Sanftes Mondlicht ließ den Schnee glitzern. Die Nacht war viel zu hell für einen Überfall, die Schattenkrieger störte das jedoch nicht. Heute war die Nacht, heute würden sie kommen.
Kashym kniete auf dem Balkon und wartete. Seine Hände ruhten auf den Oberschenkeln, sein Blick war in die Ferne gerichtet, die eisige Kälte spürte er nicht. Gleich würde sich die Tür öffnen und Rashmon, der Priester, würde ihn abholen. Zehn Jahr lang hatte er ihn auf diesen Tag vorbereitet.
Tief und gleichmäßig ließ er seinen Atem fließen, spürte sie kommen, die schwarzen Reiter, die Schattenkrieger. Nur noch Stunden und sie würden die Burg erreichen, die sich über das Land erhob und ihren mächtigen Schatten auf die Stadt Ushma warf, die sich dicht unter der Felsenburg an das Gestein schmiegte. Wie fest und hoch die Mauern, die Stadt und Burg umgaben, auch waren, die Schattenkrieger konnten sie nicht aufhalten. Genauso wenig wie die Jardia, die persönliche Wache des Unberührbaren.
Die Tür schwang auf und Rashmon betrat mit seinen raumgreifenden Schritten den Raum. Einen Schritt hinter Kashym blieb er stehen, sah auf die schwarzen, kurz geschorenen Haare und den Nacken, der mit der Narbenspur verziert war.
„Die Zeit ist da, Kashym.“ Rashmons Stimme war kalt wie der Schnee. Ohne Hast stand Kashym auf und drehte sich um. Ihre Blicke begegneten sich, Rashmons graue, kalten Augen und Kashyms braune. Einige Zeit sahen sie sich stumm an, tauschten wortlos die Abneigung gegeneinander, dann wandte Rashmon sich um und ging mit denselben ausholenden Bewegungen wieder hinaus.
Kashym ließ sich Zeit, legte seine Ausrüstung an und sah sich ein letztes Mal in dem Raum um, bevor er Rashmon folgte.
Ungeduldig erwarte ihn der Priester vor der Tür des Unberührbaren. Dass keine Wachen vor der Tür standen, war ungewöhnlich. Normalerweise war es nicht möglich, sich diesen Räumen zu nähern, ohne von der Jardia aufgehalten zu werden.
„Du kennst deine Aufgabe. – Vergiss niemals, er ist der Unberührbare!“ Rashmon warf ihm einen warnenden Blick zu. Kashym sparte sich eine Antwort.
Der Priester zog die linke Augenbraue hoch, drehte sich um und öffnete die Tür. Dahinter lag weitläufige Gemächer. Kashym betrat den Raum hinter Rashmon, sah sich schweigend um.
„Der Tag ist da, das Orakel erfüllt sich, Ihr müsst fliehen, Unberührbarer“, sagte Rashmon und seine kalte Stimme war in einen unterwürfigen Singsang verfallen. Kashym warf ihm einen interessierten Seitenblick zu. Er kannte den ersten Minister nur als harten und erbarmungslosen Mann, der sich niemandem beugte.
„Ich weiß, Rashmon, seit zehn Jahren bereitest du mich auf diesen Moment vor.“ Der Stimme folgte ein junger Mann, der hinter einem Paravent hervortrat. Sein Blick fiel auf den Begleiter des Priesters und seine Augen weiteten sich in freudigem Erkennen. „Kashy“, sagte er und war mit ein paar Schritten bei den beiden Männern.
Rashmon trat dazwischen, bevor er Kashym erreichte. „Euer Diener, Eure Wache auf dem Weg. Kashyms einziger Lebenszweck ist, Euch zu schützen, notfalls mit seinem eigenen Leben. Er wird dafür sorgen, dass Ihr die Burg Eures Onkels erreicht und sich der zweite Teil des Orakels erfüllt.“
Tief in seinem Bauch fühlte Kashym den glühenden Hass auf diesen Mann. Kurz warf er einen Blick auf den Unberührbaren. Unberührbar – elf Jahre lang hatten sie ein Bett geteilt. Elf Jahre lang waren sie die einzigen Freunde gewesen, die sie hatten. – Seit Rashmon sie vor zehn Jahren getrennt hatte, hatte er keinen Freund mehr.
Blonde Locken, die über seine Schulter fielen, sommermorgenblaue Augen, eine Haut wie der eisige Schnee, der Unberührbare, Samyr, sah noch genauso aus wie vor zehn Jahren. Ein bisschen größer und männlicher vielleicht.
„Ich kenne das Orakel – und ich kenne Kashym. Wir waren Freunde“, sagte der Unberührbare mit klarer Stimme.
„Ihr habt keine Freunde. Ihr seid kein Mensch, der Freunde hat! Ihr seid der Unberührbare. – Die Hoffnung unseres Volkes. Die einzige Hoffnung für die Zukunft.“ Rashmon verbeugte sich.
„Wir haben keine Zeit zu verlieren. Sie werden bald die Ebene erreichen“, mischte Kashym sich ein. „Wenn wir einen ausreichenden Vorsprung haben wollen, müssen wir jetzt gehen.“
Rashmon warf ihm einen bösen Blick zu, doch Samyr (er konnte einfach nicht als Unberührbarer an ihm denken) nickte und griff seine Sachen.
„Kashym hat recht.“ Mit schnellen Schritten verließ er sein Zimmer.
„Vergiss nie, wer du bist, Kashym. – Du bist nichts, er ist alles. Nur sein Leben zählt!“, raunte ihm der alte Priester zu.
Gerne hätte er jetzt das Messer an der sehnigen Kehle ausprobiert, die der Alte ihm entgegenstreckte. Wie sehr er ihn hasste! Ohne eine Antwort ging er an ihm vorbei und folgte Samyr. Mal sehen, was der Unberührbare von ihm erwartete. Die gleiche Unterwürfigkeit, die der Priester ihm unter viel Schmerz aufgezwungen hatte? Oder würde er sich an ihre Freundschaft erinnern? Was hatte der Alte ihm in den zehn Jahren angetan? Auch wenn er sich devot dem Unberührbaren gegenüber benahm, konnte er nicht glauben, dass er dies auch empfand.
Rashmon begleitete sie zu dem geheimen Tor, von hier würden sie einen Pfad durch die Berge führen.
„Kashym wird Euch sicher führen, Unberührbarer. Alles hängt davon ab, dass ihr Euren Onkel erreicht“, sagte Rashmon mit einer tiefen Verbeugung. „Ihr müsst das Schicksal erfüllen.“ Dann drehte er sich zu Kashym um. „Erfülle deine Pflicht, tu, was ich dir befohlen habe! – Vergiss niemals, dass er der Unberührbare ist!“ Seine Stimme war ein kaltes, heiseres Knurren. „Du wirst sterben, wenn du ihn berührst.“
Kalte Wut brodelte in ihm hoch und nur mühsam widerstand er der Versuchung, den verhassten Priester sofort zu töten. „Ich werde dafür sorgen, dass er überlebt“, entgegnete er ohne sichtbare Emotion.
„Das reicht nicht, du musst …“
„Hör auf!“ Samyr sah den Priester kalt an. „Es wird Zeit, lass uns gehen, Kashym.“ Und entschlossen trat er durch das Tor. Kashym und Rashmon sahen sich noch einen Augenblick in die Augen, Wut und Hass loderte zwischen ihnen, dann folgte Kashym Samyr durch die Tür.
Eisiger Wind empfing die Beiden, zerrte an den Fellumhängen und ließ sie schaudern. Kurz tauschten sie einen Blick, dann gingen sie los, kämpften sich durch den Schnee, in den sie knietief versanken. Reden konnten sie nicht, zu laut brauste der Wind, fing sich jaulend zwischen den Felsen. Sie schlangen sich ihre Tücher vor die Gesichter und senkten ihre Köpfe.
Kashym versuchte die Schattenkrieger zu spüren, bald würden sie die Tore der Stadt erreichen, dann würde es nicht mehr lange dauern, bis sie in die Burg vordrangen. Sicher wären sie sehr enttäuscht, wenn sie den Unberührbaren nicht finden würden. – Wie lange würde es dauern, bis sie zu dem geheimem Tor kamen? So schnell wie möglich mussten sie aus dem Schnee kommen, sonst wäre es viel zu einfach, ihnen zu folgen.
Endlich erreichten sie einen Felsvorsprung, hinter dem sie windgeschützt ausruhen konnten.
„Wie lange müssen wir noch durch diesen Schnee gehen?“, fragte Samyr.
„Bis zu dem nächsten Vorsprung, hinter dem sich ein Tunnel befindet, durch den wir ein Stück weiter kommen. Dort werden sie auch unserer Spur nicht mehr so einfach folgen können“, antwortete Kashym und reichte ihm ein Stück Brot.
„Du hasst den Priester“, stellte Samyr fest, während er an dem trockenen Brot kaute und Kashym betrachtete. Zehn Jahre hatten aus dem Jungen, den er kannte, einen Mann gemacht. Die dunklen, sehr kurzen, schwarzen Haare, die Bartschatten, die breiten Schultern und – vor allen Dingen – die Augen, deren melancholischer und gleichzeitig harter Blick. Was hatten die zehn Jahre aus Kashy, seinem besten, seinem einzigen Freund gemacht? Was hatte Rashmon aus ihm gemacht?
„Ja. Ich hoffe, die Schattenkrieger finden ihn. – Auch wenn ich fürchte, er wird ihnen entkommen. Rashmon ist niemand, der einfach stirbt.“ Der Hass loderte wie eine Flamme in ihm.
Nachdenklich betrachtete Samyr den alten Freund. Er wusste, was der Priester jemandem antun konnte …
„Wir müssen weiter.“ Kashym schob das Tuch wieder vor sein Gesicht und ging an Samyr vorbei. Mit einem Seufzer folgte dieser ihm.
Samyr hatte das Gefühl, die Haut müsse ihm vom Gesicht fallen, als sie endlich in einen schmalen Tunnel einbogen. Kashym blieb im Eingang stehen und versuchte die Schattenkrieger zu finden. Sie waren in der Burg, zerstörten alles, was ihnen in den Weg kam. Sie mussten sich beeilen. Trotzdem ließ Kashym sich die Zeit und verwischte ihre Spuren, auch wenn es die Schattenkrieger nicht lange aufhalten würde.
Das Gehen war in dem Tunnel viel einfacher und schnell kamen sie weiter. Auf ihrem Weg lagen unzählige Abzweigungen, doch Kashym zögerte nie, zielsicher folgte er seinem Weg. Samyr spürte Müdigkeit, als sie zum gefühlt hundertsten Mal abbogen und einen engen schmalen Gang nach oben klettern mussten. Seine Hände waren aufgerissen, seine Beine taten weh. Obwohl sie hier kein Wind störte, redeten sie nicht miteinander. Jeder hing seinen Gedanken nach. Irgendwann konzentrierte sich Samyr nur noch auf das Laufen. Zu gern hätte er sich ausgeruht.
