531 Tage. 12744 Stunden. 764640 Minuten. 45878400 Sekunden.
Zeit hatte keine Bedeutung. Gleich dem Tropfen, der zu einem Rinnsal wurde, das sacht vom Berg plätscherte und auf seinem Weg zum reißenden Strom anwuchs, um letztlich unbemerkt in den Weiten des Ozeans verloren zu gehen.
Im Lauf des Zeitflusses war es wieder einmal Winter geworden. Die bunten Blätter des Herbstes waren von den fleißigen Händen der Gärtner beseitigt worden und die leblos anmutende Landschaft wartete erstarrt auf das nächste Kapitel.
Wie jeden Tag saß ich auf der Bank, deren grüne Farbe verblasste und deren Lack an verschiedenen Stellen abblätterte. Eine unbekannte Hand hatte mit einem spitzen Gegenstand ein unbeholfenes Herz hineingeritzt.
Vor mir der blattförmige Stein, geschliffen aus einem indischen Natursandstein in abgestuften Brauntönen. Eine zarte Efeuranke der Bepflanzung hatte sich auf den Stein gewagt. Der hellgrüne Ausläufer erreichte gerade den ersten Buchstaben der Inschrift.
Du bist die Sonne in meinem Universum.
Wo du bist, da ist Zuhause …
Die Diskussion mit Lilith war hart und tränenreich gewesen, doch schlussendlich erklärte sie sich damit einverstanden, keinen Namen und keine Daten auf den Stein setzen zu lassen. Dafür wurde ein Bildnis in den Stein gemeißelt, welches Levis lächelndes Gesicht darstellte. Der Künstler, ein Freund von mir, hatte Levi perfekt und lebensecht getroffen.
Levi … mein Herz, mein Leben, meine Liebe.
Ich sah, hörte, spürte ihn immer noch, als wäre er gerade eben erst fortgegangen. Sein ‘und wehe, du kommst zu spät, das Soufflé ist empfindlich‘ mit dem fröhlichen Lachen klang in meinen Ohren. Anschließend fiel die Tür mit dem typischen Klingeln der kleinen Glocke über dem Eingang ins Schloss und ich beobachtete durch die Scheiben des Happy Time, wie er über den Marktplatz lief, um seinen Bus zu bekommen. Die Schultern gegen den Nieselregen hochgezogen, schob er während des Gehens seine In-Ear-Kopfhörer in die Ohren. Ein letzter Blick über die Schulter, ein Lächeln, ein kurzes Winken, mehr ein schnelles Handheben, und seine Gestalt verschwand um die Ecke.
Die Busstation war eine Straße weiter. Kurze Zeit später hörten wir den Lärm der Sirenen. In diesem Moment dachte ich mir nichts dabei, warf nur einen kurzen Blick durch die Scheibe. Erst später, als die Polizei mich benachrichtigte, erfuhr ich, dass ein achtzigjähriger Autofahrer aufgrund eines Herzinfarktes die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren hatte und ungebremst in das Wartehäuschen gerast war. Er selbst verstarb ebenso wie vier der wartenden Fahrgäste.
Einer von ihnen war Levi. So banal und überflüssig. So weltverändernd und grausam.
Ganz genau kann ich mich noch an das Gesicht der jungen Polizistin erinnern. An ihren mitleidigen Blick. Und an die kalte Leichenhalle. Nicht an Levi. Mein letztes Bild von Levi ist der Blick über seine Schulter, sein typisches Lächeln …
Der Zusammenbruch kam umgehend. Keine Verzögerung. Der Schmerz, die Wut, der Hass, die Verzweiflung. Sie wechselten sich ab, warfen mich herum wie ein Schiff im Sturm. Leben ohne Levi? Ohne die geringste Chance, ihn jemals wiederzusehen?
Unvorstellbar! Mein Körper reagierte mit Schmerzen auf diesen Gedanken. Mit Tränen, Übelkeit, Erbrechen und wieder Tränen. Lilith, Jasmin, Mika und Lorenz versuchten sich um mich zu kümmern, doch keinen nahm ich in dieser Phase wirklich wahr. Ich konnte und wollte nicht. Eines Abends beschloss ich, dass ein Leben ohne Levi keinen Sinn machte.
