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Der Wolf

Das Klopfen an der Haustür war in dem Sturm kaum zu hören. Josef, der älteste Sohn, wollte nicht, dass seine Mutter die Tür öffnete, doch Magda war eine gute Frau und ließ bei diesem Wetter keine Seele vor der Tür stehen. Der Sturm riss ihr die Tür aus der Hand und krachend schlug sie gegen die Wand. Erschrocken zuckten die fünf Jungen, die dicht gedrängt vor dem Kamin saßen, zusammen. Ein Blitz erhellte die Nacht und sie konnten im Türrahmen den Schatten einer gebeugten Gestalt erkennen. Schwerfällig humpelte sie an der Mutter vorbei in den Raum. „Habt Dank, gute Frau“, sagte eine tiefe Stimme und zog die vom Regen durchweichte Kapuze vom Kopf. Eine graue Haarpracht umrahmte ein schmales Gesicht, in dem hellblaue Augen von innen zu funkeln schienen. Der Donner folgte seinen Worten und grollte durch das kleine Haus.

„Setzt Euch“, sagte die Mutter und nahm ihm das Cape ab, hängte es neben das Feuer. Der Mann kam zu den Jungen und sah einen nach dem anderen an. Aaron, der jüngste, hatte das Gefühl, die funkelnden Augen könnten auf den Grund seiner Seele blicken. Der Junge unterschied sich vollkommen von seinen vier Brüdern, während sie groß gewachsen, dunkelhaarig mit braunen Augen und stämmiger Figur waren, war er klein und zierlich. Seine Haare waren blond und seine Augen dunkelblau. Die Mutter behauptete immer, er sähe wie ihr kleiner Bruder aus, der sich mit vierzehn Jahren im Wald verlaufen und nie wieder nach Hause gefunden hätte. Die Jungen wussten, von ihrer Angst, ihrem Jüngsten könnte ähnliches widerfahren. Darum wurde er behütet, von seinen Brüdern bewacht und von der Mutter mit Argusaugen verfolgt, wenn er sich nur einen Schritt von dem Haus entfernte.

„Wie alt bist du, Junge?“, fragte der Mann Aaron mit seiner tiefen Stimme, die grollte wie das Gewitter.

„Sieben, Herr“, antwortete der Junge mit heller Kinderstimme.

„Komm her“, forderte er und Aaron konnte sich dem Klang seiner Stimme nicht widersetzen. Vor dem Mann blieb er stehen, sah in die hellblauen Augen, sie funkelten wirklich!

„Dreh dich um!“ – Sofort kam er der Aufforderung nach. Hände griffen in sein schulterlanges Haar, schoben es hoch.

„Herr“, versuchte die Mutter sich einzumischen, doch ein stechender Blick des Mannes ließ sie die Augen senken und schweigen.

„Er hat das Zeichen, Frau“, sagte er und drehte Aaron an seinen Schultern wieder um, sah ihm in die Augen, tauchte ab in seine Seele, dann schob er ihn ein Stück zurück. „Hier, Junge.“ Seine Hände lösten eine Kette von seinem Hals, erst jetzt fiel Aaron auf, wie viele Ketten um seinen langen, faltigen Hals lagen. „Du musst sie tragen, Junge, sie wird dich vor ihm schützen.“ Und er legte die Kette um seinen Hals und schloss sie. Aaron sah herunter auf seine Brust, dort hing an dem silbernen Band ein Anhänger, den er anhob und betrachtete. Es war eine silberne Münze, auf der einen Seite das Profil eines Mannes, auf der anderen Seite der Kopf eines Wolfes.

„Setz dich, Junge“, forderte der Mann und er setzte sich wieder neben seinen Bruder Simon. „Ihr müsst auf ihn aufpassen, Frau, sonst werdet ihr ihn verlieren, wie Euren Bruder.“ Erschrocken schlug die Mutter die Hand vor den Mund und starrte ihn an. „All jene mit dem Zeichen gehören durch Geburt ihm, doch wir können sie vor ihrem Schicksal bewahren. Ihre Seelen retten. Ihr müsst auf ihn aufpassen, niemals darf er die Kette ablegen, niemals alleine durch den Wald gehen und ihr dürft ihn niemals alleine zurücklassen, dann holt er ihn. – Erst wenn er einundzwanzig wird, ist er frei.“ Ein Blitz und ein grollender Donner folgten den Worten, schienen diese zu bekräftigen.

„Wer, Herr, wer will mich holen?“, fragte Aaron ängstlich und alle sahen ihn an.

„ER, der Herr der Wölfe, der Freund der Schatten und der Gebieter des Waldes. Wenn er dich holt, macht er aus dir ein Geschöpf des Waldes, ein Geist der Nacht und nimmt dir deine Seele.“ Die Worte grollten durch den Raum und alle duckten sich unter ihrem Gewicht. „Wenn er dich holt, bist du für die Welt verloren.“ Der nächste Donner entlud sich direkt über der kleinen Hütte. „Hütte dich vor der Nacht“, flüsterte er. „Hütte dich vor dem Wolf, er ist dein Feind.“

 

 

11 Jahre später

 

„Wir müssen den Wald verlassen, Mutter“, sagte Simon eindringlich. „Du bist nicht mehr die jüngste und ich – ich will mich vermählen. Du weißt, dass du mit Aaron nicht alleine hier bleiben kannst. Ihr könnt mit mir kommen, der Hof ist groß genug und Aaron kann sich dort nützlich machen.“

„Das hier ist mein Zuhause, Simon“, antwortete die Mutter. „Hier bin ich geboren, hier werde ich sterben. Doch nicht bevor mein Sohn einundzwanzig ist. Wenn du gehen musst, dann geh, doch ich bleibe mit Aaron hier!“

„Und wer geht für euch durch den Wald, wenn ihr etwas braucht?“

„Ich. Das habe ich mein ganzes Leben getan, Simon.“

„Und wenn du krank bist? Wenn etwas passiert, bevor Aaron einundzwanzig ist?“

„Nur noch drei Jahre, Simon, dann ist Aaron frei, dann geht er durch den Wald, solange werde ich es tun!“

Simon seufzte, mit seiner Mutter war nicht zu reden, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann wich sie nicht davon ab.