„Wir machen eine Pause“, sagte Kashym. Nach einem langen Aufstieg waren sie in einer etwas größeren Höhle gelandet. Dankbar ließ Samyr sich auf den Boden fallen. Fast zu müde, die Handvoll Körner zu kauen, die Kashym ihm reichte.
„Schlaf ein wenig“, sagte dieser. „Sie haben das Tor noch nicht gefunden. Rashmon hat es vor ihren Blicken verborgen.“
Samyr lehnte den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen, sofort vom Schlaf übermannt.
Kashym betrachtete ihn, das schmale Gesicht, die zarte, helle Haut, die blonden Locken, der wohlgeformte Mund …
Erinnerungen stiegen auf, schon damals hatte Samyr, Samy, wie er ihn nannte, ausgesehen, wie ein Engel. Seine Mutter hatte ihnen von den Engeln erzählt, die den Menschen zur Seite standen, ihr Leben beschützten, und für ihn hatten sie immer wie Samy ausgesehen. Doch sein engelhaftes Aussehen täuschte, er war wild und mutig. Immer war er es, der sie in Situationen gebracht hatte, in denen sie Ärger bekamen. Der Ausbruch aus ihrem Gartenbereich. Damals lebten sie zusammen mit ihren Müttern in Gemächern der Shalysha, Samyrs Mutter, zu dem auch ein kleiner Gartenbereich gehörte. Samy wollte unbedingt wissen, wie das Leben hinter der Mauer aussah. Sie landeten im Küchengarten, wurden vom Koch aufgegriffen und Rashmon ausgeliefert, der jedem von ihnen zehn Hiebe auf den nackten Hintern verabreichte und sie zurückbringen ließ. Der Versuch, vom Badezimmer einen Wasserfall in den kleinen Garten zu legen … oder die Wette, wer höher in den Baum klettern könne, bei der er sich den Arm gebrochen hatte, weil er versucht hatte Samy zu retten, der sich an den obersten Ast klammerte und nicht wieder hinunterklettern konnte.
Lächelnd betrachtete er den Schlafenden. Doch Samys Mut endet mit der Dunkelheit. Wenn er tagsüber laut und wild war, so fürchtete er nichts mehr als die nächtliche Dunkelheit. Jeden Abend kam er in Kashyms Bett, schmiegte sich an ihn, um friedlich schlafen zu können. Wenn er alleine in seinem Bett lag, weil sie sich gestritten hatten und er ihm sein Bett verweigerte, wusste er, dass Samy zitternd und zusammengerollt unter seiner Decke lag und nicht schlafen konnte. Meistens überkam ihn dann Mitleid mit dem Freund und er war zu ihm ins Bett gekrochen.
Als Rashmon ihn aus dem Zimmer geholt hatte, war seine größte Sorge in den ersten Nächten, dass der andere nicht schlafen konnte, dass er furchtbare Angst leiden würde. Angefleht hatte er Rashmon, mit ihm sprechen zu dürfen, doch dieser hatte ihn nur hämisch angegrinst und gesagt, der Unberührbare brauche ihn nicht.
Doch den Gedanken an Rashmon wollte er jetzt nicht weiterverfolgen. Sie mussten weiter.
„Unberührbarer.“ Das Wort kam ihm nur schwer über die Lippen, doch er wollte, dass Samyr ihm sagte, wenn er von ihm nicht so genannt werden wollte.
Ein unwilliges Knurren. „Unberührbarer!“, sagte Kashym lauter und betrachtete schmunzelnd die Falte, die sich zwischen den Augenbrauen bildete. Genau wie früher, wenn er ihn weckte. Samyr war schon immer ein Langschläfer und wachte nur ungern auf. Gerne hätte er ihn an der Schulter geschüttelt, doch das durfte er nicht. „Unberührbarer!“, brüllte er ihn schon fast an.
„Ja, und hör auf mich so zu nennen.“ Die blauen Augen öffneten sich und ein winziger Stich bohrte sich in Kashyms Herz. Wie der Himmel an einem Sommermorgen, so klar und hell, so wunderschön.
„Es wird Eurem Priester nicht gefallen …“
„Das ist mir egal. Hör auf mich so förmlich anzureden. Für dich bin ich immer noch Samy.“ Und er lächelte, kleine Grübchen bildete sich auf seinen Wangen. So vertraut und doch so fremd …
Kashym verbat sich diesen Gedanken und nickte. „Gut, Samy, trotzdem müssen wir weiter.“ Er lächelte angesichts des Gesichtes, das Samyr zog, als er aufstand.
„Mir tun jetzt schon die Beine weh. Wie lange wird der Weg dauern?“ Fragend sah er seinen Freund an und überlegte sich, woher die drei kleinen Narben über seinem linken Auge kamen, von denen eine bis in die Augenbraue reichte.
„Ein paar Tage, wir sind erst ganz am Anfang.“
Ein Aufstöhnen war die Antwort und langsam setzten sie sich wieder in Bewegung. Die erste Zeit gingen sie schweigend, Kashym versuchte die Schattenkrieger zu spüren, doch sie waren zu weit weg.
Es war dunkel, als sie den Tunnel wieder verließen und erneut in den kalten Wind traten. Samyr war inzwischen ziemlich erschöpft und folgte nur mechanisch Kashym. Sein Stolz weigerte sich, den anderen um eine Pause zu bitten.
Nach einem weiteren Marsch durch den Schnee standen sie vor einem Fluss, der sich in Richtung Tal vom Berg schlängelte.
„Verdammt, hier sollte ein Boot liegen!“ Kashym sah sich wütend um. Endlich entdeckte er das Boot, das sich losgerissen hatte und glücklicherweise ein paar Meter weiter in den Felsen hängengeblieben war. Keine Chance, es vom Land aus zu erreichen. Fluchend begann er seine Ausrüstung abzulegen.
„Du willst doch nicht in dieses Eiswasser steigen?“, fragte ihn Samyr und sah ihn zweifelnd an.
„Doch, denn ohne das Boot kommen wir nicht auf die andere Seite und dann können wir gleich den Schattenkriegern entgegengehen.“ Er streckte eine Hand in das Wasser, es war wirklich eisig. Entschlossen zog er sich aus, mit Sachen in das Wasser zu gehen, hätte den Vorteil, nicht gleich von der Kälte getroffen zu werden, doch er müsste dann den Rest des Weges mit den nassen Sachen gehen und das wäre sein sicherer Tod bei den Temperaturen. Nackt ins Wasser zu gehen könnte ihn gleich töten, doch er war, dank Rashmon, sowohl Kälte als auch Hitze gewöhnt und hoffte, diese zu ertragen.
Samyr betrachtete den Körper, der sich aus den Sachen schälte. Als er die Narbenspur, eine Vielzahl kleiner aneinander gereihter Narben, sah, die mustergleich in Wellen und Schnörkeln über Nacken und Rücken Kashyms führten, zog er scharf die Luft ein. Die Frage, wer das getan hatte, war überflüssig. Rashmon, der Bastard. Wie sehr hasste und fürchtete er selber den alten Priester, ohne dass er ihm sichtbare Narben zugefügt hatte.
Der Rücken Kashyms war breit und lief trapezförmig zu den schmalen Hüften hinab. Seine Beine waren muskulös und lang. Gebannt betrachtete Samyr den anderen. Er war schön, durchfuhr es ihn, als dieser in das eisige Wasser stieg.
Samyr trat an den Fluss und beobachtete Kashym, vielleicht könnte er ihm irgendwie helfen.
Mit schnellen Bewegungen ging er durch das seichtere Uferwasser, das ihm bis zur Brust reichte. Eisig brannte es auf seiner Haut, schon spürte er kaum noch seine Füße. Zum Glück war es nicht sehr weit und er konnte das Seil des Bootes fassen. Er drehte sich um, ging jetzt gegen die eisige Strömung, spürte seine Beine, seinen gesamten Unterleib nicht mehr wirklich und zwang sich weiterzugehen.
Als er die Stelle erreichte, an der Samyr wartete, hatte er das Gefühl nie wieder etwas fühlen zu können und den Wunsch sich nur noch in dem eisigen Wasser forttragen zu lassen.
„Gib mir deine Hand“, rief Samyr und streckte seine Hand aus. Kashym schüttelte den Kopf, er durfte ihn nicht berühren, doch er reichte ihm das Seil und versuchte sich aus dem Wasser zu ziehen, dass sich inzwischen wie eine kalte Umklammerung anfühlte, die ihn nicht wieder loslassen wollte. Er konnte seine Beine nicht mehr bewegen, sich nicht abstützen und fast hätte er sich einfach zurückgleiten lassen, als ihn zwei Hände packte und an Land zogen. Ein Umhang wurde über ihn geworfen und die eisige Kälte nahm ihm das Bewusstsein.
Als er wieder auftauchte aus dem Dunkel, lag er eingehüllt in die beiden Fellumhänge und spürte einen warmen, nackten Körper, der sich an ihn schmiegte, ihn wärmte. Ein wunderbar vertrautes Gefühl. Die Arme, die ihn hielten, der Atem, der sanft über seinen Nacken strich. Die Wärme des anderen, er konnte sogar seine Beine wieder fühlen …
Dann wurde ihm bewusst, was es bedeutete: Er hatte ihn nicht nur berührt, er lag hinter ihm, schmiegte sich an ihn und wärmte ihn. Wenn eine Berührung schon den Tod bedeutete, was bedeutete dieser Körperkontakt dann?
Er wollte fortrücken, doch die Arme hielten ihn fest. „Du musst erst wieder auftauen, bevor wir weiter können“, flüsterte Samyr hinter ihm und ein Schauer lief über seinen Rücken. Das Gefühl war zu gut, viel zu gut …
„Nein, das geht nicht“, murmelte er und wollte sich wieder lösen, doch es fehlte ihm die Kraft.
„Du glaubst doch nicht, dass meine Berührung dich töten könnte?“, fragte Samyr und mit jedem Wort streichelte sein Atem über Kashyms Nacken. „Das funktioniert nur, wenn die Wachen in der Nähe sind – oder Rashmon.“ Er lachte leise und es war ein wunderbarer Laut, der Kashym erneut erschauern ließ.
„Ich weiß, doch ich weiß nicht, wie viel Rashmon sehen kann. Er hat mir geschworen, mich zu töten, wenn ich dich nur berühre. Und dies ist mehr als eine Berührung.“ Kashym schluckte. „Und bis jetzt hat Rashmon nie einen Schwur gebrochen.“
„Ich habe dich berührt, nicht du mich. Es ist nicht deine Schuld. Und wenn ich dich nicht berühren würde, würdest du sterben und keiner könnte mich zu meinem Onkel bringen, damit ich dieses dämliche Orakel erfüllen kann. – Wenn er also jemanden bestrafen muss, dann mich.“ Samyr schmiegte sich eng an ihm und Kashym musste feststellen, dass dies seinem Körper mehr als gut gefiel. Röte schoss in sein Gesicht. Zum Glück lag Samyr hinter ihm …
Schon lange wusste er, dass er Männer – begehrenswerter – als Frauen fand. Auch wenn er darüber nie hatte nachdenken wollen. Samyrs Berührung jedoch löste diese verbotenen Gefühle in ihm aus, ließen sein Blut in Regionen zusammenfließen, die ihn erröten ließen. Sein Atem ging tiefer und er versuchte sich ein wenig von Samyr zu entfernen, auch wenn ihm die Wärme wirklich guttat.