Mika fand mich und holte den Krankenwagen. Dafür habe ich ihn gehasst, als ich im Krankenhaus zu mir kam. Warum musste ich leben, wenn ich doch nicht mehr vollständig war?
Ein älterer Arzt sprach mit mir, gab mir Tabletten und schickte mich nach einer Weile nach Hause. Diese Tabletten schossen mich ab. Keine Gedanken, keine Gefühle, vollkommene Leere und Stille in mir. In kompletter Abgeschiedenheit konnte ich stundenlang irgendwo sitzen und wusste hinterher nicht, wie viel Zeit vergangen war, Stunden oder vielleicht sogar Tage.
Natürlich konnte ich dieses Mittel nicht dauerhaft nehmen, doch erstaunlicherweise blieb diese Gefühllosigkeit, jedenfalls nach außen.
Seit die Ärzte meinten, ich wäre so weit wiederhergestellt, dass ich alleine herumlaufen könnte, ging ich jeden Tag auf den Friedhof. Stundenlang saß ich an Levis Grab und betrachtete den Stein, die Inschrift, hing meinen Gedanken nach.
„Du hast ihn sehr geliebt!“
Ich blickte hoch und in warme blaue Augen, die mich aus einem mit Falten durchzogenen Gesicht ansahen. Ein warmes Lächeln umspielte den schmalen Mund in dem leicht gebräunten Gesicht unter den weißen Dauerwellenlocken.
„Seit einiger Zeit beobachte ich dich schon“, erklärte sie auf mein Schweigen. „Ich bin Erika Franke.“ Dabei zerrte sie ihre Hand aus einem grünen Gummihandschuh und hielt sie mir hin. „Ich habe das Grab ein Stück weiter den Weg hinunter. Hinten bei dem Brunnen.“
„Martin Braunstein“, erwiderte ich automatisch. Noch nie war ich hier von jemand angesprochen worden. Gesehen hatte ich die ältere Dame, die in meinen Augen perfekt dem Klischee einer lieben Oma entsprach, schon öfter im Vorbeigehen. Auch sie war jeden Tag hier und pflegte ein großes Grab. Jetzt ließ sie sich neben mich auf die Bank fallen.
„Wie ich kommst du jeden Tag hierher, sitzt vor dem Grab und starrst Löcher in die Luft. Denk nicht, ich kenne dieses Verhalten nicht! Vor zwanzig Jahren, als mein Kurt verstarb, ging es mir nicht anders.“ Sie seufzte. „Wenn ich mich nicht um Konrad hätte kümmern müssen …“ Mit der befreiten Hand streifte sie jetzt den anderen Handschuh ab und legte beide über ihre Oberschenkel.
Was sollte ich dazu sagen? Konnte jemand den Schmerz empfinden, der immer noch durch mein Herz tobte? Der es jeden Tag aufs Neue zerriss?
Die Liebe zwischen Levi und mir war nicht einfach gewesen, da ich ihn bei unserem ersten Versuch bitterlich enttäuscht hatte. Die Umstände zwangen mich, ihn zu verlassen, ohne ein Wort oder eine Nachricht. Erst zwei Jahre später kehrte ich zu ihm zurück. Nur langsam lernte er, mir wieder vollständig zu vertrauen. 588 Tage gönnte uns das Schicksal, Gott oder wer immer das Rad des Lebens drehte. Von diesen trug er 403 meinen Ring, war mein Mann. Doch das umschrieb nur unzureichend, was er wirklich für mich bedeutete. Nur mit ihm war ich ein Ganzes, konnte frei atmen, lachen, das Leben genießen und meine Vergangenheit vergessen. Mit Levi zu leben, neben ihm einzuschlafen und aufzuwachen, sein verschlafenes Gesicht am Morgen, sein Grummeln bis zum ersten Kaffee, sein fröhliches Lachen über all meine Albernheiten, seine Hände in meinen, sein Mund auf meinem, seine Haut an meiner Haut, jede alltägliche Kleinigkeit war Glück, pures Glück. Das größte Geschenk, das ich bekommen hatte.
Die Abwesenheit von Levi machte mich nicht nur unglücklich, sondern nahm mir die Kraft und den Sinn des Lebens. Warum beendete ich es nicht, vollendete, was ich schon einmal versucht hatte? Ich wusste es nicht, die Trägheit des Seins vielleicht – oder diese äußerliche Taubheit, die mich gefangen hielt.
