. Arnd. Was machte der hier? Dann sah ich Jaqueline neben ihm, die ihm vertraulich ins Ohr flüsterte. Jaqueline und Arnd? War er doch nicht schwul? Oder war er bi?
Seit ich mir selber sicher war, dass ich schwul war, hatte ich mich mit dem Thema Sexualität und ihre Konsequenzen auseinandergesetzt. Ich wollte auf alle Fragen meiner Eltern vorbereitet sein, wenn ich ihnen eines Tages sagen würde, dass ich schwul war. Das ich bi war, hatte ich nach kurzer innerer Prüfphase ausgeschlossen. Ich mochte Mädchen, aber mit ihnen ins Bett wollte ich nicht.
Allerdings ging ich davon aus, noch viel Zeit zu haben, bis ich es meinen Eltern erzählen musste. Damit wollte ich warten, bis ich einen Freund hätte, jemanden, für den sich der ganze Stress lohnte. Denn wie meine Eltern darauf reagierten, konnte ich nicht einschätzen.
Die Zeremonie dauerte ewig! Die Zeit schien zwischenzeitlich stehengeblieben und die Uhr zum Stillstand gekommen zu sein.
Meine Gedanken wanderten ab, während mein Blick den Weg zu Arnd fand. Mit einem Mal waren alle Erinnerungen da: all die geflüsterten Geheimnisse, die unsere Freundschaft ausmachten, das gemeinsame Lachen über die blödesten Witze, das Erkunden unserer Welt, ausgehend von den behüteten Gärten unserer Eltern. Der erste Ausflug ins nahegelegene Freibad ohne unsere Mütter. Die Nächte im Zelt, in den wir kaum geschlafen hatte, weil uns selbst im Garten von Arnds Eltern alles unheimlich und fremd vorkam. Irgendwann war er zu mir in den Schlafsack geklettert und ich hatte uns die Zeit mit einer Geschichte vertrieben.
Meine Geschichten … Arnd hörte sie sich nicht nur an, sondern sie gefielen ihm auch. Er forderte sie von mir, wie zum Beispiel in jener Nacht im Garten, wo quarkende Frösche zu brüllenden Drachen wurden … Ich wusste noch ganz genau, wie sein Haar roch, das mich in der Nase kitzelte. Nach Sonne und Schwimmbad - und Arnd. Seine Haut roch anders als meine, sie verströmte etwas, das ich nicht beschreiben konnte. Auf jeden Fall roch er gut! Auch wenn er meinte, ich würde besser riechen.
Nur mühsam konnte ich mein Lachen unterdrücken, als ich an den Tag dachte, an dem wir stundenlang vergleichsweise gegenseitig an uns rochen. - Ob Arnd sich noch daran erinnerte?
Ein Stoß in die Rippen brachte mich wieder in die Gegenwart. Offensichtlich war der Pastor fertig und das Silberbrautpaar ging durch den Mittelgang zum Ausgang. Nach und nach schlossen sich die Gäste an.
„Hallo, Marlon.“ Arnds Stimme war tiefer geworden, aber ich erkannte sie sofort. Eine weiterere Erinnerung, wie er mir eindringlich erklärte, dass er Astronaut werden würde, wenn er groß wäre.
„Hallo, Arnd“, antwortete ich und sah ihn an. Verdammt, sah er gut aus! Die Haare lagen in gekonnt frecher Unordnung um seinen Kopf, seine Gesichtszüge waren kantig, seine Lippen luden in ihren Proportionen zum Küssen ein und seine fast schwarzen Augen …
„Hallo, Marlon.“ Jaquelines quäkige Stimme riss mich aus meiner Betrachtung. Klein und krötig hing sie an Arnds Arm.
„Hallo Jackie.“ Leises Murren hinter uns und wir gingen weiter. Vor der Kirchentür trat ich zur Seite. Arnd und Jaqueline stellten sich neben mich. Musste sie als gute Tochter nicht bei ihren Eltern sein?
