Cover

Prolog

„Du weißt, was du getan hast, Eljakim!“

In diesen Worten klang der belehrende Ton, den er so zu hassen gelernt hatte. Er wusste genau, was folgen würde: Ich tu es nicht gern, aber ich muss dich bestrafen, du hast gegen die Gebote verstoßen. Wie lange würde er ihn dieses Mal in die Kammer schicken?

„Mit deinem Verhalten hast du die Gemeinschaft gefährdet. Die Gebote haben den Sinn, die Gemeinschaft zu schützen! Du hast eins der elementarsten gebrochen!“ Genau mit dieser donnernden Stimme sprach Abram auch vor der Gemeinschaft.

„Er wäre gestorben, wenn ich nicht eingegriffen hätte“, wagte er einzuwerfen.

„Das kannst du nicht wissen. Du hattest nicht das Recht, einzugreifen!“ Mit harten Schritten ging Abram vor ihm auf und ab. „Er ist nur ein Mensch, wer weiß, was sie letztlich tun!“

„Er wollte sich umbringen!“

„Und wenn schon! Eljakim, es wäre einer von vielen gewesen. Wenn er von dir erzählt, dann werden viele von uns sterben!“ Die schweren, schwarzen Schuhe hielten vor ihm. „Es war sein freier Wille zu sterben. Hier will aber keiner sterben, weil du einen Menschen retten musstest!“

„Er wird nichts erzählen!“

„Auch das kannst du nicht wissen. Eljakim! Was soll ich mit dir anfange? Du musst lernen, dich an die Gebote der Gemeinschaft zu halten, sonst wird sie dich verstoßen.“

Verstoßen, nette Umschreibung für den sicheren Tod, dachte Eljakim, zog es aber vor, den Gedanken in seinem Kopf zu behalten. Jedes Mal dieselben Vorhaltungen. Innerlich seufzte er.

„Was, wenn er erzählt, dass ihm einer des verfluchten Volkes über den Weg gelaufen ist und ihn beeinflusst hat, ein Stück seiner Seele gestohlen hat?“

Eljakim hob den Blick, sah in die silbergrauen Augen, die seinen eigenen so ähnlich waren. „Er war verzweifelt, aus tiefster Seele verzweifelt. Jede Brücke zum Sein hatte er abgerissen und nur ich konnte ihn retten. Er ist gut, rein und freundlich, er ist kein Verräter.“

„Für sie ist es kein Verrat! Für sie bist du ein Kind des Bösen, etwas, das man bekämpfen und töten muss.“ Abram war nicht nur sein Vater, er war der Hüter der Gemeinschaft der Anima. Eljakim wusste, dass er in dieser Funktion stets versuchte das Richtige zu tun, doch er kannte weder Eljakim noch alle seine Fähigkeiten. Niemals würde Casey ein Wort über ihre Begegnung verraten, da gab es für ihn keinen Zweifel. Abram würde sein Wort aber nicht gelten lassen.

„Du weißt, was ich tun muss …“

„Nein, du wirst nicht erfahren, wer er ist!“, fuhr Eljakim dazwischen. „Er wird kein Opfer der Gemeinschaft, nachdem ich ihn gerettet habe!“

„Ich würde ihn nicht töten. Das Leben ist heilig“, erwiderte Abram empört.

„Oh, nein, du würdest ihn zum Seelenfutter für die anderen machen. Er würde wahnsinnig werden oder innerlich sterben. Kein Mensch kann es auf Dauer ertragen!“ Nur mühsam zügelte Eljakim seine Wut. Das war so verlogen! Einen Menschen in ihre Gemeinschaft zu holen, kam seinem Todesurteil genauso gleich, wie das Verstoßen werden für einen der ihren.

„Eljakim! Es reicht! Seit Jahren brichst du die Regeln! Seit Jahren gefährdest du die Gemeinschaft mit deinem Verhalten! Ich werde das nicht länger dulden. Wenn du diesmal aus der Kammer kommst, wirst du dein Verhalten ändern oder …“

„Oder was? Verstößt du mich? Sperrst du mich auf ewig ein?“ Seine Vernunft wollte, dass er den Kopf demütig senkte, doch er konnte es nicht. Wenn er einen Fehler gemacht hätte, wenn er sich schuldig gemacht hätte, dann würde er seinen Blick vor Abram senken. Doch er war nur seinem Gewissen und seiner Intuition gefolgt. „Egal, was du machst, ich werde das nächste Mal genauso handeln!“

 „Eljakim!“ Die entsetzte Stimme seiner Mutter Lea, die sich bisher still im Hintergrund gehalten hatte.

„Ich werde dich lehren …“ Die eisigen Hände seines Vaters legten sich um seinen Kopf und er konnte ihn spüren. Hart und unnachgiebig drang der schwarze Schatten in seine Seele, seine Emotionen vor, begann, sie ihm zu entziehen.

„Abram! Nein!“ Lea.

Kälte flutete ihn, seine Seele zog sich zusammen, Kraft und Stärke flossen durch die unnachgiebigen Hände aus ihm heraus.

„Er wird sterben, Abram!“ Weinte seine Mutter? Doch Eljakim kämpfte nicht, ergab sich der Strafe. Wenn sein Vater dachte, er könnte ihn mit Gewalt brechen …

Die Gedanken verschwammen und seine Augen fielen zu.

 

Als Eljakim wieder wach wurde, lag er in dem schlichten weißen Anzug in der hellen Leere der Kammer. Eine schmale Pritsche, ein Waschbecken und eine Toilette, sonst nichts! Sein Kopf schmerzte und seine Seele fror.

Der Raum war völlig isoliert, keine Möglichkeit für ihn, die lebenswichtigen Emotionen zu empfangen. – Dachten sie!

Diese Kammer diente der Bestrafung ungehorsamer Mitglieder der Anima. Und normalerweise war sie für jede Art von Emotion undurchlässig.

Doch er hatte Immanuel, seinen Zwilling, und diese Verbindung konnten sie nicht unterbinden, egal, wie dick und isoliert ihre Wände waren. In seinem Herzen spürte er Immanuel. Ohne sich zu bewegen, tastete er mit seine Seele diesem warmen Strang in seinem Inneren nach – und stieß, zu seiner Verwunderung, auf eine zweite Verbindung. Ein weiteres Wesen, das er spüren konnte. Casey? Der Junge von gestern Abend?

Dieser war ein Mensch, keiner von ihnen, keiner aus der Gemeinschaft des erwählten Volkes, nicht einmal aus dem Stamm der Abtrünnigen. Nein, Casey war ein Mensch und doch spürte er heiß und lebendig die Verbindung zu dem Älteren. Hatte Abram diese Stränge vorhin wahrgenommen?

Immer noch spürte er den kalten Schatten des Mannes, der seine Gefühle erforscht hatte.

Abram war sein Vater, doch er behandelte ihn härter als jeden anderen. Seine Strafen wurden strenger gewählt und von ihm erwartete er mehr Gehorsam, als von jedem anderen.

Vielleicht wäre das nicht so, wenn Immanuel auch hier wäre, doch dieser wuchs bei ihren Großeltern in einer anderen Familie der Gemeinschaft auf. Zur Sicherheit war die Gemeinschaft über das Land verteilt worden. Hier jedoch war der Kern, das Zentrum mit Abram als Hüter. Noch nie hatte Eljakim verstanden, warum er von seinem Zwilling getrennt worden waren. Obwohl er immer Immanuels Seele spüren konnte, fehlte ihm dessen körperliche Nähe, die Berührungen des einzigen Wesens, das so war wie er.

 

Warum aber spürte er nun Casey ebenso wie Immanuel? – Und warum konnte er sich nicht auf einen Gedanken konzentrieren?

Was war zwischen ihm und Casey gestern passiert?

Eljakim legte die Hand auf sein Herz. Wie so oft war er abends alleine unterwegs gewesen. Sie durften sich nach Anbruch der Dunkelheit nicht der Stadt nähern, aber durch die Wälder, die die Menschen mieden, zu laufen war erlaubt.

Wie immer zog es ihn in Richtung der Lichter der Stadt. Oben von der Brücke konnte er hinübersehen, ohne gegen das Verbot zu verstoßen.

 Gestern Abend hatte er schon vor dem Betreten der Brücke gespürt, dass er nicht allein hier oben war. Das Unglück des Menschen hatte er wie eine dunkle Wolke wahrgenommen. Hier draußen waren Menschen selten und sie trugen ihre Emotionen wie Banner vor sich her. Die Gefühle des Jungen waren rabenschwarz. Noch nie war Eljakim einem derartig verzweifelten Menschen begegnet. Der Junge war hier, um seinem Leben ein Ende zu setzen. In seinem Inneren war kein einziger Gedanke, kein Gefühl für einen anderen Menschen, das ihn am Leben halten konnte.

Mit unumstößlichen Sicherheit hatte Eljakim gewusst, dass er den Anderen nicht springen lassen würde. Langsam war er ihm entgegen gegangen. Auf der Mitte der Brücke, unter einem der hellen Strahler, waren sie sich begegnet. Eljakim schätzte ihn auf 17 Jahre, also drei Jahre älter als er selbst. Seine Haare hatten die Farbe eines Weizenfeldes in der Sonne, seine Augen waren unter dem langen Pony versteckt. Die dunkle Aura umlagerte ihn, ließ ihn fast verschwimmen. Erst, als sie sich fast berührten, sahen die Augen, die vorher auf den grauen Beton gerichtet waren, ihn an. Sie waren braun, warm und voller Qualen. Braune Augen waren bei den Menschen selten und in so dunkle hatte Eljakim noch nie geschaut.

Einen Moment lang blickten sie sich nur an, dann hob er die Hand und legte sie dem Jungen auf die Brust. Eine verbotene Geste, die er nie in Nähe eines Menschen vollziehen durfte. Denn bei der ersten Berührung seiner Hand über dem Herzen spürte der Mensch ihn, so wie er die Gefühle des Menschen intensiv spürte. Angst flutete ihn, Selbsthass, Zweifel, Einsamkeit … jedes Gefühl dunkel und schmerzvoll.

Automatisch trat Eljakim einen Schritt näher. Helle kleine Sprenkel zogen sich durch die dunklen Iriden. Hohe Wangenknochen betonten die dunkeln Ringe unter den Augen. Das Gesicht war schmal, der Mund zusammengepresst. Die Verzweiflung hatte schon jede Träne geweint und nur bodenlose Leere hinterlassen.

„Warum?“, fragte Eljakim.

„Ich darf nicht sein, was ich bin. Sie hassen mich!“ Die Stimme war ungewöhnlich tief für einen Jungen. Angenehm streichelte sie sein Ohr.

„Wie heißt du?“

„Casey.“

„Casey“, wiederholte er und der Name klang in ihm weiter. Sanft legte er seinen freien Arm um Caseys Taille und zog ihn heran. „Es gibt immer einen Weg. Ich kann dir den Schmerz nehmen, dann kannst du ihn sehen.“

Casey erwiderte seinen Blick ohne Angst. „Du bist einer von IHNEN“, stellte er ruhig fest.

„Ja, wenn du willst, dann lasse ich dich los.“ Das Casey keine Angst vor ihm hatte, konnte er fühlen.

„Sie sagen, ihr tötet uns.“

„Ich werde dir nichts tun.“

„Ja, ich weiß.“

Und Eljakim spürte, dass es stimmt, Casey wusste es einfach.

„Wohin soll es mich bringen?“

„Das wirst du sehen, das kann ich dir nicht sagen. Probier es aus!“

Das schöne Gesicht kam näher, der Blick suchte seinen. „Tu es.“

Sanft begann er sie aufzunehmen, all die Angst, die Zweifel und die Verzweiflung. Caseys Gefühle flossen in ihn und wurden in Energie gewandelt, die durch seinen Körper strömte. Er wusste, dass seine Augen anfingen zu leuchten, das einzige sichtbare Zeichen.

Casey stand so nah, dass er seinen Atem im Gesicht spüren konnte. Und dann waren die fremden Lippen auf seinen. Ein unbekanntes, prickendes Gefühl erfüllte ihn. Eljakim schloss die Augen und genoss die neuen Empfindungen, die ihn durchströmten, jeden seiner Speicher mit Energie versorgten.

Die Emotionen, die er jetzt von Casey empfing, waren nicht mehr dunkel, sie waren rot und warm. Nur widerwillig löste er sich, wissend, dass eine zu lange Verbindung durchaus schaden konnte.

„Wie heißt du?“, flüsterte Casey gegen seine Lippen, nicht bereit zurückzuweichen.

„Eljakim“, antwortete er heiser.

„Dann heißt meine Hoffnung ab jetzt Eljakim“, erklärte Casey, kurz bevor sie die Sirenen hörten, die das Schließen der Stadttore ankündigten. Schnell löste sich Casey von ihm. „Ich muss zurück.“

Eljakim lächelte leicht. „Ja, bevor die Tore sich schließen.“

„Sehe ich dich wieder?“

Eljakim schwieg. Nein, sie würden sich nicht wiedersehen. Abram würde wissen, was er getan hatte und damit war klar, dass er die Stätte der Gemeinschaft für eine lange Zeit nicht allein verlassen durfte. Dieser Ort hier war in Zukunft für ihn verboten. Keine Chance, dass sie sich jemals wieder begegneten. Er konnte nur hoffen, dass das Licht, das er Casey gegeben hatte, reichen würde, um seinen Kummer zu überstehen.

 

Für einen Moment spürte Eljakim wieder dieses wundervolle, warme Gefühl, das der Kuss in ihm ausgelöst hatte. War dies der Grund, warum er den anderen jetzt auch durch die isolierenden Mauern der Kammer spüren konnte? Konnte Casey ihn auch spüren? Was war an dem Jungen anders, als an dem Rest der Menschheit?

Die Menschen in den Mauern der Stadt hasste die Anima. Abram sagte, dass sie Angst vor ihren Fähigkeiten hätten und sie darum mit unversöhnlichem Hass verfolgten.

Reichte das, um eine an sich friedliche Gemeinschaft gnadenlos zu jagen? Irgendetwas musste in der Vergangenheit geschehen sein, dass diese Furcht und die bittere Feindseligkeit begründeten.

 

Die Anima waren vogelfrei. Wenn man sie erwischte, durften sie verletzt, gequält oder getötet werden. Wenn man sie der Polizei auslieferte, verschwanden sie im Nichts. Man hörte nie wieder von den Verschleppten.

Kopfgeld war auf sie ausgesetzt worden. Egal, ob für einen von ihnen lebendig oder den Kopf eines Toten. Solange sie nachweisen konnten, dass es einer der Gemeinschaft war, bekamen die Mörder ihr Geld.

In seinem bisherigen Leben war Eljakim schon öfter Menschen begegnet, die nicht ahnten, wer vor ihnen stand. Auch wenn die Gemeinschaft versuchte, so autark wie möglich zu leben, gab es doch alle paar Monate die Notwendigkeit, in eins der drei großen Versorgungszentren zu fahren, um dringend benötigte Vorräte zu ergänzen. Manchmal durfte er Abram oder Urija, den Hauptzuständigen für die Versorgung, dabei begleiten.

Das Meer der Emotionen um ihn herum war aufregend gewesen. Abram hatte ihn mit Argusaugen bewacht, weil er ihm zutraute, die Gemeinschaft in Gefahr zu bringen. Dabei hatte er sich immer vorbildlich verhalten, Abstand gewahrt und seine Augen vor neugierigen Blicken verborgen.

 

Dort, irgendwo hinter den Mauern, musste sich Casey jetzt befinden. Eljakim spürte, dass es ihm gut ging und er musste lächeln. Zwei Stränge, die ihn versorgen konnten, damit ließe es sich in der Kammer aushalten. Das letzte Mal waren es drei Tage gewesen. Aufgrund seines neuerlichen Verstoßes, würde Abram ihn mindestens fünf Tage hier drin lassen. Wenn es nur nicht so langweilig wäre …

 

Grabenkriege

Fünf Jahre später

 

Von seinem Posten hoch in dem Baum konnte Eljakim die ganzen Ausmaße der Nördlichen Stadt erahnen. Leuchtend war ihr Kern, erhellt von glitzernden Lichtern, die so strahlend funkelten, dass man die Sterne von ihren Straßen aus nicht mehr sehen konnte. Zweimal hatte er zusammen mit Urija ihren Mittelpunkt besucht. Der Krach, der Lärm, die Aggression der Menschen in ihrem dichten Gedränge fühlten sich beängstigend an. Je weiter man sich von dem Zentrum entfernte, desto dunkler und bedrohlicher wurde die Umgebung.

Das Leben im Inner Circle, wie das Zentrum offiziell hieß, war teuer und nur für die reichen und wohlhabenden Menschen erschwinglich. Mit abnehmendem Wohlstand rutschte man an den Rand der Stadt. Bis zu seinen Außenbezirken, in denen der menschliche Müll und Abfall dieser Gesellschaft hauste. Längst war die Stadt über ihre Grenzen gewachsen, hatte ihren Dreck vor die Mauern gespült.

Hier fanden die Jäger ihren Nachwuchs. Skrupellose Männer und Frauen, die für die Chance, in die Mauern der Stadt zu gelangen, alles taten.

 

Wasser war ein knappes Gut. Nachdem die Abtrünnigen vor zwei Jahren die riesigen Regentanks außerhalb und die Wasseraufbereitungsanlage innerhalb der Stadtmauern zerstört hatten, war jetzt der Kampf um die Seen entbrannt.

Der Wasserverbrauch der riesigen Stadt war immens. Seit einem Jahr war absehbar, dass die Grundwasserreservoirs der Stadt sich schneller leerten, als es möglich war, die Aufbereitungsanlage, die noch aus Zeiten vor der Dunkelheit stammte, nachzubauen und die riesigen Tanks zu erneuern. Die Menschen mussten sich aus ihren sicheren Mauern hinaus in die Wildnis, zu den Seen, begeben.

Mit Panzern und Soldaten waren die Ingenieure an dem See, in dessen Nähe die Anima lebten, gekommen, hatten eine Zeltstadt errichtet und begonnen ihre Pläne zu schmieden. Es gab sieben große Seen um die Stadt herum, die den Bedarf so lange decken sollten, bis die Arbeiten abgeschlossen waren.

Von dem Wasser dieser Seen waren jedoch nicht nur die Menschen, sondern auch die Gemeinschaft und die Abtrünnigen abhängig. Wenn sie nicht verdursten wollten, mussten sie um ihr Wasser kämpfen.

Dieser Kampf hatte die Jäger auf den Plan gerufen. Die Jäger waren eine Spezialeinheit, die allein dem Security Master, dem Sicherheitschef der Stadtverwaltung, unterstellt war. Sie mussten niemandem Rechenschaft ablegen, für den Rest der Bevölkerung existierten sie nicht einmal.

Ihr einziges Ziel war es, so viele Mitglieder der Gemeinschaft und der Abtrünnigen zu töten wie möglich. In mondlosen Nächten wie dieser waren sie stets unterwegs.

Eljakim senkte seinen Blick und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf die vor ihm liegende Fläche. Schwarz fügte sich das verbrannte Feld in die Dunkelheit ein. Posten hatten gemeldet, dass Jäger-Patrouillen die Stadt verlassen hätten. Dies erforderte erhöhte Aufmerksamkeit von ihnen.

Bis vor einem halben Jahr, war es einfach gewesen, da sie die Menschen frühzeitig spüren konnten, doch seitdem trugen diese spezielle Tarnanzüge, die das unmöglich machten. Überhaupt waren die Jäger mit allem erdenklichen technischen Equipment ausgerüstet.

Wieder ließ Eljakim seinen Blick aufmerksam über die Ebene schweifen. An einer kleinen Erhebung blieb er hängen. Es war von seiner Position nicht viel mehr als ein winziger Hügel in all dem Schwarz. Seine Augen verharrten an dem Punkt, bis er sich bewegte.

Leider hatten die Gemeinschaft keine modernen, technischen Geräte, mit denen sie während ihres Wachdienstes kommunizieren konnten und zu seinem Bedauern verfügten sie auch nicht über die Fähigkeit sich telepathisch zu verständigen, wie es ihnen die Menschen unterstellten.

Natürlich bestand die Möglichkeit, Oreb und Arioch, die sich am Fuße des Baumes befanden, auf sich aufmerksam machen, ohne zu rufen. Dafür reichte ein intensiver emotionaler Schlag, doch er konnte ihnen nicht klar machen, wo auf dem Feld sich der Feind befand. Darum mussten sie heute mehr Glück haben als in den letzten Nächten und zumindest einem Jäger seine Kommunikationstechnik abnehmen.

Ein letztes Mal glitt sein Blick über die Ebene, registrierte er die kleinen Unebenheiten, dann kletterte er lautlos hinunter. Oreb und Arioch saßen tief im Schatten der herunterhängenden Äste. Er konnte sie nicht sehen, nur spüren.

Arioch war ruhig und entspannt. Seit ungefähr einem Jahr gingen sie zusammen auf Patrouille, während es die erste Nacht für Oreb war. Deutlich fühlte er die helleblaue Nervosität des Jüngeren. Gut erinnerte er sich an seine ersten Nächte, an die Unsicherheit und die Angst zu versagen.

Es dauerte, bis man gelernt hatte, dass am Morgen nach Hause zurückkehren zu können, hieß, nicht versagt zu haben. Zu Versagen bedeutete, auf der Patrouille zu sterben.

Mit seinen Fingern zeigte Eljakim ihnen an, dass es sich um 5 Personen auf dem Feld handelte und wo ungefähr sie sich befanden. Ohne ein Wort zu teilen, machten sie sich auf. Zwei der Jäger bewegten sich sehr weit am Rand, von den Anderen entfernt, entlang. Diese Beiden waren ihr Ziel. Vorsichtig umliefen sie die Jäger weiträumig, ehe sie sich ihnen von hinten näherten. In völligem Schwarz gekleidet, waren die Beiden auch aus der Nähe nur schwer von dem Feld zu unterscheiden.

Mit schnellen Bewegungen war er bei einem der Beiden, riss ihm die Kapuze vom Kopf und legte seine Hände an die Schläfen des Mannes. Sofort und ohne zu zögern, setzte er ihn mit einem emotionalen Schlag außer Gefecht, griff unter seine Achseln und zog ihn von dem Feld in den kleinen Graben.

Jetzt musste es schnell gehen. Ein Griff drehte den Mann auf den Rücken. Sein Gesicht war mit Tarnfarbe beschmiert. In seinem Ohr steckte ein kleines Gerät, das Eljakim vorsichtig entfernte, dann tastete er den Körper nach der restlichen Ausrüstung ab. Noch während er dabei war, öffneten sich die Augen und Eljakim schnappte nach Luft. Er wusste, dies war nicht Casey, aber es waren die gleichen sanften Augen, die ihn verwirrt anstarrten. Der Jäger war jung, eher ein Knabe, denn ein Mann. Für einen seltsam stillstehenden Moment spürte er deutlich den Strang, der immer noch um sein Herz lag.

Die Verwirrtheit wich Angst. Er wusste, die Ausbilder erzählten den Jägern, die Wächter der Gemeinschaft seien brutale Mörder, die ihren Feinden innerhalb kürzester Zeit die Seele aus dem Leib saugten und sie damit zwar nicht körperlich, aber doch geistig töteten. Danach wären die Menschen nur noch sabbernde, hirnlose Krüppel. Nicht, dass es nicht möglich wäre, genau das zu tun, widersprach es vollkommen dem Lebenskodex ihrer Gemeinschaft. Beruhigend legte er seine Hand auf das hektisch schlagende Herz. Normalerweise würde er dem Anderen noch einen leichten Schlag versetzen, doch dieser Mann hatte Caseys Augen und er konnte es nicht. Vorsichtig nahm er etwas von der Angst und der Panik des anderen.

„Kennst du Casey?“, er musste diese Frage stellen.

Der Junge nickte, sah ihn immer noch aus weitaufgerissenen Augen an.

„Geht es ihm gut?“ Auch wenn es das war, was er spürte, wollte er es hören.

Wieder ein Nicken, das er mit einem Lächeln quittierte.

„Ich tue dir nichts. Du wirst einfach ein bisschen schlafen.“ Seine Hand legte sich an die Schläfen.

„Nein, warte“, flüsterte der Junge. „Woher kennst du meinen Bruder?“

„Vergiss es. Schlaf.“ Sanfter als gewöhnlich legte er sich auf die Gefühle des Jungen, bevor er ihm den Schups versetzte, der ihn schlafen ließ.

Alle Anima konnten die Gefühle der Menschen spüren und aufnehmen, doch Eljakim wusste, dass er ihre Gefühle detaillierter spüren und selektiver filtern konnte als die Anderen. Auch innerhalb der Gemeinschaft war seine ausgeprägte Sensibilität fast einmalig. Nicht, dass er es je irgendjemanden erzählt hatte. Er spürte die Emotionen nicht nur, er las sie, sah viel mehr als seine Freunde. Wie damals bei Casey: er wusste sofort, dass der andere ihn niemals verraten würde. Und er hatte gewusst, dass es reichte, wenn er Casey auf dieser Brücke von seinen Ängsten und dieser Melancholie befreite. Andere hätten am nächsten Tag wieder an der gleichen Stelle gestanden, doch Casey nicht. Ihm hatte es geholfen, einmal unbelastet seiner Emotionen seine Situation zu erkennen.

Wenn ein Anima einen anderen berührte, dann spürte er die Gefühlslage und konnte die Emotionen aufnehmen und in Energie umwandeln.

Eljakim konnte diese Empfindungen genau spüren, Angst – rot. Panik – orangrot, Trauer – alle Abstufungen von Blau bis Schwarz, Erregung – rot bis hellrot. Und – soweit er wusste – waren er und Immanuel die Einzigen, die diese Empfindungen gezielt entziehen konnten.

Als er Caseys Bruder berührte, spürte er dessen Liebe und eine leichte Sorge für Casey, die er dem Umstand zurechnete, dass einer der Verfluchten ihn kannte.

Seine Seele berührte bei diesem Vorgang die Seele des anderen für einen winzigen Moment. Bei Casey war es damals wie eine innige Umarmung ihrer Seelen gewesen, bei seinem Bruder hatte es die gleiche Intensität wie seine Hand, die kurz die fremde Haut berührte.

 

„Scheiße, Eljakim, komm endlich!“ Ariochs Rufen riss ihn aus seinen Gedanken. „Sie kommen, los!“

Schnell raffte er die erbeutete Technik zusammen, verstaute sie in dem kleinen Beutel, der an seiner Hüfte hing, und rollte sich aus dem Graben. Ein letzter Blick auf den Mann, dann verschwand er im Gebüsch, hörte die Geräusche der Jäger. Sie waren verdammt schnell.

Das Gestrüpp war dicht und zerrte wie mit mageren, spitzen Fingern an ihm, schlug ihm ins Gesicht und zerkratzte es. Hinter sich hörte er an dem Brechen der Zweige, dass man ihm folgte. Wo waren Arioch und Oreb? Doch der Gedanke zersplitterte, als er das leise Surren eines Geschoßes neben seinem Ohr hörte. Er warf sich nach vorne, rollte sich über den Boden, erreichte den verborgenen Einstieg in das Tunnelsystem und glitt hinab, während sich der Einlass über ihm schloss und sich gut getarnt vor den Jägern verbarg.

Keuchend blieb er stehen, lauschte auf die Schritte, die knarzend darüber hinweg schlichen. Das war knapp und sie hätten Glück, wenn die Jäger ihren Einstieg im Tageslicht nicht fänden. Wahrscheinlich würde Seeb den Eingang sicherheitshalber sofort sprengen lassen. Geduckt hetzte er durch den Tunnel, stieß auf eine Gabelung und versuchte Oreb oder Arioch zu erspüren. Sie waren entweder noch oben oder schon weiter als er. Über die Möglichkeit, dass die Jäger sie erwischt hatten, wollte er nicht nachdenken. Vor drei Wochen war Adam in ihre Hände gefallen und noch immer verfolgten ihn die Bilder des gefolterten und hingerichteten Mannes bis in den Schlaf. Sie hatten seinen geschundenen Körper am nächsten Morgen gefunden. Kopfüber an einem Baum hängend wie ein Stück Schlachtvieh.

Den Rest des unterirdischen Weges bis zu der kleinen Zentrale legte er langsamer zurück. Die wenigen verteilten, schwachen orangenen Lampen flackerten ab und an bedenklich.

Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Mann dort oben. Caseys Bruder war ein Jäger. War Casey auch einer? Diese Vorstellung missfiel ihm. Er musste doch wissen, dass er, einer aus dem ‚verfluchten Volk‘, ihn gerettet hatte. Konnte sich nach all der Zeit, in seiner Erinnerung, die Begegnung anders abgespielt haben und er fühlte sich von ihm damals angegriffen?

„Dann heißt meine Hoffnung ab jetzt Eljakim.“ Dieser Satz hatte ihn, genauso wie das Gefühl von Caseys Lippen auf seinen, nie verlassen. In ihm gab es eine kleine Hoffnung, den anderen eines Tages wiederzusehen.

 

Die Zentrale war ein kleiner, drei mal drei Meter großer Raum, der ebenfalls von unruhig zuckendem, orangenem Licht erhellt wurde. Manoah saß an dem kleinen Pult, beobachtete die Eingänge und die Bilder, die die wenigen Kameras, über die sie verfügten, von dem Gelände lieferten.

 „Sind Arioch und Oreb schon da?“, fragte Eljakim, als er den Raum betrat.

„Du hast uns einen Tunnel gekostet“, sagte Manoah, ohne seine Augen zu heben. Zorn, schwarz-rot. Eljakim spürte diesen Zorn intensiv.

„Verzeih, nächstens werde ich mich töten lassen“, entgegnete er ebenso wütend. Manoah konnte nicht wissen, dass er Zeit bei dem Jäger vertrödelt hatte. Die Rüge war überflüssig. „Hier, eine vollständige Ausrüstung.“ Er legte alles, was er Caseys Bruder abgenommen hatte auf den Tisch und drehte sich um.

„Du hast eine erbeutet?“ Ungläubig starrte der Truppenleiter auf die Technik.

„Nein, sie ist vom Himmel gefallen. – Was denkst du, was ich da draußen mache?“

„Was ist hier los?“ Seeb betrat den Raum und sah von einem zum anderen, dann fiel sein Blick auf die Ausrüstung, die auf dem Tisch lag. „Du hast eine bekommen, Eljakim? Und sie ist nicht beschädigt?“

„Das weiß ich nicht, ich hatte es etwas eilig.“ Mit den Schultern zuckend sah er den Älteren direkt an. Seebs herbe Gesichtszüge wurden von einer grauen Mähne eingerahmt, die seine funkelnden hellen grauen Augen betonten. Dieser Mann war, seit Eljakim denken konnte, zuständig für die Verteidigung der Gemeinschaft. Durch und durch Stratege, war der Mann einer der engsten Vertrauten Abrams und ein Meister der Selbstbeherrschung. Seebs Gefühle spürten selbst die Mitglieder der Gemeinschaft nur selten. Auch jetzt schien ihn eine kalte, blaue Aura zu umgeben.

„Sehr gut. Manoah, bring sie gleich zu Rahab, sie soll sehen, ob sie etwas damit anfangen kann.“

Eljakim konnte sehen und deutlich spüren, dass Manoah der Befehl nicht gefiel. Seiner Meinung nach, hätte Eljakim selber die Ausrüstung zu der jungen Technikerin bringen können. Das lag vor allem daran, dass er, wie viele der Gemeinschaft, sich nicht gerne in Rahabs Nähe befand. Rahab war in ihren Augen nur bedingt ein Teil der Gemeinschaft, da ihre Mutter ein Mensch war.

Verbindungen dieser Art waren äußerst selten, da es schwierig für ein Mitglied der Gemeinschaft war, seine Natur zu unterdrücken. Der Emotionsfluss gehörte für jeden von ihnen dazu, war aber für Menschen, die die damit verbundenen Energien nicht verwerten konnten, schwer zu ertragen. Auf Dauer hielt es normalerweise kein Mensch aus. Daher gab es das Gerücht, dass Rahabs Mutter eine Art Mutation gewesen war. Über sieben Jahre hatte sie mit Rahabs Vater zusammengelebt. Normalerweise verloren Menschen, die innerhalb der Gemeinschaft lebten, in kürzester Zeit ihren Verstand. Ihre Mutter, Sandra, wenn Eljakim sich richtig erinnerte, war jedoch nicht wahnsinnig, sondern ein Opfer der Abtrünnigen geworden.

Zusammen mit Thidhal hatte sie am Rande der Gemeinschaft gelebt und ihre beiden Kinder Rahab und deren Schwester Zoar großgezogen.

Beide Mädchen lebten nach dem Tod der Mutter eine Zeit lang bei den Menschen und waren erst mit Beginn der immer stärker werdenden Auseindersetzungen zurück zur Gemeinschaft gekommen. Rahab, die die zuvor bei den Menschen gelernt hatte, war aufgrund ihres Wissens schnell akzeptiert worden, während Zoar, die sich nur wenig in der Gemeinschaft aufhielt, von vielen misstrauisch betrachtet wurde.

Ganz vertrauten viele, wie auch Manoah, Rahab ebenfalls nicht. Für sie würden Rahab und ihre Schwester nie ganz zu Gemeinschaft gehören.

 

„Eljakim.“ Seebs Stimme holte ihn aus seinen Gedanken. „Ich muss heute Abend in die Stadt und möchte, dass du mich begleitest.“

„Ich?“ Schon lange war er nicht mit in der Stadt gewesen. Abram wollte es nicht und keiner widersetzte sich seinen Wünschen.

„Ja. – Und ja, ich weiß, dass Abram das nicht wünscht. Ihm widerstreben schon deine Einsätze. Doch du hast dich gut im Griff, bist unauffällig zwischen all den Menschen und ihre Emotionen bringen dich nicht um den Verstand. – Es ist wichtig. Um Mitternacht habe ich eine – Verabredung im Inner Circle. Außer dir wird keiner mitkommen.“

„Du meinst, keiner darf von diesem Treffen wissen?“

„Ja. Du darfst es keinem sagen, auch nicht Abram. Er würde es nicht gutheißen.“ Jetzt wirkte der sonst so beherrschte Seeb unruhig.

„Warum gehst du dieses Risiko ein?“

„Weil ich uns Zeit verschaffen will. Wenn wir den nördlichen Kreis verlassen wollen, brauchen wir diese und die vorrückenden Jäger lassen sie uns nicht. Wenn ich heute Nacht Erfolg habe, dann können wir vielleicht in aller Ruhe unsere Umsiedlung abschließen.“

„Aber Abram darf nichts von deinem Plan erfahren?“ Wohl fühlte sich Eljakim dabei nicht. Abram war der Hüter der Gemeinschaft, die höchste Instanz und diese Aktion an ihm vorbei, bereitete ihm ein ungutes Gefühl.

„Ich werde dafür die Verantwortung übernehmen, Eljakim. Wenn ich Erfolg habe, kann Abram nichts gegen diesen Ausflug haben. – Vertrau mir!“ Seeb trat an ihn heran und berührte ihn. Eljakim konnte Seebs Sorge um die Gemeinschaft spüren, seine Hoffnung auf eine Lösung.

„Gut, ich gehe mit dir.“

„Danke, Eljakim.“ Seeb schenkte ihm eins seiner seltenen Lächeln, das das Gesicht des Älteren völlig veränderte. Eljakim glaubte einen Augenblick, den jungen Mann zu sehen, der Seeb früher war, gut aussehend, mit seinen blitzenden Augen und diesem Lächeln. „Wir treffen uns heute Abend an den Garagen.“

 

„Eljakim!“ Arioch betrat vor Oreb den Raum. „Mann, ich dachte echt, dieses Mal erwischen sie dich, du verdammter Idiot.“ Erst jetzt fiel sein Blick auf Seeb und schnell nahm er sich zusammen.

„Keine Angst, wasch ihm ruhig den Kopf, ich bin schon weg“, sagte der ältere Mann und ging mit einem Grinsen aus der Zentrale.

Kaum hatte er den Raum verlassen kam Arioch zu ihm und schlug ihn hart gegen den Oberarm. „Was war den los mit dir? Wie lange hockst du mit diesem – Jäger – im Graben? Ich habe mir echt Sorgen gemacht!“ Erleichterung, hellblau.

Eljakim musste lächeln, dann fing er Orebs Blick über Ariochs Schulter ein. Der junge Anima sah blass aus.

„Lass uns woanders darüber reden. Manoah muss gleich wieder hier sein. – Immerhin habe ich die verfluchte Ausrüstung des Jägers bekommen. Dafür lohnt sich das Risiko.“ In Orebs Augen konnte er sehen, dass dieser eine andere Meinung dazu hatte.

Gemeinsam gingen sie durch das Tunnelsystem, bis sie am dem Ausgang aus dem unterirdischen Reich ankamen und hinaus in die Welt der Gemeinschaft traten. Halb in Höhlen gebaut, halb unter der Erde lagen die Wohnanlagen der Anima, versteckt zwischen den hohen Bäumen des uralten Waldes mit ihrem undurchdringlichen Blätterdach. In dem ganzen Bereich herrschte Betriebsamkeit. Überall wurden intensiv Vorbereitungen für die Umsiedlung getroffen.

Zusammen gingen sie zu den Unterkünften der Wächter. „Ich brauche eine Dusche und etwas zu essen.“ Mit einem Schulterklopfen bei Arioch und einem Nicken zu Oreb verließ Eljakim die beiden Männer.

„Aber nachher erzählst du, wie du diesen Jäger überwältigt hast“, rief Arioch ihm hinterher. Ohne dies weiter zu kommentieren, betrat Eljakim seine Unterkunft.

Kaum war er aus seiner Jacke geschlüpft und hatte den Wasserkocher angestellt, klopfte es an seiner Tür. Mit einem Lächeln öffnete er und ließ Oreb hereinschlüpfen. Bevor er etwas sagen konnte, hatte der andere ihn an die Wand gepresst und verschloss seinen Mund mit seinen Lippen. Ein harter Kuss ließ ihn für einen Moment alles vergessen, er legte seine Arme um den Anderen und zog ihn dicht heran.

„Du bist verrückt, Eljakim“, flüsterte der Jüngere an seine Lippen. „Ich bin fast gestorben vor Angst. Sie waren in Schussnähe und hätten dich fast erwischt!“

„Haben sie aber nicht“, entgegnete Eljakim und küsste ihn wieder. Der Körper an seinem machte ihn gerade verrückt und er wollte nur eins, den anderen ganz spüren. „Komm.“ Er zog ihn mit sich in das kleine Schlafzimmer und begann ihn auszuziehen.

„Du willst jetzt Sex? Wenn Arioch herkommt?“ Doch Oreb ließ sich bereitwillig ausziehen.

„Dann wird er draußen bleiben müssen. Ich brauche dich!“ Er zog Oreb das T-Shirt aus und sackte vor ihm auf die Knie, sah an dem schlanken Körper nach oben, in die dunkelgrauen Augen, auf den leicht geöffneten Mund. Unter dem brennenden Blick knöpfte er die schwarze Hose auf, schob sie zusammen mit den engen Pants herunter und ließ Oreb heraussteigen. Sachte setzte er kleine Küsse auf die Oberschenkel, die Leiste, die angespannten Bauchmuskeln. Hände fuhren in seine Haare, hielten sich fest. Er liebte es, Orebs Hingabe in dessen Gesicht sehen zu können. Ganz langsam leckte er über die ganze Länge des erigierten Glieds vor ihm, bevor er seine Lippen um die Eichel legte. Die Augen verengten sich zu Schlitzen, Oreb stöhnte unterdrückt. Die Wände waren zu dünn, als dass sie sich gestatten konnten, sich ihrer Lust geräuschvoll hinzugeben.

Eljakim öffnete sich Orebs Emotionen, ließ sie in sich fließen und gab dem Anderen seine zurück. Orange strömten sie zwischen ihnen hin und her. Jede Berührung wurde so immer intensiver und als er Oreb ganz aufnahm, brachten ihn allein dessen Gefühle fast über den Rand. Orebs Beine fingen an zu zitterten. Er entließ ihn aus seinem Mund, zog ihn hinunter auf seinen Schoß, küsste ihn beruhigend.

„Schlaf mit mir“, flüsterte Oreb in sein Ohr, küsste und knabberte an seinem Hals. Das Verlangen des Anderen flutete Eljakim und er stöhnte leise. Mit jeder Zelle seines Körpers spürte er, dass Oreb nichts anderes wollte und nichts anderes wollte er! Seine Hand streichelte über Orebs Rücken hinunter, bis er die Spalte erreichte. Mit der anderen Hand nahm er die Cremedose, die auf seinem Nachttisch stand. Zärtlich bereitete er Oreb vor, ehe er ihn leicht anhob und auf seine Erektion senkte. Von dem Moment an überließ er Oreb das Tempo. Auf keinen Fall wollte er ihm wehtun. Zurücklehnend stütze er sich auf die Hände und betrachtete Orebs Gesicht. In seiner Lust war der andere unglaublich schön, die hellen Haare fielen ihm ins Gesicht, seine Wangen waren erhitzt und er biss sich auf die Unterlippe. Der Kopf hob sich und ihre Blicke begegneten sich. In Orebs Augen stand so viel Gefühl, dass es Eljakim den Atem nahm. Für einen winzigen Moment durchzuckte ihn das schlechte Gewissen. Er mochte den Jüngeren, aber er liebte ihn nicht und es war Liebe, die er sah – leuchtend rot spürte. Dann bewegte Oreb sich und alle Gedanken wurden fortgespült, nur reine Lust blieb und trieb sie weiter. Orebs Arme legten sich auf seine Schultern und er bewegte sich, ritt ihn. Mühsam unterdrückte er jeden Laut, der sich aus seiner Kehle drängen wollte.

Kurz bevor sie gemeinsam in die Unendlichkeit geschleudert wurden, küsste Oreb ihn, fing jeden Laut zwischen ihren Lippen ein, die entweichen wollte, als sie beide ihren Höhepunkt erreichten und die Bodenhaftung verloren. Stirn an Stirn kamen sie langsam zurück, hörten ihr hektisches Keuchen, spürten die abklingenden Wellen.

„Du bist verrückt, Eljakim“, flüsterte Oreb. „Wenn uns jemand hier erwischt …“

„Ich musste spüren, dass wir beide noch leben.“ Zärtlich küsste er den Anderen. „Und früher war dies keine Sünde. In der ersten Zeit der Gemeinschaft lebten viele gleichgeschlechtliche Paare zusammen. Dies ist erst ein Problem, seit ein paar besonders Verkniffene meinen, unsere Probleme sein eine göttliche Strafe.“

„Woher weißt du das?“

„Abram besitzt die alten Rollen und früher habe ich gern mal ein bisschen darin gestöbert. Abram selber weiß genau, dass es keine Sünde, kein Makel ist. Er fügt sich nur jenen, die mit ihrem Eifer die Gemeinschaft tragen.“ Zärtlich küsste er Oreb auf die Schläfe.

„Das ändert aber nichts daran, dass sie uns bestrafen, wenn sie dahinter kommen“, warf der Jüngere ein.

„Hm, ja. Vielleicht sollten wir es dann nicht mehr tun.“ Eljakim wusste, dass er gerade nicht fair zu Oreb war. Die entsprechenden sehr hellen blaugrauen Gefühle der Trauer und Enttäuschung fluteten ihn und er zog ihn an sich heran.

 „Vergiss es. Natürlich will ich dich sehen! Ich brauche das Gefühl zu leben, das du mir gibst.“, flüsterte Eljakim leise in sein Ohr.

Oreb ließ sich in die Umarmung fallen, hielt sich an ihm fest. „Ich will dich auch spüren!“

„Dann müssen wir nur ein bisschen aufpassen!“ Sanft streichelte er noch einmal über die zarte Haut. „Darum sollten wir uns jetzt wieder anziehen. Arioch wird bestimmt bald hier auftauchen, dann wäre es besser, wenn wir nicht gerade eine Aura von Sex verströmten.“

Oreb richtete sich auf und sah ihn ernst an. Fast befürchtete er, dass der Jüngere ihm seine Gefühle gestehen würde, dann hätte er etwas erwidern müssen. Solange sie ihre Gefühle nur beim Sex austauschten, war es unverbindlich und er musste Oreb nicht zurückweisen. Ohne ein Wort stand Oreb jedoch auf, nahm seine Sachen und ging ins kleine Badezimmer. Noch litten sie nicht unter dem Wassermangel, noch waren die Seen voll und nicht von den Menschen geleert. Leise plätscherte die Dusche. Wenn Seebs Plan aufging, wären sie fort, bevor der Mangel sie erreichte. – Wenn nicht wären sie vielleicht tot, bevor sie der Wassermangel quälen konnte. Die Jäger würden nicht lange zögern, wenn sie ihre Gemeinschaft fänden.

Sollte er Oreb von dem Treffen erzählen? Oder Arioch? Sie waren Freunde … doch Seeb hatte Stillschweigen verlangt und er sollte es besser halten.

Oreb kam aus dem Bad, seine hellen Haare ringelten sich feucht und er sah furchtbar jung und unschuldig aus. Auf dem Weg an ihm vorbei stahl Eljakim sich noch einen Kuss von den süßen Lippen. Auch wenn er ihn vielleicht nicht liebte, nahm Oreb doch einen besonderen Platz in seinem Herzen ein. Mit diesem Gedanken trat er unter das lauwarme Wasser der Dusche.

Die Nördliche Stadt

In der dunkeln Zeit war die Welt gestorben und wieder auferstanden. Als sie den Staub von ihrem Gesicht gewaschen hatte, gab es nicht mehr nur Menschen auf ihrem Angesicht, sondern auch die Gemeinschaft des erwählten Volkes, der Anima.

Das erwählte Volk sah aus und lebte wie die Menschen, brauchte jedoch zum Überleben zusätzlich einen stetigen Austausch ihrer Emotionen. Der Zufluss wurde in pure Energie verwandelt. Eigene Gefühle wurden abgegeben und von anderen Anima wiederum genutzt.

Isolation bedeutete für die Mitglieder der Gemeinschaft eine seelische Qual, über einen längeren Zeitraum brachte sie unweigerlich den Tod, weil der Hunger nach Gefühlen und der daraus benötigten Energie nicht gestillt wurde.

Allerdings konnten die Anima auch die Gefühle der Menschen nutzen. Dabei funktionierte jedoch der Austausch nicht, weil die Menschen mit dem Rücklauf der Gefühle, die sie nicht verwerten konnten, überfordert waren. Die Emotionen beeinflussten ihr eigenes Gefühlsleben, verschoben und überlasteten es.

Sie spürten nur ein wirres Gefühlschaos, dass sie auf Dauer in den Wahnsinn trieb.

 

Bald rankten sich Gerüchte um die Anima und der Verdacht kam auf, sie würden den Menschen ihre Seelen stehlen und sich von diesen ernähren. Die Legende der Seelenfresser wurde geschaffen.

Angst machte sich unter den Menschen breit. Erst verboten sie den Amina das Betreten ihrer Städte, dann verboten sie den Handel und letztlich, in den letzen Jahrzehnten, hatten sie begonnen, sie zu jagen und zu töten.

 

Die Gemeinschaft zog sich zurück, mied den Kontakt mit den Menschen und versuchte in Frieden zu leben. Der Hass der Menschen verfolgte sie jedoch und bald gab es in den Reihen der Anima einige, die nach Rache und Krieg gegen die Menschen riefen.

Im Laufe der Jahre entstand eine Kluft zwischen den friedlichen und den kämpferischen Mitgliedern der Gemeinschaft. Letztlich führte ein Angriff der Kriegstreiber zu dem Bruch in der Gemeinschaft und neben der Gemeinschaft gab es die Abtrünnigen, die ihren Krieg gegen die Menschen – und manchmal gegen die Gemeinschaft – führten.

Immer wieder waren es die Abtrünnigen, die den Hass der Menschen schürten, welche nicht wussten, dass sich die Gemeinschaft aufgesplittet hatte. Sie verfolgten jeden Anima mit der gleichen gnadenlosen Mordgier.

 

Die Menschen hatten sich im Laufe der Jahrhunderte in sechs großen Städten angesiedelt. Außerhalb dieser Orte waren nur vereinzelt Mutige zu finden, die keine Angst vor den Gefahren hinter den Mauern der Städte hatten. Meist lebten diese abseits von allen und hielten sich aus allem heraus.

 

Die Zentren der Menschen waren die jene Städte mit ihren Mauern, ihren Soldaten, ihren Jägern und ihren Spitzeln in den Straßen.

 

Eljakim saß neben Seeb in dem Lieferwagen und starrte auf die Lichter der Stadt, die ihnen immer näher kamen. Hatte er von dem Baum einen Überblick über die Größe der Stadt gehabt, so versank er jetzt in ihren Untiefen.

Unzählige Emotionen hingen für Eljakim wie farbige Nebel in der Luft, bewegten sich träge zwischen den Menschen, die sie nicht spüren konnten. Seeb neben ihm würde nur das Übermaß an Gefühlen wahrnehmen, er aber sah den dunkelroten Zorn und die Lust in Orange, glühendrote Liebe und fast schwarze Trauer.

Hinter dem Tor, durch das sie mit Seebs Ausweispapieren problemlos gekommen waren, erwartete sie Dreck und Schmutz. Fast eine Stunde fuhren sie durch schlecht beleuchtete, stinkende Straßen, in denen keiner von ihnen freiwillig ausgestiegen wäre. Die Häuser erinnerten an Ruinen, die wenigen Menschen, denen sie begegneten, sahen aus, als wären sie schon vor langer Zeit gestorben, es hatte ihnen aber wohl noch keiner gesagt!

Die Atmosphäre auf diesem ersten Stück des Weges in die Stadt war bedrückend und abstoßend. Ein penetranter Geruch nach verbranntem Fleisch hing in der Luft. Die Emotionen waren dunkelgrau bis tiefschwarz, allesamt negativ.

Dann wurde es langsam besser, die Beschädigungen an den Häusern ließen nach, es gab Vorgärten und Blumen. Die Lampen in den meisten dieser kleinen Häuser waren schon gelöscht.

Nach ungefähr einer weiteren halben Stunde wurden die Lichter greller. Es gab Leuchtreklamen und mehr Menschen waren noch wach und ließen sich durch die Straßen treiben oder folgten ihren eigenen Wegen. Junge Frauen boten sich am Straßenrand an, Bars und Clubs lockten mit schnellem Sex.

Bis sie die Grenze zum Inner Circle erreichten, dauerte es weitere 45 Minuten. Eljakim wusste, dass die Durchquerung ungefähr eine Stunde dauern würde. Genau im Zentrum befand sich, wie in jeder anderen Menschenstadt auch, der wahre Mittelpunkt: ein schwarzer, glänzender Obelisk, der hoch in den Himmel ragte und von mehreren, starken Strahlern beleuchtet wurde. Das geheime Treffen sollte an seinem Fuß stattfinden.

 

Den ganzen Weg über hatte Eljakim sich unwohl und nervös gefühlt. Irgendetwas ließ ihn nicht still sitzen, es war wie ein Jucken unter der Kopfhaut. Doch Seeb wollte ihm nicht zuhören, als er versucht, mit ihm darüber zu reden. Jedes Argument wischte er mit einer Handbewegung fort. Jetzt hatten sie den Treffpunkt fast erreicht und alles in Eljakim schrie ihm zu, sofort zu wieder zu verschwinden. Es war nicht gut, dass sie hier waren. Mitten unter den Menschen, die sie hassten.

Auch wenn diese nicht wussten, dass Anima unter ihnen waren, hatte Eljakim das Gefühl, ihre Abneigung, ihren Hass die ganze Zeit spüren zu können. Zwischen allen Emotionen waberten die dunklen Wolken dieser Emotion.

 

Das Einzige, was ihn ablenkte, war das immer stärker werdende Gefühl des vertrauten Stranges, der ihn mit Casey verband. Casey musste in dieser Stadt sein. Alles in Eljakim reagierte auf diesen Umstand. Nur mühsam unterdrückte er das Bedürfnis, sich suchend in den Straßen umzusehen, durch die sie fuhren. Niemand wusste von seiner Verbindung zu dem Menschen und für Eljakim war klar, dass das so bleiben musste.

„Ich gehe zu dem Obelisk, du wartest dort drüben, bei der blauen Parkbank.“

Die Worte schreckten ihn aus der Vorstellung, wie es sein würde, Casey wiederzusehen. Immer wieder schlich sich dieser Wunsch in seine Brust. Doch er hielt ihn versteckt und war froh, dass die Anderen nicht seine Gedanken lesen konnten. Wenigstens denken konnte er noch, was er wollte. Mit einem Nicken stieg er aus dem Wagen und ging zu der hellblauen Parkbank, die neben einem Brunnen stand, in den das Wasser von kleinen, mit wechselnden Farben beleuchteten Stufen in Kaskaden herab plätscherte. Vorsichtig suchte er die Gegend nach negativen Emotionen ab, konnte aber keine fühlen.

Eljakim setzte sich auf die Bank und richtete seinen Blick auf Seeb, der inzwischen neben dem Obelisk stand. Wen wollte er dort treffen? Wer konnte die Jagd auf die Gemeinschaft so lange unterbrechen, dass sie all ihre Mitglieder evakuieren konnten?

Im Gegensatz zu dem sonst überall herrschenden Trubel war es hier relativ ruhig. Eljakim sah sich um. Ein Mann stand auf der anderen Seite des Platzes, ein Pärchen ging um den Obelisk und zwei junge Männer saßen auf einer grünen Bank ein paar Schritte von ihm entfernt. Er sah sie, doch er konnte sie nicht spüren. – Das hieß, dass sie ihre Gefühle abschirmten – und das hieß, dass sie wussten, dass Anima hier waren!

Im selben Moment war ihm klar, dass dies eine Falle war. Eljakim sprang von der Bank, sah einen Schatten aus dem Augenwinkel auf sich zukommen und sprang nach vorne, rollte sich über die Schulter ab und versuchte im Aufspringen zu sehen, von wo ihm direkt Gefahr drohte. Der Schlag traf seine Schulter, brachte ihn ins Wanken. Fort von hier, der Gedanke beherrschte ihn. Ohne Rücksicht auf den Schmerz in seiner Schulter, lief er los. Dabei wandte er sich zum Obelisk, sah wie ein Jäger seine Waffe hob und Seeb aus nächster Nähe in den Kopf schoss.

Keine bewusste Entscheidung lenkte sein Handel mehr, nur der Fluchtinstinkt trieb ihn weiter, ließ ihn zwischen den Jägern hindurchrennen, Haken schlagen wie ein Hase und trotz des schmerzhaften Treffers eines Geschoßes an seiner Hüfte einfach weiterlaufen.

Ein Wagen kreuzte seinen Weg, er rollte sich über die Kühlerhaube, warf bei seiner Landung auf der anderen Seite einen Blick hinter sich und duckte sich gerade noch rechtzeitig, um einem weiteren Schuss auszuweichen. Das folgende Geschoß zerschlug die Frontscheibe. Der Fahrer des Wagens sah ihn mit großen, weitaufgerissenen Augen an, während Blut aus einer Wunde zwischen seinen Brauen quoll.

Die Emotion traf ihn unvorbereitet. Das Weiß der Erkenntnis des Sterbenden füllte ihn, als sich ihre Blicke trafen, gab ihm eine Schub Energie, den er nutzte. Über die Sinnlosigkeit und die folgende Trauer würde er sich später Gedanken manchen, wenn er überhaupt noch dazu käme.

Eljakim lief geduckt weiter, verschwand zwischen zwei geparkten Fahrzeugen. Adrenalin jagte durch seinen Körper, trieb ihn weiter. An einer Frau vorbei stolperte er den Abgang zu einer Bahnstation hinunter.

Die Untergrundbahn der Nördlichen Stadt. Bisher hatte er nur davon gehört, jetzt befand er sich in ihrem verwirrenden Labyrinth. Wo sollte er lang? Menschen starrten ihn an und er entschied sich für links herum. Auf den Stufen hörte er die Schritte der Jäger in ihren schweren Stiefeln. Eine Absperrung, mit einem Satz sprang er über die Sperre und verschwand in einem noch weiter nach unten führenden Tunnel. Seine Hüfte schmerzte und er spürte das Blut, das heiß an seinem Bein herabfloss. Wie schlimm war die Verletzung?

Ein Bahnsteig tauchte vor ihm auf. Ein schmutzig weißer Zug fuhr herein, füllte den Raum mit dem Geräusch seiner Bremsen und dem Luftzug, der kurzfristig eine leere Papiertüte aufwirbelte und durch die Luft tanzen ließ.