„Wenn du wieder warm bist, gehen wir, solange bleibst du hier liegen.“ Wieder zogen ihn die Arme in die warme Umarmung, entlockte ihm ein unterdrücktes Keuchen. Die Hände legten sich auf seine Brust und seinen Bauch, jagten einen erneuten Schauer durch seinen Körper. Was würde Rashmon dazu sagen? Er würde ihn in der Luft zerreißen! Doch das schien Samyr nicht zu stören, denn er schmiegte sich noch mehr an ihn.
„Ich glaube, wir können weiter“, flüsterte Kashym heiser. „Ich kann meine Beine wieder fühlen.“
„Du bist noch ganz kalt. – Kannst du die Schattenkrieger spüren?“ Samyr richtete sich etwas auf und beugte sich über seine Schulter. Wie sollte er sich dabei konzentrieren. Er versuchte gleichmäßig zu atmen und seine Gedanken auf die Schattenkrieger zu richten.
„Noch haben sie das Tor nicht gefunden, es kann aber nicht mehr lange dauern. Wir müssen weiter“, sagte er und löste sich sanft aus der Umarmung.
„Woher stammen die Narben auf deinem Rücken?“, fragte Samyr und strich über die Narbenspur.
„Eine ewiges Andenken von Rashmon. – Komm, Samy, wir müssen weiter.“ Kashym stand auf und begann seine Sachen anzuziehen. Als er einen Blick über die Schulter warf, sah Samyr ihn bedauernd an, oder?
„Erzählst du mir, was Rashmon dir angetan hat?“, fragte Samyr, während er sich erhob. Sein milchweißer Körper schimmerte im Mondlicht und der Anblick nahm Kashym den Atem, er war wunderschön – und ihre Berührung hatte auch ihn nicht kalt gelassen. Als er Kashyms Blick sah lächelte er und begann sich anzuziehen. „Was ist, Kashy, erzählst es mir?“
„Vielleicht irgendwann einmal. Jetzt lass uns über diesen Fluss kommen“, antwortete er und zog sich an, den Blick von Samyr abgewendet.
„Ich will es wissen, Kashy, du musst es mir erzählen!“ Samyr war zu ihm getreten und sah ihm in die Augen. „Er ist unmenschlich und hartherzig und sollte er die Schattenkrieger wirklich überleben, dann wird er versuchen, wieder so mächtig zu werden, wie er es bisher war.“
„Wenn ich ihm wiederbegegne, wird es wohl nur einer von uns überleben. Entweder tötet er mich dafür, dass ich dich berührt habe oder ich töte ihn, für alles, was er mir angetan hat.“ Mit einem schiefen Lächeln sah er Samyr an. „Auf jeden Fall werde ich mich ihm nie wieder unterwerfen.“
„Das musst du auch nie wieder!“, versprach Samyr und strich ihm durch das Gesicht. Die Sanftheit ließ Kashym schauern. Wann hatte ihn das letzte Mal jemand so angefasst? Ihn nicht geschlagen, bestraft oder versucht ihn zu töten? Der blaue Blick hielt ihn gefangen. Mühsam riss er sich los. „Lass uns gehen“, sagte er rau und drehte sich um.
Der Fluss war wild und die Überquerung nicht einfach. Nur gemeinsam konnten sie das Boot durch die Strömung lenken. Als sie die andere Seite erreicht hatten, schlug Kashym das Boot leck und schob es hinaus auf den Fluss. Es sollte keine Möglichkeit für die Schattenkrieger geben, den Fluss zu überqueren, auch wenn Kashym nicht sicher war, ob die Schattenkrieger überhaupt ein Boot brauchten, um über den Fluss zu kommen.
Am anderen Ufer setzte ein Schneesturm ein und tief gebückt kämpften sie sich über den Pfad, der sie weiter über das Gebirge führte.
„Sie haben das Tor gefunden“, sagte Kashym und warf Samyr einen kurzen Blick zu. Dieser bestätigte mit einem Nicken, dass er verstanden hatte. Der Weg durch den Sturm forderte all seine Kraft und ließ ihm nicht genug Luft zum Sprechen.
Es war schon wieder hell, ehe sie das nächste Mal hielten. Samyr war so erschöpft, dass er schwankend stehenblieb. In seinen Locken glitzerten Schnee und Eis. Seinen Körper konnte er nicht mehr fühlen, so kalt war ihm. Besorgt sah Kashym ihn an.
„Komm, da drüben ist eine Höhle, dort ruhen wir uns aus“, sagte er und als Samyr nicht reagierte, nahm er seinen Arm und zog ihn mit. Sanft zwang er ihn sich hinzusetzen, während er ein Feuer entzündete. Der Weg war gut vorbereitet und so gab es Holz in dieser Höhle.
Samyr hatte sich noch nicht gerührt und Kashym nahm seine Hände, die immer noch eisig waren. Er zog ihm die Stiefel aus und auch seine Füße waren blau und kalt.
„Verdammt, warum sagst du nichts?“ Doch Samyr lächelte zur Antwort nur müde.
Kashym zog ihn aus, versuchte zu ignorieren, wie samtig seine Haut war und wie sein Körper auf ihn wirkte. Er würde versuchen müssen, ihn genauso zu wärmen, wie Samyr ihn zuvor.
Zusammen mit ihm schlüpfte er zwischen die Fellumhänge, schlang seine Arme um den schmalen Körper und versuchte ihn mit seinem Körper zu wärmen. Eisig fühlte sich Samyr an und Kashym begann sanft die kalte Haut mit seinen Händen zu massieren, die Hände zu reiben und ihn so weit wie möglich mit seinem Körper einzuhüllen.
Seinen eigenen Körper, der sofort auf den engen Körperkontakt reagierte, ignorierend, konzentrierte er sich ganz darauf, Samyrs Durchblutung anzuregen.
Um sein Glied, das ohne seinen Willen hart wurde, abzulenken, versuchte er die Schattenkrieger zu spüren. Erleichtert stellte er fest, dass sie nicht durch das Tor konnten, Rashmons Zauber hielt sie auf.
Langsam kehrte die Wärme in den Samyr zurück und Kashym erlaubte seinem Geist ebenfalls in den Schlaf zu gleiten. Ein wenig Erholung würde seinem Körper guttun.
Streichelnde Hände, fordernde Küsse, keuchenden Atem, ein Körper, der verlangend mehr von ihm wollte …
Erschrocken schlug Kashym die Augen auf, ein solcher Traum, während sein Körper sich an Samyr presste, war ihm mehr als unangenehm. Zumindest war der Körper des anderen warm, bemerkte er und schob seinen Unterleib zurück. Wie lange hatte er geschlafen? Bevor sein Geist eine Antwort finden konnte, presste sich Samyrs Körper wieder an seinen, entlockte ihm ein unterdrücktes Keuchen. Geradezu auffordernd reib sich Samyr an ihm und Hitze überflutete ihn.
Aufstehen, er musste aufstehen und diese Situation beenden. War nicht eine der Voraussetzungen dieses verdammten Orakels, dass Samyr unberührt blieb?
Ehe er diesen Vorsatz in die Tat umsetzen konnte, nahm Samyr seine Hand und führte sie an seinem Körper hinunter zu seiner Erektion.
„Bitte, Kashy“, flüsterte Samyr heiser und sämtliches Blut strömte in seinen Unterleib. Ohne darüber nachzudenken streichelte er das harte Glied, das sich in seine Hand drückte. Stöhnend schmiegte sich Samyr gegen ihn und er küsste die zarte Haut an dessen Hals.
Samyr drehte sich in seiner Umarmung und küsste ihn stürmisch.
‚Er ist der Unberührbare, du bist sein Wächter, sein Schutz. Du kennst das Orakel, er muss die Burg Kopvar unberührt erreichen, um das Orakel zu erfüllen.‘ Rashmons Worte, die er ihm eingeprügelt hatte, füllten Kashyms Kopf. Mühsam schob er Samyr von sich. „Nein, Samy, wir dürfen das nicht.“ Sein Körper begehrte auf, wollte dieses süße Gefühl und es kostete ihn unendliche Anstrengung, seinen Körper von Samys zu lösen.
„Bitte, Kashy, seit ich dich gesehen habe, will ich dies“, flehte Samyr. „Immer habe ich diese Träume gehabt, doch jetzt, hier – mit dir …“
„Wir dürfen nicht! Samy, das Orakel …“, versuchte Kashym zu erklären, während alles in ihm danach schrie, Samyr an sich zu drücken und zu Ende zu führen, was er begonnen hatte.
Samyrs herrlich blaue Augen sahen ihn traurig an, doch Kashym konnte sehen, dass auch er wusste, dass er recht hatte. Schweigend stand er auf und begann sich anzuziehen. Kashym konnte die Augen nicht von seinem wunderschönen Körper nehmen. Immer noch wollte er nichts mehr, als diesen Mann berühren, fühlen, küssen …
„Sie haben das Tor durchbrochen.“ Mit einem Satz sprang er auf. „Wir müssen uns beeilen.“
Der Schnee war die ganze Nacht gefallen und lag fast hüfthoch. Schwerfällig bewegten sie sich weiter. Immer noch tobte der Sturm und es war nicht zu erkennen, ob Tag oder Nacht war.
„Du sagst mir rechtzeitig Bescheid, bevor du wieder halb erfroren bist“, schrie er Samyr gegen den Sturm ins Ohr. Dieser nickte nur.
Nach einer gefühlten Unendlichkeit kamen sie an einen schmalen Pass, der sie bergab führte. Hier traf sie der Sturm nicht ganz so ungeschützt. Aufmerksam beobachtete Kashym Samyr, achtete auf seine Bewegungen.
Seine Gedanken wanderten ab in die Vergangenheit. Sie waren beide am gleichen Tag zur gleichen Stunde geboren. Samyr als Sohn der Shalysha, der Frau des Herrschers, er selbst als Sohn ihrer Vertrauten. Elf Jahre lang lebten sie in der Geborgenheit ihrer Mütter, ihrer Freundschaft, bis Rashmon kam und ihn fortbrachte. An seinem elften Geburtstag. Er brachte zu den Wachen, die ihn ausbilden sollten. Ein Haufen stinkender, versoffener Kerle, die ihren Spaß daran hatten ihn zu demütigen und zu quälen. Das ging solange bis Brax, ein Berg von einem Mann, beschlossen hatte, ihn unter seine Fittiche zu nehmen. Eines Abends hatte er ihn zwei der Wachen entrissen, die sich an ihm vergehen wollten. Von dem Moment an war er sein Beschützer. Nicht dass die Ausbildung leichter wurde, hörten die Demütigungen auf. Bis Rashmon ihn mit achtzehn Jahren erneut herausriss und seiner eigenen Ausbildung unterwarf. Die letzten drei Jahre waren die härtesten und qualvollsten in seinem Leben. Zweihundert Narben, aus denen sich die Spur auf seinem Rücken zusammensetzte, fünf gebrannte sowie mehrere Narben aus den Kämpfen auf Leben und Tod, denen Rashmon ihn ausgesetzt hatte, zeugten von diesen Jahren. Er hatte seinen Stolz gebrochen: Ihn hungern lassen, ihn Stunden lang in der Sonne und auch in der Kälte stehen lassen, ihm das Gift des Drachen einflössen lassen … endlos waren die Höllen, durch die er ihn gehen ließ. Immer mit der Begründung ihn auf seine Aufgabe vorzubereiten.