Ich spürte die breiten Lederarmbänder um meine Handgelenke. Ohne sie verließ ich das Haus nicht mehr, hatte das Gefühl, jeden Halt zu verlieren, wenn sie mich nicht umschlossen.
„Meine Tochter und ihr Mann kamen vor 22 Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Ein betrunkener Autofahrer und strömender Regen. Konrad war gerade drei Jahre alt geworden und wir nahmen ihn natürlich bei uns auf.“ Erika Franke sprach leise und starrte dabei auf die grünen Handschuhe in ihrem Schoß, die ihre Hände immer wieder glatt strichen. „Noch heute lebt Konrad bei mir und hilft mir.“
„Dann sind Sie wenigstens nicht ganz alleine“, zwang ich meine Stimme zu sagen. Wie lange schon hatte ich ohne Notwendigkeit nicht gesprochen?
„Nein, Konrad gab mir damals die Kraft, weiterzumachen. Erst stirbt das einzige Kind, dann der Mann. Es gab Zeiten, da wollte ich alles hinschmeißen und Kurt folgen, die Sehnsucht beenden. Doch wer hätte sich dann um Konrad gekümmert?“ Jetzt hob sie ihren Blick und sah mich an. „Hast du jemanden, um den du dich kümmern musst?“
Langsam schüttelte ich den Kopf. Nein, Levi lag hier und Hannah auf der anderen Seite des Friedhofs neben ihren Großeltern. Fast jeden Tag ging ich auf dem Weg nach Hause an dem Grab meiner kleinen Tochter vorbei. Viel zu früh geboren, war sie nach einer ihr ganzes Leben andauernden Leidensgeschichte an einem Infekt gestorben. Mit meinem Vater hatte ich gebrochen, meine Mutter war vor einigen Jahren nach einer langen Krebserkrankung gestorben. Auch wenn ich sie liebte, standen wir uns nie besonders nah.
„Das ist wirklich schade. Ein Mensch, der einen braucht, zwingt einen im Leben zu bleiben. Weiterzumachen. Irgendwann erkennt man, dass es mehr als diesen Grund gibt, dass das Leben noch mehr mit einem vorhat.“ Als sie mich ansah, lag ein sanftes Lächeln in ihrem Gesicht. „Auch wenn du mir das heute nicht glaubst.“
Nein, ich glaubte ihr nicht. Was sollte das verdammte Leben noch mit mir vorhaben? Und selbst wenn es etwas mit mir vorhätte, hieß das noch lange nicht, dass ich das wollte.
Da ich leben musste und mich nicht von meinen Freunden aushalten lassen wollte, arbeitete ich freiberuflich als Lektor für einen kleinen Verlag, der neben drei Lifestyle-Magazinen in absehbarer Zeit eine Sammlung von Kurzgeschichten herausgeben wollte. Damit verdient man keine Reichtümer, aber meine Ansprüche waren in den letzten 531 Tagen sehr bescheiden geworden.
In den nächsten Wochen setzte sich Erika jeden Tag einen Moment zu mir auf die Bank. Manchmal redeten wir und manchmal schwiegen wir. Ich konnte es selbst kaum glauben, aber ich redete mit ihr. Über Levi, über Hannah, über meine Gefühle und die Taubheit meines Lebens.
Erika hörte zu, gab nie gute Ratschläge und wusste genau, wann ich schweigen wollte. Manchmal füllte sie dieses Schweigen mit Geschichten aus ihrem Leben. Erzählungen von Kurt, von ihrer Ehe und ihrer Tochter sowie deren Mann.
Es dauerte eine Zeit, ehe mir auffiel, dass sie nie von Konrad erzählte. Sie erwähnte ihn, doch sie erzählte keine Geschichten von ihm. Ich wusste bisher nur, dass er mit ihr zusammenlebte. Nicht, ob und was er arbeitete, wie er seine Zeit verbrachte oder er eine Freundin hatte.
Am 23. Dezember fiel der erste Schnee. Dicke, schwere Flocken deckten die Welt mit einem weißen Leichentuch zu. An diesem Nachmittag war es vollkommen still auf dem Friedhof. Schon früh an diesem Morgen machte ich mich auf den Weg. Mein Herz wog in Erwartung der kommenden Feiertage schwerer als in vorhergegangenen Zeiten. Heiligabend konnte ich gar nicht ertragen und noch weniger als die Festtage, die verzweifelten Versuche meiner Freunde, mich aus diesem Tief zu holen. Ich war unten und würde es bleiben! Warum akzeptierten sie diese Tatsache nicht ebenso wie ich?