Sollte er in einsteigen? Doch in dem abgeschlossenen Waggon wäre er gefangen! Er lief durch die Menschen, die sich in die schon überfüllten Abteile zwängten, sprang hinunter in das Gleisbett und rannte in die Dunkelheit.

Zwischen den Gleisen und der Tunnelwand gab es nicht viel Platz und einen Moment packte Eljakim die Panik. Was würde passieren, wenn die nächste Bahn käme.

Energisch rief er sich zur Ordnung. Er musste diesen verdammten Tunnel verlassen haben oder hier sterben. Was für Möglichkeiten hatte er den sonst?

Weiter lief er durch die enge Röhre, das Licht des Bahnsteiges war hinter der Biegung verschwunden und er konnte fast nichts mehr erkennen. Folgten sie ihm? Warteten sie, dass der nächste Zug ihre Arbeit tat? Oder hatten sie die Macht, alle Züge anzuhalten, um in aller Ruhe in dem System nach ihm zu suchen?

Egal, er musste weiter, dabei spielte es keine Rolle, wer oder was ihn erwartete. Lieber, bei dem Versuch zu entkommen sterben, als von den Jägern hingerichtet werden! Ein Schauer durchlief ihn, als er an die Szene vor dem Obelisken dachte. Seeb war tot. Was immer er hier gewollt hatte, es war verraten worden.

Das leise Singen des Gleises sagte ihm, dass wieder ein Zug kam. Panik überkam ihm und er hetzte weiter.

„Willst du leben? Dann komm hier entlang.“ Eine weibliche Stimme an seiner rechten Seite, dann wurde er gepackt und zur Seite gezogen. „Schnell, beweg dich.“

Ohne zu fragen, hastet er hinter der Stimme her. Sie liefen an der Tunnelwand lang, inzwischen konnten sie sogar das Sirren des sich nähernden Waggons in der Oberleitung hören.

„Hier rein!“ Ein Ruck und sie landeten in einem Durchgang – oder war es nur ein Seitenraum? Egal, es reichte, dass der Zug, der vorbeiraste, sie nicht erfasste.

„Ganz schön lebensmüde, sich dort draußen auf den Gleisen aufzuhalten, wenn man nicht weiß, wo man sich verstecken kann.“ Die Frau schien amüsiert.

„Ich …“ Was konnte er ihr sagen?

„Du musst es mir nicht erklären. Die Jäger sind unterwegs und du rennst hier kopflos durch die Tunnel. – Hast du einen Platz, zu dem du gehen kannst?“

Es interessierte sie wirklich nicht! Eljakim konnte ihre helle Ehrlichkeit spüren. Sie würde ihm helfen, allein, weil die Jäger ihn verfolgten.

„Nein“, antwortete er aufrichtig.

„Gut, dann kannst du mit mir gehen. Ich weiß einen Ort, an dem wir die Nacht verbringen können.“ Ein kleines Licht ging an und der Boden vor der Frau wurde erhellt. „Einfach mir nach.“

Jetzt, als er hinter der Frau, deren Alter er nicht einschätzen konnte, herging, erreichte das volle Ausmaß des Schmerzes sein Gehirn. Humpelnd versuchte er Schritt zu halten. Irgendwann drehte sie sich um, leuchtete ihn mit der kleinen Taschenlampe in ihrer Hand an.

„Was ist los?“

„Ich bin verletzt.“ Es war das Letzte, was er sagte, dann wurde ihm schwarz vor Augen und er brach zusammen.

 

Grelles Licht brachte ihn dazu, die gerade geöffneten Lider wieder zu schließen. Der Schmerz klopfte dumpf in seiner Hüfte. Es war ein Mensch bei ihm im Zimmer, mehrere andere fühlte er hinter den Wänden, die ihn umgaben. Er spürte bei der Frau neben sich ein wenig Nervosität. Noch einmal schlug er die Augen auf, jetzt ging es besser. Eine grelle Neonröhre hing an einer farblosen Betondecke über ihm. Langsam und vorsichtig drehte er den Kopf.

Auf einem Stuhl neben seinem Bett saß eine junge Frau mit dunkelblonden Haaren, die ungewöhnlicherweise von rötlichen Streifen durchzogen waren. Sie trug schwarze Kleidung: langärmeliges Shirt, weite Cargohosen und dazu schwarze Sneakers. Ihre Augen waren – unterschiedlich! Eins war grünlich, eins bläulich. Sie stand auf und trat an sein Bett.

„Hallo“, sagte sie und lächelte. Doch er konnte Vorsicht und Angst spüren.

„Hallo“, antwortete er und seine Stimme kratzte. Schnell reichte die Frau ihm einen Becher und half ihm, ein paar Schlucke zu trinken. Dabei kam sie ihm ziemlich nah und er sah ihre unterschiedlichen Augen besser. Das blaue sah in wenig stumpf aus.

„Es ist blind“, erklärte sie und entfernte sich von ihm. „Ich bin Emma und du bist in der Unterwelt des Inner Circle.“ Das Letzte fügte sie mit einem schiefen Lächeln hinzu.

„Ich bin Eljakim und du brauchst keine Angst vor mir zu haben.“ Er versuchte ebenfalls ein Lächeln, doch mehr als ein Heben seiner Mundwinkel war nicht drin.

 „Du bist einer von den – Verfluchten.“ Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Ihre Nervosität konnte er graublau wahrnehmen.

 „Kommt darauf an, aus wessen Blickwinkel du das siehst.“

„Sie sagen, ihr seid gefährlich, Mörder, Seelenfresser.“ Emma hatte sich wieder über ihn gebeugt und sah ihm forschend in die Augen. Ihre Angst wurde überlagert von ihre Neugier, das Gefühl immer blauer. In ihrem Inneren konnte sie nicht glauben, dass er eine Gefahr darstellte. – Vielleicht kein Wunder, denn sie hatte ihn einem völlig hilflosen Moment erlebt.

„Seelenfresser?“ Belustigt musste er kichern. „Nein, wir …“ Auf einmal überrollte ihn eine unwiderstehliche Welle der Müdigkeit, die Augen fielen ihm zu.

„He, schlaf ruhig, Eljakim. Reden können wir später. Der Doc wusste nicht, wie die Mittel bei dir wirken.“

Die letzten Worte verwischten, während sein Geist in den Schlaf rutschte.

 

Das nächste Mal, als er erwachte, war er alleine im Zimmer. Nur entfernt konnte er Emotionen spüren. Angst und Verzweiflung. Beides bezog sich nicht auf ihn.

Das Pochen war in seiner Hüfte noch zu spüren. Mühsam setzte Eljakim sich auf. Verdammt, das Einknicken der Hüfte verstärkte den Schmerz. Mit einer Hand griff er nach dem triangelförmigen Griff, der an dem Galgen über ihm hing und hielt sich fest. Der Raum erinnerte an die Krankenzimmer der Gemeinschaft, die ebenfalls im Untergrund lagen.

„Du solltest sich nicht so anstrengen.“ Ein Mann war in das Zimmer getreten und sah ihn aus freundlichen blauen Augen an. „Ich bin Luca und für die Verletzten zuständig.“

„Der Doc“, stellte Eljakim fest.

„So in der Art.“ Mit einem Lächeln trat Luca an das Bett. „Ich würde mir die Wunde gerne einmal ansehen.“

Eljakim schloss kurz die Augen ließ die Gefühle des Mannes durch sich hindurchfließen. Ein wenig Unruhe, mehr Sorge wegen seiner Wunde und viel Freundlichkeit spürte er in hellen Farben.

„Ein wirklich komisches Gefühl“, sagte Luca und sah ihm offen ins Gesicht. „Ich kann dich spüren, wenn du meine Gefühle – liest?“

„Erfasse und ein wenig von ihnen mitnehme. – Ich brauche Emotionen.“ Genauso unverstellt begegnete er dem Blick. „Aber ich schade dir dabei nicht. – Jedenfalls nicht, wenn ich wach bin. Im Schlaf kann ich es nicht kontrollieren.“ Dies war eine der größten Hinternisse bei einer Beziehung zu einem Menschen. Man konnte seinen Emotionsfluss, wenn man es gelernt hatte, im wachen Zustand kontrollieren, doch nie im Schlaf. Der Schlaf diente der Erholung des Körpers und für ihren Organismus gehörte das Aufnehmen von Emotionen dazu.

„Spürt man es immer?“, fragte Luca, während er die Decke zurückschlug.

„Nein, nur wenn ich es will. Sonst merkst du nichts davon.“ Eljakim sah auf die schlanken Finger, die das schlichte weiße Nachthemd nach oben schoben. Sonst immer nur wenn ich dein Herz berühre, hätte er hinzufügen können, doch das spielte hier keine Rolle.

Ein weißer Verband klebe von breiten Tapes gehalten über seinem rechten Hüftknochen. Vorsichtig löste Luca die Streifen und hob die Verbände an.

„Du hast verdammtes Glück gehabt. Das Geschoss hat weder den Knochen getroffen noch lebenswichtige Blutgefäße verletzt. Wenn du dir ein wenig Ruhe gönnst, dann bist du bald wieder gesund.“ Mit sanften Berührungen reinigte Luca die Haut um die Wunde, die erstaunlich klein aussah, und legte einen neuen Verband an.

„Ich kann nicht hierbleiben. Ich muss aus der Stadt raus. Die Jäger suchen mich sicherlich und ich will …“ Bei den Worten hatte er sich aufgerichtet, doch ein Schwindel zwang ihn sich wieder in das Kissen fallen zu lassen.

„Hm, die Jäger kommen nicht so tief in die Katakomben. Hier ist feindliches Gebiet für sie. Und wie du siehst, würdest du es nicht einmal aus der Tür schaffen. Ruh dich einfach aus, Eljakim.“ Mit einer schüchtern sanften Berührung legte Luca seine Hand auf Eljakims Schulter. „Du bist hier sicher.“

Aber ihr nicht, wollte er sagen, doch die Erschöpfung zwang ihn erneut in den Schlaf.

 

„Die Geschosse für das verfluchte Volk sind mit einem speziellen Gift präpariert, dass sie für Stunden oder Tage außer Gefecht setzen soll. Sein Organismus kämpft dagegen an. Wir können nur abwarten.“ Lucas Stimme durchdrang seinen Geist, der langsam wieder wach wurde.

„Wie lange kann das dauern?“ Die Frau – Emma.

„Ich weiß es nicht, die Jäger sind nicht zimperlich bei der Dosierung. Ihnen ist es egal, wenn der Getroffene stirbt.“ Empörung schwang in der Stimme und in blassem Violet im Gefühlsbild des Mannes mit.

„Das verbindet uns mit diesem Mann, Luca. Auch unser Tod interessiert die Jäger nicht. Im Gegenteil, jeder tote Unterweltler ist eine potenzielle Bedrohung weniger.“ Verbitterung und Hass, blauschwarz.

„Ja, ich weiß …“ Resignation, grau.

 

Eljakim öffnete langsam seine Augen und ließ das grelle Licht ein. Seine Hand hob sich nach dem Griff.

„Schön langsam, Eljakim.“ Luca war neben ihm und stellte das Bett ein Stückchen höher. Emma trat an die andere Seite und hielt ihm den Strohhalm an den Mund, der in einem farblosen Becher steckte. Gierig trank er das lauwarme Wasser.

Luca beugte sich vor und sah in seine Augen, beleuchtete sie mit einer kleinen Lampe, die ihm wehtat.

„Wie fühlst du dich?“

„Wie von einem hohen Felsen gestürzt.“

„Ich habe heute mit einem – Freund gesprochen. Die Jäger versehen ihre Geschosse mit einem sehr starken Gift, das euch schnell und lange außer Gefecht setzen soll. Offensichtlich kämpft dein Körper mit dieser Substanz. Schnell hat es anscheinend nicht gerade angeschlagen, aber es wirkt lange nach.“

„Das kann an dem kurzfristigen Energieschub liegen.“ Eljakim erinnerte sich an den Mann im Auto, der vor seine Augen, an seiner Stelle getötet worden war. Das ungewöhnliche Weiß der Erkenntnis, dass ihn unerwartet getroffen hatte. „Seit wann bin ich hier?“

„Fünf Tage.“ Emma legte ihre Hand auf seine.

„Fünf Tage?“ Das konnte nicht sein! Doch er fühlte nur Aufrichtigkeit bei den Beiden.

Vor fünf Tagen hatten die Jäger eiskalt Seeb erschossen! Hatte die Gemeinschaft davon erfahren? Dachten sie, dass er ebenfalls tot sei? Doch wer sollte ihnen davon erzählt haben? Seeb hatte gesagt, dass nur sie beide von dem Treffen wussten. Was dachte Abram oder Lea? Oreb? Arioch? Verzweifelt tastete er nach den warmen Strängen in seiner Brust. Sie waren noch da! Sowohl Immanuel als auch Casey lagen pulsierend und nah an seinem Herzen. Immanuel wusste also, dass er nicht tot war. Ein Seufzer entkam ihm.

„Alles okay?“, fragte Emma.

„Nein, nicht wirklich – aber so gut wie es im Moment sein kann.“

 

Der Untergrund

„Wir sind hier unter dem Inner Circle?“ Eljakim sah Emma fragend an, die neben seinem Bett saß und in dem Essen herumstocherte, das vor wenigen Minuten eine sehr hagere, junge Frau in sein Zimmer gebracht hatte. Nachdem Emma sich versichert hatte, dass er keinen Hunger hatte, suchte sie sich die Fleischstücke heraus, die in einer Soße undefinierbarer, an Schlamm erinnernde Farbe schwammen.

„Jepp. Das ganze Areal ist mit einem Tunnel- und Höhlen-System durchzogen. Es gibt mehrere Ebenen. Einige verlaufen parallel zu den Gleistunneln, andere führen tiefer in den Bauch der Erde.“ Genüsslich leckte sie ihren Zeigefinger ab, an dem etwas von der Soße hängen geblieben war. „Hier unten lebt der Aussatz der Stadt. Die Krüppel, die Andersartigen, die Ausgestoßenen und die Rebellen.“ Bei den letzten beiden Wörtern lachte sie leise.

„Die Rebellen?“

„Ja, ein Haufen Träumer, die von einer anderen, besseren Welt phantasieren und bereit sind, dafür zu kämpfen. Notfalls sogar dafür zu sterben.“ Die merkwürdig zweifarbigen Augen verdrehten sich. „Als ob sie irgendjemand dort oben wahrnehmen würde. Sie sind nicht mehr, als die Ratten in der Kanalisation: lästig, aber mit genügend Elan durch die Oberirdischen zu beseitigen.“

 „Die Oberirdischen? Lebst du nur hier unten?“

„Nein, ich bin von Zeit zu Zeit oben, wenn es dunkel ist. Ansonsten laufe ich Gefahr, von der Polizei des Inner Circle aufgegriffen und vor die Tore der Stadt gesetzt zu werden. Wenn man erst einmal draußen ist, dann kommt man nicht wieder hinein.“ Noch ein kleines Stückchen pickte sie tropfend aus der Soße. „Außer man verkauft seine Seele dem Teufel und wird ein Jäger.“ Sie schüttelte sich demonstrativ. „Das ist aber eigentlich keine Alternative!“

„Wie viele Menschen leben hier unten?“

„Keine Ahnung!“ Ihre mageren Schultern zuckten und sie fuhr mit dem Zeigefinger durch die braune Brühe und leckte ihn ab. „Viele. Man kennt nur die, auf deren Ebenen man sich herumtreibt. – Ganz unten im Bauch, gibt es Menschen, die noch niemals das Sonnenlicht gesehen haben. Im Bauch des IC geboren, sterben sie dort auch.“ Mit einem Grinsen tunkte sie ihren Finger erneut in die Soße.

„Und die Oberirdischen haben noch nie versucht, euch hier zu vertreiben?“

„Klar, alle paar Monate schicken sie eine Trupp ‚Schädlingsbekämpfer‘, wie sie sie nennen, in die Katakomben, doch die finden nichts und sind nach wenigen Stunden wieder an der Oberfläche. Ein, zwei Wohnhöhlen ausgeräuchert oder mal einen der halbtoten Junkies abgegriffen.“ Sie kicherte. „Wenn sie wollten, sähe das Ganze anders aus, aber sie haben ihre Gründe, uns hier unten zu dulden.“

Erstaunt sah er sie an. Inzwischen hatte sie fast die ganze Soße von dem Teller gewischt und Eljakim rechnete fast damit, dass sie den Rest gleich direkt vom Porzellan ablecken würde.

„Erstens ist hier unten ihr Markt für die illegalen Drogen.“ Emma hob einen Finger. „Zweitens gibt es hier unten den verbotenen Sex, den sie oben nicht dulden.“ Ein zweiter Finger folgte. „Drittens findet man hier unten schnell mal einen Dieb oder Mörder, wenn man ihn braucht. – Und glaub mir, die Reichen und Schönen des Inner Circle brauchen alle drei Sachen regelmäßig.“ Der dritte Finger schnellte hoch und alle drei verschwanden anschließend in einer Faust.

„Was für Sex ist bei den Oberirdischen verboten?“

„Hm, eigentlich alles, was sich nicht in einem Bett zwischen Männer und Frauen abspielt“, erwiderte Emma und nahm nachdenklich den Teller in die Hand. „Klar, kannst du Sex auch oben kaufen. In den Clubs im dritten und vierten Bezirk. Aber das ist halt nur Sex. Nutten, die für dich Tanzen und bereitwillig die Beine breitmachen, wenn du genug Geld und Notstand hast. Der einen oder anderen darfst du für genügend Kohle auch den süßen Hintern versohlen – oder ihn dir versohlen lassen. Das war’s dann aber an Extra-Wünschen. Wenn du etwas Ausgefallenes willst, musst du in den Untergrund – oder den Untergrund zu dir holen.“

„Den Untergrund zu dir holen?“ Eljakim war fasziniert von Emmas Worten. In was für einer Welt lebten die Menschen hier?

„Oh ja, wenn du genügend Geld hast … und wer im IC lebt, hat genug Geld, der holt sich die Jungs und Mädchen aus dem Untergrund ins Haus. Stehst du auf Jungs? – Kein Problem. Jedes gleichgeschlechtliche Liebespaar wird auf der Oberfläche verhaftet und an den Pranger gestellt, doch wenn du dir einen Jungen aus der Unterwelt holst und fickst, dann ist das okay. Oder ein kleines Mädchen, das noch nicht einmal seinen Fuß in eine Schule gesetzt hat.“ Emma hatte sich in Rage geredet und gestikulierte unterstreichend jedes Wort mit den Händen. Ihre Aura verfärbte sich von neutralem Grün-Blau, das sie immer umgab, in wilde Rottöne. „Verstehst du das? Tagsüber richtet er über Menschen, die sich lieben, nur weil sie das gleiche Geschlecht haben, und abends holt er sich einen der kleinen Jungs. Einen, der noch keinen Bartwuchs hat und völlig unschuldig ist. Wenn er nach dieser einen Nacht zerstört und nicht mehr in der Lage ist, ein normales Leben zu führen, wen interessiert das? – Er ist doch nur eine Missgeburt aus der Hölle unter dem Inner Circle!“ Ihre Wut hatte ihn heiß und rot erreicht, bevor er noch einschreiten konnte, zerschellte der Teller an der Wand.

Ihr glühender Zorn ließ sie zittern und Eljakim streckte die Hand aus, berührte vorsichtig ihre Finger. Die Aggression reichte tief in ihre Seele und sachte versuchte er, ein wenig davon zu lösen. Liebe und Hass, Erregung und Wut, waren rote Emotionen, starke Emotionen. Ihm taten sie gut und Emma würde sich besser fühlen, wenn sie ein bisschen davon verlieren würde.

Im Gegensatz zu Luca ließ er sie nicht fühlen, dass er ihre Emotionen beeinflusste. Den Abfluss ihrer negativen Gefühle würde sie nicht merken. Und genauso wenig wie Luca würde sie Spuren in ihm hinterlassen.

 

„Wer war der kleine Junge?“, fragte er, nachdem Emma sich etwas entspannt hatte.

 „Mein Bruder Brian. Sie haben ihn aus seinem Bett geholt und zu Richter Jason Wright gebracht. – Erst acht Stunden später haben sie ihn meiner Mutter wieder in den Arm gedrückt. Blutend und völlig erstarrt. Aus dieser Starre ist er nie wieder erwacht. Gefangen in seiner Welt …“ Tränen liefen aus ihren Augen. „Und ich möchte nicht wissen, wie furchtbar diese Welt ist.“ Trauer, dunkelblau.

„Wer sind sie? Warum konnten sie ihn aus seinem Bett holen?“ Was Emma erzählte, schien Eljakim unglaublich.

„Mein – unser Vater hat Geld beim Wetten an Shiloh Hayns verloren. Shiloh verdient sein Geld mit illegalem Sex jeder Art. Mein Vater konnte nicht zahlen und Shiloh braucht für den Richter einen kleinen Jungen. So einfach ist das in der Unterwelt.“ Jetzt klang sie kalt und leer. Eine blasse grün-blaue Aura.

„Ich würde deinen Bruder gerne kennenlernen.“

Ihre Finger verschränkten sich mit seinen, ernst sah sie ihn an. „Könntest du ihm helfen? Die alte Naomi erzählt immer davon, dass einer des verfluchten Volkes ihrer Großmutter in einer ähnlichen Lage geholfen haben soll.“ Ein rosablauer Hoffnungsschimmer.

„Ich weiß es nicht, Emma. Ich muss ihn berühren und sehen, ob er emotional blockiert ist. Dann kann ich ihm vielleicht helfen.“

Aus den Aufzeichnungen wusste Eljakim, dass es in der ersten Zeit des Zusammenlebens zwischen Anima und Menschen, öfter solche ‚Hilfen‘ gegeben hatte. Menschen, die in ihren Emotionen, wie Trauer und Wut gefangen waren, konnte durch die Gabe der Anima geholfen werden. Nicht immer, denn entscheidend für eine wirkliche Hilfe oder Heilung war der Wille des Menschen sein Gefühlschaos aufzugeben.

„Wenn es dir besser geht, dann bringe ich dich zu ihm.“

 

Wenig später war Emma fort und er hing seinen Gedanken nach. Erlaubt war bei den Oberirdischen also alles, was Mann und Frau miteinander im Bett anstellen konnten. Gleichgeschlechtliche Liebe war hier genauso verpönt und verboten, wie bei ihnen.

Eljakims Blick hatte sich, gleich eines hilflosen Insekts, in einem Spinnennetz verfangen, das oben links in der Ecke sachte im Wind der künstlichen Belüftung schwang. Und doch gab es sie auch hier. Man konnte sie sogar kaufen, in dem Markt der Möglichkeiten – oder Unmöglichkeiten – den der Untergrund bot.

Seine Gedanken blieben nicht lange an diesen Überlegungen hängen. Sie schweiften ab, landeten bei der Gemeinschaft, bei Oreb. Wie ging es dem Jüngeren? Würde er sich Sorgen machen? Eine dumme Frage! Hatte er nicht die Liebe gespürt, die Oreb ihm entgegen brachte? Vielleicht konnte ihn die Aussage Immanuels trösten, der immerhin wusste, dass es seinem Zwilling gut ging.

 

Nach drei weiteren Tagen im Bett durfte Eljakim endlich aufstehen und sich bewegen. Was immer sich in seinem Blut befand, es wirkte lange. Immer noch war er schnell erschöpft und schlief übermäßig viel. Jeden Tag kam Emma vorbei und redete mit ihm. Nahm ihm etwas von der bodenlosen Langeweile, die ihn sonst aufgefressen hätte. Die ganzen Tage über bemühte er sich, nicht die Emotionen in seiner Umgebung in einem zu großen Maße aufzunehmen. Was jedoch in der Nacht, wenn er schlief, geschah, das lag nicht in seiner Macht.

 

„Gibt es so etwas, wie eine Untergrundpolizei? Ich meine, interessiert es irgendjemanden, dass ich hier bin?“ Neben Emma ging er durch einen Gang der Krankenstation. Ein Krankenhaus war es nicht, dazu gab es zu wenig Zimmer und zu wenig Ausstattung, eher eine Anlaufstelle, für allerlei kleine und größere Alltagsverletzungen. – Alltagsverletzungen im Untergrund!

Hier gehörten fast abgeschnittene Gliedmaße, leichte bis schwere Verbrennungen, Schlag- und Bisswunden offensichtlich zum Alltagsgeschäft, ebenso wie Geschlechtskrankheiten und Vergewaltigungen.

„Hier unten musst du dich wehren können, sonst gehst du unter.“ Emma kicherte über dieses Wortspiel und fuhr fort: „Und du musst einstecken können. Wenn dir jemand Gewalt antut, dann räch dich. Ist er größer, stärker und einflussreicher, dann troll dich in deine Ecke und leck deine Wunden.“

„Ein echtes kleines Paradies hier unten“, murmelte er sarkastisch und Emma sah ihn von der Seite an.

„Der Untergrund ist der einzige Ort, an dem wir leben können. Vielleicht nicht die beste aller Welten, aber immerhin haben wir hier ein Leben.“ Sie stopfte ihre Hände in die engen Hosentaschen und sah auf ihre Füße.

„Ja, und ich habe kein Recht, darüber zu richten.“ Vor der zierlichen Frau blieb er stehen. „Es tut mir leid, Emma.“

„Nein, es stimmt ja, oft ist es hier eher die Hölle, als das Paradies. Und wenn ich irgendwo anders leben könnte, würde ich es sofort tun. Aber ich bin eine der Missgeburten, die kein Recht haben, innerhalb der Stadtmauern zu leben. Wenn ich mich also außerhalb des Untergrundes aufhalte, dann können sie mich der Stadt verweisen. Da draußen würde ich nicht einen Tag überleben. Dort vor den Mauern lebt nur der letzte Dreck der Stadt.“ Emma fuhr durch ihre Haare, brachte sie zum Abstehen. – Helles Orange. Wut gemischt mit Angst.

„Oder diejenigen, die von der Polizei aufgegriffen wurden.“ Eljakim beobachtete sie verstohlen. Emmas Emotionen zeichneten ihr sprunghaftes Wesen deutlich wieder.

„Ja, doch glaub mir, das sind die wenigsten!“

„Wenn Luca es erlaubt, würde ich gerne deinen Bruder mit dir besuchen. Ich glaube, diese Krankenstation wird froh sein, wenn sie mich los ist. Und sei’s auch nur für ein paar Stunden.“ Auf seine Worte folgte wieder eine Änderung ihrer Aura, jetzt fühlte er wieder einen leicht rosablauen Hoffnungsschimmer.

„Du bist ja pflegeleicht! Versuch mal jemandem zu helfen, der zu betrunken und aggressiv ist, um seine Verletzung überhaupt zur Kenntnis zu nehmen … Oder zu zugedröhnt ist, um mitzubekommen, dass man mitarbeiten muss, wenn man dabei ist, ein Kind zu gebären.“ Vor einem Fenster mit Vorhang blieben sie stehen.

„Ja, aber die Anderen versetzen ihre Umgebung nicht in Angst und Schrecken.“

„Das tust du auch nicht.“

„Nein?“ Eljakim zog fragend die linke Augenbraue hoch. „Du weißt, dass es sich bei den Helfern herumgesprochen hat, was ich bin und dass sie darum Angst haben, in meine Nähe zu kommen.“

„Sie sind dumm!“ Emma wischte seine Argumente mit einer Handbewegung weg. „Sieh, Nachwuchs für den Untergrund.“ Durch Ziehen an einer Schnur öffnete sie den Vorhang und gab den Blick frei auf ein Zimmer, in dem lauter Babys in ihren Gitterbettchen lagen. Auf den ersten Blick sahen sie aus, wie alle anderen Säuglinge. Erst als er genau hinsah, sah er bei einem der hilflosen Winzlinge eine verwachsene Hand, bei einem anderen eine merkwürdig verkrümmte Haltung. Einem der kleinen Würmchen fehlte die Nase.