Samyr schwankte leicht und mit zwei Schritten war Kashym bei ihm, fasste unter seinen Arm. „Du sollst mir Bescheid sagen, du Dickkopf“, fluchte er leise und schob Samyr hinter einen kleinen Vorsprung. Sein Körper war schon wieder kalt, verdammt, hier konnte er ihn nicht wärmen!
Die blauen Augen sahen ihn hilflos an. „Ich kann nichts dagegen tun …“
„Schon gut.“ Sanft streichelte er ihm durch das Gesicht. Dann, einer Eingebung folgend, küsste er ihn, hart und fordernd. Augenblicklich presste sich der andere an ihn. Kashym spürte, wie seine eigene Körpertemperatur stieg und hoffte, dass es Samyr genauso ging. Erst als er das Gefühl hatte, es würde Zeit etwas auszuziehen, ließ er von den Lippen des anderen. Samyrs Gesicht glühte und seine Augen schienen Funken zu sprühen. Sprachlos sah er ihn an.
„Nicht mehr weit und wir gehen wieder in einen Tunnel“, sagte Kashym und ging wieder los, ohne auf Samyr zu achten. Eins war sicher, würde er Rashmon wiederbegegnen, käme es darauf an, wer wen schneller töten würde. Wenn Rashmon die Chance bekäme, würde er ihm die Haut bei lebendigem Leib vom Körper ziehen – und damit würde er noch gut wegkommen.
Der Tunnel war eng und dunkel. Schmal drängten sich Wände und Decke ihnen entgegen. Kashym hörte Samyr die Luft einziehen. „Müssen wir hier durch?“
Gut erinnerte er sich an Samyrs Abneigung gegen Dunkelheit, auch wenn er erwartet hätte, dass diese sich im Laufe der Jahre gebessert hätte. „Ja, es ist der einzige Weg. – Willst du vor oder hinter mir gehen?“ Mit beiden Händen umfasste er Samyrs Gesicht. „Es wird dir nichts geschehen. Ich passe auf dich auf.“ Und wieder küsste er ihn, wusste, dass er gegen die Regeln verstieß.
Samyr schob ihn gegen die Wand, drückte ihn mit seinem Körper dagegen. „Hör auf, deine Küsse als Mittel gegen mich einzusetzen. Ich will dich, spiel nicht mit mir.“
„Ich will dich auch. – Doch ich darf dich nicht haben. Ich muss dich so unberührt wie möglich zu Burg Kopvar bringen. Du kennst das Orakel!“
Er ließ zu, dass Samyr seine Handgelenke neben seinem Kopf fixierte und ihn wieder küsste, seinen Körper an ihm rieb. „Und warum küsst du mich dann?“
„Weil ich so wenigstens die Küsse vor mir vertreten kann“, sagte er und lächelte in den nächsten Kuss.
„Hör auf damit, es treibt mich in den Wahnsinn.“ Mit einem letzten brennenden Kuss ließ Samyr ihn los. „Ich gehe hinter dir.“
Das Atmen fiel Samyr in der dunklen Enge schwer. In den Jahren hatte er gelernt mit nächtlicher Dunkelheit umzugehen, doch nicht mit dieser bedrückenden Enge. Die Wände schienen nach ihnen zu greifen … Als er gegen einen feuchten Vorsprung stieß, konnte er einen Aufschrei nicht unterdrücken, auch wenn er sich sofort als dumm schalt. Kashym blieb vor ihm stehen und drehte sich um.
Sag jetzt bloß nicht, dass es nichts gibt, wovor ich mich fürchten muss, das weiß ich, dachte Samyr.
„Gib mir deine Hand, ich hoffe, wir sind hier gleich durch.“ Der warme Klang in Kashyms Stimme tat ihm einfach gut und tastend ergriff Samyr die Hand. Es war zwar immer noch dunkel und eng, jetzt fühlte er sich jedoch nicht mehr so verlassen.
„Rashmon hat es gewusst. Immer wenn ich nicht so – folgsam – war, wie er sich das wünschte, dann sperrte er mich ein. In einen engen, dunklen Raum, ohne den kleinsten Spalt und völlig still. Ich bin fast verrückt dabei geworden. Immer schien er genau zu wissen, wie lange er mir das zumuten konnte.“ Samyr musste reden, die Stille durchbrechen. Hier war wenigstens jemand, der ihm zuhörte. „Es gibt viele Möglichkeiten jemanden zu bestrafen, den man nicht berühren darf. Daran hat er sich immer gehalten, er hat mich nie berührt. Er nicht und kein anderer. Einem Diener, der es versehentlich getan hatte, ließ er die Hand abschlagen. In meinem Zimmer. Das Blut spritzte und Rashmon hat mich mit seinen kalten Augen betrachtet. Mir wurde übel, doch ich durfte nicht aufstehen, ich musste sitzenbleiben und zusehen, zuhören. Mit jedem Tag hasste ich ihn mehr …“
Kashym blieb stehen, drehte sich um und zog Samyr in seine Arme. „Ich weiß, wie teuflisch dieser Priester ist. Gerne würde ich dich fortbringen, irgendwo hin, wo es keinen Rashmon und seine Strafen gibt … Wenn nicht dieses verdammte Orakel eine ganze Welt von dir abhängig machen würde. – Es gibt so viele Dinge, die ich mit dir tun möchte …“ Und wieder konnte er der Versuchung nicht widerstehen und küsste Samyr, der seine Arme um seine Taille schlang und sich an ihn presste.
„Wenn das Orakel recht hat, dann ist die Welt schon verloren. Dann hätte ich dich nie berühren, deinen Körper nie mit meinem wärmen dürfen“, flüsterte Samyr in sein Ohr.
„Nein, nur wenn Rashmon mit seiner Auslegung recht hat. Das Orakel sagt nicht genau, was unberührt ist: von der gesamten Welt, von einem anderen Menschen, körperlich oder geistig unberührt? Rashmon sagt, dass dich niemand anfassen, berühren darf. - Vielleicht meint das Orakel auch nur jungfräulich … - oder von weltlichen Interessen unberührt. Vielleicht soll der Unberührbare nur nicht parteiisch sein … Es gibt viele Auslegungen und wir folgen einfach nur Rashmons.“
„Weil er ein Priester ist. Wenn er es nicht weiß, wer soll es dann auslegen?“, Samyr wollte gerne Kashyms Worten folgen, doch was war richtig?
„Ich kann nicht glauben, dass es meint, du dürftest nie jemanden berühren. – Und warum erst nach deinem elften Geburtstag? Du kennst den Spruch des Orakels wie ich, darin gibt es keinen einzigen Hinweis, dass die Unberührbarkeit erst mit einem bestimmten Alter beginnt.“
„Vielleicht verstehen wir nicht alles. Das Orakel ist vielleicht im Zusammenhang mit der ganzen Geschichte unserer Welt, unseres Seins zu sehen. Vielleicht beginnt etwas in uns erst mit elf … - Was ist, wenn ich die Unberührbarkeit verloren habe?“
„Dann ist der Spruch des Orakels hinfällig. Ich weiß nicht, was für andere Möglichkeiten es dann gibt. – Ich weiß nur, dass es mir verdammt schwerfällt, dich nicht zu berühren.“
Auf einmal kicherte Samyr. „Du tust es ja auch gar nicht. Du berührst mich – und es ist gut! Endlich ein Mensch, der nicht zurückschreckt. Weißt du wie sehr ich mich in den zehn Jahren nach ein wenig Berührung gesehnt habe? Eine Hand, zum Trost gereicht; eine Umarmung, gegen die Monster der Dunkelheit … Ganze Nächte habe ich weinend unter meiner Decke gesessen und mich nach deiner Nähe verzehrt. In deinen Armen gab es keine Monster!“
„Samy, ich werde ihn töten. Für alles was er dir angetan hat. Er ist ein Monster, egal, welches Ziel er verfolgt, er hat kein Recht darauf zu leben.“ Zart küsst er den anderen. „Jetzt lass uns gehen, die Schattenkrieger kommen zu schnell vorwärts.“
Eine Zeit lang musste sie gebückt gehen und Kashym konnte Samyrs Angst spüren, auch wenn er versuchte, sie tapfer zu unterdrücken. Endlich erreichten sie das Ende der Enge und traten in eine riesige Höhle. Durch verschieden Öffnungen fiel helles Licht in die Höhle. Überall auf dem Boden der Höhle lagen riesige Knochen und Schädel. Abrupt blieben sie stehen.
„Was ist das, Kashy?“, fragte Samyr leise.
„Drachenknochen. Die Sterbehöhle eines Drachenverbandes. Die scheinen alle schon lange tot zu sein.“ Kashym schüttelte sich. Samyr warf ihm einen Seitenblick zu und konnte echte Trauer auf seinem Gesicht sehen.
„Was bedeuten dir diese Knochen?“, fragte er daher.
„Ich kannte einen Drachen … nicht so einen mächtigen, wie diese, er war kleiner. Ein Jungtier … Rashmon hat mir sein Blut eingeflößt, sonst könnte ich die Schattenkrieger nicht fühlen.“ Die Erinnerungen überfluteten ihn. Slav hieß der der Drache, gefangen um zu sterben. – Und er musste ihn töten. Sein Leben oder das des Drachen. Eins von Rashmons Spielen. Doch es war wie einen Bruder töten, Slavs Blut floss in Kashyms Adern …
„Rashmon“, sagte Samyr und Kashym nickte. Tausend Fragen hätte Samyr ihm stellen können, doch er schwieg, mit jedem Schritt, wurde sein Weg schwerer. Er wollte nicht das Orakel erfüllen, wollte nicht den Rest seines Lebens nach dem Willen Rashmons leben. Was für einen Sinn hatte eine Welt, die nach Rashmons Vorstellungen geformt wurde?
Schweigend schritten sie durch die Höhle, vermieden es, auf die herumliegenden Knochen zu treten. Am Ende der Höhle erwartete sie ein steiler Abstieg. Samyr schluckte angesichts der fast graden Felswand zu ihren Füßen.
„Kashy, das kann ich nicht. Du hast mich durch diesen verdammten Tunnel bekommen, doch hier klettere ich nicht herunter.“ Krampfhaft klammerte er sich an einem Vorsprung fest.
„Wo ist dein Wagemut, Samy? Wegen deiner verrückten Ideen und Ausbruchversuche bin ich mehr als einmal bestraft worden. Das hier ist nicht schwerer, als damals über diese Mauer zu steigen. Wir klettern langsam und stückchenweise.“ Beruhigend lächelte Kashym ihm zu.
„Das ist fünfzehn Jahre her, seit dem bin ich über keine Mauer mehr geklettert.“ Nicht überzeugt sah Samyr ihn an.