„Warum fragt keiner mich?“ Aaron kam um die Ecke und sah die beiden an. „Geht es mich nichts an?“

„Doch, Kleiner, aber du kannst nichts machen. Du kannst nicht alleine durch den Wald laufen und Hilfe holen, wenn hier etwas passiert. Also sag mir, was willst du machen, wenn Mutter etwas zustößt, was tust du dann?“

„Ich bestimme immer noch, was gemacht wird und ich sage, Aaron und ich bleiben hier. Geh du und heirate die Maria.“ Ihre Mutter erhob sich. „Und jetzt geht, eure Arbeiten tun sich nicht von alleine.“ Sie sah, dass die beiden Brüder einen Blick tauschten und dann gingen. Seufzend widmete sie sich wieder der Wolle auf ihrem Spinnrad. Schon oft hatte sie sich überlegt, was geschehen würde, wenn auch Simon ginge und sie mit Aaron alleine bliebe, doch sie konnte nicht zulassen, dass Aaron einen Schritt in den Wald setzte, bevor er einundzwanzig war. Es war ihr bewusst, dass der Wald den blonden Jungen lockte, schon seit Jahren. Eine Zeit lang hatte sie ihn nachts festgebunden, damit er nicht fortlief, damit er dem Ruf nicht folgen konnte. Noch heute sah sie oft, wie er den Waldrand ansah, verträumt und nicht ganz bei sich selbst. Dann legte sie ihm die Hand auf die Schulter und holte ihn zurück. Was jedoch, wenn er den Wald betreten würde? Wenn sie durch ihn hindurchgingen, umhüllt von all diesen Reizen, die nur dazu dienten, ihren Sohn zu locken.

Jeden Abend stand sie am Fenster und blickte hinaus, manchmal sah sie die Schatten der Wölfe, die ihr Haus betrachteten, die es am Waldrand entlang umkreisten. Dann spürte sie IHN, er war dort draußen, sein Kind zu holen, sein Eigentum, doch niemals würde sie ihm ihren blonden Engel überlassen. Wenn der Vollmond ihr Haus beleuchtete, hörte sie die Wölfe heulen, rufen, dann bewachte sie die ganze Nacht die Haustür. Lauschte auf den unruhigen Schlaf ihres Sohnes, wie er sich von rechts nach links drehte und sein Körper auf den Gesang der Bestien reagierte. Niemals würde Aaron durch diesen Wald gehen, bevor er einundzwanzig war!

 

Simon war fort. Dunkel schmiegte sich die Neumondnacht um das Haus. Mit einem Schlag war er wach und lauschte in die Schwärze. Was hatte ihn geweckt? Stimmen drangen leise an sein Ohr. So geräuschlos wie möglich glitt er aus dem Bett und ging zur Tür, öffnete sie, hoffend, dass kein Laut ihn verriet. Die Reste des abendlichen Feuers warfen zuckende Schatten an die Wände. Aaron schlich zu der Treppe, lauschte.

„Du schuldest ihn mir“, sagte eine tiefe Stimme.

„Nein, ich kann ihn dir nicht geben“, sagte seine Mutter mit gequälter Stimme.

„Wir haben eine Vereinbarung“, grollte die Stimme.

„Ich kann es nicht.“

„Es ist zu seinem Besten. Er gehört in den Wald, du weißt das.“ Jetzt war die Stimme schmeichelnd sanft. „Der Wald ist seine Bestimmung.“

„Nein! Nein. Das darf nicht sein. Lass ihn mir, ich flehe dich an“, sagte seine Mutter mit Tränen in der Stimme.

„Wo bleibt er dabei? Spürst du nicht, wie es ihn hinauszieht? Er ist wie wir, nicht wie du und deine Söhne. Er ist gekennzeichnet.“ War es Mitleid, dass die Stimme so weich machte? „Gib ihn frei, Magda. Es wird Zeit für ihn.“

Seine Mutter schluchzte und er rutschte weiter die Treppe hinunter, wollte sehen, mit wem sie sprach. Die Tür war offen und in dem Rahmen stand eine große Gestalt, füllte die Öffnung fast aus. Als spüre der Mann ihn, hob er den Kopf, der Schein des sterbenden Feuers erhellte für einen Moment sein Gesicht, die glühenden gelben Augen. Ihre Blicke begegneten sich und Angst legte sich um Aarons Schultern wie ein Tuch. Angst, weil ein Meer von Gefühlen ihn übermannte und etwas in ihm hinunterlaufen wollte, dem Mann folgen wollte, egal, wo er hinginge. Ein Teil von ihm schrie, er habe Recht und er, Aaron, gehöre in den Wald, zu jenem Geschöpf, das ihn betrachtete.

Seine Mutter folgte dem Blick und sah ihn an. „Verschwinde, Aaron, geh sofort in dein Zimmer. Verschwinde!“, schrie sie ihn an, doch er konnte seinen Blick nicht lösen, die Augen eines Raubtieres, eines Wolfes, ging es ihm durch den Kopf und er legte die Hand um den Anhänger, der seit neun Jahren um seinen Hals lag. Die Gestalt knurrte.

„Hast du nicht gehört, geh!“ Ihre Stimme war hysterisch. Die Gestalt wandte ihren Blick ab und er konnte gehen, laufen. Schnell verschwand er in seinem Zimmer, dass er sich noch bis vor ein paar Tagen mit Simon geteilt hatte. Immer noch spürte er den Blick des Mannes? War es ein Mann gewesen? Oder was war es sonst? War es ER? Und was für eine Vereinbarung hatte diese Gestalt, ER oder was auch immer es war, mit seiner Mutter? Sein Herz schlug viel zu schnell in seiner Brust. Er kroch in sein Bett, zog die Decke über seinen Kopf und versuchte die gelben Augen zu vergessen.

In dieser Nacht schlief er wenig.

 

Die Mutter war ins Dorf gegangen, er war alleine. Aaron ging über den kleinen Hof, bis zu dem Stein, der der seine Welt begrenzte. Diese Grenze durfte er nicht überschreiten, dahinter lag der Wald und hinter dem Wald das Dorf – und hinter dem Dorf … Wie oft, wenn keiner in der Nähe war, setzte er sich auf den Stein, betrachtete den Weg, träumte davon ihn zu gehen. Fortzugehen. So wie seine Brüder. – Nur einmal in das Dorf gehen, andere Menschen sehen … Ein Seufzen kam über seine Lippen. Wie wäre es, den kleinen Marktplatz mit seinen Ständen selbst zu sehen? Das Glockenspiel der Kirche zu hören? Lukas, den zweitältesten Bruder, in der Schmiede besuchen? Der Weg war nicht weit und doch durfte er ihn noch nie gehen. Alles was er wusste, hatte er von seiner Mutter und den Brüdern gehört. Noch einmal seufzte er, ohne dass es ihm bewusst war.

Gerade wollte er seinen Platz aufgeben, da sah er eine Gestalt den Weg entlang kommen. Selten kamen Menschen hier vorbei. Der Scherenschleifer einmal im Jahr … Dieser Mann jedoch war groß, schwarze Haare breiteten sich über seinen Schultern aus und auf einmal wusste Aaron, wer auf ihn zukam. Es war der Mann, mit dem die Mutter in der Nacht gesprochen hatte. Sein Herz schlug schneller und starr blieb er sitzen, sah ihm entgegen.