„Kommst du morgen auch her?“ Erika stand vor mir, ich hatte sie nicht bemerkt.
„Ja“, antwortete ich einsilbig.
„Ich würde dich gerne auf ein Glas Punsch morgen einladen.“
Mit zusammengekniffenen Augen sah ich sie an. „Ich will eigentlich nichts mit Weihnachten zu tun haben.“
„Oh, ich auch nicht. Kurt starb am zweiten Weihnachtstag, seitdem gibt es das Fest für mich nicht mehr. Ich dachte nur, du würdest deine Zeit gerne weihnachtsfrei verbringen.“ Ein trauriges Lächeln. „Ohne Dekoration, ohne Geschenke und ohne den Zwang, gut gelaunt und fröhlich zu sein.“
Mit der Hand schob sie den Schnee von der Bank und setzte sich neben mich. „Gibst du mir eine Zigarette?“
„Seit wann rauchst du?“
„Schon lange nicht mehr. Nur manchmal, wenn ich traurig bin.“
Ich reichte ihr die Packung und sie nahm sich eine Zigarette heraus, wartete, bis ich ihr Feuer gab.
„Früher, in den wilden Zeiten, haben wir alle geraucht“, sagte sie und sog den Rauch ein. Ein leichtes Husten folgte. „Dann eine Zeit lang nach Kurts Tod. Ich wusste nicht, wohin mit mir und brauchte dann eine Beschäftigung. Irgendwann habe ich es wieder aufgegeben, weil es teuer ist und allein mit Konrad musste ich auf das Geld schauen.“
„Was macht Konrad an Weihnachten? Ist er nicht bei dir?“ Fast musste ich lächeln, als ich ihren Kampf mit dem Qualm sah.
„Doch, Konrad ist immer bei mir.“ Mehr sagte sie nicht.
Vielleicht sagte ich nur zu, um den mysteriösen Konrad kennenzulernen, vielleicht, weil ich damit Lilith und den Anderen entkam.
Auf dem Friedhof trafen wir uns am frühen Nachmittag, gingen anschließend zu Erikas Wohnung. Zusammen mit Konrad bewohnte sie eine nicht weit entfernt gelegene, kleine Dreizimmerwohnung in einem renovierten Haus aus der Nachkriegszeit. In fast allen Fenstern standen Lichterbögen oder hingen Sterne. Die eine Wohnung, in der nichts das Fenster beleuchtete, stach deutlich heraus.
In die dritte Etage mussten wir. Erstaunlich leichtfüßig für ihr Alter stieg Erika die Treppen hoch. Auch an dem fehlenden Kranz an der Tür erkannte man ihre Wohnung sofort. Energisch drückte sie auf den Klingelknopf und nur Sekunden später öffnete sich die Wohnungstür.
Konrad war nicht besonders groß, dünn und sein Gesicht verschwand fast völlig hinter den feuerroten Haaren, die bis zu seinem Kragen reichten. Auf der schmalen und spitzen Nase saß eine runde John-Lennon-Brille. Klare, blaue Augen musterten mich kritisch und zeitgleich zurückhaltend. Ohne etwas zu sagen trat er einen Schritt zurück. Erika schob sich ungeduldig an ihm vorbei.
„Dies ist mein Enkel. – Konrad, dies ist Martin Braunstein.“ Dabei streifte sie ihren Parka ab und drückte ihn Konrad in die Hand, wandte sich zu mir um. „Komm, Martin, Konrad wird uns den Punsch in das Wohnzimmer bringen.“
Ich sah den jungen Mann an. „Hallo, Konrad“, sagte ich und er errötete.
„Hallo“, nuschelte er und verschwand, die Jacke seiner Oma noch in der Hand, in einem Zimmer, von dem ich annahm, es sei die Küche.
Erika war schon in das Wohnzimmer vorgegangen und ich hängte meine Jacke an die Garderobe. Der Flur war klein und weiß gestrichen. Außer der Garderobe reichte der Platz nur für einen schmalen, hohen Schuhschrank. Da Erika ihre Schuhe angelassen hatte, sah ich keine Veranlassung, meine auszuziehen und folgte ihr.