„Sie kommen von der Oberfläche. Menschlicher Abfall, direkt hinab in die Hölle des Untergrunds. – Doch immer noch besser, als wenn sie sie gleich ertränken würden – oder?“ Sachte legte Emma ihre Hand an die Scheibe, die die Beobachter von den Kindern trennte. „Es geht das Gerücht, dass ihre Mütter und Väter glauben, sie seien bei der Geburt gestorben. Nur, damit nicht einer auf die verrückte Idee kommt, sein verkrüppeltes, mutiertes oder krankes Kind zu behalten.“

„Und was geschieht hier unten mit ihnen?“ Ein blondes Baby lag nahe an der Scheibe und schien sie, mit seinen großen dunkelblauen Augen direkt anzusehen. Auf den ersten Blick konnte er an dem Kind nichts Ungewöhnliches feststellen. Zarte helle, fast durchsichtige Welle erreichte ihn. Unschuld! Der Schmerz, der diesem Gefühl folgte, hatte nichts mit den Gefühlen dieser kleinen Menschen zu tun. Nur mit der Ungerechtigkeit des Lebens.

„Wenn sie Glück haben, finden sich Menschen, die sie aufziehen, weil sie sich etwas davon versprechen. Wenn sie Pech haben, kommen sie in eine Art Sammelbecken für alle Kinder. Es gibt auch hier unten genug Nachwuchs, den die Erzeuger nicht haben wollen!“ Emma schloss den Vorhang wieder.

Langsam gingen sie durch den Gang wieder zurück zu seinem Zimmer. Keiner sagte etwas, beide hingen ihren Gedanken nach.

 

Nach zwei weiteren Tagen erlaubte Luca ihm, zusammen mit Emma, ihren Bruder zu besuchen. Seit der furchtbaren Nacht waren fast drei Jahre vergangen und Brian hatte noch nicht ein Wort gesprochen, auf keinen Menschen reagiert oder sich sonst irgendwie ausgedrückt.

Seine Augen besaßen die gleichen Farben wie die seiner Schwester, nur dass sich bei ihm nicht auf zwei Augen aufteilten, sondern sich in den Iriden beider Augen mischten. Sein Blick war vollkommen leer und nach innen gewandt.

Eljakim hatte ein bisschen Furcht ihn zu berühren, so ätherisch losgelöst wirkte Brian äußerlich. Eine sehr dunkelblaue Aura umgab ihn, hüllte ihn ein und wirkte mehr wie eine Wand, denn wie ein Nebel.

„Manchmal bekommt er Krämpfe. Dann windet er sich und reißt den Mund auf, als wolle er schreien. Seine Hände tasten um ihn herum, als suche er irgendetwas.“ Emma saß auf dem Bett und sah von ihrem Bruder zu Eljakim. „Der Arzt meinte, es könnten unkontrollierte Muskelzuckungen sein. – Ich sage, es sind die Horrorbilder, die ihn nicht wieder loslassen.“

Brian saß in einem schmutzig grauen Sessel und blickte in das Zimmer. Das hieß, seine Augen waren auf die Mitte des Zimmers gerichtet, doch er selber sah garantiert nichts von dem schmutziggrauen Teppich oder der roten Katze, die sich darauf zusammengerollt hatte.

„Das Einzige, worauf er reagiert, ist Dunkelheit. Wenn man das Licht löscht, dann fängt er an zu schreien. Nicht mehr, er schreit einfach.“ Das Schaudern, das sie bei dieser Erinnerung durchlief, konnte Emma nicht unterdrücken.

Eljakim kniete sich vor den Sessel. Etwas ähnlich Massives hatte er noch nie gespürt. Vorsichtig, als könne er ihm wehtun, nahm er Brians Hände in seine. Ein schwarzer Mantel lag auf jedem Gefühl.

 

Er schloss die Augen, Angst, eine dicke Kruste aus Grausen und Entsetzen verschloss Brians Seele.

Gab es darunter noch ein anderes Gefühl oder hatte die Panik, die der Junge in jener Nacht gefühlt hatte, seine Seele okkupiert und jede andere Emotion in ihm getötet? In seinem ganzen Leben war Eljakim mit Schrecken dieser Art noch nicht konfrontiert worden. Sie waren essenziell, Brian hatte Angst um sein Leben gehabt. Und Frucht vor Schmerzen, körperlichen Qualen, die er sich gar nicht vorstellen wollte. Diese waren kleine rot glühende Anteile. Ein Teil des Martyriums, das er hatte aushalten müssen, war zu diesen Gefühlssplittern geworden.

Der Mann, der Richter, hatte den Jungen gebrochen. In seiner eigenen Brust sammelte sich dunkle Trauer. Wie konnte man Lust empfinden, wenn man ein Kind quälte?

Obwohl er wusste, dass Menschen die zurückfließenden Gefühle eigentlich nicht verarbeiten konnten, gab er etwas von seinem goldenen Gefühl der Hoffnung ab. Wenn er Emotionen gezielt aufnehmen konnte, vielleicht konnte er sie ebenso gezielt zurückgeben? Und eventuell war es Brian dann auch möglich, dieses Gefühl zu spüren.

In seinem bisherigen Leben hatte er keine nennenswerten Erfahrungen mit Menschen gemacht. Casey war der Einzige, dem er in einer ähnlichen Art geholfen hatte. – Und dabei hatte er instinktiv gehandelt. Ohne darüber nachzudenken, wie viel der Andere ertragen konnte.

Wie viel von Brians Gefühlen durfte er absorbieren, ehe es dem Jungen schadete? Wenn er jedoch jetzt aufhörte, hätte er gar nicht anfangen sollen. Immer noch gab es nur das dunkle Gefühl der Angst auf Brians Seele.

 

Eljakim öffnete die Augen und sah Emma an, die ihn vom Bett aus angespannt beobachtete.

„Seine Seele ist voller Angst und Hoffnungslosigkeit. Ich müsste weitermachen, doch ich bin mir nicht sicher, ab wann ich ihm schade.“

„Sieh ihn dir an, Eljakim“, forderte sie. „Ist das ein Leben? Versuch, ihm zu helfen, bitte.“

Und wenn er stirbt? Doch diese Frage wagte er nicht laut zu stellen. Noch immer hatte er Zweifel, ob er weitermachen sollte. Sein Griff hatte sich etwas gelockert. Noch bevor er zu einer Entscheidung kommen konnte, spürte er, wie er festgehalten wurden. Bisher hatten Brians Hände schlaff in seinen gelegen, jetzt griffen sie zu. Nicht fest, doch der Wille war erkennbar.

Seine Augen suchten den Blick des Jungen. Immer noch schaute er verloren in eine Welt, die nur er sehen konnte. – Und doch gab es fast unmerkliche Veränderung, den Versuch sein inneres Gefängnis zu verlassen und zurückzukehren in die Gegenwart.

Eljakim schloss die Augen und fing erneut an, die Gefühle des Jungen in sich aufzunehmen. Vorsichtig und ganz langsam. Dunkle, schwere Wellen der Panik, die sich im Laufe der Jahre verdichtet hatten.

Er durfte nicht jedes Gefühl aus dem Körper ziehen, dass würde Brian emotional umbringen. Irgendwo musste doch unter all dieser Angst ein winziger Rest Hoffnung, Lebenswille und Liebe für seine Schwester geben …

Dann, auf einmal, war da ein Gefühl von klarem, hellem Glas. Für einen Moment überkam Eljakim die Panik, zu weit gegangen zu sein. Hektisch öffnete er die Lider, sah in die zweifarbigen Augen vor ihm und zum ersten Mal hatte er das Gefühl, sie sahen ihn. Weit entfernt hörte er ein Schluchzen, doch das tangierte ihn nicht wirklich. Das Glas musste er brechen, doch wie funktioniert so etwas? Gefühle waren weich, wie Nebel oder Gas, sie hatten Farben, waren aber niemals aus hartem Glas. Versteckten sich hinter dieser Barriere jene Gefühle, die Brian zurück ins Leben führen konnten?

Oder würde war dies jener Abschnitt der Seele, den er nicht anfassen durfte?

Verzweifelt versuchte er sich zu erinnern, was er über die Seele der Menschen gelesen, gehört oder gelernt hatte. Er wusste, dass er sie töten konnte, dass er sie außer Gefecht setzten konnte, allein mit einem emotionalen Schlag. Und ein permanenter Gefühlsfluss, wie er für die Anima normal war, trieb Menschen in den Wahnsinn. – Die meisten zumindest, denn Sandra, Rahabs Mutter, hatte auch das überlebt.

Doch wie tötete man einen Menschen bewusst? Durch das Zerschlagen seiner Seele? Und lag sie in dieser gläsernen Gefühlskugel, die er mit seinen Sinnen abtasten konnte?

Konzentriert sah er in die Augen des Jungen, sah das Kind, das sich dort versteckte und traf eine Entscheidung. Eljakim sammelte seine Gefühle, ließ Brians linke Hand los, legte diese auf das schneller schlagende Herz des Jungen und versuchte das Glas mit einem gezielten emotionalen Schlag zu zertrümmern.

Ein Beben durchlief den Jungen, seine Augen schlossen sich und die Hand rutschte erschlafft aus Eljakims.

Die Splitter des gebrochenen Glases rasten schmerzhaft durch ihn hindurch. Lösten sich nur langsam auf und wurden in Energie transformiert.

„Brian!“ Emmas Schrei riss ihn aus seiner Starre und sein Blick suchte den Jungen, der blass und erschöpft in dem Sessel hing. Die Augen geschlossen, sah man nur am hektischen Heben und Senken seiner Brust, dass er noch lebte.

Wenigstens hatte er ihn nicht getötet, dachte Eljakim und stand auf. Obwohl er so viele Emotionen aufgenommen und umgewandelt hatte, fühlte er sich leer, ausgebrannt. Schwer ließ er sich auf das Bett fallen und schloss die Augen. Leise hörte er, wie Emma sanft auf ihren Bruder einredete. Warum war er nur so erschöpft? Noch bevor er darüber nachdenken konnte, übermannte ihn der Schlaf, der sich mehr wie eine Bewusstlosigkeit anfühlte.

Lautes Schluchzen weckte ihn auf. Erschrocken fuhr er hoch und spürte jetzt die ganze Energie, die er aufgenommen hatte. Es ging ihm so gut, wie lange nicht mehr. Sich aufsetzend blickte er durch den Raum. Emma saß auf dem Sessel, hielt ihren Bruder auf dem Schoß, umklammerte den schmalen Körper fest. Immer noch hörte er das Weinen, doch es kam nicht von Emma. Sie gab leise tröstende Laute von sich, wiegte ihren Bruder, so gut das auf dem alten, schmalen Poltersessel ging.

Über den Kopf des Jungen hinweg trafen sich ihre Blicke und sie lächelte. Offenbar war Brian diese Geste nicht entgangen, denn er wandte seinen Kopf. Zum ersten Mal sah Eljakim Brian wirklich in die Augen. Musternd erwiderte dieser seinen Blick, dann erschien ein winzig kleines Lächeln in dem Mundwinkel und die Energie, die er schon in sich spürte, schien sich zu verdoppeln.

Es mochte sein, dass er die Macht hatte, Menschen zu töten, doch er hatte auch die Macht, ihnen zu helfen! Das daraus resultierende Gefühl der Freude in ihm war unglaublich gut und stark.

 

„Erstaunlich!“ Ungläubig betrachtete Luca die Wunde und schüttelte den Kopf. „Wie kann das sein?“

„Wenn du so willst, habe ich in Emotionen gebadet“, erwiderte Eljakim. Zwar hatte er gewusst, dass sich die Aufnahme von Energie positiv auf die körperliche Heilung auswirkte, doch diesen selbst für ihn offensichtlichen Effekt hatte er nicht erwartet. Von der Wunde war nicht mehr viel zu sehen und ihm ging es hervorragend.

Die grünlichen Augen des Arztes sahen ihn an. „Ich habe auch Brian gerade untersucht. Es ist unglaublich! Er spricht und reagiert. Vorhin hat er sogar gelächelt!“ Genau das tat Luca jetzt auch. Ein sanftes Strahlen ließ seine Augen glänzen. „Was du getan hast, ist phantastisch! – Wie können sie euch jagen, wenn ihr das könnt?“

„Weil ich ihn genauso leicht hätte töten können! – Luca, wenn ich zu viel von seinen Emotionen genommen hätte, dann wäre er nicht nur in seinen Ängsten gefangen gewesen, sondern durchgedreht, wahnsinnig geworden.“ Eljakim richtete sich auf. „Es ist auch möglich, einen Menschen mit einem einzigen, gezielten, emotionalen Schlag zu töten. Die Abtrünnigen beherrschen es perfekt. – Welcher Mensch will sich freiwillig diesem Risiko aussetzen?“

„Ich kann auch mit einer einfachen Änderung einer Dosis einen Menschen töten. Mir vertrauen sie doch auch.“

„Luca, du bist einer von ihnen! Ich bin in den Augen der Meisten ein Ungeheuer, ein Monster, eine Mutation. Extremer als die veränderten Menschen, die hier unten leben.“ Eljakim schüttelte den Kopf. „Wir sind das verfluchte Volk, der Feind. – Keiner wird uns jemals wieder vertrauen.“

„Jemals wieder?“, hakte Luca nach, während er einen kleineren Verband über der fast verheilten Wunde befestigte.

„Es gab Zeiten, da waren wir ein Teil der Menschheit. Doch sie hatten Angst, weil die Anima in ihren Augen zu mächtig waren. Sie fürchteten, was sie nicht verstanden. Also begannen uns zu vertreiben, zu verjagen und letztlich zu töten, was sie begriffen und sie erschreckte. Die Menschen zogen sich in die sechs großen Städte zurück. Um diese zogen sie hohe Mauern und wollten so, die Gefahr, die in ihren Augen von den den Anima ausging, bannen.“ Eljakim holte Luft, sah wieder auf das Spinnennetz, in dem ein kleines Insekt um sein Leben kämpfte, während die langbeinige Spinne langsam darauf zu kletterte, ganz sicher, dass das hilflos strampelnde Tier seine klebrige Falle nicht verlassen konnte. „Doch das reichte nicht. Sie verbaten den Handel mit den Anima, jeden Kontakt und schließlich jagten – nein, jagen sie uns seit Jahrzehnten schlimmer als Tiere.“

„Woher weißt du so viel darüber? Hier wissen wir, dass es euch gibt, nicht mehr!“ Luca sah in fasziniert an.

„Wir sind eine kleine Gemeinschaft. Unsere Vereinigung vor den Toren der nördlichen Stadt besteht vielleicht aus 500 Mitgliedern. Wissen ist ein hohes Gut, das mit so vielen wie möglich geteilt wird. Wer weiß, wer versteht, kann die Entscheidungen des Hüters begreifen und ist bereit sie zu unterstützen. Die Nichtwissenden sind es, die uns gefährden.“

„Hm, in unserer Welt gibt es fast nur Unwissende. Vielleicht ist sie deshalb auch dabei zu zerfallen.“ Mit diesen Worten deckte Luca ihn wieder zu. „Ich denke, in spätestens zwei Tagen musst du dir ein anderes Bett suchen.“ Mit einer zärtlichen Geste streichelte er Eljakim über die Hand. Geballt bekam der das hellrote Begehren des jungen Arztes übermittelt. „Falls du nicht weißt, wohin du gehen kannst, habe ich noch einen Platz frei für dich.“

Das kam doch ein wenig überraschend für Eljakim, der dem anderen perplex hinterher sah, als dieser das Zimmer leise verließ.

Das Labyrinth

Das Labyrinth

 

Zwei Tage später holte Emma Eljakim aus der Krankenstation ab. Auch wenn Luca ihm sympathisch war, reichte es nicht, um daraus mehr werden zu lassen. Im Augenblick hatte er andere Probleme, als sich über Sex Gedanken zu machen.

„Wir müssen tiefer in den Bauch des Untergrunds“, sagte Emma, die vor ihm ging. „dort habe ich zusammen mit einer Freundin eine kleine Unterkunft. – Du wirst dir das Zimmer und das Bett mit mir teilen müssen. Aber keine Angst, ich steh nicht auf Jungs.“ Über die Schulter warf sie ihm einen lauernden Blick zu.

„Das passt gut, ich steh nämlich nicht auf Frauen“, antwortete er mit einem offenen Lächeln, das sie zu beruhigen schien. „Außerdem solltest du nicht zeitgleich mit mir schlafen. – Im Schlaf kann ich den Emotionsfluss nicht steuern. Es ist also auf Dauer nicht besonders gesund, als Mensch neben mir zu schlafen.“

 „Du meinst, ich könnte noch verrückter werden, als ich eh schon bin?“ Emma lachte. „Mach dir mal keine Sorgen, das werden wir schon hinbekommen. - In absehbarer Zeit werde ich mir eh etwas Größeres suchen müssen. Wenn Brian bald nach Hause darf, kann ich ihn kaum in meinem winzigen Zimmer unterbringen.“

Der Tunnel, durch den sie gingen, wurde durch grelle Neonröhren erhellt. Er war so breit und hoch, dass ein Bus ihn hätte nutzen können. Überall sirrten die Belüftungsanlagen, die die Unterwelt mit Sauerstoff versorgten. Wer betrieb dieses System? Wenn es die Oberirdischen waren, hatten sie die Macht über die Unterwelt? Wenn es die Unterweltler waren, wie konnten sie einen solche Anlage betreiben, ohne, dass die Oberirdischen dies mitbekamen? Oder warum, wenn dies den Oberirdischen bekannt war, überließen sie ihnen die Kontrolle?

 „Wer sorgt für den Sauerstoff in der Unterwelt?“, stellte er die Frage dann auch Emma.

„Das ist nicht so einfach. Die Anlagen sind sehr alt. Offenbar wurden die Gänge und Unterkünfte gebaut, um im Notfall hier unten überleben zu können, wenn die Oberfläche durch eine Katastrophe unbewohnbar wäre. – Es muss in der Zeit vor der Dunkelheit gewesen sein.“ Emma blieb stehen, da sie an einer Kreuzung angelangt waren. „Wenn man zum ersten Mal hier unten ist, sind die Wege ziemlich verwirrend. Es gibt jedoch Leitlinien, an denen man sich orientieren kann. Wir kommen aus der blauen Ebene und wechseln in die grüne Ebene. Es geht von Lila über Blau und Grün zu Rot, Orange und Gelb. Doch ich war noch nie auf der gelben Ebene. – Wie ich schon sagte, da unten wohnen die merkwürdigsten Gestalten, die kein Interesse an der Oberwelt haben.“ Sie schüttelte sich. Erst jetzt bemerkte Eljakim, die in der Wand eingelassen farbigen und inzwischen stark verschmutzten Leitlinien. „Es ranken sich viele Geschichten um die unteren Ebenen und es heißt, unter der gelben gäbe es noch eine schwarze Ebene. Dort würden die Menschen ohne Licht leben. Sie brauchen keins, weil sie alle blind sind. Sie ernähren sich von dem, was die Abfallröhren ausspucken und von den Toten, die durch die schwarzen Grabröhren beerdigt werden. – Aber keiner weiß, ob das stimmt oder es sich nur um alte Gruselmärchen handelt.“ Zielstrebig wandte sie sich dem linken Tunnel zu, der in einem sanften Gefälle nach unten führte. „Zurück zu den Belüftungsanlagen. Erzählt wird, dass sie zurzeit von den Rebellen betrieben werden. – Das wiederum bedeutet, dass die Oberirdischen momentan kein Interesse daran haben. – Obwohl Kira, meine Mitbewohnerin, die einen leichten Spleen für die Rebellion hat, sagt, dass die Rebellen unter ihrem neuen Anführer zielstrebiger und gefährlicher – für die Oberirdischen – geworden sind.“

Immer wieder kamen ihnen Menschen entgegen, vereinzelt oder auch als Gruppe, die sie nicht beachteten und auch Emma ignorierte diese, ohne sie auch nur anzusehen.

Eljakim dagegen war fasziniert von den Gefühlen, die hier unten noch geballter als auf der Oberfläche auf ihn einströmten. Die meisten waren dunkler, es gab mehr Zorn, Wut und Depression, ein dunkles Grau, dass mit einer eisigen Schicht überzogen war. Eine Frau, die von dieser Emotion eingehüllt war, saß am Boden, die Knie an die Brust gezogen, das Gesicht versteckt. Mit derselben Klarheit, mit der er ihre Gefühle sah, wusste er, dass er ihr nicht helfen konnte. Ein verstörendes Wissen, das ihm wehtat. Automatisch war er vor der Fremden stehengeblieben.

Emma packte seinen Arm und zog ihn weiter. „Hier unten werden keine Menschen angestarrt. Das mögen die meisten gar nicht und der alten Annie kann eh keiner mehr helfen. – Du bist ein echter Samariter, was?“ Ihre grünes Auge funkelte ihn an. „Vergiss das im Untergrund. – Wo war ich stehengeblieben? – Der Strom für die Anlage wird über ein Wasserkraftwerk gewonnen. Frag mich nicht wie das funktioniert, ich habe nur gehört, dass das Kraftwerk außerhalb der Mauern der Stadt an einem Wasserfall liegt. Es soll eine unterirdische Verbindung dahin geben.“ Emma zuckte mit den Schultern.

Einen Moment brauchte Eljakim, um sich von dem befremdlichen Gefühle zu lösen und sich wieder auf Emma konzentrieren zu können. „Vielleicht haben die Oberirdischen deshalb keinen Einfluss auf das Belüftungssystem. Ihre Macht außerhalb der Stadtmauern ist eher begrenzt. Wenn sie, außer gegen uns und die Abtrünnigen, auch noch gegen die Rebellen kämpfen müssen, sind ihre Kräfte vielleicht nicht ausreichend.“ Wären die Rebellen vielleicht brauchbare Verbündete für die Anima? Oder hassten sie die Gemeinschaft genauso wie die Stadtbewohner? Unter Umständen gäbe es eine Möglichkeit, dies herauszufinden.

Emma nickte nachdenklich. „Kira hat zumindest erzählt, dass die Rebellen in der letzten Zeit einige Erfolge gegen die Oberirdischen erzielt haben. Es sei ihnen gelungen Waffen und Ausrüstung von den Jägern zu erbeuten. – Hoffentlich sind ein paar Jäger dabei gestorben!“ Angewidert spuckte Emma auf den Boden.

Eine eklige Geste fand Eljakim, äußerte sich jedoch nicht. Ein Blick auf den völlig verdreckten, klebrig wirkenden Boden sagte ihm, dass es hier wohl nicht viel ausmachte.

Schweigend gingen sie weiter. Wenn die Oberirdischen ein Problem mit ihrer Wasserversorgung hatten, dann wäre ein nahegelegener Fluss sicher ein lohnenderes Ziel für ihre Bemühungen als die weiter entfernt liegenden Seen. Würden sie jedoch dafür in Kauf nehmen, dass die Unterwelt ohne Sauerstoffzufuhr von oben sterben würde? Sicherlich, ehe sie selber verdursteten.

Anderseits war so eine Welt, mit all ihren verbotenen Möglichkeiten, nicht zu unterschätzen für die Oberirdischen. Also wäre diese Wasserquelle sicherlich strategisch nicht ihre erste Wahl. Auch wenn sie vielleicht geographisch günstiger zu der Stadt läge.

Das Kraftwerk musste sich auf der anderen Seite der Stadt befinden, denn von einem Fluss mit einem Wasserfall hatte er noch nie gehört. Abram hatte in seinen Unterlagen auch Landkarten, sehr alte Karten, die vor der Zeit der Dunkelheit entstanden waren. Auf ihnen waren viel mehr Städte verzeichnet, Flüsse, statt Seen und es ließ sich nicht genau feststellen, welche der großen Städte zur Nördlichen Stadt geworden war. Die Welt schien sich seit diesen Tagen verschoben zu haben. Vielleicht war auch dies in der düsteren, in Vergessenheit geratenen Zeit geschehen: die Welt hatte sich verschoben und dadurch war es zu dieser Katastrophe gekommen, die nur ein Bruchteil der Erdbevölkerung überlebt hatte.

 

Wieder erreichten sie eine Abzweigung. Zielstrebig folgte Emma der grünen Linie. Es ging immer tiefer hinab. Weder die Luft noch die Temperatur veränderten sich bei ihrem Weg unter die Erde. Rechts und links führten kleine Tunnel in die schwach beleuchteten Seitenröhren. Einer von ihr folgten sie, bis sie vor einer Tür mit der Nummer R737 stehenblieben. Grau hob sie sich kaum von den Wänden ab.

„Hier wohne ich mit Kira.“ Emma schob die Tür auf. „Schlüssel, wie sie die Oberirdischen nutzen, haben hier unten wenig Sinn. Jeder Zweite ist ein begnadeter Einbrecher. – Außerdem habe ich nichts, was sich zu stehlen lohnt. Alles von Wert trage ich am Körper.“

Hinter dem Eingang erwartete sie ein dunkler Flur, den nur eine einzelne schummrige Lampe erleuchtete, nachdem Emma einen Schalter an der Wand gedrückt hatte.

„Das Kraftwerk erzeugt genügend Energie für die Versorgung der Unterwelt mit Sauerstoff und Energie?“ Die Gemeinschaft verfügte über Strom, der durch Windräder erzeugt wurde. Das auch nur, weil es noch Anlagen aus der Zeit vor der Dunkelheit in der Nähe der Vereinigung gab. Und frühere Generationen es geschafft hatten, diese wieder in Betrieb zu nehmen.

„Ja, in der letzten Zeit auch ziemlich zuverlässig. Bis vor Kurzem ist der Strom regelmäßig ausgefallen. Zwei- oder dreimal sogar die Luftversorgung. Dabei kam es zu ‚menschlichen Verlusten‘.“ Mit einer seltsamen Belustigung, die sich nicht in ihrer Aura widerspiegelte, sah Emma ihn an, während sie die Schuhe von den Füßen streifte. „Komm.“

Ihrem Beispiel folgend streifte er ebenfalls seine Schuhe ab und ging in das kleine Zimmer, in dem Emma verschwunden war. Die Wände waren gelb-grün-blau gestrichen und auf dem Boden lag ein schwarzer Teppich. An der Wand rechts hinten stand ein Bett, davor ein blauer Tisch und ein grüner Sessel. Links neben der Tür ein Kleiderschrank, dessen eine Tür grün und die andere blau war. Ein sehr eigenwilliger Stil, der aber zu Emma und ihrer Aura passte.

„Du kannst dich ausruhen, während ich sehe, was ich für uns zu Essen auftreiben kann. – Und zu trinken. Die Wasserversorgung wurde in den letzten Wochen schlechter. Mal fließt es, mal nicht.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Luca hat gesagt, dass du dich noch schonen sollst, also leg dich hin.“

Aus dem Schrank kramte Emma eine dunkle Jacke und schlang sich ein schwarzes Tuch um die Haare. „Wenn ein buntes und leicht verrücktes Huhn hereinplatzt, dann ist das Kira. Sie ist harmlos, nur etwas nervtötend.“ Mit einem Winken verließ sie das Zimmer wieder.

Reste des Giftes befanden sich noch in seinem Blut und nach wie vor wurde er schnell müde, so wie jetzt. Dankbar ließ er sich auf das Bett fallen, nachdem er seine Jacke ausgezogen hatte. Tausend Gedanken tanzten durch seinen Kopf, fanden kein Anfang und kein Ende. Immanuel – Abram – Oreb – Casey – und wieder zurück …

Die Unterwelt – die Oberirdischen – die Menschen – die Rebellen …

Irgendwann rutschte er in einen unruhigen Schlaf und einen Alptraum: Panisch rannte er durch Gestrüpp, dass mit jedem Schritt dichter wurde, sich in seiner Kleidung verhakte, sein Gesicht zerkratzte und ihn festhielt.

Wer ihn verfolgte, wusste er nicht, nur, dass sie nicht aufgeben würden. Sie wollten den silbernen Strang in seiner Brust, wollten ihn herausreißen und vernichten. Doch welchen der beiden Stränge wollten sie?

Eljakims Herz schlug viel zu schnell, sein Atem ging stoßweise und er wusste, dass er nicht mehr lange durchhalten würde.

Wenn sie ihn jedoch erreichten, dann wäre alles verloren!

Seine Hände riss er sich auf, bei dem Versuch, sich durch die Zweige zu zwängen. Verzweifelt hob er den Blick von dem morastigen, klebrigen Boden und sah …

 

Lautes Krachen weckte ihn. Erschrocken schlug er die Augen auf und sah  verstört in das Licht der Lampe mit dem grünen Schirm, die über ihm an der Decke hing. Sein Herz schlug noch immer hämmernd gegen seine Rippen. Ganz hatte ihn der Traum noch nicht verlassen.