Einen Schritt vor dem Stein blieb jener stehen und sah Aaron mit einem freundlichen Lächeln an. „Sei gegrüßt, Aaron“, sagte er mit der tiefen Stimme. Seine Augen sahen bei Tageslicht hellbraun und sanft aus.

„Seit gegrüßt, Herr“, erwiderte er.

„Ich bin nicht dein Herr, Aaron. Mein Name ist Thorulf.“ Er hielt den Blick des jungen Mannes fest. „Wovon träumst du nachts, Aaron?“

„Ich …“, begann Aaron und verstummte. Deutlich spürte er die Gegenwart des Mannes und seine Anziehungskraft. Sein Blick wanderte über die Gestalt des anderen. Er trug ein beiges Hemd unter einer braunen Weste, eine Lederhose und kniehohe Stiefel. Seine Schultern waren breit, seine Hüften schmal. Die schwarzen Locken fielen bis auf seine Brust hinab. Sein Kopf hob sich und wieder wurde er von dem Blick des anderen gefangen genommen. „Ich träume von dem Wald. Manchmal laufe ich hindurch, manchmal stehe ich am Fluss. Überall sind die Wölfe, sie laufen mit mir, sie stehen neben mir.“

„Und wie fühlst du dich in diesen Träumen?“, fragte der Mann, Thorulf, sanft.

„Frei“, antwortete er sofort.

Thorulf trat einen Schritt näher und Aaron hatte das Gefühl, von seiner Aura umfangen zu werden. Etwas zog ihn in die Nähe des Mannes, er müsste nur von diesem Stein rutschen und er würde den anderen berühren.

„Willst du frei sein, Aaron?“

Sein Herz schlug hart an seine Rippen. Ohne es zu wollen, ohne überhaupt darüber nachzudenken, streckte er die Hand aus, wollte den Mann berühren. Der entzog sich seiner Hand.

„Du musst die Kette abmachen, sonst kannst du mich nicht berühren“, sagte er leise.

„Warum? Was hat es mit der Kette auf sich? Was für eine Vereinbarung hast du mit meiner Mutter? Was geschieht mit mir, wenn ich die Kette abnehme? Warum gehöre ich dir?“, sprudelten die Fragen aus seinem Mund.

Ernst sah Thorulf ihn an. „Die Kette bannt den Wolf in dir – und würde den Wolf in mir verletzen.“ Aaron riss die Augen auf, wollte weiterfragen, doch der Mann hob die Hand. „Ich kann dir das alles nicht so schnell erklären. Doch du kannst erst frei sein, wenn du die Kette ablegst, wenn du mir in den Wald folgst. Das ist deine Bestimmung, Aaron.“

„Ich kann dir nicht folgen, ohne Antworten.“

„Folge mir und du erhältst alle Antworten.“

Er wollte dem Mann folgen, wollte die Kette abstreifen und mit ihm gehen. Doch was geschah im Wald mit ihm? Warum würde es geschehen? Und was hatte seine Mutter damit zu tun? Ohne dies vorher zu wissen, konnte er dem Mann nicht folgen. Langsam schüttelte er den Kopf. „Ich brauche erst Antworten, dann kann ich entscheiden, ob ich dir folge.“

„Du bist stark, Aaron.“ Der Mann sah sich um, schien in sich hineinzuhorchen und richtete seinen Blick dann wieder auf ihn. „Vor achtzehn Jahren geschah ein Unglück in diesem Haus. Deine Mutter gebar ihren fünften Sohn und er war klein und vom ersten Tag an blond wie der Weizen. Dein Vater nahm an, dass ein Kind, das ihm so unähnlich war, nicht sein Kind seien konnte. Nicht nachdem vier Jungen ihm wie aus dem Gesicht geschnitten waren. Er tobte und wütete. Schlug um sich. Schließlich nahm er das Bündel Mensch und schleppte es in den Wald.“ Thorulf schwieg, betrachtete den Jungen, der seinen Worten ohne Regung lauschte. „Vierzehn Tage lang kümmerten sich die Wölfe um den kleinen Menschen, der ihr Mal trug. Dann kam deine Mutter in den Wald, bat uns um ihren Sohn. Das Rudel weigerte sich, sie hatten gesehen, wozu der Vater in der Lage war, doch sie bettelte und flehte. Schwor, dass der Vater niemals wieder seine Hand an das Kind legen würde, dass er die Hütte für immer verlassen habe. Daraufhin traf das Rudel eine Vereinbarung mit ihr, sie bekam ihren Sohn, bis er alt genug war, sich dem Rudel anzuschließen. – Sie hat sich nicht an die Vereinbarung gehalten, sie hat einen Schamanen gefunden, der ihr das Amulett gab, sie sperrte dich ein und begrenzte dein Leben. Du gehörst in den Wald, zu uns, Aaron.“ Der Mann war noch ein Stück näher gekommen. „Streif es ab, folge mir. Ich zeig dir die Freiheit, Aaron.“

Freiheit. Wie gerne wäre er frei, doch würde er es wirklich sein, wenn er dem Mann folgte? Oder würden dann Thorulf und die Wölfe über ihn entscheiden? Wäre er durch neue Fesseln gebunden? Etwas in ihm wollte der Stimme, dem Mann folgen, etwas hielt ihn zurück.

„Wovor hast du Angst, Aaron?“ Der Mann war so nah, dass er die funkelnden Punkte in seinen Augen sehen konnte.

„Bin ich wirklich frei, wenn ich dir folge?“, fragte er leise.

„Aaron, verschwinde dort!“ Die Stimme seiner Mutter riss ihn los, er sah sie den Weg hinauflaufen. „Geh sofort ins Haus. Schnell!“

Thorulf drehte sich um und Aaron zog sich hinter den Stein zurück. Mit keuchendem Atem blieb die Mutter vor dem großen Mann stehen. „Geh weg!“, schrie sie ihn mit letzter Kraft an. „Er gehört euch nicht.“

„Er gehört auch dir nicht. Er ist stark. Lass ihn selber entscheiden, was er will.“ Noch einmal drehte er sich zu Aaron um. „Du findest mich im Wald, Aaron.“ Dann verschwand er mit langen Schritten.

Die Mutter erreichte Aaron, blieb vor ihm stehen. „Geh ins Haus, Aaron. Vergiss diesen Mann.“ Dann ging sie an ihm vorbei. Er folgte ihr, nahm den Korb aus ihrer Hand und dachte nach.