Das Wohnzimmer war groß und mit schweren, alten Möbeln eingerichtet, die mir viel zu wuchtig waren. Sie nahmen mir die Luft zum Atmen. In einer Ecke des Zimmers stand eine Kommode mit vielen Bildern. Erika stand davor und zündete eine dicke, rote Kerze an, die zentral dazwischen stand. Mich umsehend trat ich näher.
Dominiert wurden die Bilder von einem Hochzeitsfoto, daneben Aufnahmen von der Familie, dem kleinen Mädchen, das sicher Erikas Tochter war, deren Einschulung, ihrer Konfirmation, ihrer Hochzeit und Urlaubsbildern. Kein Foto von Konrad, stellte ich erstaunt fest.
„Meine kleine Sammlung Erinnerungen“, sagte Erika und lächelte mich wieder an. Ehe ich nachfragen konnte, kam Konrad mit einem Tablett herein. Eine unmöglich weite und schlecht sitzende Stoffhose hing auf seinen Hüften, darüber trug er einen ausgeleierten und verwaschenen grauen Pullover.
Neben zwei Tassen mit dampfendem Punsch stellte er eine Schale Kekse auf den Tisch und drehte sich um. Was ging hier vor sich?
„Trinkst du keinen Punsch mit uns?“, fragte ich, bevor er das Zimmer verlassen konnte. Zusammenzuckend blieb er stehen, wandte den Kopf und sah Erika neben mir an. Ein tiefer Seufzer kam von ihr.
„Hol dir einen Becher“, sagte sie mit gleichgültiger Stimme.
Diese Verhalten, diese Beziehung zwischen den beiden irritierte mich. Bisher hatte ich Erika als nette und freundliche Frau kennengelernt, doch ihr Benehmen Konrad gegenüber beeinträchtigte dieses Bild.
„Lass uns hinsetzen“, sagte sie in ihrem üblich freundlichen Ton. Ich folgte ihr und ließ mich auf das wuchtige Sofa fallen, das die besten Jahre schon hinter sich hatte, jedoch sauber und gepflegt wirkte, wie alle Möbel. Erika setzte sich auf den Sessel und legte ihre Beine auf dem davorstehenden Hocker ab.
„Zum Glück ist der ganze Weihnachtsrummel bald vorbei“, sagte sie und schob mir die Schale mit den Anisplätzchen zu. „Anisplätzchen sind die einzigen jahreszeitlich verkauften Kekse, die ich in diesem Haus dulde.“
Die Tür ging auf und Konrad betrat das Zimmer. Unentschlossen sah er auf den einzigen freien Platz neben mir auf dem Sofa.
„Ich beiße nicht“, sage ich und lächelte ihn beruhigend an. Lächeln war in den letzten 554 Tagen eine sehr ungewöhnliche Mimik für mich geworden. Wann hatte ich zum letzten Mal jemanden angelächelt? Ich konnte mich nicht erinnern, wahrscheinlich als ich Levi durch die Schaufensterscheibe des Happy Time zulächelte.
„Nun setz dich schon!“ Erikas Stimme war ungeduldig, ich warf ihr einen erstaunten Blick zu. „Der Junge stellt sich immer an wie der erste Mensch!“
Konrad wurde blass und huschte auf das Sofa. Ganz in die letzte Ecke gedrängt, möglichst weit weg von mir – oder seiner Oma. Den Becher stellte er behutsam auf den Tisch, die Hände legte er auf seine Knie und senkte den Blick. Irgendetwas stimmte hier nicht!
Erika redete, erzählte und ich musste immer wieder zu Konrad sehen, der sich nicht zu bewegen schien.
Erst Erikas ungeduldiges: „Trink den Punsch, bevor er kalt wird!“ brachte hektisches Leben in ihn und fast hätte er in
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Gabriele Oscuro
Bildmaterialien: Shutterstock / Bearbeitung Samjira
Lektorat: Bella/Ulla/Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 04.12.2014
ISBN: 978-3-7368-6181-7
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ein Dank allen Wortkünstlern, die mit ihren wunderschön geschmiedeten Sätzen mein Herz berührt haben und meiner Fantasie die Flügel gegeben haben, sich selber auf die Reise zu begeben.