„Du musst Eljakim sein!“ Die Matratze senkte sich und er wandte den Blick zu der Frau, die sich neben ihn gesetzt hatte. „Ich bin Kira. Emma hat dir bestimmt schon von mir erzählt!“

Ja, vorbereitet auf den Anblick hatte sie ihn jedoch nicht! Kiras Haare hatten mehr Farben als ein Regenbogen. Die eine Hälfte ihres Gesichts wurde von einer Verbrennungsnarbe entstellt, die andere war vollständig tätowiert. Bunte Phantasiegestalten und –ornamente zogen sich hinunter in das knallrote Shirt, dass sie trug. Überhaupt war ihre ganz Kleidung bunt und schrill. Von Knallrot und Sonnegelb zu Himmelblau und Grasgrün.

„Hm, sie hat dir nicht gesagt, was dich erwartet“, stellte Kira lachend fest. „Ich bin also Emmas leicht verschrobene Wohnungsgenossin.“ Pastellblau, sanft und ausglichen.

„Ja“, schaffte er zu sagen. Doch eigentlich war er noch nicht im hier und jetzt angekommen. Warum wollten sie den Strang? Der Gedanke blieb hartnäckig in seinem Kopf. – Und wer waren sie? – War das ganze mehr als ein Traum?

„Aber sie hat dir nicht gesagt, wie ich aussehe?“ Sie lachte über seinen betroffenen Gesichtsausdruck. „He, nicht schlimm, ich weiß genau, wie mein Spiegelbild wirkt.“ Ihre Hand legte sich auf seine und ein warmes, gelbes Gefühl floss zu ihm. Kira war im Reinen mit sich, zufrieden und glücklich. Ein Gefühl, das er lange nicht mehr gespürt hatte. „Früher war ich sehr zornig. Das Feuer hatte mir meine Eltern genommen und die Oberirdischen hatten nichts Besseres zu tun, als mich in die Unterwelt abzuschieben.“

„Sie haben dich in die Unterwelt geschickt? Nachdem deine Familie dieses Unglück getroffen hatte?“ Was für Menschen lebten an der Oberfläche dieser Stadt?

„Sie haben mich aus mehreren Gründen in die Unterwelt geschickt: Zum Einen war ich nicht gestorben, wie es wohl geplant war. Zum Anderen war ich entstellt und passte nicht in die schöne, heile Welt über der Erde. – Und, wäre ich an der Oberfläche geblieben, hätten mir große Teile der Erweiterungsflächen des IC gehört, was definitiv nicht in die Vorstellungen der Stadtplanungskommission passte. – Nachdem ich fort war, gehörten alle Flächen der Stadt und sie musste  nichts mehr dafür bezahlen. Unterirdische haben kein Recht auf Grundbesitz an der Oberfläche.“

„Und trotz allem bist du so – zufrieden?“ Eljakim hatte sich aufgesetzt und sah Kira nachdenklich an.

„Sag mir, was es mir bringt, mich aufzuregen? – Und wie ich schon erwähnte, bis vor kurzem war ich wütend und zornig. Habe jeden und alles für mein Unglück verantwortlich gemacht, dabei letztlich mein Leben zerstört.“ Wieder lächelte sie ihn an.

„Und wieso bist du nicht mehr wütend? Wo ist dein Zorn geblieben?“ Alleine sich vorzustellen, was die Oberirdischen Kira angetan hatten, trieb seine Wut hoch. Wie konnte die junge Frau selber so entspannt sein?

„Ich habe meine Berufung gefunden. Hier sitzen und lamentieren nützt niemandem etwas, man muss handeln!“

Eljakim erinnerte sich an Emmas Worte, dass Kira einen Spleen hinsichtlich der Rebellen hatte. Dies klang nach mehr als einer Marotte.

„Du meinst die Rebellen?“

Kira lachte. „Rebellen? – Wenn man sie so nennen will. – Ich denke, sie sind Freiheitskämpfer. Helden, die keine Angst haben, sich gegen die Regeln und Gebote der Oberirdischen zu stellen. Deren höchstes Prinzip die Gleichheit der Oberirdischen und der Unterwelter ist. Wir sind alle Menschen!“

Und was war mit den Anima? Was waren sie für diese Helden?

„Du bist eine von ihnen?“

Kira schüttelte den Kopf. „Nein, nicht richtig. Aber sie vertrauen mir und ich bin eine ihrer Kontaktpersonen hier in der Unterwelt.“

„Und das darfst du mir erzählen?“

„Du bist ein Verfluchter, wem willst du das erzählen?“ Wieder lachte Kira. „Wenn die Jäger dich erwischen, hast du keine Zeit mehr irgendetwas zu sagen.“

Damit hatte sie wahrscheinlich recht.

„Du kannst Kontakt zu den Rebellen herstellen?“ Vielleicht war es ja doch möglich, auf diese Weise Verbündete zu finden.

„Nein, sie nehmen Kontakt mit mir auf. – Warum?“ Interessiert sah Kira ihn an.

Sie war entspannt, ausgeglichen, alles wirkte ehrlich an Kira und doch schreckte er davor zurück, ihr seine Idee zu präsentieren. Wenn sie nichts tun konnte, dann wäre es unnötig, wenn sie etwas wüsste.

 

„Nervst du Eljakim mit deinen Rebellengeschichten?“ Emma stand in der Tür. In der einen Hand hielt sie einen Kanister, in der anderen ein in braunes Papier eingewickeltes Päckchen.

„Hör auf, es sind keine Geschichte. Die Rebellen geben uns Hoffnung auf eine andere Welt!“

„Hör du auf! Hoffnung auf eine andere Welt? Was sollen sie machen? Die Oberirdischen auslöschen? Oder bekehren?“ Emma kicherte, während sie das Tuch von ihren Haaren zerrte und ihre Jacke auszog.

„Und du meinst, nichts zu tun ist viel besser?“, fragte Kira schnippisch „Was meinst du, warum das Wasser immer knapper hier unten wird? Wann werden wir gar keins mehr bekommen? Weil die Oberirdischen alles für sich brauchen?“Rote Wut.

 „Beruhig dich. Wenn du mir erklären kannst, wie uns die Rebellen retten, dann höre ich auf zu lästern!“ Emma ließ sich in den grünen Sessel fallen.

„Ich weiß es nicht! Ich bin keine der ihren! Aber wenn Casey sagt, dass sich ein Kampf lohnt, dann glaube ich ihm!“

Der Name traf Eljakim wie ein elektrischer Schlag, durchzuckte seinen ganzen Körper und nur mühsam unterdrückte er ein Erzittern. Alle Erinnerungen, all seine Sehnsucht, sonst sorgfältig verborgen, waren mit einem Schlag da! Alle Gefühle! Casey … Sein Herz schien in den Takt dieses Namens zu verfallen. Ca - sey …

Konnte das wirklich sein? Konnte Casey bei den Rebellen kämpfen, während sein kleiner Bruder ein Jäger war? Und was hieße das für ihre Chancen auf eine Allianz mit den Rebellen?

Casey! Der Name ließ den Strang in seiner Brust klingen. Pulsierend verteilte sich das gute, warme Gefühl, dass er vor fünf Jahren in dem Kuss des Anderen gespürt hatte, in seinem Körper. Gab es eine Möglichkeit, ihn wiederzusehen? Alleine die Vorstellung, erneut in den sanften, braunen Augen zu versinken, die zarten und doch so festen Lippen zu spüren, sorgten dafür, dass sich sämtliche Härchen in seinem Nacken aufstellten und jeder andere Gedanke aus seinem Hirn gespült wurde. Casey …

 

Die Rebellen

„Bitte …“ Flehend sahen Casey die blauen Augen aus dem schmalen Gesicht an. Der gerötete Mund war leicht geöffnet, der Atem kam nur noch stoßweise. Verzweifelt hielten sich die Hände an den Lederbändern fest, mit denen die Arme über dem Kopf gefesselt waren.

So liebte er seine Partner, ausgeliefert und willig. Casey strich mit der Hand beruhigend über die angespannten Bauchmuskeln, senkte seinen Kopf und küsste die verführerischen Lippen erneut. Mit einer hauchzarten Berührung strichen seine Finger über die Unterseite der harten Erektion, entlockte Liam ein tiefes Stöhnen.

Langsam bewegte er sich in der wundervollen Enge, spürte das Beben des Körpers unter sich, genoss die Macht über Liam, der hart mit seiner Beherrschung kämpfte, genau wissend, dass er sich erst gehen lassen durfte, wenn er die Erlaubnis bekam.

 „Casey …“ Liams Kraft war am Ende. Hart küsste Casey noch einmal den süßen Mund, ehe er sein Tempo erhöhte, seine Hand fest um Liams Schwanz legte und ihn im gleichen Rhythmus massierte.

„Komm für mich.“ Mehr brauchte es nicht, um Liam über den Rand zu katapultieren. Wenige Längen später folgte er ihm, ließ sich fallen in die Wellen des Orgasmus. – Da waren sie wieder, kleine elektrische Stöße, pure Energie, die ihn noch ein Stückchen höher trieben.

Keuchend fand er sich auf Liams Körper wieder und zeitgleich war das andere Gefühl da, eine Leere, die niemand und nichts ausfüllen konnte.

Dieser Moment dauerte nie lang, doch währenddessen fühlte Casey sich wie der einsamste Mensch der Welt. Schnell löste er sich von Liam und öffnete die Bänder.

Liams traurigen Blick sah er nicht, als er sich umwandte und an das Fenster trat. Vor ihm lag eine grüne, unberührt wirkende Landschaft, die von dem blauen Band des Flusses durchzogen wurde, der das Kraftwerk antrieb. Direkt am Fuße des Gebäudes befand sich die Staumauer, etwas tiefer gelegen, das eigentliche Wasserkraftwerk.

Würde er aus dem anderen, hinter ihm gelegenen Fenster schauen, könnte er in weiter Ferne die Stadt erkennen. Ihre Mauern zu dieser Seite würden im untergehenden Sonnenlicht rosa schimmern. Trügerisch schön sah sie von hier aus, versteckte ihr hässliches Angesicht und ihr schwarzes Herz.

Hinter sich hörte er Liam, der seine Sachen nahm und in das angrenzende Badezimmer ging. Es tat ihm leid, dass er dem Anderen nicht geben konnte, was dieser sich wünschte, doch Zärtlichkeit und Nähe nach dem Sex waren ihm unmöglich. Dieser Moment der Leere hinterließ eine Unruhe, die ihn jetzt durch die halbe Nacht treiben würde.

Sein Blick ging in den Himmel, an dem die ersten funkelnden Sterne erschienen und er dachte an silbern glänzende Augen. Ein Fehler, er wusste es genau, doch jeder Stern erinnerte ihn an Eljakim und jene Nacht auf der Brücke, als er seinem Leben ein Ende setzen wollte.

Wo war der Junge, der inzwischen ein Mann geworden sein musste? Was war aus ihm geworden? Die Härte in dem Kampf zwischen den Menschen und den Anima hatte zugenommen. Gerade die gnadenlosen Jäger töteten ohne lange zu fragen. Die meisten von ihnen kamen aus dem Dreck der Stadt, ungehindert eines moralischen oder ethischen Kodex. Der Dreck kannte nur das eigene Überleben.

Eine Tür klappte und er wusste, dass Liam hinter ihm stand. Würde er sich jetzt umdrehen, könnte er in seine traurigen, verletzten Augen sehen. Ja, er war grausam, doch er konnte nicht anders sein.

Ohne Liam weiter zu beachten, ging er an ihm vorbei ins Badezimmer. Hinter der geschlossenen Tür fragte er sich, warum Liam immer wieder zu ihm kam. Er zwang ihn nicht, verlangte es nicht. Es war Liams freie Entscheidung.

 

Eine halbe Stunde später betrat er die provisorische Zentrale, die sie in der ehemaligen Kantine des Wasserkraftwerkes eingerichtet hatten.

Das Wasserkraftwerk war, wie alle Produktionsstätten, aus der Zeit vor der Dunkelheit. In den letzten Jahrzehnten hatten die Menschen angefangen, sich mit der Technologie der Anlagen auseinanderzusetzen. Zuvor hatte es gereicht, dass sich Köpfe gefunden hatten, die wussten, wie diese funktionierten. Doch nichts hält ewig und so mussten die Menschen diese Kraftwerke, Trinkwasseraufbereitungs- und Funkanlagen erforschen, um sie reparieren und auch erneuern zu können. Inzwischen gab es Gelehrte und Forscher, die sogar neue Techniken entwickelten, hauptsächlich Kommunikations- und Kriegstechnik, da sich die Menschheit auf Kämpfe mit den Anima eingelassen hatten.

Wobei es Caseys Erfahrung nach zwei Gruppen von Anima gab. Die einen töteten genauso skrupellos und schnell wie die Jäger, die anderen töteten gar nicht.

Dieser entscheidende Unterschied war dem Security Master der Stadt und seinem Stab allerdings egal. Sie hatten den Befehl herausgegeben, jeden Anima zu töten, genau, wie jeden Rebellen. Was darauf hinauslief, dass die Jäger jedes Wesen, das ihnen außerhalb der Stadtmauern über den Weg lief, töteten. Egal, ob Anima oder Rebell.

 

In der Zentrale der Rebellen herrschte reges Treiben. In den vergangenen zwei Wochen hatten sie mehrfach Ausrüstung der Jäger erbeutet und Cynthia war zusammen mit Reeves dabei, diese für den ersten Einsatz vorzubereiten.

Liam stand am Fenster und unterhielt sich mit Seth, während June in das Tagebuch schrieb.

Jeder Tag wurde in dem Buch festgehalten. Egal, was passierte, sollte es ein Zeugnis darüber geben, was sie getan hatten. Wie selbstbewusst und zuversichtlich Casey sich auch gab, in seinem Inneren wusste er, dass sie den Oberirdischen auf Dauer nichts entgegenzusetzen hatten. Sie waren zu wenig, zu schlecht ausgerüstet und bei Weitem nicht skrupellos genug.

 

Als er den Raum betrat, wandte Liam kurz den Blick, sah ihn an und er konnte die Trauer des anderen erneut spüren. Himmel, wenn er könnte, würde er Liam geben, was dieser sich wünschte, doch er konnte nicht! Liam verdiente es, geliebt zu werden, doch er war dafür nicht der Richtige!

„Wie weit seid ihr?“, fragte Casey und trat an den Tisch, auf dem ein wildes Durcheinander von Kabeln und Gerätschaften lag.

„Wir kommen voran. Nicht alles ist vollständig. Ich denke, wir werden drei bis vier Kommunikationseinheiten zusammenkriegen. Mehr ist nicht drin. Einige Teile sind zerstört und somit nicht nutzbar.“ Cynthia sah hoch. „Aber für die Aktion übermorgen müsste es reichen.“

„Nicht: müsste es. Es muss reichen! Wir haben nur diesen einen Tag, nur diese eine Chance. Wenn wir versagen, weil wir uns nicht verständigen können, dann ist das vielleicht das Ende. – Und zwar nicht nur das dieser einen Aktion!“ Er fixierte die junge Frau.

„Ich kann nicht zaubern, Casey, auch wenn ich es für dich tun würde.“ Sie lächelte sanft. „Wir tun unser Möglichstes und mehr geht nicht. – Und, Casey, wir wissen alle, dass wir nur einen Versuch haben:“

So gerne er die junge Frau mit den dunkelbraunen Haaren mochte, so sehr konnte ihre ausgeglichene, ruhige Art ihn in den Wahnsinn treiben. Das Irritierende daran war, dass Cynthia zum ihm gesagt hatte, sie sei erst so entspannt, seit sie ihn kenne. Verdrehte Welt.

Mit einem leisen Seufzer, den Reeves mit einem kleinen, verstehenden Lächeln beantwortete, drehte er sich um. Der große, breitschultrige Reeves war eine Verlockung, das musste er zugeben. Sanfte dunkelblaue Augen, Schultern wie ein Schrank und eine unglaubliche Feinmotorik, wenn es um Technik ging.

 

Liams Blick sagte ihm, dass dieser genau sah, wie er Reeves betrachtet hatte. Eifersüchtige, unterdrückte Wut ließ das Blau leuchten und in Casey das Verlangen auflodern, den anderen sofort an sein Bett zu fesseln und zum Betteln zu bringen. Vom ersten Tag an war es so zwischen ihnen gewesen, je selbstbewusster und abweisender Liam auftrat, um so mehr wollte er ihn in seinem Bett haben. Ob Liam dieser Umstand bewusst war?

Energisch verdrängte er jeden dieser Gedanken aus seinem Kopf. Hier ging es um wichtigere Dinge, als ein wenig Vergnügen. Hier ging es um einen schweren Treffer gegen die Menschen, nein, gegen die Oberirdischen des IC.

„Wir haben vier Jeeps, einen Bus. Mehr Fahrzeuge funktionieren nicht, bzw. sind nicht sicher genug. Ich nehme an, einen Ausfall mitten in der Aktion können wir uns nicht leisten.“ Seth zählte die Fahrzeuge demonstrativ an seinen Fingern ab. „Ich weiß nicht, ob das reicht.“

Seth kam aus der Unterwelt und war vor fast drei Jahren zu den Rebellen gestoßen. In dieser Zeit hatte er es geschafft, sich zum Chefmechaniker zu entwickeln. Nicht schlecht für jemanden, der vorher noch niemals ein Fahrzeug von innen gesehen hatte.

Von Geburt an fehlte Seth ein Fuß. Oder vielmehr besaß er bloß den verkümmerten Rest dieses Fußes. Ihm war es nur möglich, in einem speziell für ihn angefertigten Schuh richtig zu laufen. Als er kam, humpelte er auf Krücken. Erst dank Pharrells und Reeves Erfindungsgabe, besaß er inzwischen einen prothetischen Schuh, der es ihm ermöglichte, sich ohne Einschränkung fortzubewegen.

Pharrell kam wie Casey aus dem IC und hatte am Zentralkrankenhaus eine Ausbildung als Arzt absolviert. Zusammen waren sie vor fünf Jahren aus der Welt der Oberirdischen ausgebrochen, um sich dem damals sehr unstrukturierten Haufen der Rebellen anzuschließen. Heute war Pharrell der Medizinmann der Rebellen und einer von Caseys engsten Vertrauten.

Wie Seth trotz seiner Einschränkungen den Mut gefunden hatte, sich den Rebellen anzuschließen, war für Casey immer noch ein Wunder. Zu Beginn konnte er nichts, er hatte nichts und war nicht einmal in der Lage schnell wegzulaufen.

Heute jedoch war er eins der wichtigsten Mitglieder ihres Teams.

„Wenn wir nicht mehr Fahrzeuge haben, dann muss es reichen. – Wie sieht es mit den Sprengladungen aus, Liam?“

„Wir haben genügend Sprengladungen. Munition in ausreichender Menge und sogar in benötigter Zahl funktionierende Waffen.“ Liam begegnete Caseys Blick kühl. „Die Trupps sind eingeteilt und einsatzbereit.“

 

Zwei Tage, keine 48 Stunden mehr, dann würden sie den nächsten großen Lebensmitteltransport in den IC überfallen.

Der Inner Circle wurde zweimal im Monat von einem Konvoi Lastwagen, gefüllt mit den dringend benötigten Lebensmitteln, beliefert. Im Inneren der Stadt war es nicht möglich, für die notwendigen Nahrungsmittel der Bewohner zu sorgen, darum gab es an geheimen Ort Produktionsstätten. Diese zu finden war ihnen erstaunlicherweise noch nicht gelungen. Der Versuch, dem rückkehrenden Konvoi zu folgen, war vor zwei Wochen erneut gescheitert. An einem schluchtähnlichen Engpass waren sie bis heute immer abgefangen worden. Diese Versuche hatte inzwischen fünf Zweierteams das Leben gekostet. Darum würde diesmal der ankommende, voll beladene Konvoi ihr Ziel sein. So viel wie möglich der Lebensmittel wollten sie erbeuten, den Rest vernichten. Dies wäre ein empfindlicher Schlag gegen die Oberirdischen im IC.

 

Jede Lieferung wurde von Soldaten der IC-Security bewacht. Gut ausgerüstet und mindestens genauso tötungswillig wie die Jäger. Casey fragte sich immer wieder, wie man jemandem dieses hemmungslose Töten beibrachte. Einmal war er bisher in der Situation gewesen, direkt auf einen Jäger schießen zu müssen. Die Alternative wäre der eigene Tod gewesen und doch hatte er fast zu lange gezögert. Seit jener Nacht verfolgten ihn die hellgrünen Augen des Mannes, die ihn angeblickt hatten, als das Leben aus seinem Körper wich.

Wie konnte man Spaß daran habe? Wie konnte man einen Menschen zu Tode foltern? Er hatte die Leichen gesehen. Rebellen und Anima, die von Jägern zurückgelassen wurden – und Jäger, die von dem aggressiven Teil der Anima getötet worden waren.

Was für Geheimnisse wollte man den Opfern mit Hilfe von Messern, Feuer und Brandeisen zu entlocken? Allein die Vorstellung dessen, was man diesen menschlichen Wesen angetan hatte, hatte seinen Mageninhalt ungebremst nach oben befördert.

Es gab Stimmen unter den Rebellen, die hielten ihn für zu weich und forderten die gleiche Härte ihren Feinden gegenüber. Dessen war er nicht fähig und er würde solche Grausamkeiten nie von seinen Leuten verlangen. Auch im Krieg – und den führten sie unbestritten – mussten gewisse ethische Regeln gelten. Ansonsten waren sie nicht besser, als das System, das sie bekämpften!

Ihm war aber auch bewusst, dass er das Töten nicht verhindern konnte. Übermorgen, wenn sie den Konvoi stoppen wollten, würden sie kämpfen müssen und sowohl bei ihnen, als auch bei den Soldaten, würde es Verluste geben.

 

„Wirst du noch mit ihnen sprechen?“ Liams Frage holte ihn aus seinen Gedanken. Immer noch sahen ihn die blauen Augen eisig an.

„Ja, morgen Abend. Wir werden uns morgen noch einmal mit allen zusammensetzten und die Strategie ein letztes Mal durchgehen.“ Er hielt dem Blick stand und spürte wieder den Wunsch, den ihm jetzt so kühl begegnenden Mann in seinem Bett zu haben, ihn zum Flehen und Betteln zu bringen, aufflackerte.

„Wir müssen auch noch die Reichweite dieser Sprechfunkgeräte prüfen. Nicht, dass unser ganzer Plan scheitert, weil wir nur Rauschen statt Worte hören.“ Cynthia war neben ihn getreten und sah von ihm zu Liam. „Hier innerhalb des Gebäudes ist die Verständigung problemlos, aber wir sollten sie unter Realbedingungen testen.“

„Okay, morgen ganz früh. Du, Reeves und ich.“ Casey nickte ihr zu, beobachtete Liam aus dem Augenwinkel und sah, wie sein Mund schmal wurde. „Und Liam. Wenn du es schaffst, vor der Sonne aufzustehen.“ Jetzt traf sein spöttischer Blick den Anderen offen.

„Wenn du das schaffst, dann ich auch.“ Neben der Annahme dieser Herausforderung nahm Casey Liams Erleichterung wahr.

 

Zusammen mit Liam, Seth, Cynthia, Pharrell und Mel saß er später über den Plänen. Mel war ein zeichnerisches Naturtalent und hatte versucht, die gesamte Strecke, die der Konvoi zurücklegen musste, aufzuzeichnen.

Hügel, Täler, mögliche Fluchtwege und mögliche Hinterhalte. All dies gingen sie zum gefühlten hundertsten Mal durch. Wo würde welcher Wagen stehen, wo würden welcher Trupp postiert sein und welche Strecken würden sie nehmen, sollten sie tatsächlich Erfolg haben?

Inzwischen war die Sonne gänzlich versunken. Die Lichter der Stadt sahen von dem Turmzimmer wie ein silberner Streifen am Horizont aus. Sie alle waren unruhig, ebenso wie die Männer und Frauen, die sie an jenem Morgen begleiten sollten. Man konnte diese Unruhe in dem ganzen Kraftwerk spüren.

Immer wieder wurden Ausrüstungen kontrolliert, die taktischen Zeichen noch einmal besprochen und die einzelnen Verantwortungen bestätigt.

„Haben wir irgendetwas übersehen?“, Casey sah von einem zum anderen. Alle überlegten, schüttelten dann den Kopf. „Gut, dann sollten wir jetzt Schluss machen. Ich muss morgen vor der Sonne schon wieder mit Cynthia unterwegs sein.“ Er schenkte den anderen ein Lächeln, das sie beantworteten.

„Ich möchte euch jetzt schon einmal danken, für eure Arbeit. Ohne euch wäre diese Aktion gar nicht denkbar!“

„Hör auf, ohne dich wären wir alle gar nicht hier. Dann wären die Rebellen immer noch ein kopfloser Haufen Spinner.“ Pharrells tiefer Bass füllte das Zimmer. „Wenn wir eine winzig kleine Chance gegen die Oberirdischen des IC haben wollen, dann muss übermorgen alles klappen. Und wenn nicht, dann werden wir nicht mehr erleben, wie sie die Welt an ihren letzten Abgrund führen!“ Seine hellblauen Augen blitzten. „Sollten wir übermorgen kein Glück haben, dann wollen wir hoffen, dass wir so viele von den Scheißkerlen mitnehmen wie möglich.“ Er hob das Glas, das vor ihm auf dem Tisch stand. „If God sends you down a stony path, may he give you strong shoes. – Sagte mein Großvater immer.“ Seinem Beispiel folgend prosteten sie sich zu und tranken aus.

„Pfui Teufel, möge in den verdammten Lastern Wein sein, den man trinken kann!“ Cynthia schüttelte sich. „Und nicht nur dieses saure Zeug.“ Mit einem Lachen löste sich die Gruppe auf.

 

Casey konnte nicht schlafen. Er saß an seinem Fenster und blickte auf den silbrigen Streifen der Stadt.

An dem Tag, als er Eljakim auf der Brücke getroffen hatte, wollte er sterben. Sein Vater hatte ihn vier Tage vorher mit dem fünf Jahre älteren Pharrell im Bett angetroffen. Seit diesem Moment wurde er angeprangert, beschimpft, verurteilt und sogar geschlagen. Seine Eltern, Pharrells Eltern, seine Schulkameraden, seine Lehrer und sogar die Menschen, die er als Freunde empfunden hatte, wendeten sich gegen ihn.

An jenem Tag hatte sein Vater ihm erklärt, er werde in eine Besserungsanstalt am Rande der Stadt gebracht. Dort könnte man ihn vielleicht heilen.

Heilen, als ob es eine Krankheit wäre jemanden zu mögen. Alles war an diesem Tag über ihm zusammengebrochen, Pharrell sollte ebenfalls fortgeschickt werden und sie würden sich nie wieder sehen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte er geglaubt. Pharrell zu lieben, doch erst, als er am Abend zurück in die Stadt kam, wusste er, was Liebe war. Ein winziger Moment, ein einziger Kuss und es hatte nie wieder einen Zweifel gegeben, wem sein Herz für den Rest seines Lebens gehören würde.

Zeitgleich hatte er gewusst, dass er nicht in diese Anstalt ginge, sich nicht wie ein Kranker behandeln lasse und sein Leben ab jetzt in die eigenen Hände nehme.

Als er an diesem Abend mit Pharrell sprach, war dieser sofort bereit ihm zu folgen, obwohl er ihm sagte, dass er ihn nicht liebte. Sie nahmen fast nichts mit und gingen. Noch in dem selben Monat schlossen sie sich den Rebellen an.

 

Die Hand auf sein Herz legend sah er in den Himmel. Die Sterne, die man aus dem Inner Circle nicht sehen konnte, bildeten hier ein helles Zelt über der Welt. Ob Eljakim auch irgendwo die gleichen Sterne beobachten konnte?

Ein leichtes Ziehen in seiner Brust, wie immer, wenn er intensiv an den Anderen dachte.

Sein Traum war, mit den Anima gemeinsam gegen die Oberirdischen des IC zu kämpfen. Mit Eljakim an seiner Seite. Ein verrückter Traum, da sie schon von frühster Jugend lernten, dass die Verfluchten ihnen ihre Seelen stahlen. Und auch wenn er an dieses Ammenmärchen nicht glaubte, wusste er, dass sie Emotionen nehmen konnten. Doch was dies im Alltag bedeutete, das wusste er nicht.

 

Es klopfte an seiner Tür und als er nicht gleich antwortete, wurde sie vorsichtig geöffnet.