 

 

Drei Wochen später

 

Der Mutter ging es seit drei Tagen schlecht. Sie hustete und bekam nur schlecht Luft. Heute war noch Fieber dazu gekommen und Aaron wusste nicht, was er tun sollte. Er musste die Beatrice, die Heilerin der Gemeinschaft holen, doch dafür musste er durch den Wald gehen. Ein neuer Hustenanfall schüttelte die Mutter und Aaron hastete zu ihr, rieb ihre Stirn mit einem feuchten Tuch ab. Sie schien zu glühen. Er hatte keine Wahl, er musste in das Dorf zu Beatrice. Sanft streichelte er ihr durch das Haar, stellte ein Krug mit Wasser neben sie und erhob sich. Zum ersten Mal in seinem Leben würde er die Grenze überschreiten. Aaron nahm seine Jacke vom Haken und zog sie über, schloss sie bis zum Kinn. Mit einem letzten tiefen Durchatmen öffnete er die Tür. Es war Vollmond und in der Luft lag der Gesang der Wölfe. Das Blut rauschte in seinen Ohren, wie immer lockte ihn der Gesang, rief ihn zu sich.

Langsam ging er in Richtung des Steins, blieb daneben stehen, sah sich um und ging daran vorbei. Ein Reißen ging durch seinen Körper, das Amulett auf seiner Brust wurde warm, er wollte in den Wald laufen und zeitgleich wollte er sich umdrehen und nach Hause laufen. Trotzdem ging er immer weiter, setze einen Fuß vor den anderen und hielt den Blick geradeaus gerichtet. Wölfe tauchten neben ihm auf, begleiteten ihn ein Stück, verschwanden im Wald. Jedes Mal, wenn sie sich näherten, wurde ihm schlecht, sein Atem ging keuchend und seine Brust schmerzte. Er spürte, dass der Mann, Thorulf, sich ihm näherte, bevor dieser aus dem Wald trat und ihm den Weg versperrte. Die Augen funkelten und der Blick wanderte über ihn. „Wohin gehst du, Aaron?“ – „In das Dorf. Meine Mutter ist krank.“ Seine Stimme klang dünn und der Schmerz nahm zu, da sich nun die Wölfe um sie drängten. Er keuchte auf.

„Du musst das Amulett abnehmen, dann hört es auf“, sagte Thorulf und trat näher. In seinen Augen lag Mitleid. „Nimm es ab, es geschieht dir nichts.“

„Ich kann nicht, ich muss ins Dorf“, antwortete er, fragte sich aber, wie er es schaffen sollte, da die Kraft aus ihm zu weichen schien.

„Ich bringe dich ins Dorf, nimm die Kette ab, bitte“, sagte Thorulf, doch er schüttelte den Kopf.

„Ich kann es nicht riskieren, sie stirbt, wenn Beatrice nicht kommt“, würgte er hervor, die Schmerzen wollten seine Brust zerreißen.

„Ich schwöre dir, dass dir nichts passiert, nimm sie ab“, beschwor ihn Thorulf. „Bei meinem Leben verspreche ich dir, dass ich dich zum Dorf und zurückgeleite, doch nimm es ab.“ Das Jaulen der Wölfe war lauter geworden, oder schien ihm das nur so? Fast von selber griffen seine Hände nach der Kette und zogen sie über seinen Kopf. Sofort verebbte der Schmerz. Nur sein Blut schien noch schneller durch seinen Körper zu fließen.

„Häng es dort an den Strauch, dann kannst du es wiederholen, wenn du willst.“ Thorulf war jetzt so nah, dass er den Körper des anderen fast berührte. Um dem größeren in die Augen sehen zu können, musste er den Kopf in den Nacken legen. Erschrocken zuckte er zusammen, als ein Wolf um seine Beine strich. Doch das Gefühl war nicht unangenehm. Das Amulett hängte er in den nächsten Strauch, dann sah er wieder Thorulf an. Er wollte ihn berühren, etwas in ihm verlangte danach, doch bevor er es tun konnte, trat der Mann einen Schritt zurück.

„Komm, wir wollen uns beeilen“, sagte er und ging vor. Jeder ihrer Schritte wurde von den Wölfen begleitet. Aaron betrachtete sie, sie sahen alle unterschiedlich aus, der eine hatte dickes, schwarzes Fell, der andere helles, der eine langes, der andere kürzeres. Immer wieder berührten sie ihn, stupsten ihn mit ihren Schnauzen an, rieben sich an seinen Beinen.

„Warum tun sie das?“, fragte er Thorulf.

„Sie erkennen dich, den Wolf in dir“, erwiderte dieser und er wusste nicht, ob er wirklich wissen wollte, was das bedeutete. Als sie den Ort erreichten und Aaron sich umblickte, standen nicht Wölfe, sondern Männer um sie herum. Erschrocken sah er von einem zum anderen und sie lächelten ihm zu. Ohne zu überlegen, nahm er Thorulfs Hand, der sah ihn fragend an und wandte dann den Kopf. „Keine Angst, sie sind wie du, sie tragen den Wolf in sich. – Nur haben sie gelernt, mit ihm zu leben und ihn erwachen zu lassen.“

„Ich weiß nicht, ob ich das will“, erwiderte Aaron ehrlich.

„Wir werden sehen, es ist deine Entscheidung“, antwortete Thorulf. „Dort vorne ist das Haus der Beatrice, sag ihr, dass sie mein Wort hat, dass ihr nichts geschieht.“

 

Nur widerwillig konnte er Beatrice, eine junge, dunkelhaarige Frau überreden ihm zu folgen und noch misstrauischer betrachtete diese Thorulf, der am Dorfrand auf sie wartete. Die anderen waren verschwunden. Schnellen Schrittes durchquerten sie schweigend den Wald. Ohne zu zögern, betraten Beatrice und Aaron das Haus. Erst später fiel Aaron auf, dass Thorulf sie nicht begleitet hatte. Die Frau untersuchte die Mutter, brummte und murmelte dabei, um sich letztlich aufzurichten und ihn anzusehen. „Ihre Lunge ist voller Schleim. Sie braucht schleimlösende Mittel, viel zu trinken und gute Pflege. – Hier, koch daraus einen Sud und gib ihr von diesem einmal pro Stunde 10 Tropfen in einem Glas Wasser. Ich sehe übermorgen wieder nach ihr.“ Damit reichte sie ihm ein Beutel Kräuter und war sie schon wieder aus der Hütte verschwunden. Eiligen Schrittes ging sie in Richtung Dorf. Thorulf, der am Stein wartete, wies sie ab und ging allein weiter.

Aaron nahm einen Becher und füllte Wasser sowie die Tropfen hinzu. Nachdem er es die Mutter schlucken ließ, drehte er sich zur Tür und sah Thorulf dort stehen. „Warum kommst du nicht herein?“, fragte er.

„Nur wenn man mich einlädt, kann ich ein Haus betreten. – Deine Mutter würde es nicht wollen“, fügte Thorulf gleich hinzu, als er Aaron den Mund öffnen sah. „Kümmere dich um sie. Wenn du Hilfe brauchst, ich bin in der Nähe.“ Damit verschwand er.