„Wollen wir hier auf die Schattenkrieger warten? Eine andere Möglichkeit gibt es nicht, Samy. Vertrau mir und folge mir einfach.“ Vorsichtig begann Kashym hinunter zu klettern. „Wenn wir den Abstieg hinter uns haben, machen wir eine Pause.“ Aufmunternd lächelte er Samyr zu. Der sich kein Lächeln abringen konnte, aber sehr zaghaft hinter ihm her kletterte.
Zweimal hatte Samyr schon mit seinem Leben abgeschlossen und nur Kashyms rasches Zufassen rettet ihn vor einem Absturz, dann kamen sie endlich auf einem größeren Vorsprung an. Samyr setzte sich sofort. Seine Arm- und Beinmuskeln zitterten. Müde und erschöpft sah er Kashym an. „Wie lange geht das so weiter?“
„Gar nicht mehr. Wir machen eine Pause und dann kommt ein ganz einfacher Abstieg. – Versprochen.“
„Du meinst nicht, dass ich mich auf diesem schmalen Vorsprung hinlegen und ausruhen soll?“, fragte Samyr ungläubig.
„Doch, du legst dich an die Wand, ich passe auf, dass du nicht abstürzt“, antwortete Kashym lächelnd. „Es kann gar nichts passieren.“
Nicht überzeugt, doch zu müde, um zu streiten, rollte sich Samyr in seinen Umhang. Kashym legte sich direkt vor ihn.
„Da es jetzt eh schon egal ist, halt mich bitte fest“, flüsterte Samyr, dem dieser enge Vorsprung in der Höhe doch etwas zusetzte.
Kashym rutschte näher an ihn heran und legte den Arm um ihn. Sie sahen sich an, so nah, dass sich ihre Nasen fast berührten.
„Woher kommen sie drei Narben auf deiner Stirn?“
„Ein Kampf, der Mann, ein Usalker aus dem immer warmen Süden, setzte einen kleinen Raubvogel als Waffe ein. Das Tier schlug eine Kralle in mein Gesicht und versuchte mir mit seinem Schnabel die Augen auszuhaken“, erzählte Kashym mit geschlossenen Augen.
„Wo hast du gekämpft? Es gab doch keine Kriege in den letzten zehn Jahren“, hakte Samyr nach.
„Kein Krieg. Nur ein Kampf Mann gegen Mann, auf Leben und Tod. Es müsste die hundertfünfte Narbe auf meinem Rücken sein. Für jeden Mann, den ich besiegte, bekam ich eine Narbe.“ Seine Stimme klang emotionslos, doch gerade das Fehlen aller Gefühle, jagte Samyr einen Schauer über den Rücken.
„Rashmon ließ dich um dein Leben kämpfen? Warum?“, fragte er ungläubig.
„Damit ich für heute gewappnet bin. Keine Angst habe zu töten. Mich keine Gefühle behindern, meine Aufgabe zu erfüllen. Darum wollte er jedes Gefühl in mir abtöten. Ich sollte ein herzloser Soldat in seinen Diensten sein. Die einzige Angst, die ich fühlen soll – und die ich fühle – ist die Angst vor Rashmon.“ Die dunklen Augen öffneten sich, Hass loderte in ihnen. „Doch diese Angst wird mich nicht davon abhalten, ihn zu töten.“
„Wie viele Narben hast du?“
„Zweihundert. Das sind nur die aus den Kämpfen.“ Auf einmal erlosch das Feuer und tiefe Melancholie machte sich in seinen Augen breit. „Ich werde es auch nicht bedauern, wenn er mich tötet. Dann endet endlich meine Schuld. Zweihundert Männer, nur weil er es so wollte. Hätte ich mich ihm verweigern sollen? – Doch er hat gesagt, wenn ich nicht überlebe, dann kannst du auch nicht überleben. Wenn ich auch meinen Tod in Kauf nehmen konnte, nicht deinen.“
„Kashy, warum? Warum tut er uns das an?“
„Zwillinge nicht von Geburt, doch durch Stund,
der eine, des anderen Wache und Schild,
der andere rein und unberührt,
entkommen dem schwarzen Tod.
Ohne den einen, der andere stirbt,
wenn beide lebend erreichen ihr Ziel,
der Unberührte erhält diese Welt.
Vereinigt die Länder, gebrochen im Zwist
und neu beginnt das Rad der Zeit“, zitierte Kashym das Orakel. „Wenn du jetzt nicht mehr rein und unberührt bist, dann hat die Welt ein Problem.“
„Das Orakel sagt aber nicht, dass ich zur Burg Kopvar gehen muss oder dass ich meine Cousine heiraten und damit die Familie erhalten muss“, sagte Samyr.
„Du sollst heiraten und die Familie erhalten? Du sollst gefälligst die Welt retten, Samy.“ Sanft strich Kashym ihm durchs Gesicht. „Warum will Rashmon, dass du zu dieser Burg gehst? Warum soll sie das Ziel sein, das wir lebend erreichen sollen?“
„Weil er verwandt ist mit der Frau meines Onkels“, erwiderte Samyr, dem die Augen zufielen. „Weil ich befürchte, er wird uns dort erwarten.“
Wie konnte das sein? Es gab keinen schnelleren Weg, als diesen. Alle Wege führten um die Berge herum und dauerten Wochen. Er betrachtete Samyrs Gesicht, das sich entspannt hatte. Elf Jahre lang hatten sie beide Tag und Nacht miteinander verbracht, geborgen in der Obhut ihrer Mütter, die sie mit Liebe und Zärtlichkeit behandelten. Eine wunderbare Zeit und dann beendete Rashmon diese jäh, isolierte sie, nahm ihnen jede Liebe, jede Zärtlichkeit, jeden Körperkontakt. Kein Mensch war ihm in all den Jahren körperlich so nah gekommen wie Samyr. War es nicht unvermeidbar, dass sie sich berühren mussten, wenn sie sich wiedersahen? Endlich wieder der Mensch, der ihnen so viel bedeutet hatte? Endlich ein Wiedersehen? Sicher hatte Rashmon nicht vorher sehen können, dass sie sich körperlich so anziehend fanden, aber er ahnte sicherlich, dass sie nach den Jahren der Entbehrung nichts mehr ersehnten als eine Berührung. Warum hatte er sie isoliert? Warum von ihren Müttern getrennt? Hätte nicht Samyr bei seiner Mutter bleiben können? War die Unberührbarkeit so weitreichend? – Oder hatte er es gewollt? Wollte er provozieren, dass sie sich berührten? Doch warum?
Um sagen zu können, das der Unberührbare nicht mehr unberührt war! Die Welt braucht eine Alternative, die Welt braucht einen Priester, die Welt braucht zur Rettung Rashmon! – Und sie beide würde für ihre Schwäche, ihre Sünde sterben!
Sie würden geopfert für Rashmons Machtgier! – Das Ausmaß dieses Gedanken erschreckte Kashym, er setzte sich auf und betrachtete den Schlafenden. Wenn er Samyr zu der Burg bringen würde, würde sie beide sterben, sobald Rashmon dort ankommen würde! – Falls er durch Magie nicht vor ihnen dort war. - Sie mussten einen anderen Weg wählen und Rashmon abfangen, bevor er das Ziel erreichte – und dann würde er ihn umbringen müssen. Vielleicht gab es dann eine Möglichkeit für Samyr als Thronerbe die Welt zu retten.
„Samy, wach auf, wir müssen weiter“, sanft schüttelte er den anderen an der Schulter. Widerwillig öffneten sich die blauen Augen und Samyr stöhnte auf. „Hast du nicht von ausruhen gesprochen?“
Doch Kashyms Kopf arbeitete schon weiter, woher kamen die Schattenkrieger? Rashmon hatte ihnen erzählt, dass sie aus dem Reich Thuis kamen, doch wenn sie so unbesiegbar waren, wie er gesagt hatte, warum sollten die Mächtigen von Thuis mit ihnen verhandeln? Wie sollte Samyr ihnen entkommen? Warum sollten die Schattenkrieger nicht auch die Burg Kopvar einfach überrennen? Und wenn es einen Schutz gab, warum wurde nicht ihr Reich geschützt, sondern nur das Reich des Onkels? – Warum hatte keiner an Rashmons Worten gezweifelt? Doch wer sollte an den Worten des ersten Ministers, des Priesters, des Magiers zweifeln?
„Samyr, ich glaube, wir beide sollen diese Flucht nicht überleben bzw. wir werden an ihrem Ende sterben. – Rashmon hat gewusst, dass ich nach zehn Jahren ohne – wie soll ich es nennen: Liebe? Körperkontakt? – nicht widerstehen konnte. Er wusste, dass ich dich berühren musste, vielleicht wusste er nicht, wie sehr ich dich begehre, doch er wusste, dass mein Körper, meine Seele sich nach zehn Jahren Einsamkeit nach Wärme sehnt. Und dass ich bei dir, der mir elf Jahre lang das Liebste war, niemals dauerhaft widerstehen konnte. Er wollte, dass ich dich berühre, dass du die Unberührbarkeit, die er so hart und starr ausgelegt, verlierst. Wenn wir an der Burg deines Onkels ankommen wird er vielleicht noch nicht dort sein – das wäre Hexerei – aber er wird kommen, wird uns beschuldigen und wer wird nicht dem rechtschaffenen Priester glauben? Sie werden uns für schuldig befinden und weil wir nicht unser Seelenheil, sondern den Frieden der Welt damit gefährdet haben, werden sie uns töten. – Und Rashmon wird deinen Platz als Herrscher des Reichs einnehmen. Auf wundersame Weise werden die Schattenkrieger verschwinden und Rashmon wird ein großes, sehr reiches Land sein eigen nennen.“ Seine braunen Augen schienen zu glühen. „Wir dürfen nicht zu dieser Burg, wir müssen überlegen, auf welchem Weg Rashmon die Burg erreichen könnte und müssen ihn abfangen. Wenn du dein Erbe behalten willst, dann werden wir verhindern müssen, dass sein Plan funktioniert.“
„Du meinst, zehn Jahre Qual, damit ich mich auf diesem Weg von dir berühren lasse, damit das Orakel in die Leere läuft und er den Retter der Welt spielt? Und du glaubst, es gibt keine Schattenkrieger?“ Samyr sah ihn verwirrt an.
„Oh, doch, die Schattenkrieger sind unterwegs, sie haben getötet und verwüstet, ich befürchte jedoch, dass Rashmon und nicht ein fremder Herrscher sie geschickt hat. Sie sind Teil des Plans. – Und er wird sich auf diese Weise nicht nur dein Reich, sondern auch das Reich deines Onkels aneignen. - Vielleicht noch ein paar kleinere, verängstigte Reiche mehr. – Letztlich wird er die Schattenkrieger besiegen und als Retter der Welt die Krone der Welt tragen. Weil keiner erkennt, dass die Welt ohne ihn nie bedroht wäre.“ Kashym sah Samyr an, konnte das Entsetzen im Blick des anderen erkennen. „Lass uns weitergehen, Samy, runter von diesem Berg. Wir müssen einen Weg finden, die verdammten Schattenkrieger abzuhängen.“
Er hatte Samyr nicht zu viel versprochen, der restliche Abstieg war einfach gegen den ersten Teil, als die Sonne zu sinken begann, erreichten sie das Tal. Mit jedem Meter, den sie abgestiegen waren, war es wärmer geworden, sodass sie Fellumhänge und Jacken ablegen konnten.