„Komm ruhig rein, Liam.“ Er drehte sich um und lehnte an die Fensterbank.

„Ich wollte dich nicht stören, aber Ruben berichtete vor Anima Aktivitäten im Abschnitt des Konvois.“ Liam vermied seinen Blick, sah über seine rechte Schulter aus dem Fenster.

„Warum hast du dich den Rebellen angeschlossen, Liam?“

Jetzt sahen ihn die blauen Augen erstaunt an. „Weil sie meine Schwester in den Untergrund schickten, nachdem sich herausgestellt hatte, dass sie – sie zurückgeblieben war.“ Trauer zog über das männlich herbe Gesicht.

„Hast du sie wiedergesehen?“

„Nein, ich war erst einmal im Untergrund. Es ist fast unmöglich dort unten jemanden nach vier Jahren wiederzufinden.“

Casey stieß sich von der Fensterbank ab und ging langsam auf Liam zu. „Was hat Ruben gesehen? War es wirklich so wichtig, dass du es mir sagen musstest, oder hat dich etwas anderes hergetrieben?“ Dicht vor dem Anderen blieb er stehen.

„Ruben hat mindestens eine Rotte dieser merkwürdigen Seelenfresser gesehen. Sie zogen in Richtung der Schlucht, durch die die Lastwagen übermorgen kommen.“ Seine Stimme klang jetzt heiser und sein Adamsapfel hüpfte, als er schluckte.

„Sie sind keine Seelenfresser – jedenfalls nicht alle!“ Eljakim nicht, dachte Casey, dann schob er den Gedanken an den Unerreichbaren fort. „Zieh dich aus und geh auf die Knie, Liam, während ich die Tür schließe.“

Ohne darauf zu achten, ob der andere seiner Anweisung nachkam, ging Casey zum Eingang und schob den Riegel vor. Vielleicht sollte er das nicht tun, weil es Liam ermutigte, auf mehr zu hoffen, doch er konnte und wollte jetzt nicht vernünftig sein. Wenn sich die Welt gegen sie drehte, wären sie in zwei Tagen tot.

Leben oder Sterben

Zwei Tage später lag am frühen Morgen dichter Nebel über dem Land, schürte die Hoffnung auf einen sonnigen Herbsttag. So still, wie an diesem Morgen, war es sonst nie rund um das Wasserkraftwerk. Nur das stete Surren der sich drehenden Turbinen war zu hören und unterstrich mit seinem permanenten elektrischen Summen das Fehlen anderer Geräusche, während jeder sich konzentriert auf seine kommende Aufgabe vorbereitete. Casey würde zusammen mit Cynthia, Reeves, Mel und Hayden in einem Jeep fahren.

 

Keiner von ihnen hatte in dieser Nacht geschlafen, sie hatten zusammengesessen, geredet, geschwiegen und den Liedern von Cade gelauscht. Blind geboren, war Cade mit drei Monaten in der Unterwelt gelandet. Er hatte Glück im Unglück und geriet an Jason, einen guten, warmherzigen Mann, der es ihm ermöglichte, Musiker zu werden. Musik war Cades Begabung, sein Talent und seine Leidenschaft. Nach Jasons Tod hatte er sich den Rebellen angeschlossen, verewigte ihre Geschichten in Songs, die sich schnell in der Unterwelt verbreiteten.

Ihr Essen hatten sie geteilt, ihre Getränke, ihre Gedanken und ihre Musik. Eine gute Art, die möglicherweise letzte Nacht ihres Lebens zu verbringen. Und obwohl keiner von ihnen geschlafen hatte, fühlten sie sich alle wach und bereit.

Das allererste Team unter der Leitung von Liam war schon vor zwei Stunden aufgebrochen. Seth hatte den großen Bus, vollgeladen mit Menschen und Sprengtechnik, hinaus zu jenem Ort gebracht, der heute ihr Schicksal wäre.

Wenn irgendetwas schief ginge, wenn etwas nicht funktionierte, dann stünden sie einer Übermacht Soldaten gegenüber, der sie nichts entgegenzusetzen hatten. Dann konnte man nur noch hoffen, im Kampf getötet zu werden und nicht den Mördern und Folterknechten in die Hände zu fallen. Die meisten von ihnen würden sich lieber selbst töten, als dieses Risiko zu tragen. Zu viele Opfer dieser Bestien hatten sie schon gesehen.

„Wir sind so weit.“ Hayden sah ihn an. „Alle Fahrzeuge zur Abfahrt bereit.“ Casey nickte und Hayden gab das Signal.

 

Noch immer hüllte der Nebel die Welt in sein feuchtes Leichentuch. Kein Laut war zu hören, als sie die verabredete Stelle erreichten. Was, wenn die IC-Security ihren Plan kannte, wenn sie Liam und den Anderen hier aufgelauert hatten? Versteckte der Nebel die toten Körper ihrer Freunde? Oder ihre sehr lebendigen Feinde?

Casey konnte die negativen Gedanken nicht aus seinem Kopf schütteln. Erst als Liam mit einem Lächeln aus dem Nebel auf ihn zukam, entspannte er sich etwas.

„Als nach Plan verlaufen. Die Sprengladungen sind gelegt. Der Nebel erschwert es uns nur, sie zum richtigen Zeitpunkt auszulösen. Ich werde nahe dran bleiben müssen.“ Mit einem schiefen Grinsen sah er Casey an. „Wir wollen doch nicht die falschen Wagen in die Luft jagen.“

Beide sahen sich in die Augen, waren sich der anderen um sie herum wohl bewusst, die nichts von ihrer Beziehung wussten, wissen sollten, da es auch hier genügend Menschen gab, die Probleme mit gleichgeschlechtlichen Paaren hatten.

Was sollte er Liam sagen: Pass auf dich auf? Geh kein Risiko ein? – Schwachsinn, sie alle gingen das gleiche Risiko ein, damit, dass sie hier waren.

Einen kleinen Schritt trat Casey näher an Liam heran. „Auch wenn ich nie sein kann, was du verdienst, würde ich dich heute Abend gerne wieder in meinem Arm halten.“ Die Worte waren so leise geflüstert, dass keiner der Vorbeieilenden sie hören konnte.

„He, du glaubst doch nicht, dass du mich so einfach loswirst. Ich gebe nicht auf, Casey.“ Liam ging an ihm vorbei, für Sekunden berührten sich ihre Schultern, ihre Hände.

 

Zehn Minuten später hatten alle ihre Positionen eingenommen. Jetzt begann das Warten. Der Konvoi würde erst am späten Vormittag diesen Punkt passieren. Geduld war gefragt.

Schickte er die Männer und Frauen in den Tod? Hatten sie wirklich eine Chance? Und wie hart würde diese Aktion die Oberirdischen treffen? Wie würden diese reagieren?

Streng verbot er sich jeden weiteren Gedanken. Die Rebellen hatten ihn zu ihrem Anführer bestimmt und geschlossen für diese Aktion gestimmt, obwohl allen die Konsequenzen bewusst waren. Zu diesem Zeitpunkt machte es keinen Sinn mehr, sich mit dem Für und Wider des Planes auseinanderzusetzen. Jetzt lief die Maschinerie und es gab kein Zurück mehr.

In dem Versuch, seine Gedanken von all ihren krummen, destruktiven Wegen abzuhalten, begann er im Geist ein Gedicht zu rezitieren, das er in der Schule hatte auswendig lernen müssen. Das Grübeln über tief verschüttete Textzeilen würde hoffentlich sein Gehirn eine Zeit lang beschäftigen. Schon seit seiner frühsten Jugend war dies ein Weg für ihn, sich von sinnlosen Überlegungen zu befreien. Ein weiser Rat seines damaliger Hauslehrers, nachdem ihm sein unruhiger Geist wieder einmal Schwierigkeiten mit seinem Vater eingebracht hatte.

 

Der Nebel war zu Schleiern verkommen, die sich hartnäckig über dem Boden hielten. Casey hatte das Gefühl, die Welt würde die Luft anhalten. Vollkommene Stille.

Innerhalb der nächsten Minuten musste der Konvoi für die vorgelagerten Männer zu sehen sein. Angespannt lag Cynthia neben ihm und hielt den kleinen Kopfhörer in ihr Ohr gedrückt, als könnte sie so früher etwas hören.

Sein Herz klopfte und Casey versuchte, seine Bein- und Armmuskeln anzuspannen, um sie geschmeidiger zu machen. Gleich würde alles sehr schnell gehen müssen …

„Sie haben den ersten Posten passiert“, flüsterte Cynthia und gab die Information zeitgleich an Liam weiter.

„Jetzt sind sie am Zweiten angekommen.“

Das Brummen der Motoren war in der Ferne zu hören. Der erste Jeep der Soldaten kam in Sicht. Casey spannte sich an, tauschte einen letzten Blick mit Cynthia.

Innerlich zählte er die Sekunden, immer näher kamen die Jeeps, dahinter die Transporter. Seine Nackenhaare stellten sich auf, seine Muskeln strafften sich, gespannt hielt er den Atem an.

Obwohl er mit allen Sinne darauf wartete, zuckte er zusammen, als die erste Sprengladung explodierte. Alles bewusste Denken stellte sich ein und er folgte nur noch den Abläufen, die sie so oft besprochen und trainiert hatten.

Schüsse fielen aus Richtung der Jeeps. Die zweite, dritte und vierte Sprengladung detonierten. Rauch hing in der Luft, behinderte ihre Sicht. Sie erreichten den ersten LKW. Mel setzte eine der kleinen Ladungen an, alle duckten sich zur Seite. Mit der Explosion flogen die Türen auf. Zu dritt sprangen sie hinein und warfen die Kisten heraus. Aus dem Nebel kam der Bus, die Türen wurden geöffnet und die Pakete, die sie aus dem LKW entluden, landeten in seinem Inneren. Im Hintergrund waren weitere Schüsse zu hören.

„Weiter! Der Nächste!“ Seine Stimme klang fremd in seinen eigenen Ohren. In der Gewissheit, dass die Anderen ihm folgen würden, sprang Casey aus dem Lastwagen. Mit einem Nicken zu Mel lief er weiter. Die Ladenrampe des nächsten Transporters stand schon auf. Wieder kletterten sie in den Wagen, warfen die verpackten Waren heraus. Der Bus füllte sich. Alle Schüsse, alle Geräusche außerhalb ihrer Aufgabe, ignorierten sie. Dann Schreie, eine weitere Explosion.

„Fertig werden, gleich müsste die Verstärkung der Security ankommen. Ladungen setzten und verschwinden!“

Wie konnte seine Stimme dermaßen ruhig klingen, wenn in seinem Inneren ein Inferno tobte. Nicken war die Antwort. Cynthia sprang mit ihm aus dem Wagen. Mel warf die Sprengladung hinein und sie liefen.

Wieder zerriss eine Reihe von Detonationen die Luft. Die Druckwellen zerrten an ihren Haaren, Körpern und drohten sie von den Füßen zu holen. Aus den Augenwinkeln sah er verschiedene Männer und Frauen zu den Fahrzeugen eilen. Vor ihm auf dem Boden lag die Leiche eines Soldaten, seine offenen Augen starrten leer in den Himmel. Ohne zu stoppen, sprang er über den Leichnam und rannte weiter. Rechts sah er in einiger Entfernung Liam. Erleichterung machte sich in ihm breit.

Als er die Tür des Jeeps aufriss, startete Hayden den Motor schon. Die Tür hinter ihm war noch nicht ganz geschlossen, da wendete der Wagen bereits, Dreck und kleine Steine spritzen hoch und sie raste auf der vereinbarten Strecke fort von dem Ort des Geschehens, um über Umwege zum Wasserkraftwerk zurückzukehren.

 

Mel hinter ihm kreischte vermischt mit hysterischem Lachen und klatschte sich mit Cynthia und Reeves ab. Hayden grinste vor sich hin und schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich kann’s nicht glauben! Scheiße! Scheiße! Scheiße!“ Bei jedem Wort schlug Hayden kräftig auf das Lenkrad.

„Ganz ruhig. Gefeiert wird, wenn wir alle heil zusammen wieder am Kraftwerk sind.“ Noch rumorten seine Innereien und er wollte sich dem Hochgefühl nicht hingeben. Heute Abend, wenn sie um die Feuer saßen, dann hätten sie es geschafft. Noch gab es zu viele Unwägbarkeiten …

Langsam beruhigten sie sich wieder und eine nervöse Stille trat auf den nächsten Kilometern ein. Jetzt sahen sie sich immer wieder um, lauschten auf ungewöhnliche Geräusche. Die Sprachverbindung versuchten sie erst gar nicht. Zum Einen wussten sie nicht, wie weit die Verbindungen reichten und zum Anderen befürchteten sie, abgehört zu werden.

Erst mit beginnender Dämmerung näherten sie sich dem Wasserkraftwerk, das unbeleuchtet vor ihnen lag. Langsam näherten sie sich, nachdem sie die Scheinwerfer ausgeschaltet hatten, und blieben auf einer Erhöhung davor stehen.

„Und wenn sie uns da unten erwarten?“, fasste Hayden ihre Befürchtungen zusammen.

„Dann sterben wir halt ein paar Stunden später, als gedacht!“ Reeves klopfte Hayden auf die Schulter.

„Ja, so sehe ich das auch.“ Casey nickte. „Lasst uns nach Hause fahren.“

„Na dann!“ Hayden schaltete die Scheinwerfer an und ließ den Wagen hinab rollen.

Erst im Schein der Fahrzeugbeleuchtung sahen sie den Bus und zwei der Jeeps stehen. Hayden brachte den Wagen so zum Stehen, dass die Lichter die Fahrzeuge erfassten.

Nach einem kurzen Moment tauchte als erster Seth auf, dann folgten zögernd einer nach dem anderen.

Casey stieg mit den anderen aus und sofort entspannten sich die nervösen Gesichter, die ersten lachten und mit großen Schritten kamen sie näher. Hayden neben ihm öffnete die Arme und Neele warf sich herein. Damit schien das Startzeichen gegeben zu sein. Lachend, weinend und jubelnd fielen sich die Umstehenden in die Arme.

Nervös wich Casey Seth aus und ging durch die Freunde, suchte zwischen den Gesichtern Liam, doch weder dieser noch ein anderer der Jeep-Besetzung war da. Er wandte sich an Seth, der die vor Erleichterung weinende Mel festhielt.

„Ist der Jeep mit Liam und Manson schon angekommen?“ Wer saß noch in dem Jeep? June und … daran konnte er sich im Augenblick nicht erinnern.

„Nein, ich glaube, die sind noch nicht da.“ Seth sah ihn unbehaglich an. „Hätten die nicht schon längst hier sein müssen.“

Es war sofort Gewissheit. Casey drehte sich um, rannte zurück zu seinem Jeep. Ohne auf die Menschen, die Stimmen, die ihn riefen, zu hören, startet er den Motor und jagte auf dem direkten Weg dorthin zurück, wo sie herkamen.

 

Die zerstörten Ruinen der Lastwagen streckten vorwurfsvoll ihre Wundränder in den Himmel, silbern glänzend im Schein des Vollmonds.

In dem Licht der Scheinwerfer sah er etwas auf dem Boden liegen. Es waren fünf kleine Erhebungen. Casey fiel mehr, als das er ausstieg. Tränen verschleierten seinen Blick, während er langsam auf die fast wie Kunstwerke aussehenden, kreuzförmig auf dem Boden ausgestreckten Gebilde zu ging.

„Casey!“ Reeves‘ Stimme ertönte hinter ihm, doch er konnte nicht stehenbleiben, ging immer weiter. Wusste genau, was ihn erwartete, hatte es schon mehr als einmal gesehen.

Arme schlangen sich von hinten um ihn zogen ihn zurück. „Tu dir das nicht an“, flüsterte Reeves in sein Ohr.

Trockenes Schluchzen entkam seiner Kehle. „Ich muss.“

„Nein, du weißt, was du finden wirst.“

„Ich muss es sehen!“ Er befreite sich aus den Armen und ging weiter. Spürte, dass Reeves dicht hinter ihm blieb.

Liam konnte er nur anhand des Aufnähers auf dem schwarzen Hemd erkennen. Ein silberner Phönix, ebenso einen Feuervogel trug er als Körperbild auf seinem Rücken.

Und obwohl er es vorher schon gewusst hatte, drang die Erkenntnis erst jetzt mit voller Wucht zu ihm durch und machte sich in einem Schrei Luft, der die Stille der Nacht durchbrach.

 

Weg aus der Unterwelt

Wie ein eingesperrtes Tier schlich Eljakim durch das Zimmer. Kira und Emma waren unterwegs und versuchten Kontaktlinsen zu bekommen. Graue Augen gab es in der Unterwelt genauso wenig wie bei den Oberirdischen.

Seit das Gift ihn nicht mehr dauernd in die Knie zwang, funktioniere sein Kopf wieder und der sagte, dass er dringend aus der Unterwelt hinaus musste. Am besten zu den Rebellen. Wenn es eine Chance gab, mit diesen eine Allianz einzugehen, dann musste er es versuchen. – Und wenn er Casey dabei wiedersehen würden …

Immer in den letzten Tagen, wenn er an ihn dachte, durchfloss ihn ein warmer, goldener Strom, gab ihm Ruhe und Kraft.

 

Was war mit den Oberirdischen? Dachten sie, er sei tot? Nein, sie hatten keine Leiche und keine Leichenteile in dem Tunnelsystem gefunden, warum sollte sie also annehmen, er sei gestorben?

Das hieß, sie wussten, dass er in der Unterwelt war. Ein äußerst beunruhigender Gedanke. Von Kira und Emma hatte er erfahren, dass es ungefähr 100 verschiedene Zugänge zu der Unterwelt gab. Eine Zahl, die durchaus überschaubar war. Wie viele den Oberirdischen bekannt waren, konnte man nur raten. Im schlimmsten Fall, alle.

Wenn durch diese 100 Eingänge Soldaten in die Unterwelt eindringen würden, könnten diese alle Unterwelter von oben nach unten durch das Tunnelsystem jagen. Der einzige freie Weg wäre immer nur nach unten.

Eljakim erinnerte sich an die Kaninchenplage vor zwei Jahren. Gerade war er den Wächtern beigetreten, da wurde die Stabilität mehrerer Tunnel durch Kaninchenbauten bedroht.

Seeb hatte Mara, deren Aufgabe die Jagd war, mit der Lösung des Problems betraut. Zusammen mit Arioch sollte Eljakim, die beide neu in der Truppe waren, sie unterstützen. Mara hatte einen Teil der Ausgänge mit Fangnetzen versehen und dann Frettchen durch die restlichen Eingänge geschickt. Panisch waren die Kaninchen aus ihren Bauten in die aufgestellten Fallen gelaufen. Es hatte ein paar Tage gedauert, bis sie alle Ausgänge gefunden hatten. Dann irgendwann flohen keine Kaninchen mehr aus den Tunneln und Seeb hat einen Trupp Wächter damit beschäftigt, die Eingänge und Bauten so gut wie möglich wieder zu verfüllen.

Das Prinzip dieser Jagd könnte die Security auch bei der Unterwelt anwenden. Entweder ließen sie den Unterweltlern nur die Flucht nach unten oder eine bestimmte Anzahl von Ausgängen wurden als Fallen benutzen.

Aufwendig, aber durchaus machbar. Insoweit hatte Emma recht, dass die Bedrohung durch die Unterwelt für den IC im Moment geringer war, als der Nutzen, den diese zweite, dunkle Welt brachte.

 

Zurück zum Ausgangsgedanken: Wenn sie ihn nicht glaubten, dass er gestorben war, hatten sie dann Interesse daran, ihn lebendig zu fangen, oder wollten sie ihn tot?

Allnächtlich quälte ihn der Traum, in dem er auf der Flucht vor unsichtbaren Feinden durch immer dichter werdendes Gestrüpp lief, sicher, dass es um den Strang in seiner Brust ging. – Wobei er immer noch nicht wusste, welchen Strang seine Verfolger unbedingt kappen wollten und warum.

Jedes Mal erwachte er mit dem intensiven Empfinden, dass dies das Ende der Anima und der Menschen wäre. Verrückt, aber dieses Gefühl hörte nicht auf rationelle Argumente.

Hatten diese Träume einen tieferen Sinn? Lea, seine Mutter, glaubte daran. In der ersten Zeit seien die Anima oft von Träumen und Visionen geleitet worden. Damals beherrschten die Führer der Gemeinschaft das Traumdeuten. Ob Abram dies konnte? – Doch selbst wenn, dann würde ihm das hier an diesem Ort nichts nutzen!

Überhaupt war es fraglich, ob sein Traum eine Ausgeburt seiner Phantasie war oder er einen prophetischen Sinn hatte?

Und wenn dieser Traum seherisch war, was konnte er dann bedeuten? Lea hatte ihm als Kind erzählt, dass der Sinn eines Traumes nicht unbedingt den Bildern entsprach, die der Träumende sah, sondern sich die Bedeutung in der Symbolik verbarg.

 

Nicht nur sein Körper bewegte sich wie ein eingesperrtes Tier, sein Geist auch!

Ganz egal, ob und welchen Sinn sein Traum hatte, wichtig war im Moment nur, aus diesem Tunnelsystem herauszukommen!

Wenn die Rebellen hier unten Kontaktleute hatten, dann die Security des IC erst recht. Und sie hatte unter Garantie die verlockenderen Angebote mit einem Platz in der Oberwelt für den Verräter.

Im Prinzip musste er froh sein, dass ihn noch keiner, dem er begegnet war, verraten hatte. – Zum Glück hielt sich die Zahl von Menschen, die er bisher getroffen hatte, in Grenzen. Luca, Emma und Kira waren die Einzigen, die näheren Kontakt mit ihm hatten und wussten, wer und was er war.

Eine neue Runde lief er durch das Zimmer, das immer kleiner zu werden schien. Emma hatte gesagt, es gäbe eine Verbindung zu dem Wasserkraftwerk. Das Wasserkraftwerk wurde von den Rebellen kontrolliert. Wenn er es also schaffen könnte, über diesen Weg herauszukommen …

Wenn, wenn, wenn – wenn er noch lange nur darüber nachdachte, würde er verrückt werden, ehe er den Untergrund verlassen konnte!

Genervt ließ Eljakim sich in den grünen Sessel fallen und starrte an die Decke. Leise rauschte die Belüftungsanlage. – Die Soldaten der IC-Security mussten nicht einen Fuß in die Tunnel stecken. Sie mussten nur die Belüftung ausschalten und warten.

Aber vielleicht konnten sie das nicht? Oder nur mit großem Aufwand? Wenn die Verbindung zum Wasserkraftwerk unterirdisch verlief, dann wusste die Security unter Umständen gar nicht, wo sie genau verlief.

Falscher Gedanke, denn sie wussten ja, wo das Wasserkraftwerk stand. Also wussten sie, wo die Leitungen entlangliefen.

Und warum ließen sie das Wasserkraftwerk in den Händen der Rebellen? Strategische, praktische oder taktische Erwägungen?

Bevor er überhaupt zu einem Ergebnis kam, war er wieder auf den Beinen, drehte eine erneute Runde durch den Raum.

Leider wussten weder Emma noch Kira, wie man aus der Unterwelt in das Kraftwerk gelangen konnte. Beide befürchteten allerdings, dass der Tunnel sehr tief unten, auf der gelben Ebene, läge. Jener Ebene, auf der beide Frauen bisher noch nie waren.

Irgendetwas musste passieren, er konnte doch nicht untätig hier herumsitzen!

 

Gerade, als er sich wieder in den Sessel fallenlassen wollte, durchzuckte ihn der Schmerz. Gleißend rot pulsierte er von Caseys Strang durch seine Seele, seinen Körper. Er hörte, fühlte einen Schrei und war sich nicht sicher, ob er vielleicht selber geschrien hatte.

Auf den Knien fand er sich wieder, die Hand fest auf sein Herz gepresst. Ängstlich tastete seine Seele über den Strang, befürchtete, ihn nicht mehr oder nur abgestorben zu fühlen, doch er lag fest und warm an seinem Herzen.

Welcher Schmerz hatte den Geliebten getroffen? Wenn Casey ihn nur ebenso spüren könnte …

 

„Warst du das?“ In der aufgerissenen Tür stand Emma und sah ihn mit vor Schrecken geweiteten Augen an. Kira sah ihr neugierig über die Schulter. „Du machst noch die ganze Unterwelt auf dich aufmerksam!“ Gefolgt von Kira kam sie in das Zimmer und auf ihn zu. „Und, ganz ehrlich, du siehst scheiße aus. Was ist passiert?“

„Nichts“, murmelte er, während er aufstand. Dann wandte er sich ab um einen Schluck Wasser zu trinken und versuchte dabei das Chaos in seinen Gefühlen wieder auf die Reihe zu bringen.

„Okay, wenn du meinst.“ Emma zuckte mit den Schultern. „Ich habe jemanden gefunden, der behauptet, er wüsste, wie man zu den Rebellen kommt.“

Sofort hatte sie seine ungeteilte Aufmerksamkeit. So schnell wie möglich musste er hier raus, musste zu den Rebellen und feststellen, ob ihr Anführer wirklich Casey war. – Sein Casey - war.

 

„Er ist alt und ein absoluter Spinner! Jackson! Seine größte Leidenschaft ist Blackwater, ein Schnaps, der alles in dir abtötet.“ Kira schüttelte sich demonstrativ. „Er hat höchstens noch drei schwarze Stumpen statt Zähnen im Mund und stinkt, als ob er schon vor Jahren gestorben wäre.“

„Und woher wisst ihr, dass er den Weg zu dem Wasserkraftwerk kennt? Ich meine, ihr lauft doch hoffentlich nicht durch die Gegend und fragt jeden?“ Eljakim sah von Emma zu Kira.

Emma verdrehte die Augen. „So blöd bin selbst ich nicht! – Zufall. Wir waren bei … egal, jedenfalls wollten wir ein paar Lebensmittel besorgen. Dort gibt es auch Schnaps und manchmal kann sich Jackson von den Kunden einen Drink erbetteln.“ Während sie redete, holte sie ein Brot und eine Stück weißlichen Käse aus einer Tüte. „Auf jeden Fall haben die Jungs dort von den Rebellen gesprochen. – Das tun sie oft im Untergrund, seit diese unter Casey hin und wieder Erfolge gegen die verhassten Oberirdischen erlangen, spricht man über sie.“ Aus dem Schrank kramte sie drei Teller und ein Messer vor. „Mitten in ihre Fachsimpeleien über die Rebellen, sagte auf einmal Jackson, dass er wüsste, wo man sie finden könnte. Ich konnte den genuschelten Satz nur verstehen, weil ich direkt neben ihm stand.“ Sie ließ sich auf das Bett neben Kira fallen und zog die Beine im Schneidersitz unter sich. „Also habe ich ihm einen Blackwater spendiert und beim Zweiten gefragt, was er wüsste. Darauf hat er geantwortet, dass er mir, wenn ich ihm zwei Flaschen davon spendiere, den Weg zum Wasserkraftwerk zeigt.“ Mit dem Messer schnitt sie dicke Scheiben von dem Brot und verteilte sie auf den Tellern. Anschließend schnitt sie ebenso großzügig den Käse und legte ihn dazu.

„Und du glaubst ihm?“ Zweifelnd sah Eljakim sie an.

„Hast du eine bessere Idee?“, fragte Emma und drückte ihm einen der Teller in die Hand. „Ich werde nachher sehen, ob ich ihn alleine erwischen, dann fühle ich ihm mal auf den Zahn.“

„Zähne hat Jackson doch schon lange nicht mehr im Mund“, äußerte Kira und die beiden Frauen lachten prustend los.

 

Nein, er hatte keine bessere Idee. Vor dem Spiegel setzte Eljakim die grünen Kontaktlinsen ein. Hier unten konnte alles eine Falle und jede Entscheidung, jemandem zu vertrauen, ein Fehler sein. Also was für einen Sinn hatte es, sich darüber den Kopf zu zerbrechen?

Die grünen Augen sahen irritierend und unpassend in seinem Gesicht aus. Würde man den silbernen Schimmer sehen, wenn er Emotionen aufnahm?

Fast vorsichtig legte er die Hand auf sein Herz, tastete sanft über die beiden Stränge. Immanuel konnte er wie immer spüren, Casey hingegen kräftig und pulsierend. Emotionen, wie Trauer und Schuld, grau-blau-schwarz, konnte er fühlen. Gerne wäre er jetzt bei Casey und nähme ihm ein bisschen von der Schwere dieser Emotionen.