Aaron starrte auf die geöffnete Tür und wusste nicht, was er denken sollte. Langsam ging er hinüber und schloss sie. Die Wölfe heulten und er hatte das Gefühl, als gäben ihre Töne einen Sinn. Sie riefen und antworteten. Ein tiefes, lang gezogenes Heulen übertönte die anderen und Aaron wusste, dass es Thorulf war. Machte ihm das Angst? – Nein, zum ersten Mal war er nicht zerrissen zwischen Angst und Verlockung. Der Gesang der Wölfe war schön und er wusste, dass er keine Angst vor ihm haben brauchte. Im Sessel neben dem Bett der Mutter sitzend lauschte er dem Heulen.

 

Vierzehn Tage später ging es der Mutter wieder viel besser. Simon und Josef hatten sie in der Zeit besucht, das Notwendige aus dem Dorf besorgt und auf die Mutter eingeredet zu ihnen zu ziehen. Doch sie wollte nicht. Dies war ihr Haus. Der Besitz ging von Mutter zur Tochter, da sie keine hatte, würde er an die Gemeinschaft fallen. Solange es ginge, wollte sie daher auf ihrem Grund und Boden bleiben. Außerdem sei Aaron bei ihr. Murrend waren die Söhne abgezogen.

Die Mutter schlief und Aaron ging zu dem Stein, der bisher seine Welt begrenzt hatte. Konnte er jetzt einfach so hinter diese Grenze treten? Die Worte des Schamanen kamen ihm in den Sinn: ER, der Herr der Wölfe, der Freund der Schatten, der Gebieter des Waldes. Wenn er dich holt, macht er aus dir ein Geschöpf des Waldes, ein Geist der Nacht und nimmt dir deine Seele. Wenn er dich holt, bist du für die Welt verloren. Hütte dich vor dem Wolf, er ist dein Feind. – War Thorulf ER? Waren die Wölfe seine Feinde? Sie hatten sich in jener Nacht nicht feindlich gezeigt …

„Du kannst dich nur noch selbst beschränken“, sagte die inzwischen vertraute Stimme Thorulfs zu ihm. „Wie geht es deiner Mutter?“

„Besser. Danke, ohne Eure Hilfe wäre ich nie bis ins Dorf gekommen“, antwortete er und drehte sich zu Thorulf um, der aus dem Wald getreten war.

„Doch, natürlich. Hast du dir dein Amulett wiedergeholt?“

„Nein. – Brauche ich es noch?“

„Wovor soll es dich beschützen? Der Wolf in dir ist erwacht. Du bestimmst die Zeit, wenn er hervorkommen soll.“

„Ich spüre nichts. Woher weißt du, dass etwas in mir ist?“

„Ich kann ihn fühlen. Er ist kein getrenntes Wesen von dir, er ist ein Teil von dir und gehört zu dir, wie deine blonden Haare.“ Er hob die Hand, als wollte er Aaron durch die Haare fahren. „Du wirst spüren, wenn du ihn herauslassen musst, dann komm zu mir.“ Ganz leicht streiften die Finger Aarons Wange, ließen ihn schaudern. Die Brüder und auch die Mutter wichen Berührungen mit ihm aus. Nie strich jemand freundlich durch sein Haar oder über seine Wange. Seit er das Amulett trug, hatte niemand ihn in den Arm genommen.

„Der Vollmond ist eine gute Zeit, der Vollmond ruft den Wolf.“

„Wenn ich… wenn der Wolf… kann ich dann noch bei meiner Mutter bleiben?“ Die Frage beschäftigte ihn seit Nächten. Würde er im Wald leben müssen? Als Wolf im Rudel?

„Du kannst leben, wo du willst. Viele Wölfe haben ein Leben außerhalb des Waldes. Doch es ist kein einfaches Leben, die Menschen haben Angst vor uns, wir müssen uns verstecken und wenn sie uns erkennen, müssen wir fliehen – oder wir sterben. Sie töten uns, erschlagen uns, verbrennen uns auf Scheiterhaufen. Manche bleiben deshalb immer im Wald verborgen, gehen den anderen Menschen aus dem Weg, einige aber brauchen den Kontakt zu anderen Menschen. Solange sie nicht wissen, wer wir sind, ist es kein Problem, sobald sie uns erkennen, hassen sie uns.“

„Warum? Was tun die Wölfe den Menschen?“, fragte Aaron, er war einen Schritt näher an den großen Mann getreten, betrachtete ihn, seine schwarzen Haare, seine funkelnden Augen. „Und wo lebst du?“

„Der Wolf in dir will jagen, doch er jagt keine Menschen, so wie sie es behaupten. Sie fühlen sich bedroht, erfinden Geschichten von den bösen, mordenden Wölfen, die unschuldige Menschen ebenfalls zu Wölfen machen und rechtfertigen damit ihre Jagd auf uns“, Thorulf lachte hart. „Doch das ist unmöglich, wir werden als das geboren, was wir sind.“

„Der Schamane hat gesagt, mit einundzwanzig wäre ich frei.“ Gerne wollte er den Mann berühren, fühlen wie echt er war.

„Das ist eine Lüge, der Wolf ist immer da, vom Tag deiner Geburt bis zu deinem Tod. Manche behaupten, wenn der Wolf bis einundzwanzig nicht erwacht ist, würde er nie erwachen, andere behaupten, dass sie den Wolf töten und so den Menschen heilen könnten. Alles Lügen, der Wolf gehört mit jedem Atemzug zu dir.“ Thorulf beugte sich vor, fast berührten sich ihre Nasen. „In dir ist der Wolf stark, er wartet darauf, dass du bereit bist.“ Sein Atem streifte Aarons Gesicht. „Seit ich dich zum ersten Mal sah, warte ich darauf, dass du bereit bist.“ Thorulf legte seine Hand an Aarons Wange, sah ihm in die Augen. Hitze breitete sich von der Berührung aus, wärmte seinen Körper. Tief in seinem Inneren reagierte etwas auf die Berührung, wollte mehr davon. Schüchtern legte er seine Hand auf Thorulfs hielt sie fest, schmiegte sich in die Hand.

„Komm zu mir, Aaron, wenn der Mond über den Feldern steht, erwarte ich dich“, flüsterte der Mann. „Komm zu mir und ich zeige dir, dass der Wolf in dir gut ist. Dass er sich gut anfühlt und du erst mit ihm völlig frei bist.“ Für einen winzigen Moment berührten die Lippen seine, so kurz, dass er sich fragte, ob er es wirklich gespürt hatte.