„Wie geht es dir?“
Bevor ich antworten konnte, zerrte Jaqueline an Arnds Arm. „Meine Mutter winkt, komm, ihr könnt auch später noch reden!“
Mit einem bedauernden Schulterzucken ließ er sich von ihr wegziehen.
Arnd und die quarkende Jaqueline. Ich schüttelte den Kopf.
„Wusstest du, dass Arnd mit Jaqueline zusammen ist?“, fragte meine Mutter, die neben mich getreten war.
„Nein. Woher?“
„So schade, dass die Freundschaft zwischen dir und Arnd damals geendet hat. Ihr habt euch so gut ergänzt. Er hat dich angetrieben und du hast ihn gebremst.“ Sie seufzte leise.
Für einen Augenblick überlegte ich, sie nach den Gerüchten über Arnds Schwulsein zu fragen, da tauchte mein Vater auf. Seine Meinung über Schwule wollte ich nicht gerade heute erfahren und hielt den Mund.
Essen. Essen. Und noch mehr Essen. Reden. Reden. Und noch mehr Reden. Lustige Spielchen. Humorvolle Vorträge. - Tödliche Langeweile.
Endlich kam die 3-Mann-Band, die für die Musik sorgen würde, und es wurde getanzt. Nicht dass ich tanzen wollte, konnte man sich jetzt frei durch den Raum bewegen und es fiel auch nicht auf, wenn man mal eben vor die Tür trat.
Es war Vollmond und deutlich kühler geworden. Ohne Jackett überlief mich ein Frösteln. Ich ging eine paar Schritte aus dem Kreis der kleinen Lampe, um eine Blick auf den Mond und die Stern werfen zu können.
„Ziemlich langweilig, oder?“
Ich wandt meinen Kopf, sah das Glimmen einer Zigarette. Als Arnd an ihr zog, sah ich sein Gesicht schemenhaft.
„Ja. Sterbenslangweilig. Vielleicht hätte ich doch lieber die Enterbung wählen sollen.“ Ich trat zu ihm. Arnd lehnte sich an die Hauswand an, außerhalb der Blicke der Gäste, die auf den Hof traten, um wie ich Luft zu schnappen.
Seit wann rauchst du? Was machst du alleine hier draußen? Wo ist Jaqueline? - Alles Fragen, die ich hätte stellen können. Doch als ich neben ihm stand, fielen sie mir nicht ein. Er roch noch immer gut, das war das Einzige, das mein Kopf wahrnahm. Eine wilde Reise durch Bilder und Empfindungen startete in meinem Kopf.
Die Zigarette flog als glimmender Komet durch die Dunkelheit und verschwand.
„Ich habe dich vermisst“, sagte Arnd und drehte sich zu mir um. Wir waren fast gleich groß, ich konnte ihn zwar nicht sehen, aber deutlich spüren.
„Ich dich auch“, flüsterte ich. Doch in dem Moment dachte ich nicht an die Freundschaft, die uns verbunden hatte, sondern spürte ein neues Gefühl. Sein Geruch, seine Stimme, das reine Wissen, wie er jetzt aussah, cool gegen die Wand gelehnt, reichte, um mein Herz laut schlagen zu lassen. Himmel, konnte man sich von jetzt auf sofort in seinen ehemals besten Freund verlieben?
„Als ich dich vorhin sah, wurde mir bewusst, wie sehr ich dich vermisst habe. Unser Lachen, unsere Gespräche und deine verrückten Ideen.“
„Meine verrückten Ideen? Das mit den verrückten Ideen warst doch wohl du!“
Wir lachten beiden, leise, um nicht gehört zu werden. - Um nicht gestört zu werden.