War das vielleicht auch über die zwischen ihnen liegende Entfernung möglich? Noch nie hatte er Caseys Gefühle so stark empfunden. Normalerweise konnte er Emotionen auch über Entfernungen und sogar durch die isolierten Wände der Separationskammer aufnehmen, eigentlich jedoch nur in einem sehr schwachen Maße. Es reichte damit er in der Isolationshaft nicht durchgedreht war, doch war es genug, um Casey zu helfen?

Sachte versuchte er, über den Strang etwas von den Gefühlen aufzunehmen, Casey davon zu befreien. Wäre Casey ein Anima, könnte er ihm auch gute Gefühle übermitteln, doch Casey konnte diesen Rücklauf nicht verwerten.

Immerhin konnte Eljakim so viel Emotionen von Casey aufnehmen, dass er sie in Energie umsetzen konnte. In zusätzliche Energie. Mehr als er bisher über einen Strang erhalten hatte.

Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, etwas von seinen Gefühlen für Casey an ihn zurückzugeben. Diese einmalige Menge war nicht genug, um ihm zu schaden.

 

„Die grünen Augen sehen super aus zu deinen schwarzen Haaren!“ Kira stand vor ihm und zupfte an einer Strähne, bis er sich ungeduldig wegdrehte. Nach kurzer Diskussion hatten sie beschlossen, sich zu dritt auf die Suche nach Jackson zu begeben.

„Können wir los?“ Seine Unruhe wuchs mit jeder Minute, die er unter der Erde verbringen musste. War es der Traum? Die Intensität von Caseys Gefühlen? Oder nur das Gefühl, seit Tagen unter der Erde zu sein, ohne Sonnenlicht?

„Wir können versuchen, ihn zu finden. Das kann aber schwer werden. Jackson folgt blind dem Alkoholgeruch. Und keiner weiß, wo es heute etwas für ihn abzustauben gibt.“ Emma zog ihre schwarze Jacke an. „Denk daran, egal, was die Menschen hier unten machen, wie es ihnen geht oder was du dabei empfindest, starr sie nicht an! Versuch nicht, zu helfen! Kümmere dich nur um dich selbst! – Verstanden?“ Sie wartete tatsächlich, bis er genickt hatte, ehe sie die Tür öffnete. „Dann gehen wir jetzt auf die Jagd nach Mr. Blackwater!“

 

Ihre Suche führte sie tief in die Unterwelt, von der grünen in die rote Ebene. Die Farbe der Ebene passte gut zu dem Farbspektrum der Emotionen, die hier, schwer wie aufdringliche Gerüche, in der Atmosphäre hingen. Rot für Lust und Zorn, für starke Erregung und brodelnden Hass. Immer wieder musste Eljakim sich zwingen, nicht stehenzubleiben, wenn er einen Menschen mit einer besonders starken roten oder rot-schwarzen Aura sah. Der pure Hass, der ihm zweimal berührte, ließ ihn schaudern.

Etwas Vergleichbares, wie die Welt hier unten hatte er noch nie gesehen. Es gab bei den Anima keine Bars oder Kneipen, keinen käuflichen Sex.

Von außen hatte er ähnliche Etablissements in den Mauern der Nördlichen Stadt gesehen, doch hier unten tauchten sie in eine Welt, die noch ungezügelter und offener mit Sex und Alkohol um die Gunst der Kundschaft buhlte.

Immer wieder boten sich Frauen oder auch Männer ihm offen an. Flüsterten ihm im Vorbeigehen ins Ohr und versprachen ihm die verrücktesten Dinge. Eine ältere Frau schob ihm ein kleines Mädchen und einen kleinen Jungen entgegen, versprach ihm, dass beide noch unberührt sein.

Nur Emmas Hand, die ihn unerbittlich hinter sich herzog, verhinderte, dass er seine Beherrschung verlor. Der Blick des kleinem Jungen folgte ihnen. Tiefschwarze Trauer.

Endlich, in der fünften Absteige, in der es nach Kotze und billigem Fussel roch, und die Frauen, die sich anboten, schon ihre besten Jahre hinter sich hatten, fanden sie Jackson zusammengesunken am Tresen.

Die Gefühle in diesem Raum waren nur noch grau, schmutzig grau. Hier gab es nicht einmal mehr Wut und Hass, nur noch Resignation und Aufgabe.

Emma drängelte sich an einer übergewichtigen Frau im engen roten Kleid vorbei, die kurz ihren Blick über Eljakim streifen ließ und dann wieder in ihren bunten Drink starrte.

„Warum komm‘ste her, wenn de die Weibsen mitbringst“, flüsterte sie ihrem Drink zu und saugte den Rest Flüssigkeit hoch, bis zu hören war, dass sie das Glas geleert hatte.

„Komm, Mutti, mach ´nen Abgang!“ Kira schob die Frau von ihrem Platz. Eine graue Aura mit schwarzen Schlieren umgab sie, während sie weg wankte.

„Hey, Jackson“, sagte Emma und schob sich auf den anderen Barhocker. „Wie sieht es aus?“ Auf einen Wink von ihr stellte der Kellner ein Glas mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit vor Jackson hin.

„Jetzt gleich besser“, erwiderte der und leerte das Glas in einem Zug, anschließend rülpste er vernehmlich und stellte das Glas auffordernd vor Emma auf den Tresen. „Du bist doch das Mädchen, das wissen wollte, wo sie die Rebellen findet.“ Er hatte seine Stimme zu einem Flüstern gesenkt, starrte sie aus blutunterlaufenen Augen an.

Statt einer Antwort nickte Emma und bestellte einen weiteren Drink.

„Wenn du gleich ´ne Flasche kaufst, dann verrat ich dir, wie de‘se findest.“

Kira hatte nicht übertrieben, der Mann hatte nur noch schwarze Stümpfe in seinem Mund und er roch nach einer Mischung aus Toilette und frisch gekotzt. Eljakim bemühte sich, nur durch den Mund zu atmen.

Verwirrend waren hingegen die Gefühle, die Aura, die Jackson umgaben. Er schien mit seinem Leben zufrieden zu sein, seine Aura ähnelte der von Kira. Pastellblau.

„Aber nich hier. Lass uns gehen. Hier is nich sicher.“ Schwerfällig ließ sich der Mann von seinem Barhocker rutschen. Fast wäre er gefallen, hielt sich aber eben noch an Eljakim fest und pustete ihm seinen Atem ins Gesicht. Ein Eimer Tiergedärme roch nicht schlimmer!

Mit seinen verfaulten Stümpfen grinste der Andere ihn an. „Du bist einer von den Bösen, hab ich recht? Ein Seelenfresser!“ Es war nur ein Flüstern. „Ich bin schon mal einem begegnet. Is schon ein Weilchen her… netter Bursche…“ Dann stieß er sich von ihm ab und legte seine Hand auf Kiras Oberschenkel.

„Festes Fleisch. Hatte ich schon lang nich mehr…“

Nur Emmas Hand verhinderte, dass Kira den Alten schlug.

War er überhaupt alt? Eljakim hätte es nicht sagen können. Jackson könnte ebenso gut dreißig wie sechzig sein.

Nachdem Emma zwei Flasche Blackwater gekauft hatte, folgten sie dem schwankenden Mann nach draußen. Zielstrebig ging er weiter nach unten. Tiefer unter die Erde. Sie verließen die rote Ebene, wechselten auf die orangene.

Mit einem Mal bog Jackson von dem Hauptweg in eine Seitenröhre ab.

„Gib mir das Zeug!“

„Das könnte dir so passen! Erst sagst du mir, wie wir zu den Rebellen kommen!“ Emma baute sich in ihrer ganzen, wenig beeindruckenden Größe vor ihm auf.

„Ihr müsst nach ganz unten.“

„In die gelbe Ebene?“, fragte Kira nach.

„Nein, noch tiefer. Ihr müsst in die schwarze Ebene!“, flüsterte er und senkte verschwörerisch die Stimme. „In die geheime Ebene. In die Hölle!“

 

Das Wasserkraftwerk

Die Toten hatten sie verbrannt, bevor sie das Gelände verließen. Die Leichen zu beerdigen, hätte keinen Sinn gehabt, da der Boden steinhart war und es unzählige hungrige Tiere in der Gegend gab. Diese Vorstellung hatte keinem von ihnen behagt, auch wenn es vielleicht der Kreislauf des Lebens war.

Irgendwann waren Anima erschienen. In gebührender Entfernung hatten sie sie beobachtet. Casey war sich sicher, dass es die kämpferischen Anima waren. Die große Zahl, mit der sie sie umkreisten, erklärte auch, warum die Security des IC nicht geblieben und auf sie gewartet hatte. Dieses war offensichtlich nicht ihr Terrain.

Die Anima hatten ihnen schweigend zugesehen und ihnen anschließend den Weg freigegeben. Zum Kämpfen hätte keiner von ihnen die Kraft gehabt.

 

Während die anderen unten am Feuer saßen und den melancholischen Klängen der Gitarre lauschten, war Casey in sein Zimmer gegangen. Im Dunkel stand er am Fenster und hörte Cades Spiel zu.

Wortlose Töne, die Schwermut und Trauer zu ihm transportierten.

Hatte er Liam geliebt? Nein, daran bestand auch jetzt kein Zweifel, aber das änderte nichts an seiner Schuld und seinem Schmerz.

Seine Kehle war zu eng und um seine Brust lag ein Band. Wenn er nicht auf diese Idee gekommen wäre … Wenn er nicht vorgeschlagen hätte …

Und wofür das alles? Würden die Oberirdischen im IC es überhaupt spüren? Würde es nicht wieder nur die treffen, die es immer aushalten mussten? All jene, die am Ende der menschlichen Rangordnung standen, würden für ihre Aktion büßen müssen.

Fünf Menschen waren gestorben, weil er gedacht hatte, es sei eine gute Idee. Es war Wahnsinn! Wie viele würde er noch in den Tod schicken, wie Liam, June, Manson, Roxanne und Rodriguez? Er trug nicht nur die Verantwortung für ihre Ermordung, sondern auch für die sinnlose Gewalt, die Folter und den Schmerz, die sie erlitten hatten. Gnadenlos hatten die Jäger ihnen die Knochen gebrochen und die Haut abgezogene – ehe der Tod sie erlöste.

Wieder rebellierte sein Magen, es war jedoch nichts mehr darin, was herauskommen konnte. Liam hätte es verdient, geliebt zu werden, nicht benutzt!

Nur hatte er ihm nicht mehr bieten können, als Sex. Sein Herz war nicht frei zu lieben und so blieb nur das Ausleben seiner Fantasien. Hätte er das nicht mit jedem anderen gekonnt? Musste er ausnutzen, dass Liam in ihn verliebt gewesen war?

Seine Wut auf sich selber, seine Trauer brauchten einen Ausweg, brauchte den eigenen Schmerz. Mit der geballten Faust schlug er gegen das unnachgiebige Mauerwerk, genoss den Schmerz, den er bis in seine Schulter spürte.

Welches Recht hatte er, dass es ihm gut ging, nachdem fünf der besten Menschen, die er kannte, qualvoll gestorben waren?

 

Dann veränderte sich etwas. Das Gefühl war nicht in Worte zu fassen. Schon einmal hatte er es gespürt. Die Trauer, die Verzweiflung, der Schmerz wichen, flossen aus ihm heraus.

Eljakim! Seine Hoffnung. Sein Stern. Seine Liebe.

Ein sanftes, warmes Gefühl durchfloss ihn, spülte die negativen Gefühle, die ihn bedrückt und gequält, jeden vernünftigen Gedanken blockiert hatten, fort. Hinterließen nur die Liebe und die Sehnsucht nach den grauen Augen, den sanften Lippen, dem Geliebten.

Er würde ihn wiedersehen! Er musste ihn wiedersehen! Das war kein Wunsch, das war Schicksal. Ihr Schicksal.

 

Entschlossen drehte sich Casey um und trat an den Tisch. Wenn die fünf Freunde nicht umsonst gestorben sein sollten, dann durften sie jetzt nicht aufhören, dann mussten sie weitermachen. Das IC herausfordern und hoffen, dass sich immer mehr Kämpfer ihnen anschlossen!

 

Die IC-Security würde jetzt bestimmt wieder versuchen, das Wasserkraftwerk unter ihre Kontrolle zu bekommen. Der Sprengstoffring rund um das Kraftwerk musste kontrolliert und erweitert werden.

Wie groß waren die Chancen, dass sie den Konvoi noch einmal überraschen konnten? Sicher nicht an gleicher Stelle und bestimmt nicht, mit dem Ziel ihn auszurauben, aber vielleicht mit der Möglichkeit die Lieferung zu vernichten.

Er hätte mit den Anima sprechen sollen!

Nein, besser nicht, diese waren genauso skrupellos wie die Jäger. Er wollte nicht auf ihre Art und Weise kämpfen.

Frische Energie trieb ihn, ließ ihn hinunter in die Zentrale gehen und die Karten von Mel hervorsuchen. Eine Stelle, an der die IC-Security niemals mit ihnen rechnete … eine Stelle, die eigentlich totaler Wahnsinn war … die Brücke vor den Toren der Stadt … umgeben von Sprengfallen, gesichert von Wachtürmen der Stadtmauern … Wachposten auf, vor und unter der Brücke … mit einem Wort uneinnehmbar – und damit genau richtig!

Was die IC-Security nicht ahnte, war der Zugang durch die Unterwelt. Dieser wäre nach einer Sprengung nicht mehr nutzbar, aber das mussten sie hinnehmen. Wenn sie es schafften, zwei Lieferungen an die Stadt zu unterbinden, dann würden sie garantiert Druck auf die IC aufbauen.

Liam müsste … er hatte den Gedanken noch nicht zu ende gedacht, da traf ihn die Realität. Liam würde nie wieder!

Ein Grund mehr, diese Aktion zu starten!

Erst, wenn er ebenfalls tot wäre, würde er aufhören, den IC zu bekämpfen!

 

 

 

Durch die Hölle

„Du spinnst, Jackson!“ Emma zog energisch die Flasche, die sie dem Mann hingehalten hatte, wieder weg. „Es gibt keine schwarze Ebene!“

„Was weißt’n du, Grashüpfer!“ Der gierige Blick seiner trüben Augen hing an der Flasche Blackwater, die Emma außerhalb seiner Reichweite hielt. „Gibt ´türlich ´ne schwarze Ebene! Nur redet da kaum einer drüber! Ham alle Angst.“ Kichernd strich er sich über den struppigen Bart. „Sind auch recht komischen Typen, die dort unten in der ewigen Dunkelheit hausen.“

„Komm, das können wir uns sparen, der Alte weiß doch im Leben nicht, wie man zu den Rebellen kommt.“ Kira griff nach Emmas Arm. „Mir gefällt schon diese Ebene nicht.“

„Süße, ich weiß genau, wo die Rebellen sind!“ Mit plötzlich hellwachen Augen sah Jackson sie an. „Der Weg ist jedoch nicht ungefährlich und für die Rebellen nur nutzbar, weil sie die No-Eyes mit frischen Lebensmitteln versorgen. – Was meinst du, wie dankbar die sind, wenn‘se mal was essen können, das nicht durch ein Abfall- oder Begräbnisrohr gefallen ist.“

„No-Eyes?“, fragte Eljakim.

„Ja, sie sind blass wie Maden und haben keine Augen.“

„Du meinst, sie können nicht sehen?“ hakte Kira nach.

„Nein, Süße, wenn ich sage, keine Augen, dann meine ich, keine Augen!“ Jackson schenkte ihr in grausiges Lächeln. „Aber gut riechen können sie. Dich würden sie auf zehn Meter gegen den Wind schnuppern. Und sie bewegen sich in den Tunnel da unten so schnell und sicher, wie ein Grottenolm.“

„Wie kommt man auf die schwarze Ebene? Es führt doch sicher nicht einfach ein Tunnel dorthin.“ Eljakim lenkte Jacksons Aufmerksamkeit erneut auf sich.

„Nein, offiziell gibt es diese Ebene nicht. Dort unten sollten tatsächlich nur die Abfälle und die Toten landen. Zwei Einstiege ermöglichten jedoch den Zugang zu dieser Ebene. – Für den Notfall, wenn mal einer runtergeworfen wurde, der noch gar nicht tot war.“ Jackson kicherte kurz und zeigte dann auf die Flasche in Emmas Hand. „Und mehr sage ich nur, wenn ich die da bekomme!“

Emma tauschte einen Blick mit Eljakim und gab Jackson anschließend die Flasche, der den Deckel abschraubte und einen großen Schluck trank.

„Geht nix über Blackwater“, sagte er mit einem lauten Rülpsen. „Also ich erkläre euch, wie ihr da hinkommt, der Rest is euer Problem!“

„Nein!“ Eljakim nahm ihm die Flasche, die Jackson gerade wieder ansetzen wollte, aus der Hand. „Du zeigst uns den Eingang zur schwarzen Ebene, dann steigst du mit uns dort hinunter und bringst uns zu den Rebellen.“ Er klaubte den Deckel aus der Hand des Mannes und schraubte die Flasche zu. „Erst, wenn wir da sind, bekommst du die zwei Flaschen.“

„Nein! Ich gehe nie wieder in die schwarze Ebene!“ Energisch schüttelte Jackson den Kopf. „Wenn man kein Rebell ist, is es nicht ganz ungefährlich dort unten.“

„Aha, interessant.“ Eljakim zog die Augenbrauen hoch. „Und wie denkst du, sollen wir, die wir uns dort unten gar nicht auskennen, dort durchkommen? – Wenn du die beiden Flaschen Blackwater willst, musst mitkommen!“

„Wir können nur da runter, wenn sie wissen, dass wir Rebellen sind.“

„Und wann wolltest du uns das sagen, Mistkerl!“ Kira baute sich vor dem Mann auf. „Wolltest uns da unten reinlaufen lassen und weg sind wir. – Was halten wir uns mit diesem Penner auf? Wir finden auch jemanden anders, der uns zu den Rebellen bringt!“ Damit drehte sie sich um und machte Anstalten, zu gehen.

„Nein, wartet. Es gibt eine Möglichkeit ...“, sagte Jackson schnell.

Kira drehte sich um.

„Und die wäre? Belüg uns nicht, Jackson, ich würde es sehen.“ Eljakim trat neben Kira. Jacksons Aura flackerte schon seit Beginn des Gespräches. Die Pastelltöne waren verschwunden und einem hektisch puliserenden Lila gewichen, das mit leichten roten Schlieren durchzogen war. – Jackson hatte Angst und war zeitgleich wütend!

„Vor wem hast du jetzt mehr Angst, vor den No-Eyes, den Rebellen oder mir?“ Ganz nah trat Eljakim an Jackson heran. „Du hast gesehen, was ein Anima tun kann, nicht wahr?“ Hell zuckten orangene Spitzen auf. „Ja, ich kann dich töten. Ich muss nur meine Hand auf dein Herz legen“, er hob die Hand und näherte sie Jackson, „und dann kann ich dir deine Emotionen bis zum letzten Gefühl entziehen. Du weißt, dass man daran sterben kann. – Und darum wolltest du, dass ich dort hinunter steige. Die beiden Frauen sind dir egal, du willst, dass ich zu den No-Eyes gehe.“

Jackson brauchte nicht zu antworten, das tat seine Aura.

„Warum? In meinem ganzen Leben habe ich noch nie einem Menschen geschadet!“

„Du vielleicht nicht, aber deinesgleichen! Ihr habt sie umgebracht. Dort draußen wollten wir in Ruhe leben, doch euch Seelenfressern passte das nicht! Darum habt ihr sie getötet.“ Die Wut ließ Jackson sich aufrichten und Eljakims Blick begegnen. „Ihr seid Mörder! Verfluchte, verdammte Killer! Als ich zurückkehrte, war sie tot. – Wir wollten nichts von euch, nur ein Platz zum Leben!“

Eljakim vollendete die Geste und legte seine Hand auf Jacksons Brust. „Nein, Jackson, ich bin kein Mörder! Der Kodex meines Volkes verbietet es, zu töten. Wenn ein Anima deine Frau getötet hat, dann war es einer der Abtrünnigen. Sie morden und töten ebenso brutal und skrupellos wie die Jäger.“ Er nahm das Gefühl der Angst, der Wut auf, sah wie Jackson die Augen aufriss und ihn anstarrte. Woher waren die Pastellfarben gekommen? War Jackson so zufrieden gewesen, einen Anima in die Falle locken zu können? Oder hing es mit dem Blackwater zusammen? Gab der Alkohol dem Süchtigen für eine Zeit lang dieses Gefühl? Und wenn es nachließ? Wie würde Jacksons Aura aussehen, wenn seine Sucht ihn im Griff hatte?

Eljakim nahm seine Hand von Jacksons Herz und trat einen Schritt zurück.

Jackson senkte seinen Blick von Eljakims Augen auf seine Brust, als erwarte er, dort eine Veränderung zu sehen, dann hob er den Kopf wieder.

„Was hast du getan? Es fühlt sich – anders an.“ Der ungepflegte Mann legte seine eigne Hand auf die Brust. „Ich fühle Rahel.“ Eine einzelne Träne rollte durch den Dreck in seinem Gesicht. „Die Liebe zu ihr. Sie war alles für mich, bis ihr sie getötet habt, von da ab konnte ich nichts mehr fühlen, nur noch den Hass!“ Er schluchzte auf. „Ich konnte nicht einmal um sie trauern!“ Die letzten geschrienen Worte prallten von den Wänden ab.

„Hör mir zu, Jackson, ich weiß, was sie tun, die Abtrünnigen ebenso wie die Jäger. Sie morden, quälen und foltern ihre Opfer und damit säen sie Hass in den Herzen all jener, die zurückbleiben. Doch dieser Hass führt nur dahin, dass wir genauso werden wie sie! Wir sind bereit zu verletzen und zu töten. Wenn du uns alleine hinunter in die schwarze Ebene geschickt hättest, dann wäre nicht nur ich durch deinen Hass gestorben, sondern auch Kira und Emma. Die beide ebenso unschuldig sind, wie es deine Frau – wie es Rahel war.“

Jackson sah Eljakim an und wischte die Tränen aus seinen Augen, dann straffte er seine Schultern. „Du hast Recht! Ich weiß nicht, was du gemacht hast und warum du es getan hast, doch ich werde euch helfen!“

Mit einem leichten Lächeln streckte Eljakim Jackson die Flasche hin. Für einen Moment sah es so aus, als wolle er sie ablehnen, doch dann nahm er sie, schraubte den Deckel ab und trank einen kräftigen Schluck. Nachdem er die Flasche wieder verschlossen hatte, gab er sie Emma. „Gib sie mir zurück, wenn wir bei den Rebellen sind.“

 

„Die schwarze Ebene ist die Hölle! Dort unten leben Geschöpfe, die sich mein Geist nicht in den wildesten Alpträumen ausdenken könnte. – Und glaubt mir, mein Kopf kann sich viele Dinge ausdenken, schließlich habe ich früher einmal mein Geld damit verdient.“ Zusammen gedrängt saßen sie in einem kleinen Zimmer, in dem es intensiv nach Jackson roch. „Auch wenn man das heute nicht mehr sieht, früher habe ich als Autor im IC gearbeitet und Fantasy Geschichten geschrieben. Eines Tages jedoch wollten Rahel und ich diese Brutstätte des Neides und der Missgunst verlassen und siedelten uns außerhalb der Mauern an. Vor uns hatten schon einige Andere diesen Weg gewählt. Zwei Jahre lang lebten wir in Frieden auf einem bescheiden Stück Land. Dann, als ich eines Tages von einer Fahrt zu meinem Verleger aus dem IC zurückkam, fand ich unser Haus zerstört und Rahel getötet. Sie haben sie … - Nein, lassen wir das.“ Jackson versucht mit einem Kopfschütteln die Erinnerung aus seinem Kopf zu bekommen. „Ich konnte nicht mehr schreiben, ich wollte nicht zurück in den IC und bin letztlich hier unten gelandet. Voller Hass auf die Anima!“ Mit der Hand fuhr er sich durch das Gesicht. „Viel habe ich hier unten gesehen und eigentlich alles aufgegeben, nur noch darauf gewartet, dass der Alkohol dem ein Ende bereitet, weil ich zu feige war, es selbst zu tun. – Bis ich Casey begegnete. Vor einigen Monaten war er zusammen mit zwei weiteren Männern in der Unterwelt. – Casey ist nicht wie die anderen! Und obwohl er nicht skrupellos nach Mord und Totschlag ruft, strahlt er die Ruhe und Sicherheit eines Siegers aus. Solange Casey lebt, wird er den IC bekämpfen. Das alleine ist ein guter Grund, um an seiner Seite zu stehen. Aber was kann ein abgewrackter Alkoholiker wie ich schon tun? Zumindest wollte ich ihm sagen, dass ich seinen Kampf unterstütze. An diesem Tag folgte ich ihm und den anderen hinunter in die schwarze Ebene. Wenn Casey mich nicht davor bewahrt hätte, dann hätten mich die No-Eyes ermordet – und zu ihrem Abendessen verarbeitet.“ Die Erinnerung schüttelte ihn. „Du bist völlig verrückt, Jackson, sagte er und lachte, aber Verrückte können wir immer gebrauchen. Wenn du zu uns kommen willst, dann geht das einzig durch diese Ebene. Nur mögen die Menschen, die hier leben, Fremde nicht besonders. – Sein Freund hinter ihm sagte leise: sie mögen Fremde eigentlich sehr gerne. Dafür erhielt er einen strengen Seitenblick von Casey. – Solltest du hier durch wollen, musst du die Losung kennen. ‚Gradeaus kann man nicht sehr weit gehen.‘ – Sein Freund sagte leise und doch vernehmlich: das kann der alte Säufer sich nie merken. Erneut lachte Casey und antwortete ihm: Natürlich kann er, immerhin ist er Jackson Burton, der Schriftsteller. Er kennt das Zitat und kann es sich merken.“ Mit einem Lachen sah Jackson auf seine Hände, die leicht zitterten. „Er wusste, wer ich einst gewesen war. Kein Spott, kein Hohn für den Gefallen. Casey ist nicht wie die anderen und deswegen muss er einfach Erfolg haben!“

„Und du willst mir weißmachen, dass wir mit diesem dämlichen Spruch die schwarze Hölle durchqueren könne? Gradeaus kann man nicht sehr weit gehen? Was ist das für ein Blödsinn?“ Kira sprang auf. „In dieser Luft kann ich nicht denken!“

„Es ist kein Blödsinn, nur ein Zitat aus einem alten Buch: Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry. Eins der wenigen Bücher, die die Dunkelheit überstanden haben!“ Jackson stand ebenfalls auf. „Und damit ist klar, dass Casey einer von ihnen war. Genau wie ich ist er im IC geboren und hat eine hervorragende schulische Ausbildung erhalten. – Und für die No-Eyes kommt es nicht auf den Sinn der Worte an, es kommt auf ihren Klang und die korrekte Anzahl an.“

„Kein Streit, wir gehen. Da Jackson uns begleitet, denke ich, dass wir ihm ruhig ein bisschen Vertrauen schenken dürfen!“ Auch Eljakim stand auf und hielt Emma die Hand hin. „Es wird Zeit. Ich brauche endlich mal wieder frische Luft!“

 

Von der orangenen wechselten sie auf die gelbe Ebene. Kaum noch Menschen begegneten ihnen und wenn, dann sahen diese an ihnen vorbei, jedoch nicht, ohne sie aus dem Augenwinkel zu beobachten.

Aggression lag in der Luft, so dicht, dass man kein Anima sein musste, um sie zu spüren. Für Eljakim sirrte die Luft fast, so viel Energie stand ihm zur Verfügung. Keiner hier versteckte seine Gefühle oder verbarg sie hinter einer lächelnden Maske. Wenn man einem der Menschen hier zu lange ins Gesicht blickte, dann war der Ärger vorprogrammiert. Wie konnte man so leben? Doch wahrscheinlich lebte kein Wesen freiwillig so.

Noch eine Kurve, der Weg führte steiler nach unten und das Licht wurde weniger. Einige Lampen waren kaputt geschlagen worden, die Schutzgitter davor herausgerissen. Die Luft schien hier dichter zu werden und wärmer.

Seitenröhren gab es nach der dritten Abzweigung nicht mehr, dafür lag ein schwerer Geruch in der Luft, verfault und nach Verwesung.