„Aaron!“ Die Stimme seiner Mutter hallte über den Hof. „Aaron! Komm sofort her!“

Thorulf trat ein Stück zurück und sofort fühlte sich Aaron verlassen. Langsam drehte er sich zu seiner Mutter um. Sie stand an der Tür und sah zu ihnen herüber. Selbst über die Entfernung konnte er ihren Zorn sehen. Sein Blick wanderte zurück, doch Thorulf war nicht mehr dort. Bedauern überkam ihn, er fühlte sich wohl in der Nähe des Mannes.

„Aaron, komm sofort her!“

Widerstrebend folgte er dem Ruf der Mutter.

 

Morgen würde der Mond voll über den Feldern stehen. Aaron konnte nicht schlafen, starrte durch das Fenster hinaus in die Nacht. Ob Thorulf am nächsten Abend auf ihn warten würde? Wollte er zu ihm gehen? Ja, etwas tief in ihm wollte gehen, wollte den Mann sehen und seine beruhigende Stimme hören, seine Hände fühlen. Seufzend legte er sich auf sein Bett. Was sollte er tun?

 

„Simon. Josef. Was tut ihr hier?“ Freudig begrüßte Aaron seine Brüder, die ihn nur mit dunklem Blick ansahen und an ihm vorbei zur Mutter gingen.

„Aaron komm ins Haus“, rief diese und verwundert folgte er ihr.

„Geh in dein Zimmer, Aaron“, befahl sie.

„Warum, Mutter?“, fragte er erstaunt.

„Du wirst die Vollmondnacht in deinem Zimmer bleiben. Deine Brüder werden auf dich aufpassen“, erklärte die Mutter.

„Was soll das, Mutter?“ Aaron trat einen Schritt zurück.

„Ich werde nicht zulassen, dass du in dieser Vollmondnacht in den Wald gehst. Du wirst IHM nicht folgen!“ Energisch trat die Mutter auf ihn zu. „Du wirst nicht einer von Ihnen werden.“

„Ich bin einer von ihnen“, sagte Aaron leise.

„Nein, das werde ich niemals zulassen! Du bist mein Sohn!“ Sie fasste ihn an den Schultern. „Du bist keiner von ihnen! Und wenn ich dich einsperren muss.“

„Ich bin einer von ihnen!“, wiederholte Aaron lauter und trat noch einen Schritt zurück. Simon und Josef machten einen Schritt auf ihn zu und Panik machte sich in ihm breit. Er riss sich von seiner Mutter los und wollte aus der Tür laufen, doch Simon war schneller und zog ihn hart an der Schulter zurück.

„Wenn Mutter sagt, dass du bleibst, läufst du nicht fort.“ Unsanft stieß er ihn zurück in den Raum.

„Aaron, wir werden nicht zulassen, dass du einer von ihnen wirst“, sagte Josef sanfter. „Geh einfach in dein Zimmer, wir passen auf.“

Aaron starrte von einem zum anderen. Jetzt hatte er keine Wahl mehr. Langsam wich er von den drei zurück, ging in sein Zimmer, schloss die Tür hinter sich. Als die Sonne unterging, begannen die Wölfe zu heulen. Aaron stellte sich an das Fenster, sah die Wölfe am Waldrand. Unruhig streiften sie hin und her, blieben stehen und heulten. Thorulf war nicht zu sehen, doch konnte Aaron ihn spüren, er konnte nicht weit weg sein. „Ich wollte zu dir kommen“, flüsterte er und legte die Hand an die Scheibe.

Der Mond beleuchtete den Hof, als es an der Tür klopfte. Aaron trat an die Tür und lauschte. Erst schien keiner öffnen zu wollen, dann klopfte es erneut.

„Mach die Tür auf, Magda“, rief Thorulf. Aaron hörte seine Mutter und seine Brüder tuscheln.

„Lass ihn gehen, Magda, du kannst ihn nicht ewig einsperren!“

Aaron öffnete die Tür, schlich sich zur Treppe. Die Mutter stand mit seinen Brüdern am Kamin. Sie schien zu beraten. Schnell huschte er die Treppe hinunter und lief zur Tür. Magda sah ihn und schrie auf, Simon und Josef kamen sofort auf ihn zu, während er versuchte, den Riegel von der Tür zu entfernen. Eine Hand faste ihn an, zerrte ihn zurück. Er kämpfte gegen die Hand, ein Knurren entkam seiner Kehle. Die Hand ließ ihn sofort los, zeitgleich wurde die Tür aufgetreten. Das Heulen der Wölfe flutete den Raum, Thorulf stand in der Tür. „Nimm die Hände von ihm“, knurrte er, seine Augen leuchteten gelblich. Ängstlich wichen Simon und Josef zurück.

„Komm“, sagte Thorulf und streckte seine Hand nach Aaron aus. Er griff sie und ließ sich hinter dem Mann herziehen. Das Heulen wurde lauter, die Wölfe umringten sie, streiften ihre Beine, stupsten gegen ihre Hände, während sie in den Wald liefen. In der Ferne hörte er den Ruf der Mutter, doch es gab kein Zurück, er gehörte hierher. Sie liefen weiter, immer weniger Wölfe begleiteten sie, bis sie alleine auf einer Lichtung zum Stehen kamen. Noch immer hielt Thorulf seine Hand. Jetzt drehte er sich zu ihm um und sah ihm in die Augen.

„Ich bin froh, dass du dich entschieden hast, zu uns zu kommen.“ Sanft strich er Aaron durch das Gesicht.

„Ich konnte nicht kommen, sie haben mich eingesperrt.“ – „Ich weiß.“ Er beugte sich vor und wieder berührten seine Lippen Aarons so sanft wie ein Windhauch. Aaron legte eine Hand in Thorulfs Nacken, zog ihn näher, intensivierte den Kuss. Seine Hände fingen an, über den Körper des anderen zu wandern, wollten ihn fühlen, einen anderen Menschen fühlen, diesen Menschen fühlen.

Thorulf hob ihn hoch als wöge er nichts und legte ihn in das weiche Moos. Sein Mund küsste Aaron, während seine Hände ihn aus seiner Kleidung befreiten. Sanft strichen seine Hände über den Körper, der schlank und bleich vor ihm lag.

„Du bist wunderschön“, flüsterte er und küsste sich zärtlich von Aarons Mund hinunter zu seinen Brustwarzen.

„Was tust du?“, fragte Aaron. Tief in seinem Inneren begann es zu grummeln und etwas zog sich in seinem Unterleib zusammen.

„Ganz ruhig“, flüsterte Thorulf und streichelte ihn. „Genieß es.“ Und seine Hand fuhr Aarons Beine hoch, berührte ihn dazwischen, entlockte ihm leise wimmernde Töne. Immer dichter ballte sich dieses Gefühl in seinem Unterleib zusammen, seine Hände verkrallten sich in Thorulfs Haaren. Dann katapultierten ihn die Hände, der Mund des anderen in ein unbekanntes Universums.