„Okay, wir hatten beide viele verrückte Ideen! - Aber nur du konntest tolle Geschichten daraus machen.“ Arnd kam noch ein Stück näher. Ich konnte die Wärme spüren, die sein Körper abstrahlte. „Erinnerst du dich an die Nacht im Zelt? Deine Drachengeschichte?“
Sein Atem streifte mein Gesicht. Er musste nach der Zigarette ein Bonbon in den Mund geschoben haben, denn er roch nach Orange, nicht nach Qualm.
„Ja“, war alles, was ich herausbrachte. Er machte mich ganz nervös, wuschig und seltsame Gedanken jagten durch meinen Kopf. Vielleicht sollte ich gehen … oder lieber rennen, fliehen.
„Marlon, als ich dich vorhin sah …“ Statt weiterzureden berührten auf einmal seine Lippen meine.
Nein. Das ist eine unzureichende Beschreibung. Eine Berührung zweier Lippen wäre ein rein physischer Vorgang.
Doch das war nur ein geringer Teil dessen, was passierte. Mein Kopf, Geist, Herz wurde geflutet, von einem Gefühl, einer Empfindung … einem Kribbel, das sich zu einem Flächenbrand ausweitete. Glück, Sehnsucht, Hunger, Verlangen und noch mehr Glück jagten in Wellen durch meinen Körper. Dieser erste Kuss meines Lebens war das Wunderbarste, was mir jemals geschehen war.
Ungestüm legte ich meine Arme um Arnds Nacken, seine Hände verschränkten sich hinter meinen Hüften. Schnell weitete sich dieser Kuss aus, erkundeten Zungen fremdes Terrain. Ich hatte das Gefühl, nicht genug bekommen zu können, niemals genug bekommen zu können.
„Komm“, flüsterte Arnd in einem kurzen Moment des Luftholens. Er nahm meine Hand und zog mich hinter sich her. Wir gingen durch eine Tür, stiegen Stufen hoch, eine Tür wurde geöffnet und ich hinein, wieder in Arnds Arme, gezogen.
Der Vollmond schien in das Zimmer. Scheinbar ein Hotelzimmer. Ich konnte Arnd sehen, der mich mit dunkeln Augen betrachtete. Dann legte er seine Hände an meine Wangen und küsste mich ganz zart.
Meine Hände tasteten, fanden sein Hemd und krallten sich hinein.
Sachte bedeckte er mein Gesicht mit Küssen, flüsterte meinen Namen, nahm wieder meine Lippen in Besitz, diesmal fordernder. Ich zog ihn heran, erwiderte seinen Kuss. Sein Körper strahlte unglaubliche Wärme aus, meine Finger zogen ihm das Hemd aus der Hose, erarbeiteten sich den Weg zu der Hitzequelle, auf die seidige Haut. Ein Stöhnen entkam ihm, als meine Hände über seine Seiten strichen.
Mehr, ich wollte mehr von ihm fühlen, berühren, erkunden. Fahrig schob ich das Hemd nach oben und Arnd hob bereitwillig die Arme. Zusammen mit dem Jackett, das er noch trug, landete es unbeachtet auf dem Boden.
Meine Fingerspitzen fuhren über seinen Rücken und er zitterte in meinen Armen, flüsterte meinen Namen in mein Ohr. Danach könnte ich süchtig werden.
Mein Mund wanderte über seine Hals, ich knabberte an seinem Schlüsselbein, sog dabei den Duft seiner Haut ein. Arnd, vertraut und doch so völlig anders.
Währenddessen zerrte er an den Knöpfen meines Hemdes, fluchte leise, und küsste meine Nacken. Ein Knopf gab der Gewalt nach und sprang quer durch das dunkle Zimmer. Endlich streifte er den störenden Stoff von meinen Schultern, Haut berührte Haut und diesmal war ich es, der erschauderte. Arnd küsste eine Spur zu meinem Hals, saugte sich fest. Meine Hände wühlten sich durch sein Haar, kehrten zurück auf die nackten Haut.