Samyr sah an sich herunter. „Ein wenig Wasser wäre schön, ich fühle mich schmutzig.“ Kashym lachte. „Du bist nie durch die Schule der Krieger gegangen, dort musst dich tagelang durch den Dreck wühlen, bist du das Gefühl hast, der Schweinestall würde gut gegen dich riechen.“
„Ich will aber nicht stinken!“ Samyr sah ihn an. „Wenn ich die Wahl habe, rieche ich lieber gut.“
Einen Moment konzentrierte Kashym sich auf die Schattenkrieger. „Sie kommen nicht über den Fluss… Okay, du bekommst deine Reinigung.“ Lachend nahm er die Hand des anderen und zog ihn durch das Dickicht, das sie hier unten erwartet hatte. Eine Zeit lang liefen sie durch Büsche und Farne, dann erreichten sie einen kleinen See mit einem schmalen Wasserfall am gegenüberliegenden Ufer.
„Hm, der ist nicht viel größer, als unser Wasserfall aus dem Badezimmer“, meinte Samyr und beide mussten lachen. „Komm, wer erster ist.“
Und schon lief er los. Kashym überlegte nur einen Augenblick, dann folgte er ihm. Ohne zu zögern, entledigte sich Samyr seiner Kleidung und lief in das Wasser. Kashym hingegen ließ sich Zeit, beobachtete die Gegend, das Wasser und versuchte eine Bedrohung zu erkennen, zu erfühlen. Dank des Drachenbluts konnte er sich auf diesen zusätzlichen Sinn verlassen. So wie er die Schattenkrieger spüren konnte, konnte er jede Bedrohung spüren. Doch der Ort war so friedlich, wie er aussah.
„Komm schon, Kashy, das Wasser ist herrlich – oder haben dich die Jahre als Krieger wasserscheu gemacht?“, rief Samyr lachend. Schnell streifte er die letzten Sachen ab und lief in den See. Samyr hatte recht, es war ein herrliches Gefühl, Staub und Dreck wurden abgespült. Als er auftauchte, spritzte Samyr ihn nass und wie in ihren Kindertagen begannen sie eine Wasserschlacht.
Wann hatte er seine Arme um Samyr geschlungen, wann sich ihre Münder gefunden? Es war egal, Kashym wusste, dass er jetzt dem anderen nicht mehr widerstehen konnte. Samyr schlang seine Beine um ihn, ihre Erektionen berührten sich, stießen gegeneinander. Mit seiner Hand umschloss er sie beide, bewegte die Hand sanft und vorsichtig. Samyr stöhnte in seinen Mund, die Beine fest um ihn geschlungen, sein Herz raste und irgendwo in seinem Inneren sagte eine kleine Stimme, dass er verrückt sei. Egal, alles war egal, nur Samyr und sein Körper war wichtig. Ihre Berührung, ihre Erregung, die sie teilten. Seine Hand bewegte sich schneller, unbekannte pulsierende Gefühle durchströmten ihn, intensiv und fordernd. Sicher hatte er seinen Körper schon selber befriedigt, doch das hier war etwas ganz anderes, wunderbares. Samyrs Mund nahm ihm den Atem, so wild und fordernd waren seine Küsse, kaum unterbrochen um Luft zu holen. Fest umfasste seine Hand Samyr, zog ihn so nah wie möglich, wollte so viel wie möglich von ihm spüren. Samyrs Muskeln spannten sich, seine Hüften zuckten ihm entgegen und mit einem leisen Schrei, der in seinen Mund floss, ergoss er sich. Das Gefühl war zu viel für Kashym, er ließ sich selber von der Welle davon tragen.
„Ich liebe dich, Kashy“, flüsterte Samy leise in sein Ohr. Eng schlang er die Arme um den schmalen Körper. „Ich liebe dich auch, Samy.“
Mit einem Mal hörte er Rashmons Lachen in seinem Kopf, laut und kalt. Ein Laut des Triumphs. Eisige Kälte erfasste ihn und er klammerte sich an Samys warmen Körper. Die großen, blauen Augen sahen ihn bestürzt an. „Kashy, was ist?“
„Er weiß es, er weiß, dass er gewonnen hat. Du hast die Unberührbarkeit verloren“, flüsterte er in die blonden Locken, in denen er sein Gesicht versteckte.
„Das ist egal, Kashy, wenn du recht hast, dann spielt es keine Rolle. Dann haben wir nur die Möglichkeit ihm zuvorzukommen.“ Zärtlich streichelte Samyr durch seine kurzen Haare. „Glaub nicht, dass ich das bereue. Es war der schönste Moment meines Lebens.“
„Woher weiß er, was wir machen? Weiß er auch, was wir besprochen haben, dann haben wir verloren.“ Kashym sah Samyr an. „Was trägst du da?“ Fragend hob er ein kleines, rundes, Silbermedaillon hoch, das Samyr an einer dünnen Kette um den Hals trug.
„Das habe ich seit der Zeremonie, seit ich zum Unberührbaren geweiht wurde“, antwortete Samyr und riss die Augen auf. „Rashmon hat es mir umgehängt, vielleicht sagt es ihm, wenn ich nicht mehr – unberührt bin.“ Eine zarte Röte überzog sein Gesicht.
Kashym zog die Kette über seinen Kopf und schmiss sie weit weg in den See. „Auch wenn es jetzt egal ist, sollst du keine Verbindung mehr zu ihm haben.“ Und er küsste ihn, spürte, dass sein Körper mehr von den neuen Gefühlen, mehr von Samyr wollte. Doch dafür war keine Zeit.
„Woher weißt du, was Rashmon fühlt?“, fragte Samyr.
„Ich weiß es nicht…“ Kashym dachte darüber nach und konzentrierte sich. „Ich kann ihn spüren. Nicht was er denkt, aber seine Präsens. - Wir sollten nicht zu lange hierbleiben“, sagte er und trug Samyr, der sich lachend an ihm festhielt an Land. Neben ihren Kleidern ließen sie sich in das Gras fallen.
„Lass uns so viel Zeit, die Wäsche noch zu waschen. Unsere Kleider riechen furchtbar!“ Samyr zog die Nase kraus.
„Der Fluss scheint ein echtes Problem für die Schatten darzustellen“, sagte Kashym nachdenklich. „Okay, aber länger nicht. Ich überlege, welchen Weg Rashmon zur Burg Kopvad nimmt.“
Samyr überlegte erst, etwas darüber zu sagen, dass er zur Waschfrau degradiert war, doch mit einem Blick auf Kashyms ernstes, abwesendes Gesicht ließ er es sein. Aus den Augenwinkeln betrachtete er Kashym, der nachdenklich im Gras saß und in die untergehende Sonne starrte.
Sonne, wie angenehm warm es hier war … Samyr genoss das Gefühl auf seiner Haut und zog die Kleider durch das Wasser, ohne Seife konnte er nicht vielmehr tun.
Wenn Kashym recht hatte, dann hatte Rashmon ihn nur für seinen eigenen, perfiden Plan leiden lassen. Und nicht nur ihn, weit mehr Kashym. Er setzte sich neben ihn ins Gras, nachdem er die Kleider in der Sonne zum Trocknen ausgebreitet hatte, betrachtete die beträchtliche Anzahl von Narben, die den muskulösen Körper zeichneten. Er strich vorsichtig über einen Kreis aus fünf rautenförmigen Brandnarben. Sie waren wie das Brandzeichen eines Pferdes in die Haut gebrannt worden. Samyr versuchte gar nicht erst, sich den Schmerz vorzustellen, den diese Brandmarkung verursacht hat.
Kashym sah ihn an, lächelte und sein Herz schmolz. „Was sind das für Narben?“, fragte er vorsichtig.
„Der Drache … Sie flößten mir sein Blut ein, es gibt mir die Macht, mehr zu fühlen als andere, die Schattenkrieger oder Gefahren. Mit seinem Blut wurde er jedoch so etwas wie ein Bruder für mich. Rashmon verlangte, ich müsse ihn besiegen und töten. Ich konnte ihn besiegen, denn er wollte nicht ernsthaft gegen mich kämpfen, war ich doch auch ein Bruder für ihn. Ich konnte das Tier, das mir seinen Hals quasi freiwillig preisgab nicht einfach töten. Ich weigerte mich und für jede Weigerung erhielt ich ein Brandmal.“ Sein Blick, voller Schmerz, suchte Samyrs. „Beim sechsten Mal sagte Rashmon, dass ich diesmal über das Schicksal der Welt entscheiden würde. Wenn ich den Drachen nicht tötete, behielte er sein Leben und würde freigelassen, ich jedoch würde in der Arena sterben und mit mir deine Chance zu überleben. Und mit dir die ganze Welt. – Ich habe ihn gefragt, ob nicht ein anderer dich retten könnte, doch er lachte nur und sagte, das Orakel sei eindeutig, dein Zwilling durch die Geburtsstunde müsse dich begleiten, kein andere könne dies Schicksal statt meiner auf sich nehmen. – Wenn mir aber das Leben eines Drachen wichtiger sei, als dein Leben … - Und dabei brauchte er nicht mal mit dem Untergang der Welt zu drohen …“ Die braunen Augen wurden dunkel, fast schwarz. „Ich tötete ihn, sein Schrei hallte noch Tage in mir nach und manchmal höre ich ihn nachts in meinen Träumen heute noch.“
Samyr schlang seine Arme um Kashym, zog ihn nahe an sich heran. Er sagte nichts, es gab nichts, was er sagen konnte, was diesen Schmerz stillen würde. Einen Moment saßen sie nur in stummer Umarmung, dann suchte Kashyms hungriger Mund Samyr und dieser antwortete mit der gleichen Gier. Harte, fast schmerzhafte Küsse, ihre Körper verschlungen ineinander, suchten Kontakt, Berührung und Nähe. Vollkommene Nähe. Kashym wusste, was sein Körper wollte, er hatte es zwischen einigen der Soldaten gesehen, doch konnte er das von Samyr verlangen? Seine Hand wanderte zwischen Samyrs Beine, weiter auf der Suche nach der Pforte, die es ihm ermöglichen würde, dem Geliebten ganz nah zu kommen. Als sein Finger gegen den Muskelring drückte, sah Samyr ihn erschrocken an. „Was tust du?“, flüsterte er ein wenig ängstlich.
„Nichts, was du nicht willst.“ Mit der Hand streichelte er das harte, erregte Glied Samyrs, strich über die Eichel, aus der die ersten Lusttropfen quollen. So befeuchtet, massierte sein Finger wieder die Pforte, rutschte hinein und erkundete sein Inneres, fand einen Punkt, der Samyr ein begehrliches Stöhnen entlockte.
„Was tust du?“, fragte Samyr wieder, jetzt verlangend keuchend.