„Lass ihn raus, Aaron“, flüsterte Thorulf in sein Ohr und er spürte, wie sich in ihm etwas ausbreitete, wie es in ihm immer größer wurde, ihn ausfüllte.

„Ja, so ist es gut.“

Aaron schlug die Augen auf und die Welt hatte sich verändert. Alles sah anders aus und fühlte sich völlig anders an. Er blickte an sich herunter und sah – Fell und Pfoten. Verwirrt sah er Thorulf an.

„Es ist alles in Ordnung, Aaron.“ Doch das sagte Thorulf nicht, sondern Aaron hörte ihn in seinem Kopf. „Keine Angst, das ist der Wolf, doch du kannst ihn beherrschen. Du bestimmst, welche Gestalt du wahrnimmst. – Steh auf, lass uns laufen.“ Im nächsten Moment stand ein großer Wolf mit dichtem weißen Fell vor ihm. „Komm.“

Sie liefen durch die Nacht. Aaron konnte nicht fassen, was geschah, wie es sich anfühlte: Zum ersten Mal im Leben fühlte er sich frei. Auch wenn es ein komisches Gefühl war auf vier Pfoten zu laufen.

Wie lange waren sie gelaufen? Irgendwann hatten sich ihnen andere Wölfe angeschlossen, er konnte ihre Gedanken spüren, ihre Gegenwart fühlen – und es war ein gutes Gefühl. Er konnte nicht sagen, wie lange sie unterwegs gewesen waren, ehe sie wieder alleine an der Lichtung ankamen.

„Denk an deine menschliche Gestalt“, übermittelte Thorulf ihm und er dachte an seinen Körper. Wieder wandelte sich seine Wahrnehmung und er fand sich kniend auf dem Boden wieder. Thorulf kniete vor ihm.

„Wie fühlst du dich?“, fragte Thorulf.

„Gut – und merkwürdig.“ Er setzte sich auf seine Fersen, bewunderte den nackten Körper des anderen, der sich ebenso auf die Fersen gesetzt hatte. Er war muskulös, dunkle Haare kräuselten sich auf seiner Brust, und er bewunderte den Schaft, der sich aus dem schwarzen Haar erhob. Obwohl er mit vier Brüdern aufgewachsen war, hatte er niemals einen von ihnen nackt gesehen. Es galt als unschicklich einen anderen nackt zu sehen, doch er musste gestehen, es war sehr aufregend, den anderen so zu betrachten.

Thorulf lächelte. „Fass mich ruhig an“, forderte er Aaron auf. Als er zögerte nahm der Ältere seine Hand und legte sie auf seine Brust. „Keine Angst, ich beiße nicht“, fügte er mit einem leisen Lachen hinzu, dann beugte er sich vor und küsste Aaron.

Mutig geworden streichelte Aaron über die Brust, wühlte in den Brusthaaren. Seine Zunge umspielte Thorulfs Zunge. Ihre Körper kamen hoch, berührten sich, rieben sich aneinander. Noch nie waren Gefühle für Aaron so überwältigend gewesen, sein Blut rauschte in den Adern, alles was er wollte, war dem anderen so nah wie möglich zu kommen. Seine Arme schlangen sich um Thorulf, sein Körper presste sich so dicht wie möglich an den anderen Mann. Thorulf stand auf, hob ihn mit sich hoch. „Lass uns gehen.“ – „Wohin?“ – „Zu mir.“ Und er trug den jüngeren durch den Wald zu seiner Hütte.

Es war eine kleine Holzhütte, die sich unter einen Überhang schmiegte und durch dichtes Gestrüpp verdeckt wurde. In der Hütte legte Thorulf Aaron auf sein Bett, stützte sich über ihn. „Seit ich dich kenne, wünsche ich mir, dass du hier bei mir bist.“ Sein Kopf senkte sich und er küsste ihn. Aaron kam ihm entgegen, ihre Lippen fanden sich, liebkosten sich, kosteten voneinander. Thorulf schob sich zwischen Aarons Beine, küsste sich von seinem Mund zu seinem Schaft, legte seine Lippen um ihn und umspielte ihn sanft, entlockte ihm ein Stöhnen.

„Hab keine Angst, ich tu dir nicht weh“, raunte Thorulf heiser, spreizte seine Beine weiter.

„Ich habe keine Angst vor dir“, knurrte Aaron, stütze sich auf und betrachtete Thorulf. „Ich will dich spüren.“

Ein Knurren entkam Thorulf und seine Augen funkelten Aaron an. „Du bist unglaublich.“ Dann begann er unter dem aufmerksamen Blick und dem Keuchen Aarons, ihn weiter zu streicheln, vorzubereiten, ehe er sich langsam in ihm versenkte. Ihre Augen blieben verhakt, hielten sich fest, bis sie gemeinsam über den Rand stürzten, hinab in die sternenfunkelnde Unendlichkeit. In diesem Moment war Aaron sich nicht sicher, ob er in die Augen des Mannes oder des Wolfes sah, doch es spielte keine Rolle, denn Thorulf war beides: Mann und Wolf, genau wie er selbst.

 

Am nächsten Tag ging er zusammen mit Thorulf zum Haus der Mutter. Sie näherten sich als Wölfe, streiften um das Haus und versuchten festzustellen, wer im Haus war.

„Simon und Mutter“, sagte Aaron und Thorulf nickte.

„Willst du wirklich hingehen?“, fragte Thorulf. „Du weißt, dass sie Angst vor dir haben werden. Dass sie dich vielleicht sogar hassen.“

„Ja, doch sie ist meine Mutter und sie will hier bleiben, bis sie stirbt. Die anderen werden sich nicht um sie kümmern, wenn sie hierbleibt.“

„Ich befürchte, sie wird es nicht wollen.“

„Ich muss es ihr anbieten.“

„Ich weiß. Ich bleibe hier, falls etwas passiert.“

Aaron rieb seinen Kopf an Thorulf und ging auf das Haus zu, währenddessen wechselte er in seine menschliche Gestalt. Thorulf gefiel der Gedanke nicht, dass er allein in dieses Haus ging. Unruhig lief er von rechts nach links. Sollte irgendetwas passieren, wäre er sofort drin.

 

„Du kannst nicht alleine hierbleiben, Mutter“, sagte Simon. „Und wir können uns hier nicht genügend um dich kümmern. Du kommst zu mir und Maria.“

Aaron öffnete die Tür, blieb auf der Schwelle stehen. „Ich könnte mich um dich kümmern, Mutter“, sagte er und die beiden drehten sich erschrocken zu ihm um.