Arnd schob mich ein Stück von sich, sah mir ins Gesicht, schien sich zu versichern, dass ich es war. „Marlon“, hauchte er und zog mich in einen neuen Kuss, der mich verbrannte. Mein Körper schob sich an ihn heran, meine Hände zogen ihn näher. Besitzergreifend legte er seine Hände auf meinen Hintern, rieb sich an mir. Ich keuchte, stöhnte in seine Mund. Brennende Hitze drohte mich zu verglühen.
Das Rutschen meiner Hose nahm ich kaum wahr, aber Arnds Hände auf meinem nackten Hintern verdoppelten meinen Herzschlag. Hitze, Lust, Liebe, Erregung pumpte es in willkürlicher Reihenfolge durch meine Adern.
„Du bist so schön.“ Arnd küsste meinen Mund, knabberte sich zu meinem Ohr, saugte an meinem Ohrläppchen, leckte über meine Hals. Ich war zu nichts mehr fähig, Gefühle überrollten mich, ich hielt mich an seinen Schultern fest, drohte wie ein gasgefüllter Luftballon davonzufliegen. Seine raue Zunge auf meinen Brustwarzen, Küsse zu meiner Leiste und ein weiterer saugender Kuss auf die empfindliche Haut. Ich flüsterte seinen Namen ins Dunkel, wollte ihn überall spüren, zeitgleich küssen und …
Als sein Mund sich um meine Eichel legte, war es um mich geschehen, ich versuchte noch seinen Namen zu sagen, da zuckte mein Becken vor und der Orgasmus überrollte mich, nahm jede Faser meines Körpers in Anspruch.
„Ich habe es gewusst, du Schwein!“
Grelles Licht und Jaquelines hohe Stimme holten mich innerhalb Sekunden auf den Boden der Tatsachen zurück. Mein Blick fiel auf Arnd, der mit schuldbewusster Miene vor mir saß und seine Freundin anstarrte.
„Von dir habe ich nichts anderes erwartet, Marlon! Du hast mich schon immer gehasst!“ Mit dem Zeigefinger deutete sie auf mich und mir wurde bewusst, dass ich nicht gerade viel anhatte.
„Das sage ich deinen Eltern!“ Mit dieser unter anderen Umständen fast lustig kindlichen Drohung rannte sie aus dem Zimmer.
„Jaqueline!“ Unglaublich schnell war Arnd auf seinen Füßen, schnappte seine Sachen und warf mir einen für mich nicht zu deutenden Blick zu, ehe er meiner doofen Cousine hinterherlief.
Ich fror, fühlte mich erbärmlich und kämpfte gegen die Tränen. Schniefend zog ich meine Hose hoch, hob mein Hemd auf. Nicht nur der Knopf war ab, es war auch eingerissen. Damit sah es genauso traurig aus, wie ich mich fühlte. Ich streifte es über meine Schultern und setze mich in auf den einzigen Stuhl in dem Zimmer. Zu dieser dämlichen Feier konnte und wollte ich nicht zurück!
„Hier bist du!“ Meine Mutter stand in der Tür und sah mich an. Das hatte mir gerade noch gefehlt!
„Arnd meinte, dass ich dich hier finde.“ Sie betrat den Raum und schloss die Tür. Was kam jetzt? Eine Moralpredigt?
Kurz sah sie sich suchend um, dann setzte sie sich auf das Bett. „Jaqueline hat mit ihrem Auftritt die Feier geschmissen. Tante Doris hat Arnd aus der Gaststätte geworfen, während ihre Tochter lauter als eine Feuerwehrsirene gejault hat.“ Bei den Worten kicherte sie leise. Ich warf ihr einen finsteren Blick zu. „Sieh mich nicht so an, Marlon.“ Und schon stand sie wieder auf und lief durch das kleine Zimmer. „Auf jeden Fall hat er mir gesagt, dass ich dich hier finde.“
„Super! Und was noch? Dass du mir sagen sollst, dass es ihm leidtut?“ Warum war er nicht selber gekommen?