„Ich will dir ganz nah sein“, antwortete Kashym heiser. Ein zweiter Finger erweiterte den Ring. Kashyms Küsse und das Streicheln Samyrs harter Erektion, ließen ihn entspannen, die Finger tief hineingleiten und den Lustpunkt finden, der ihm leise Schreie entlockte. Seine Hände krallten sich in die weiche Erde, sein Körper bog sich durch.
Kashym schob sich zwischen seine Beine, seine Finger verließen Samyr, der ein leises ‚Nein‘ hauchte, und schob seine Eichel, feucht von seiner Lust, gegen den Muskelring.
„Kashym“, stöhnte Samyr und sah ihn mit großen Augen an.
„Sch…“ Ganz vorsichtig schob er sich durch die Enge, beständig Samyr küssend, seine Brustwarzen leckend, sein hartes Glied zwischen ihnen massierend.
Samyr war gefangen zwischen dem schmerzvollen Eindringen und der wachsenden Lust. Seine Hände klammerten sich an Kashyms Schultern, nicht sicher, ob sie ihn heranziehen oder wegstoßen sollten.
Nachdem er die anfängliche Enge überwunden hatte, gab Kashym ihm Zeit sich an das Gefühl zu gewöhnen, streichelte und küsste ihn weiter, wartete auf das Einverständnis sich zu bewegen. Er spürte wie die Anspannung sank, die Lust in Samyr Oberhand gewann und der Körper sich ihm öffnete. Vorsichtig bewegte er sich, kämpfte gegen das eigene Verlangen, das Bedürfnis sich tief und heftig in diesen Körper zu versenken. Erst als Samyrs Körper ihm antwortete, ihm entgegendrängte, stieß er schneller zu, keuchte vor Anstrengung sich zu beherrschen und vor der unglaublichen Lust, die diese Nähe ihm bereitete. Als Samyr sich zwischen ihren Körpern ergoss, gab er sich der Erregung hin, stieß tief und hart in dem Geliebten und genoss die Lust, die ihn pulsierend davontrug.
Erschöpft blieb er auf Samyr liegen. „Du bist verrückt“, keuchte dieser in sein Ohr.
„Warum?“, fragte er und rollte sich langsam neben Samyr.
„Was war das?“ – „War es gut?“ – „Ja, aber …“ – „Kein Aber, Samy, es war gut!“ Mit einem leisen Lachen zog er ihn in seine Arme. „Egal, was jetzt passiert, dieses war der schönste Augenblick meines Lebens und niemand kann ihn mir wegnehmen! Soll Rashmon mich töten, ich werde in dem Wissen sterben, meinen Geliebten auf die wunderbarste Weise nah gewesen zu sein.“
„Sag das nicht, Kashy, bitte. Es war wunderbar, aber es soll nicht der letzte wunderbare Moment zwischen uns gewesen sein.“ In einer Mischung aus Angst und Begehren sah Samyr ihn an. „Auf jeden Fall hat sich das Thema unberührt damit endgültig erledigt.“
Die Beiden sahen sich an und lachten.
„Es wird Zeit, mein wunderbarer Geliebter.“ Kashym stand auf. „Wir müssen weiter. Ich glaube, ich weiß, welchen Weg Rashmon wählen wird. – Aber erst muss ich die Spuren deiner Lust von meinem Bauch waschen.“ Er stürzte sich noch einmal in das warme Wasser des Sees. Ohne zu zögern, folgte Samyr ihm.
„Sie haben den Fluss hinter sich gelassen. Jetzt wird nichts mehr so schnell ihren Weg aufhalten.“ Kashym drehte sich zu Samyr um, der schweigsam hinter ihm ging.
„Was ist, wenn Rashmon weiß, was wir vorhaben? Er wird gewappnet sein – und er ist ein Priester, ein Magier.“ Besorgt sah Samyr ihn an.
„Samy, wie viele Möglichkeiten haben wir? Gegen die Schattenkrieger kämpfen? Sag mir wie. Zur Burg Kopvad gehen? Oder versuchen Rashmon zu stellen? – Ich würde sogar mit dir weglaufen, wenn ich wüsste, wie wir die Schattenkrieger abhängen.“ Zärtlich strich er Samyr eine Locke aus dem Gesicht. „Wir haben nur die Wahl, Rashmon zu treffen und es zu beenden. Danach können wir auch zur Burg gehen. Niemand wird hinterfragen, ob du unberührt bist.“
„Und wenn Rashmon einen anderen Weg gewählt hat? Wenn er sich von Wachen begleiten lässt? – Ich habe Angst, Kashy, Angst zu verlieren, was ich gerade bekommen habe. Hättest du mir vor einer Woche gesagt, ich müsse auf diesem Weg sterben, hätte ich gesagt: na und.“ Er biss sich auf die Lippe.
„Er ist alleine und er nimmt den Weg, den ich vermutet habe. Ich kann ihn spüren, genau wie die Schattenkrieger. – Vielleicht, weil er eine ähnliche Aura hat, schwarz und böse.“ Kashyms Blick war in die Ferne gerichtet. „Unter normalen Umständen würden wir in drei Tagen die Burg erreichen. Wenn wir uns jetzt etwas weiter nach Westen halten, dann müssten wir in der gleichen Zeit auf die Route Rashmons treffen. Er bewegt sich ungewöhnlich schnell, sodass es durchaus möglich wäre, auf ihn zu treffen, bevor die Schattenkrieger uns erreichen. – Zumal ihr Tempo abgenommen hat. Sie bewegen sich nur noch sehr langsam.“ Sein Blick kehrte zurück zu Samyr. Unerwartet zog er ihn in seine Arme. „Ich habe auch Angst, doch wir haben keine andere Wahl als zu kämpfen.“ Er küsste ihn und drehte sich um. „Wir müssen die Chance nutzen, die wir haben.“
Die Zeit bis zur nächsten Rast schien Samyr endlos. Kashym schien immer weiterlaufen zu können, währen ihm die Beine schmerzten und die Erschöpfung ihn fast umfallen ließ. Dankbar sank er auf den Boden, als sie endlich stehenblieben. Nur widerwillig konnte er sich dazu zwingen, Körner und Wasser zu sich zu nehmen. Endlich zog Kashym ihn in die Arme und er schlief sofort ein. Wie gut, nicht mehr unberührbar zu sein, dachte er, während er in einen traumlosen Schlaf glitt.
Hatte er überhaupt geschlafen? Schon weckte ihn Kashym, trieb ihn an, weiter durch den immer wärmer werdenden Dschungel. Großblätterige Pflanzen und stechende Insekten waren auf Dauer nicht angenehmer, als die eisige Kälte der Berge. Wenigstens hielt Kashym jetzt seine Hand, so als würde er spüren, wie müde und erschöpft er war. Laufen – Rast – Laufen – Schlafen, so ging der Tag vorbei. Gerne hätte er Kashym noch einmal so nah gespürt, doch die Erschöpfung war zu groß. Wieder ging es nach viel zu wenig Schlaf weiter: Laufen – Rast – Laufen. Sein Kopf war leer, die Gedanken hatte er irgendwo verloren, nur noch Laufen, den Blick auf Kashys Rücken, seine Hand gut festhaltend. Nur Laufen …
Auf einmal blieben sie stehen. Kashym drehte sich zu ihm um, sah wie müde sein Freund war. „Wir sind vor ihm da. Bald, nur noch ein kleines bisschen, dann kannst du schlafen. Die Schattenkrieger folgen uns nur noch langsam. Sie sind weit zurück.“ Sanft küsste er ihn. „Mein armer Geliebter“, murmelte er und zog ihn dicht an sich heran. Samyr schlang die Arme um ihn, wollte in dieser Umarmung einfach nur stehenbleiben, doch schon löste Kashym sich und zog ihn weiter.
Nach einem weiteren zeitlosen Marsch kamen sie an einen Weg, der durch das Dickicht führte. Eine breite Handelsstraße. „Du kannst dich ausruhen, Samy. Hier gibt es nicht mehr viele Möglichkeiten, entweder ich töte ihn oder ich sterbe hier.“ Kashym lächelte ihm zu. „Wenn er weiß, dass wir hier sind, habe ich keine Chance. Weiß er es nicht, so habe ich eine wenigstens eine kleine Chance.“
„Wenn du hier stirbst, dann sterbe ich auch hier. Insofern hat Rashmon Recht: Dein Tod ist mein Tod.“ Samyr sah ihn ernst an. „Ohne dich hat mein Leben keinen Sinn.“
Kashym sah ihn an, wollte Argumente nennen, warum das nicht wahr war, doch er wusste, dass Samyr ernst war. – Und er konnte ihn verstehen. Sollte nicht er sterben, sondern Samyr, wäre sein Leben auch ohne Sinn. Sinn und Hoffnung hatte es erst in den letzten Tagen bekommen. Durch Samyr.
Beide Arme legte er um Samyr. „Ich weiß, ein Grund mehr ihn zu töten. – Jetzt ruh dich aus, du bist erschöpft.“
„Kashy, ich liebe dich“, flüsterte Samyr, während ihm schon die Augen zufielen.
„Ich dich auch, Samy“, antwortete Kashym und betete ihn vorsichtig zwischen einigen hohen Farnen, damit er von der Straße nicht zu sehen war.
Lange betrachtete er die Straße, suchte die beste Stelle, den Punkt, an dem er Rashmon überwältigen konnte, ohne, dass dieser damit rechnete. Genau konnte er den Priester spüren, schwarz und dunkel. Schnell und ohne Rast bewegte er sich in ihre Richtung. Endlich hatte er sich entschieden, kletterte in einen der Bäume, auf dem er sich ziemlich weit über die Straße bewegen konnte, verschleierte seine eigene Aura in dem Geflecht des Baumes, hoffend, dass Rashmon nicht nach ihm Ausschau hielt, dann würde er das Auge des Priesters nicht täuschen können.
Eine Unendlichkeit oder ein Wimpernschlag später sah er den Priester die Straße hinunter, ihm entgegen, reiten.
Alle Anspannung wich, alle Ängste, es gab nur ihn und den Priester. Seine Erfahrung aus zweihundert Kämpfen, seine Erfahrung im Töten, kam ihm jetzt zugute. Ohne zu zögern ließ er sich auf den Mann gleiten, schlang seine Beine um den Körper, zog ihn vom Pferd und landete mit ihm auf dem Boden. Schnell fixierte er die Arme unter seinen Beinen, griff in das graue Haar, spannte die Kehle über seinen Oberschenkel und legte das Messer an seinen Hals. Von oben sah er auf den keuchenden Mann.
„So sieht man sich wieder, Rashmon.“ Das Blut rauschte in seinen Adern und er musste sich beherrschen, nicht zu vollenden, was sein Hass forderte. Die grauen Augen sahen ihn überrascht an.
„Kashym, sollte ich dich unterschätzt haben?“, keuchte er, versuchte Luft zu bekommen, Zeit zu bekommen über die Situation nachzudenken.
„Wie stoppe ich die Schattenkrieger?“, fragte Kashym, ohne auf die Frage einzugehen.
„Keine Ahnung, frag den Fürst von Thuis.“ Lautete erwartungsgemäß die Antwort.