„Verschwinde!“, brüllte ihn sein Bruder an. „Wag es nicht, einen Fuß in dieses Haus zu setzen.“

„Mutter, ich bin der gleiche, der ich gestern war.“ Bittend sah er die Mutter an, die unruhig an ihrer Schürze zupfte. „Ich kann mich um dich und das Haus kümmern.“

„Ich sag es nicht noch einmal. Verschwinde! Du bist nicht mehr unser Bruder, ihr Sohn. Du bist einer von ihnen“, er spuckte Aaron die Worte fast vor die Füße. Der beachtete ihn jedoch gar nicht, sondern nur die Mutter.

„Du weiß, dass ich nicht anders konnte. Es ist mein Schicksal. Mutter, bitte“, flehte er. „Ich bin immer noch Aaron, dein Sohn.“

„Nein, das bist du nicht mehr. Du hast dich gegen deine Familie und für diese Bestien entschieden“, sagte die Mutter und strafte die Schultern. „Ich habe dich angefleht zu bleiben, doch du bist gegangen. Bist einer von ihnen geworden.“

„Ich war immer einer von ihnen, doch ich war auch immer einer von euch. Mein ganzes Leben habe ich versucht, so zu sein, wie ihr es wolltet, doch ich kann nicht verleugnen, was ich bin. – Bitte schick mich nicht fort.“ Er trat einen Schritt auf die beiden zu, sofort griff Simon zu der Axt, die neben ihm stand und die Mutter wich zurück.

„Du hast dich entschieden zu gehen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Wag es nicht, dieses Haus noch einmal zu betreten. Wag es nicht, dich dem Dorf zu nähern. Du bist jetzt einer von ihnen und damit vogelfrei. Geh!“ Drohend hob Simon die Axt und machte einen Schritt auf ihn zu.

„Es tut mir Leid, Mutter, aber ich bin, was ich bin. Durch Geburt und nicht durch meine Entscheidung.“ Einen letzten wehmütigen Blick auf die Mutter werfend drehte er sich um und ging. Lief über den Hof, wandelte die Gestalt, als er den Wald erreichte, und lief hinein. Bald schon hatte ihn der weiße Wolf eingeholt, drängte sich dicht neben ihn und hielt sein Tempo. Er war kleiner und sein Fell leuchtete golden in der Sonne. Erst als er nicht mehr konnte, blieb er stehen, wandelte die Gestalt und sackte auf die Knie. Tränen liefe über sein Gesicht.

„Ja, weine ruhig. Fast allen geht es so, keiner kann verstehen, warum sie so reagieren. Der gleiche Mensch wie einen Tag vorher, doch sie lehnen ihn ab, beschimpfen ihn und jagen ihn fort. Sie sind so dumm.“ Thorulf kniete sich neben ihn und legte den Arm um ihn.

Aaron drehte sich zu ihm um, verbarg das Gesicht an seiner Schulter und gab sich seiner Trauer hin. Thorulf zog ihn auf seinen Schoss, wiegte ihn wie in Kind und gab ihm Trost.

 

 

Sechs Monate später

 

Aaron stand am Waldrand und betrachtete das Haus. Gerade waren Josef, Lukas, Matthis und Simon mit ihren Frauen in der Hütte verschwunden. Ein schwarzes Tuch hing an der Tür. Die Mutter war verstorben, er hatte es gespürt, doch ihrem Wunsch gemäß den Bannkreis respektiert. Gerne hätte er ihr zur Seite gestanden, aber sie wollte ihn nicht sehen.

Eine Bewegung an seiner Seite, Thorulf erschien neben ihm. Aaron konnte sein Mitgefühl spüren.

„Du kannst nichts mehr machen, lass uns gehen.“

„Warum verstehen sie es nicht? Sie hat mich geboren, ich bin genauso ihr Kind wie die anderen und doch …“

„Alles, was anders ist und sie nicht verstehen, verdammen sie. Und den Wolf in uns können sie nicht begreifen, er macht ihnen Angst. Wenn sie wüssten, wie viele von uns unter ihnen leben, würde sie in Panik verfallen.“ Der weiße Wolf schüttelte unwillig den Kopf. „Sie werden uns nie akzeptieren. Lass uns verschwinden, Aaron, wenn deine Brüder dich hier entdecken, werden sie versuchen, dich zu töten. Das ist ihre Lösung, das Unbekannte auszurotten. Doch sie werden es nicht schaffen, denn ihre Frauen tragen unser Merkmal, sie geben es weiter. Es wird immer Wölfe geben!“

Aaron sah Thorulf an. „Du meinst, meine Mutter ist schuld, dass ich bin, was ich bin?“

„Schuld? Nein, genauso wenig wie du ändern kannst, was du bist, konnte sie nicht ändern, dass sie das Merkmal trägt. Sie wusste es nicht einmal.“ Thorulf rieb seine Schnauze an Aarons. „Lass uns gehen, hier sind nur Kummer und Schmerz.“

Mit einem letzten Blick auf die Hütte, in der er aufgewachsen war, drehte sich Aaron um. „Lass uns sehen, wer schneller ist, alter Mann.“

Thorulf stieß ein Lachen aus, das zu den Menschen in der Hütte als ein Jaulen drang und ihnen einen Angstschauer bereitete. Die Männer sahen sich an, griffen furchtsam zu den Äxten und der Heugabel, während ihre Frauen das Zeichen des Gottes schlugen.

„Ist er das?“

„Ich weiß es nicht. Soll er kommen, wir werden ihn schon zu empfangen wissen.“ Simon schüttelte die Axt in seiner Hand.

Die vier Männer traten an die Tür, starrten hinüber zum Wald.

„Packt alles zusammen und lasst uns verschwinden. Ich will vor der Dunkelheit zurück im Dorf sein.“ Die Frauen nickten und begannen den Nachlass der Schwiegermutter schweigsam einzusammeln. Es war nicht viel, was der alten Frau gehört hatte.

Anschließend schulterten die Männer die Bündel und gingen voraus. Aus Rücksicht auf die schwangere Maria gingen sie langsamer, sahen nicht, die leuchtenden Augen, die sie aus dem Dunkel des Waldes betrachteten. Maria legte ihre Hand auf die Rundung, spürte die Bewegungen des Kindes und Liebe für da Ungeborenen durchflutete sie. Ein Junge, sie war sich sicher, ein Erbe für ihren Mann, der ihr über die Schulter einen verliebten Blick zuwarf. In zwei Monden sagte Beatrice würde es kommen. Ein Lächeln ließ ihr blasses Gesicht leuchten. Einige Zeit später schritten die Ehepaare über die Grenze der Stadt, hinab zu ihren Häusern.

 

Hinter ihnen, im finsteren Wald, verbreitete sich schnell die Nachricht von der Frau, die bald einem neuen Wolf das Leben schenken würde.

 

ENDE

Impressum

Texte: Gabriele Oscuro
Bildmaterialien: pixabay/bearbeitet Gabriele Oscuro
Lektorat: Alle Fehler gehören mir :)
Tag der Veröffentlichung: 16.11.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für bella und kaz.

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