„So ungefähr. Ja, ich denke, es tut ihm leid.“ Sie nickte und setzte sich wieder.
„Super, es tut ihm leid. Klasse. Können wir jetzt nach Hause fahren?“ Ich stand auf, wollte nicht länger diskutieren.
„Ja, darum habe ich dich gesucht. - Marlon …“
Ich sah sie an.
„Es ist mir völlig egal, ob du Männer oder Frauen liebst. Das wollte ich dir noch sagen. Nicht, dass es ganz überraschend käme.“ Wieder sprang sie auf und ging zur Tür. „Wollen wir?“
„Was heißt, nicht ganz überraschend?“ Perplex sah ich sie an.
„Ich weiß nicht genau, irgendwie hatte ich das im Gefühl.“ Breit strahlte sie mich an. „Komm, wir wollen gehen.“
„Und Papa?“ Konsterniert trottete ich hinter ihr her.
„Oh, der war überrascht.“
Wir waren auf dem Parkplatz angekommen. Die ersten Lücken durch die fluchtartig die Veranstaltung verlassenden Gäste entstanden. Mein Vater stand mit dem üblichen undefinierbaren Gesichtsausdruck an seinem Dodge und hielt mein Jackett in den Händen.
Würde er das so leicht nehmen wie meine Mutter?
„Da seit ihr ja endlich!“ Mit den Worten drückte er mir das Jackett in die Hände. „Einsteigen. Ich habe die Nase voll!“
Wovon? Von mir? Der Feier? Seiner Schwägerin und ihrer verrückten Familie?
Auf der Rückbank sah ich hinaus in die Sterne. Was war mit Arnd? Und warum war er einfach weggerannt? Warum war er nicht wiedergekommen? und was bedeutete das für mich?
„Marlon?“ Die Stimme meines Vaters forderte Aufmerksamkeit und ich brummte.
„Du musst nicht denken, dass es mir etwas ausmacht. Mir ist es egal, mit wem du ins Bett steigst …“
„Georg!“ Meine Mutter schüttelte den Kopf.
„Okay: Wenn du liebst …“ Das Augenverdrehen konnte ich hören.
„Sicher?“, fragte ich nach.
„Klar.“
„Oder hast du jetzt die perfekte Begründung, warum es mit der Karriere als Fußballer nicht geklappt hat?“ Das klang provozierend und vielleicht wäre ich einfach froh, meine Wut an ihm auslassen zu können.
„Nein! Denkst du, ich bin jetzt nicht stolz auf dich? Ich bin stolz auf dich und ich wäre es auch, wenn du der erste bekennende schwule Fußballspieler der Bundesliga geworden wärst!“ Über den Rückspiegel suchte er meinen Blick. „Ich liebe dich nämlich.“
Mir wurde warm und mein Gesicht glühte. So deutlich hatte mein Vater dies lange nicht gesagt.
In dieser Nacht bekam ich nicht viel Schlaf. Arnd beherrschte mein Denken und Fühlen. Jeder Ablenkungsversuch landete im Leeren und ich saß in meinem Bett, am Schreibtisch, in der Küche oder auf dem Sofa und dachte an Arnd.
Ich konnte ihn nicht anrufen, nicht hören, was mit ihm war - und erfahren, ob es für ihn eine einmalige Geschichte zwischen uns war. Ob es ein uns gab.
Es musste eine einmalige Geschichte sein. Für seine Eltern wäre er schwul untragbar und er war auf sie angewiesen. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass er in dem Optikerbetrieb seiner Eltern ein duales Studium zum Bachelor of Science absolvierte.
An diesem Abend bei einer Tasse Kakao erzählte sie mir auch, warum Arnd damals die Schule wechseln musste. Er war beim Küssen mit einem anderen Jungen in den Umkleideräumen erwischt worden. Seine Mitschüler begannen daraufhin die beiden Jungs zu mobben, bis Arnd ausrastete und einem das Nasenbein brach. Danach musste er das Gymnasium verlassen. Seine Eltern taten das Ganze als ‘Phase‘ ab. Vor einem halben Jahr war er dann mit Jaqueline zusammengekommen und die Welt im Hause Wolter war wieder in Ordnung.