Ohne zu Zögern nahm Kashym die rechte Hand des Priesters und brach ihm den kleinen Finger. Der Schrei des Mannes schreckte eine Schar bunter Vögel auf, die in den Bäumen gesessen hatten.
„Wie stoppe ich die Schattenkrieger?“
„Verflucht seist du! Frag den Fürst von Thuis!“
Genauso unvermeidlich wie die Antwort, war die Reaktion Kashyms und er hoffte, dass Samyr, falls er aufwachen würde, sich nicht einmischen würde.
„Du bist verrückt! Ich bring dich um!“ Tief in den grauen Augen schienen rote Funken zu sprühen.
„Wie stoppe ich die Schattenkrieger?“
„Zur Hölle mit dir! Frag den Fürst von…“
Die Worte endeten in dem Schrei, als der dritte Finger brach.
„Rashmon, noch zwei gebrochene Finger, dann werde ich dir die Finger der anderen Hand abschneiden – und sollte dir das noch nicht reichen, werde ich dir die Augen ausstechen, die Haut in Streifen von deinem hässlichen Gesicht abziehen. Such dir aus, was du willst.“
„Du Ausgeburt der Hölle! Ich hätte dich ertränken sollen, du Bastard! – Die Schattenkrieger sind die Armee des Fürsten von Thuis“, zischte Rashmon durch die Zähne. Er schaffte es bei dem Brechen des Zeigefingers nicht zu schreien. Doch als Kashym seine Hand um die gebrochenen Finger legte und zu einer Faust zusammendrückte, konnte Rashmon den brüllenden Schrei nicht mehr zurückhalten.
Kashym spürte die gebrochenen Knochen, wie sie sich verschoben, sich in das Fleisch bohrten, fühlte den Schmerz, der sich gnadenlos ausbreitete.
„So ist es recht, Rashmon, bitte sag es mir nicht. Ich habe drei Jahre Hass und über 205 Narben, die auf meiner Seele brennen“, sagte Kashym, drückte die Faust immer weiter zu.
„Ich weiß es nicht“, wimmerte der Priester. „Es sind die Schattenkrieger des Fürsten von Thuis. – Woher sollte ich wissen, wie du sie stoppen kannst.“
„Brauchst du nicht, Rashmon, ich bin dir für jeden Schmerz dankbar, den du aushältst.“ Abrupt ließ er die Hand des Priesters los und wandte sich der anderen Hand zu. „Erst den Daumen oder den kleinen Finger, Priester?“ Langsam führte er das Messer an den Augen seines Gefangenen vorbei. „Jeder Finger hat zwei Gelenke, lass es uns ganz langsam tun.“ Ganz dicht beugte er sich über Rashmon. „Wie viel Schmerz hältst du aus? Ich kann es schnell tun oder die Schneide ganz langsam durch das Gelenk drücken. – Oder soll ich erst das Fleisch von den Knochen schneiden?“ Mit einem langsamen Schnitt öffnete er die Haut über die ganze Länge des kleinen Fingers. „Jetzt kann ich das Gelenk sehen. – Erinnerst du dich an den Kämpfer aus dem hohen Norden? Du hast gegen mich gewettet, Narbe 15 auf meinem Rücken – und eine Stichwunde in meiner Schulter, aufgeschnittene Hände und ein gebrochener Arm, waren mein Lohn.“ Ganz langsam setzte er das Messer auf dem oberen Fingergelenk an. In Rashmons Augen konnte er den Versuch sehen, sich gegen den Schmerz zu wappnen, doch konnte er den Schrei nicht unterdrücken.
„Wie halte ich die Schattenkrieger auf?“, flüsterte Kashym, während er das Messer an das zweite Fingergelenk ansetzte.
Rashmons Augen flackerten, der Blick wanderte ganz kurz auf seine Brust, dann sah er Kashym an. „Das weiß ich nicht!“
Kashym riss das Hemd über Rashmons Brust auf, dort hing ein kleiner Beutel an einem Lederband.
„Was hast du da? Hat es etwas mit deinen Schattenkriegern zu tun?“ Er schnitt das Lederband von Rashmons Hals und ignorierte dessen grimmigen Blick. Vorsichtig öffnete er den Beutel, der mit schwarzer Asche gefüllt war. Sofort spürte er die Aura der Schattenkrieger. Langsam kippte er den Inhalt des Beutels auf Rashmon aus. Spürte, wie sich die Schattenkrieger verflüchtigten, bis sie nicht mehr zu spüren waren.
„Warum dieses Spiel, Rashmon? Nur, um Herrscher zu werden? Um Samyr, den Prinzen, den Thronfolger, loszuwerden, ohne dass das Volk Verdacht schöpft? Dafür hast du mich und Samyr leiden lassen?“ Kashym sah auf den verhassten Mann.
„Du hast doch keine Ahnung, du bist Nichts, genauso wie er“, sagte Rashmon und spuckte das letzte Wort fast aus. „Das Land braucht mich. Mit ein bisschen Anstrengung kann es zu dem mächtigsten aller Länder werden. Doch nicht wenn dieser blonde Strohkopf es regiert. Das Orakel, die Schwangerschaft deiner Mutter, alles passte wunderbar zu meinem Plan. Ich wusste, du konntest deine Finger nicht von ihm lassen – und er nicht von dir. – An alles hatte ich gedacht, Jahre gewartet …“
„Und warum hast du mir das alles angetan?“
„Weil du der Sohn deiner Mutter bist! Die Vertraute der Königin, die Geliebte der Königin. Klug, hübsch, eingebildet. Hingehalten und benutzt hat sie mich, doch als ich sah wofür, da wusste ich, dass meine Stunde kommen wird. – Dich zu quälen, der du ihr aus dem Gesicht geschnitten bist, war nur die Zugabe.“ Hass tropfte aus seiner Stimme, durchzog seine Worte wie ätzende Säure.
„Sie hat dich benutzt? Wofür?“, fragte Kashym.
„Kannst du dir das nicht denken, mein Sohn!“ Sein Lachen war noch ätzender als sein Hass und für einen Moment ließ Kashyms Aufmerksamkeit nach, zu verstörend waren diese Worte. Trotz seiner Verletzungen nutzte Rashmon die Chance, glitt aus dem Griff und fuhr herum. Seine grauen Augen funkelten Kashym an. „Ja, du Narr, als ich erkannte, was geschehen war, gab ich deiner Mutter in der Nacht als Samyr geboren wurde, ein Wehen förderndes Mittel. Damit das Orakel sich erfüllte. Ich wusste, wie abergläubisch die Königin war. Wunschgemäß ließ sie euch wie Zwillinge aufwachsen, doch dann musste ich die enge Verbundenheit trennen. Euch isolieren, keinen Kontakt zu Menschen, die euch liebten. Keine Berührung und in deinem Fall, Kashym, körperliche Qualen. – Es war mir ein Vergnügen, denn immer, wenn du gelitten hast, hat deine Mutter mitgelitten. Mit jeder Narbe auf deinem Rücken hat sie eine Falte mehr bekommen. Herrlich, ihr Herz bluten zu sehen, als dieser Riese dir den Arm ausgekugelt hat und dir zeitgleich das Messer in die Seite rammte. Er hätte dich getötet, wenn du nicht an die Armbrust gekommen wärst.“ Ein fast glückliches Lächeln huschte über sein Gesicht. „Als ich dich mit deinem besten, deinem bisher einzigen Freund zusammenbrachte, war mir klar, dass ihr nach so langer Zeit der Einsamkeit, die Nähe, die Berührung des anderen sucht. Wie abartig eure Sehnsucht sein würde, konnte ich nicht wissen, doch es sorgt auf jeden Fall dafür, dass Samyr nicht mehr unberührt ist.“
Zu gern hätte Kashym sich wieder auf ihn gestürzt, doch er wusste, dass Rashmon genau das wollte. Die Gedanken rasten in seinem Kopf, seine Mutter, dieser verhasste Mann, die kalkulierte Grausamkeit, die hinter allem stand.
„Du hättest mich töten sollen, Kashym, solange du Zeit dazu hattest.“ Rashmon richtete sich auf, sah auf seine geschundenen Hände. „Jetzt wirst du sterben.“ Langsam hob er seine Hände und richtete sie auf Kashym, begann leise Beschwörungen zu murmeln.
Das ist Zauberei, das ist verboten, dachte sein Geist, doch sein Körper wurde schwer und träge. Sein Herzschlag verlangsamte sich und Kälte breitete sich in seinem Inneren aus. Samyr, flimmerte es durch seinen Kopf, würde er ihn auch töten? Er war so wunderschön, die blonden Locken, die sommermorgenblauen Augen, die zarte Haut, wie unberührter Schnee, so zart und weich. Das Atmen fiel ihm schwer und seine Lungen brannten. Zumindest hatte er fühlen dürfen, wie sich Liebe anfühlt. Sein Geliebter …
„Rashmon!“ Der Ruf erreichte Kashym kaum. Samyr stand am Rand der Straße und sah den alten Priester mit kalten Augen an. – Wie das eisige Wasser des Gebirgsflusses, dachte Kashym verschwommen. – „Zauberei ist verboten und wird mit dem Tode bestraft“, sagte Samyr mit einem harten Lächeln und bevor Rashmon reagieren konnte, traf ihn ein Messer mitten ins Herz. Reflexe bestimmten den Griff seiner Hände zu dem verzierten Schaft, der aus seiner Brust ragte, während seine Augen brachen und der Körper zusammensackte.
Mit wenigen Schritten war Samyr bei Kashym, fing den Körper auf, der nach hinten sackte. „Mach mir keinen Ärger! Ich brauche dich!“ Zärtlich strich Samyr durch das bleiche Gesicht des Freundes. Hektisch saugte Kashym mit geschlossenen Augen Luft in seine Lungen. „Danke“, hauchte er leise.
Rashmons Körper begruben sie links, seinen Kopf rechts von der Straße, dann nahmen sie das Pferd und machten sich auf den Weg zur Burg Kopvad. Samyr schmiegte sich an Kashyms breiten Rücken, schlang die Arme um ihn. „Wie lange dauert es noch, bis wir bei der Burg sind?“, fragte er.
„Zwei Tage, wenn wir uns nicht zu sehr beeilen“, antwortete Kashym.
„Müssen wir uns nicht beeilen?“ Samyr legte seine Hände auf Kashyms Oberschenkel, streichelte sie leicht.
„Nein, die Schattenkrieger sind fort. Rashmon ist tot. Es reicht, wenn wir in drei oder vier Tagen dort ankommen. Wobei ich nicht weiß, wie wir alles erklären werden.“ Die Hände rutschten langsam etwas höher.
„Dann lass uns die ein oder andere Pause einlegen, damit wir uns eine Geschichte überlegen können“, sagte Samyr und biss Kashym zärtlich in den Nacken.
„Dein Wunsch sei mir Befehl, mein Prinz“, antwortete Kashym lachend.
ENDE
Texte: Gabriele Oscuro
Bildmaterialien: Pixabay / bearbeitet Samjira
Tag der Veröffentlichung: 01.01.2015
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