Tja, bis heute Abend. Ich würde meinen Verdienst bis zu meiner Rente verwetten, dass Jackie nichts Besseres zu tun hatte, als Arnds Eltern zu informieren.
Was hatten diese gesagt? Arnd rausgeschmissen? Ihn eingesperrt? Er war genauso volljährig wie ich. Doch sie mussten ihn vielleicht gar nicht einsperren, vielleicht reichte die Furcht vor den Konsequenzen.
Um 5:00 Uhr morgens stand ich zum gefühlt einhundertsten Mal vor der Terrassentür und starrte in den Garten. Am Horizont verfärbte sich der Himmel, aus Schwarz wurde Grau.
Ich könnte ewig hier stehen und nichts würde geschehen. Mein Geist würde sich höchstens verknoten. Es musste etwas geschehen!
Ich rannte die Treppe hoch, zog leise fluchend ob ihrer Widerspenstigkeit die Jeans an, streifte ein frisches Shirt über und schnappte meine Fleecejacke.
Als ich die Haustür öffnete, schlug mir kalte Luft entgegen. Egal, Wolters wohnten nicht weit weg.
Nur fünf Minuten später stand ich frierend vor dem Haus. Auf einmal schien mir alles so sinnlos. Schon als Kinder waren wir Gegensätze gewesen. Arnd sportlich und extrovertiert, ich ein Stubenhocker und introvertiert.
Ich dachte an Arnds Aufteten, seine Aussehen an diesem Tag. Souverän, lässig und kommunikativ. Und ich? Unsicher, in schlecht sitzendem Anzug und jedes Gespräch vermeidend.
Mein Leben war leise, der lauteste Ton war zurzeit Corinna, die mich auf Trab hielt.
Mein Blick fiel auf das kleine Cabrio, das vor der Doppelgarage stand. Sicherlich Arnds. Es passte zu ihm, wie Anzüge und …
„Marlon?“
Ich wandte mich zu Arnd um, der neben mir aufgetaucht war. Seine Nase war rot, die Hände steckten tief in den Taschen seiner Jacke. Abwartend sah ich ihn an.
„Ich hatte gehofft, dass du hier auftauchen würdest.“ Er trat noch einen Schritt näher. Kälte ging von ihm aus. Wie lange war er schon hier draußen?
„Warum bist du nicht zu mir gekommen?“
Sein Kopf sackte zwischen die Schultern und sein Blick senkte sich auf seine Füße. „Weil ich befürchtete, dass du mich nicht sehen willst. - Immerhin habe ich dich einfach stehen gelassen - und dass nachdem wir …“ Feuerrot wurde sein Gesicht.
Was war es? Keine Ahnung, aller Ärger, alle Sorge, alle Zweifel verschwanden und ich überbrückte den letzten Schritt, legte meine Hände an sein Gesicht, blickte tief in seine Augen.
„Idiot“, flüsterte ich und küsste ihn. Stürmisch umschlangen mich seine Arme.
„Lass uns zu mir gehen, du musst ins Warme“, sagte ich, nachdem wir uns zum Luftholen trennten.
Mit einem Nicken nahm er meine Hand und wir gingen zu dem Haus meiner Eltern. Redeten dabei über die verheerende Reaktion seiner Eltern, die in aus dem Haus getrieben hatten. Er gab zu, sich verleugnet zu haben für ihre Zuneigung, aber dies nicht mehr zu wollen.
„Ich bin schwul, Marlon, und ich will das leben - am liebsten mit dir.“ Das Letzte war ganz leise, so dass ich es kaum verstand.
„Und ich mit dir“, antwortete ich und zog ihn in einen Kuss.
„Als ich dich heute sah, war es wie ein Blitzschlag, eine Erkenntnis: ich wollte dich. Nicht nur als Freund, nein, als Mann. Ich wollte wissen, ob du immer noch so gut riechst wie damals.“
Inzwischen standen wir in meinem Zimmer und ganz kurz machte ich mir Gedanken, was meine Eltern sagen würden, dann küsste mich Arnd und es gab nichts mehr in meinem Kopf außer ihm.
„Du riechst sogar noch besser als damals“, knurrte er mir ins Ohr.
„Du auch!“, erwiderte ich, schob ihn Richtung Bett.
„Ich will dich, Marlon, dich berühren, fühlen, küssen, schmecken …“ Während er mir ins Ohr flüsterte, streifte er die Sachen von meinem Körper, der ihn bereitwillig unterstützte.
Er schubste mich auf das Bett, riss sich die Kleider vom Leib, ohne mich aus den Augen zu lassen. Sein Körper war perfekt, wie der Rest, ich streckte meine Arme nach ihm aus und schon war er neben mir.
Küsse nahmen mich in Besitz, meinen Mund, meinen Körper. Mal sanft und kosend, mal saugend und markierend. Nie hätte ich gedacht, dass alleine diese Berührung erregend sein könnte. Ich keuchte, wand mich unter seinem Mund, wollte mehr.
„Ich bin so unglaublich verliebt in dich!“, flüsterte er gegen meine Lippen und nahm sie wieder in Besitz. Ich gehörte ihm, er hatte mich mit seinem Mund markiert und ich wollte nichts anders. - Doch, ich wollte ihn ebenfalls erobern. Ich rollte mich über ihn und begann ihn genauso zu erkunden, wie er mich. Er roch aufregend, ich schnupperte über seine Haut, brachte ihn zum Kichern; küsste jede erreichbare Stelle und kennzeichnete ihn. Meins!
„Du machst mich verrückt!“, keuchte er und zog mich neben sich. „Ich will in deine Augen sehen, wenn du kommst.“ Ganz dicht zog er mich neben sich, umfasste uns beide, verteilte die ersten austretenden Lusttropfen und streichelte uns mit viel zu wenig Druck.
„Arnd!“ Das hielt ich nicht aus, das Gefühl, die Lust, die sich immer mehr verdichtete, sich in meinem Becken zusammenballte. „Bitte …“ Ich stammelte, krallte mich in seinen Hintern.
Noch einmal küsste er mich, dann erhöhte er Tempo und Druck, katapultierte mich in neue Sphären. Raues Stöhnen und Keuchen füllte den Raum, als ich langsam wieder zu mir fand. Noch nie war ein Orgasmus so unglaublich gewesen. Ich hob den Blick und sah in Arnds Gesicht. Ein leicht debiles Lächeln lag um seinen Mund. Ich musste genauso aussehen.
„Nie wieder etwas anderes!“, flüsterte er und küsste mich zärtlich.
„Damit kann ich leben!“, entgegnete ich und kuschelte mich an ihn. Mochte es klebrig sein zwischen uns, das war völlig egal. Duschen konnten wir morgen.
Bevor ich einschlief, ging mir noch kurz durch den Kopf, wie es jetzt weiterginge. Seine Eltern. Sein Studium. Meine Wohnsituation bei meine Eltern. Was würden sie dazu sagen, wenn Arnd hier wohnen müsste?
Doch das waren alles Probleme, die wir lösen würden. Wir zusammen: Arnd und ich. Mit diesem Gedanken und einem Lächen auf meinen Lippen schlief ich in Arnds Armen ein.
Ende
Texte: Gabriele Oscuro
Bildmaterialien: Pixabay bearbeitet Samjira
Lektorat: Bella / Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 11.04.2015
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Gegensätze ziehen sich so lange an, bis sie sich vereinigen –
oder wieder ausziehen.
© Ulrich Wiegand-Laster