„Hier!“ Ohne Vorwarnung blieb Jackson stehen und Eljakim lief ungebremst ihn in hinein. Auf jeden Fall fiel der unangenehme Geruch des Mannes hier unten kaum noch auf. Verwirrt sahen sie sich um. Alles sah aus wie vorher. Keine Tür, keine Öffnung und kein Seitengang.

Jackson trat auf die Wand zu, fuhr mit der Hand darüber. Die gelbe Leitlinie war an einer Stelle gebrochen, über die Wand zog sich ein ungleichmäßiger Riss. Sanft drückt er gegen die Stelle und geräuschlos schwang ein Stück Mauer türgleich nach innen.

„Los, beeilt euch! Diesen Zugang darf keiner sehen!“ Fast schubste Jackson sie in die Dunkelheit. Der Geruch, der sie hier erwartete, ließ Kira würgen.

„Das halte ich nicht aus“, hustete sie und hielt sich die Hand vor den Mund.

„Atme durch den Mund, wird gleich besser!“ Jackson schob die Tür wieder zu und mit einem Mal umfing sie völlige Finsternis. Die entstandene Stille wurde nur von ihrem hektischen Atmen unterbrochen.

„Wir sind nicht alleine.“ Kira schrie bei Eljakims Worten auf, ihre Hände krallten sich, da er neben ihr stand, in seinen Arm.

„Woher weißt du das?“, fragte Emma leise.

„Ich sehe ihre Auren. Es sind mindestens fünf von ihnen – und sie sind nicht gerade gut gelaunt!“

„Nichts machen, einfach stehenbleiben. Auf keinen Fall jetzt das Licht anschalten!“ Jacksons Stimme klang atemlos. „Geradeaus kann man nicht sehr weit gehen.“

Die anderen sahen nichts, doch Eljakim fühlte die Auren, sowohl die von seinen Begleitern als auch die der No-Eyes. Diese waren verwirrend. Ihre Gefühle waren zuerst eindeutig aggressiv rot gewesen, doch jetzt … weißlich, bläulich, grünlich schillernd. Nicht wirklich zu fassen.

„Geradeaus kann man nicht sehr weit gehen!“ Jackson hatte seine Stimme gehoben, schrill schwang Panik in den Worten mit.

„Sie haben dich gehört, Jackson. – Emma, gibt mir die Taschenlampe.“ Da Eljakim ungefähr wusste, wo Emma stand, konnte er die Taschenlampe schnell ertasten.

„Wenn du sie erschreckst, dann kann das sicher gefährlich sein“, sagte Kira, die sich immer noch an seinen Arm klammerte.

„Ich mache jetzt das Licht an!“, sagte Eljakim laut und richtete die Lampe auf den Boden, drückte auf den kleinen Knopf. Grelles Licht erhellte den felsigen Untergrund zwischen ihren Füßen. Sein Blick ging über den erhellten Kreis hinaus und er sah die Gestalten, die weit entfernt standen. Ihre Haut war sehr hell, ihre Haare blond und sehr lang, doch erstaunlicherweise kaum verfilzt. Sie trugen Kleidung, Hosen, Hemden oder Shirts, das meiste sehr zerrissen, verdreckt und kaputt. Ihre Gesichter konnte er nicht erkennen, da sie im Schatten lagen.

„Wir werden jetzt langsam losgehen.“ Mit einem Nicken zu seinen drei Begleitern, setzte sich Eljakim in Bewegung.

Sie waren hier in einem parallel zur gelben Ebene verlaufenden Tunnel, der allerdings nicht weiter nach unten führte. Der Weg sah wie ein in den Stein gehauener Stollen aus.

Eljakim ließ das Licht höher wandern und nun konnte er die No-Eyes auch besser erkennen. Drei Erwachsene und zwei Kinder standen im Schein der Taschenlampe. Sie hatten Augen. Nicht wie die Anima oder die Menschen, sie waren unter verwachsenen Lidern verborgen und wahrscheinlich waren die No-Eyes wirklich blind, denn auf das Licht reagierten sie nicht.

Einen Schritt vor den befremdlichen Wesen blieb Eljakim stehen. Ohne Probleme hätten sie an dieser Gruppe vorbeigehen können, doch er wollte das nicht. Ihm wäre lieber, die fünf Personen ließen sie passieren.

Ein Kind trat vor und Eljakim ging in die Hocke, um mit dem Mädchen auf einer Höhe zu sein. Ihr Gesicht war zart, bläulich schimmerten die Adern durch die bleiche Haut. Hinter den verwachsenen Augenlidern sah er weiße Pupillen, die sich unruhig bewegte. Vorsichtig streckte sie die Hand aus und trat näher, bis sie sein Gesicht berührte.

Es fühlte sich an, als untersuchte sie ihn. Von ihre Hand, die an seiner Wange lag, ausgehend hatte er das Gefühl, ihr Geist glitt durch seinen Körper.

Wohin?

Einen Moment dauere es, bis er begriff, dass er sie nur in seinem Kopf hörte.

Zum Wasserkraftwerk.‘, dachte er und hoffte, dass sie es verstand.

Ich verstehe dich gut. Du bist ein Anima. Die anderen können mich nicht hören! Bis auf Casey!‘ Sie lächelte in seinen Gedanken.

Zeigt ihr uns den Weg zu Casey?

Seid ihr Freunde?

Ja!

Ihre Aura war zartblau. Noch einmal spürte er sie in seinen Sinnen, dann wandte sie sich um.

Es dauerte einen Augenblick, dann hob ein Mann seine Hand und zeigte ihnen an, ihm zu folgen.

„Was sind das für Wesen?“, flüsterte Jackson hinter ihm.

„Das sind die No-Eyes. Sie bringen uns zu den Rebellen.“

„Oder sie nehmen uns als Abendessen mit nach Hause.“, sagte Kira und kassierte von Emma einen Rippenstoß dafür.

 

Das kleine Mädchen und der Mann führten sie, nachdem die anderen No-Eyes in der Dunkelheit verschwunden waren, weiter den Tunnel entlang. Bald kamen sie an eine erste Abzweigung. Die Stollen sahen inzwischen anders aus, wie von menschlicher Hand bearbeitete natürliche Gänge. Sie folgten dem linken Gang. Unzählige weitere Abzweigungen folgten, bald hatten sie hoffnungslos die Orientierung verloren. Von Zeit zu Zeit durchquerten sie auf ihrem Weg größere Höhlen.

Mit einem Mal wurde der Gestank fast unerträglich. Kira hielt sich, ebenso wie Emma, die Hand vor Nase und Mund. Beide würgten trocken.

Plötzlich klatschte direkt neben ihnen etwas in Flüssigkeit. Erschrocken wandte sich Eljakim dem Geräusch zu.

Der Lampenschein fiel in eine Hölle. Als sie erfasst hatten, was dort im stinkenden Wasser lag und vergammelte, erbrach sich Kira vor ihre Füße. Emma klammerte sich an Eljakim und flüsterte leise Worte, die er nicht verstand.

Dies musste eine der Höhlen sein, die unter den Grabröhren befanden. Die Leichname schwammen in … Eljakim wollte nicht darüber nachdenken. Schnell richtete er den Lichtstrahl wieder nach vorne auf die beiden No-Eyes.

Unberührt stand das kleine Mädchen neben dem großen Mann und beide hatten ihnen die Gesichter zugewandt.

Nein, die No-Eyes konnten nicht wirklich sehen, doch die merkwürdig geschlossenen Augen schienen mehr wahrzunehmen, als ihre eigenen, weit geöffneten.

Bevor sie weitergehen konnten, hörten sie patschende Schritte aus der Totenhöhle. Jemand bewegte sich dort. Dann erklangen Geräusche, wie brechende Knochen und reißendes Fleisch, unterstrichen von rauem Knurren.

Eljakim widerstand der Versuchung, die Taschenlampe erneut in die Höhle zu richten! Wenn er sehen würde, was dort in dieser Höhle geschah, blieben diese Bilder für immer in seinem Gedächtnis.

Die beiden No-Eyes hatten gar nicht auf die Geräusche reagiert. Jetzt, wo sie die Aufmerksamkeit ihrer Begleiter wieder hatten, drehten sie sich um und gingen weiter.

„Werden wir noch lange hier drin sein?“, fragte Kira mit klappernden Zähnen.

„Denke schon, is ´n weiter Weg zu dem Wasserkraftwerk“, erwiderte Jackson.

Ein unterdrücktes Schluchzen war die Antwort.

 

Wortlos folgten sie ihren beiden Führern auf dem schmalen Lichtpfad der Taschenlampe durch die Dunkelheit. Immer wieder sahen sie Schatten, die links und rechts an ihnen vorbeihuschten, hörten Geräusche. Manchmal klang es wie ein Wispern, manchmal wie das Kratzen von Krallen über den Boden.

„Egal, was ihr macht, ich gehe niemals wieder durch diesen Tunnel!“ In Kiras Flüstern konnten sie die mühsam unterdrückte Panik hören.

„Lass uns erst einmal auf der anderen Seite ankommen! Wer weiß, wo uns die beiden hinführen“, erwiderte Jackson.

„Es gibt keinen Grund an ihnen zu zweifeln. Der Weg ist weit, das hast du selber gesagt, Jackson, also hör auf Kira zu verunsichern!“ Eljakims harter Ton unterband jede weitere Diskussion. Natürlich konnten sie die Beiden so tief in das Labyrinth dieser Höhlen führen, dass sie keine Chance hatten alleine wieder herauszukommen, doch er glaubte das nicht. Auch wenn die Auren der beiden wirklich ein verblüffend fremdes Spektrum zeigten, flößten sie ihm Vertrauen ein. Der beständige Wandel, die fremdartigen Gefühle waren für ihn nicht einzuordnen und die Farben erinnerten ihn wage an einen Regenbogen.

Als die beiden unvermutet nach einer gefühlten Ewigkeit stehenblieben, ging Eljakim zu ihnen. Der Mann hatte lange, hellblonde, fast weiße Haare, die ihm bis zur Hüfte reichten, sein Gesicht war schmal und bartlos. Gerade, als er überlege, sich zu dem Mädchen hinab zu beugen, hob der Blonde seine Hand und berührte seine Wange.

Ebenso wie bei dem Mädchen hatte er das Gefühl, von dem Geist des Mannes geflutet und untersucht zu werden. Bewusst versuchte er sich dieser merkwürdigen, befremdlichen Empfindung zu öffnen.

Sie hat Recht, du bist es, Deidono. – Hab keine Angst, egal, was passiert, wir bringen dich zu Casey.‘ Die Stimme des Mannes klang tief in ihm nach. ‚Gleich neben euch ist eine Quelle.‘ Die Hand wurde wieder fortgenommen.

Eljakim schwenkte den Schein der Lampe und sah die Stelle, an der Wasser aus der Wand trat. Nicht viel, eher ein Rinnsal, den eine sprudelnde Quelle. Als er zurück zu den beiden sah, waren sie verschwunden.

„Wo sind sie hin?“, fragte Kira mit hoher Stimme.

„Ich weiß es nicht, doch sie werden wiederkommen!“ Er ging zu der Quelle und befeuchtete seine Finger, führte sie an seine Nase. Es roch metallisch, als käme es aus mineralischem Gestein. Sein Geschmack jedoch war rein und klar.

„Frisches Wasser. Ich denke, wir sollten trinken und uns ausruhen, ehe die zwei zurückkommen.“ Mit den Händen fing er das Wasser auf und trank davon.

„Bist du dir sicher, dass man das trinken kann?“ Emma, die in bisher sehr still gewesen war, trat neben ihn.

„Ja, sie wollen uns nichts tun.“ In einer beruhigenden Geste legte er ihr die Hand auf den Arm.

„Und du bist dir ganz sicher, dass sie wiederkommen und uns hier nicht vergessen?“ Kira klang, als wäre sie mit den Nerven fast am Ende.

„Ja, auch das. Sie haben keinen Grund uns etwas zu tun.“

„Na ja, wir sind Frischfleisch! – Das könnte Grund genug sein!“ Jackson trat ebenfalls an die Quelle.

„Nicht nur, dass ich ihnen vertraue, welche Wahl haben wir denn? Wollt ihr versuchen, den Weg zurück zu finden? Oder euch den Weg heraus alleine suchen?“ Eljakim trat zur Seite. „Ruht euch aus, es wird noch dauern, bis wir am Kraftwerk ankommen!“

Ein paar Schritte weiter setzte er sich auf den Boden, zog die Beine an, legte die Arme auf die Knie und seinen Kopf oben drauf. Wie lange war es her, dass sie geschlafen hatten? Hier unten verlor man jedes Zeitgefühl. War es Abend, Nacht oder Morgen? Sanft strich seine Seele über die Stränge in seiner Brust. Immer noch spürte er Casey besonders stark, doch jetzt quälten keine schwarzen Gefühle den anderen mehr. Er nahm helle, warme Gefühle wahr.

Würden sie sich am Ende dieses Weges wiedersehen? Ein schöner Gedanke, der ihm ein Lächeln entlockte.

Das hysterische Schreien von Kira und das Fluchen von Jackson, ließen ihn die Augen wieder aufschlagen. Im Schein der Taschenlampe, die in Emmas Hand heftig zitterte, sah er drei Wesen – oder Tiere – wie er sie noch nie gesehen hatte.

Ihre Größe entsprach ungefähr der eines Wolfes, obwohl er nicht sagen konnte, ob sie Vierfüßler waren oder diese Haltung nur zur schnelleren Fortbewegung nutzten. Auf ihren lang gezogenen Schädeln hatten sie sechs Paar riesige, dunkle Augen, über die im grellen Licht immer wieder eine durchscheinende Nickhaut glitt und die so angeordnet waren, dass sie alles um sich herum sehen konnten. Ihre schlanken Körper wurden von grau-grünlich schimmernden Schuppen bedeckt und sie hatten einen langen, echsenartigen Schwanz, der unruhig den Boden peitschte. Als die vorderste Kreatur ihr lippenloses Maul öffnete, sahen sie eine Doppelreihe scharfer, spitzer Reißzähne. Diese Wesen mussten vorhin über die frische Leiche in der Totenhöhle hergefallen sein.

Die Helligkeit schien den Bestien unangenehm, sie zischten und wandten hektisch ihre Köpfe.

„Was, zur Hölle, ist das?“, flüsterte Emma.

„Ich habe keine Ahnung und ich möchte es auch nicht herausfinden!“ Eljakim stand auf. „Langsam rückwärts gehen und immer das Licht auf diese Wesen halten.“ Seine Hand legte sich auf Emmas, stabilisierte den Strahl der Lampe.

Das Zischen wurde lauter, dicke hornige Zungen waren in den aufgerissenen Mäulern zu sehen. Kira schluchzte haltlos, wurde stolpernd von Jackson immer weiter zurückgezogen.

Die Monster, ein passenderes Wort schien es für diese Geschöpfe der Unterwelt nicht zu geben, folgten ihnen. Langsam gewöhnten sich ihre Augen offenbar an die Helligkeit, die hektischen Wischbewegungen der Nickhäute wurden seltener und die ausdruckslosen Augen fixierten ihre Beute. Unaufhaltsam kamen sie näher. Eines von ihnen richtete sich bedrohlich auf, zeigte ihnen seine mit krallenbewehrten Klauen.

Bevor die Wesen sie jedoch erreichen konnte, flogen lange Speere aus der Dunkelheit und durchbohrten die Seiten, Rücken und Hälse der Angreifer. Aus den Schatten traten mehrere No-Eyes und gingen zu ihrer Beute.

Der Mann, der sie bis hierher geführt hatte, trat auf Eljakim zu und legte erneut seine Hand an dessen Wange.

Verzeih, Deidono.‘ Sein aufrichtiges Bedauern, fühlte Eljakim in seinem Geist. Dann wies der Mann auf die Jäger um sich herum. ‚Wir, die Sinelumen, brauchten euren Geruch, um die Umbraculos hervorzulocken. Sie folgen dem Geruch menschlichen Fleisches.‘ Fast zärtlich strich sein Daumen über Eljakims Wangenknochen. „Jetzt werde ich euch zu dem Wasserkraftwerk bringen, damit du, Deidono, dein Schicksal erfüllst.“

 

„Warum fassen sie dich dauernd an?“, fragte Emma leise, als sie kurze Zeit später wieder hinter dem blonden Mann und dem Kind herliefen.

„Sie reden telepathisch miteinander und ich, als Anima, kann sie verstehen, wenn sie mich berühren.“ Gerade quälten sie sich über einen Geröllberg hinweg. Immer wieder stießen sie auf solche Hindernisse.

„Telepathisch? Ohne Worte?“

„Ohne die Worte auszusprechen. – Sie nennen sich Sinelumen und diese – Viecher sind Umbraculos.“ Durch schnelles Zugreifen verhinderte Eljakim, dass Emma auf einem sich lösenden Stein ausglitt. „Auf jeden Fall sind die Sinelumen oder No-Eyes keine Monster.“

„Aber merkwürdig sind sie schon!“

„Sind wir für sie auch, Emma. Wenn du hier unten in dieser lichtlosen, harten Umgebung aufwachsen wärst, dann wären wir die Monster für dich.“ Mit Schwung zog er sie hoch auf die Spitze des Steinhaufens.

„Mag sein, Eljakim, doch sie sind mir einfach unheimlich.“ Emma warf einen misstrauischen Blick auf die beiden Sinelumen. „Wenn es nur nicht immer so aussehen würde, als starren sie einen mit ihren komischen Augen an.“

„Das ist echt unheimlich!“ Kira war neben ihnen aufgetaucht. „Als könnten sie uns ohne Augen sehen.“

„Ich denke, so ähnlich ist es auch. Vielleicht haben sie im Laufe der Zeit einen eigenen Sinn entwickelt, der das Sehen bei Menschen und Anima ersetzt.“ Eljakim betrachtete die beiden Sinelumen, die geduldig auf sie warteten.

„Das macht sie noch unheimlicher!“

Eljakim lachte leise. „Warum, Kira? Sie leben in ständiger Dunkelheit, was nutzt ihnen ein Sinn, den sie nicht nutzen können? Vermutlich hat sich ihr Sehvermögen gewandelt in einen Sinn, der ihnen hilft, sich in ewiger Nacht zurechtzufinden. Was ist daran unheimlich? Nur weil sie nicht sind wie du, sind sie keine Monster!“

„Ich finde sie unheimlich!“, beharrte Kira und begann, auf der anderen Seite den Geröllberg hinunter zu klettern.

„Sie ist etwas schwierig, deine Freundin“, bemerkte Jackson, der ebenfalls den Scheitelpunkt erreichte. „Wenn wir aus dieser Hölle heraus sind, dann bekomme ich beide Flaschen Blackwater!“

„Die habe ich unterwegs stehenlassen, waren mir zu schwer zu tragen“, antwortete Emma und kletterte den Berg hinab.

„Das war doch jetzt ein Scherz, oder?“ Jackson sah Eljakim an.

„Da wäre ich mir bei Emma nicht sicher. Komm, dann wirst du es bald wissen.“, erwiderte er mit einem spöttischen Grinsen.

 

Noch eine Pause legten sie an einer Frischwasserquelle ein. Alle waren erschöpft, die Dunkelheit, die sie umgebenden merkwürdigen Geräusche, die Frage, wie lange es noch dauern würde, all dies zerrte an ihren Nerven.

Kira und Jackson fauchten sich abwechselnd an. Emma und Eljakim hatten es aufgegeben, schlichtend einzugreifen, und ließen sie sich streiten.

Irgendwann lief Eljakim wie in einem Trancezustand, der ihn seine Füße automatisch voreinander setzen ließ. So dauerte es eine Weile, ehe er bemerkte, dass sie bergauf gingen. Dieser Umstand belebte ihn, sie würden bald ankommen! Sofort pumpte sein Herz das Blut schneller durch den Körper. Seine Schritte wurden größer.

„Was ist los? Warum rennst du so?“, fragte Emma, die Schwierigkeiten hatte, mit ihm Schritt zuhalten.

„Wir gehen bergauf!“

Diese Worte veranlassten nicht nur Emma, sondern auch Jackson und Kira mit neuer Energie auszuschreiten, bis die Sinelumen stehenblieben. Eljakim trat zu ihnen und der Mann legte ihm, wie erwartet, die Hand auf die Wange.

Weiter gehen wir nicht. Ihr müsst nur dem Weg folgen, immer geradeaus. Dann kommt ihr bald hinaus. – Viel Glück, Deidono.‘ In einer völlig unerwarteten Bewegung beugte sich der Mann vor und küsste ihn auf die Stirn. Dann nahm er die Hand des Mädchens und verschwand in den schwarzen Schatten.

„Nicht mehr weit, dann erreichen wir das Ende des Tunnels“, wiederholte Eljakim die Information laut für seine Freunde, als er sich umdrehte. „Wir müssen nur diesem Weg folgen. Also los, lasst es hinter uns bringen. Ich sehne mich nach frischer Luft!“

„Ja, ich auch!“ Kira nickte energisch.

„Wer nicht?“, fragte Emma, dann sah sie Jackson an. „Außer dir vielleicht, du fällst mit deinem Gestank hier unten gar nicht auf!“

„Ja, ja, Mäuschen. Geh einfach weiter“, knurrte Jackson.

 

Wie lange waren sie unterwegs gewesen, ehe sie endlich wieder Umrisse erkennen konnten. Mit jedem Schritt wich die Dunkelheit dem Licht, das durch den Tunneleingang hereinfiel. Endlich konnten sie ins Sonnenlicht treten.

„Oh, Himmel, wir leben!“ Kira fiel Emma um den Hals. Sie alle lachten, der Druck der Zeit unter Erde wich der Erleichterung.

„Und nun bleiben wir mal schön stehen und heben die Hände über den Kopf!“

Eljakim fuhr herum. Hinter ihnen standen drei in schwarz gekleidete Personen, von denen sie zwei über den Lauf ihrer Waffe fixierten, während der Mann, der zu ihnen sprach, sie ausgiebig musterte. Jedenfalls nahm Eljakim das an, denn hinter der schwarzen Brille, die seine Augen verbarg, war dies nicht zu erkennen.

„Was haben wir da denn Schönes gefangen? – Legt ihnen Handschellen an und bringt sie ins Auto, wir nehmen sie mit!“ Damit drehte er sich um und ging. Rebellen – Jäger? In wessen Hände waren sie gefallen?

Bevor er sich weiter Gedanken darüber machen konnte, trat die Frau hinter ihn und zerrte seine Handgelenke auf seinen Rücken, wo sie sie mit einem Plastikband fixierte. Dann stieß sie ihm etwas in den Rücken, von dem er vermutete, dass es eine Waffe war. „Beweg dich.“

So kühl und beherrscht sie sich gab, er konnte ihre Nervosität spüren. Zuckendes Graublau.

„Beweg dich, Schlampe!“

Er drehte seinen Kopf und sah, wie der Mann Kira brutal mit seinem Gewehr in den Rücken stieß. Rötliche Wut umspielte ihn.

„Ganz ruhig. Wir haben nicht vor, uns zu wehren.“ Eljakims Stimme war laut und klar. Der Andere sah ihn an, schien zu überlegen, wie er reagieren sollte.

„Schluss jetzt! Er hat Recht, solange die Gefangenen kooperieren wird keine unnötige Gewalt angewandt!“ Der erste Mann, offensichtlich der Anführer, war hinter ihnen aufgetaucht. „Wir steigen in die Wagen und fahren!“

Der Blick des hinter Kira Gehenden verriet ihm eine mörderische Wut, die dieser nur mühsam zügelte. Hoffentlich Rebellen, dachte Eljakim während er in den Jeep stieg. Nicht, dass sie den Weg durch die Hölle hinter sich gebracht hatten, um hier durch eine Handvoll Jäger zu sterben.

 

Wiedersehen

„Verbindet ihnen die Augen!“ Der Anführer, jener Mann mit der verspiegelten Sonnenbrille, seine Aura strahlte große Selbstsicherheit aus. Stahlblau.

Ohne Widerspruch gehorchten die anderen und legten ihnen Tücher um die Augen.

„Oh, dieser hier stinkt, als ob sie eins von diesen augenlosen Monstern aus der Höhle mitgebracht hätten!“ Die Stimme einer weiteren Frau.

„Das würde ich nicht vor Casey wiederholen.“ Die sympathische Stimme eines anderen, jüngeren Mannes.

Rebellen. Und sie brachten sie dorthin, wo sie sowieso hingewollte hatten. Eljakim musste lächeln.

„Grins nicht so blöd!“ Der Rebell, der vorhin schon aggressiv gegen Kira vorgegangen war. Offenbar saß er direkt vor ihm. Rote Wellen heißer Wut.

„Wo ist dein Problem?“, fragte er leise.

Der Schlag traf ihn unvorbereitet und sein Kopf flog zur Seite.

„Halt’s Maul und sprich nicht mit mir, Seelenfresser!“ Dieser Mann schien innerlich zu kochen.

„Hör sofort auf, Hayden! Spinnst du einen gefesselten Mann zu schlagen?“ Die Stimme des Anführers. „Setz dich um. Ich hätte dich nicht mitnehmen sollen!“

„Er ist kein Mann! Er ist ein Seelenfresser!“ Hayden spukte die Worte förmlich aus und entfernte sich ein Stück von Eljakim.

 

„Alles okay?“ Jetzt saß der Anführer vor ihm. „Hayden ist noch etwas durch den Wind. Normalerweise ist er nicht so unkontrolliert.“ Ein feuchtes Tuch wurde gegen seine Wange gedrückt. „Wir haben leider kein Eis oder Ähnliches.“

„Schon gut“, antwortete er.

„Ihr kommt aus dem IC?“

„Nein, aus der Unterwelt.“

„Und ihr wollt euch uns anschließen?“ Die Frage klang lauernd.

„Warum, könnt ihr uns nicht gebrauchen?“

„Oh, wir brauchen jeden Mann, jede Frau und vielleicht sogar einen Anima. Wir sind im Krieg.“ Der Mann hatte sich vorgebeugt, Eljakim spürte seinen Atem im Gesicht, er roch nach Tabakrauch. Dieser Mann war berechnend. Glänzendes, zuckendes Stahlblau.

„Aber?“

„Aber das Leben als Gesetzloser ist hart. Rebellen sind vogelfrei und werden gnadenlos gejagt, auf unsere Köpfe ist eine hohe Prämie ausgesetzt, tot oder lebendig …“

„Wenn du das erzählst, dann klingt das echt Scheiße. Lass das lieber Casey erzählen, bei ihm hat man nicht das Gefühl, gleich weglaufen zu müssen.“ Der andere junge Mann. Eine freundliche Stimme, die zu der dunkelblauen Aura passte.

„Ich versuche nur zu sagen, dass wir uns hier nicht in einer scheiß verklärten Abenteuergeschichte befinden, sondern im wirklichen Leben! Hier stirbt man unter Umständen auch mal!“

„Verdammt! Hier stirbt man nicht vielleicht unter Umständen! Liam, Manson, June, Roxanne und Rodriguez sind gestorben! Getötet von der IC-Security. Wie Tiere dahingeschlachtet.“ Hayden, der zornige Mann, hinter dessen Wut sich so viel Trauer und Angst verbarg. Solange er sich nicht davon löste, würde er in dieser Wut gefangen sein.

„Und trotzdem kannst du diese Gespräche Casey überlassen, Kaden!“ Wieder die freundliche Stimme. Den Einwurf von Hayden ignoriere er klugerweise. „Wenn sie sich uns anschließen wollen, werden sie ihre Gründe haben.“

„Trotzdem …“

„Kaden, wenn du mir in dieser Grabesstimme diesen Scheiß erzählt hättest, säße ich schon längst wieder im IC!“ Eine gewisse Schärfe lag jetzt in der Stimme. „Überlass es Casey!“

Kaden war der Anführer dieser Truppe, aber den jungen Mann schien das nicht zu beeindrucken.

„Du hast eine ganz schön große Klappe, Jesse. Denkst du, weil du Ahnung von Sprengstoff hast, kannst du Liams Platz einnehmen? Im Team und in Caseys Bett?“

„Schluss, Kaden! Du gehst zu weit!“ Eine energische junge Frau, die vorne saß und anscheinend den Jeep fuhr.

Ein Schnaufen des Mannes vor ihm war die Antwort.

Schweigend setzten sie die Fahrt fort, die nicht viel später auch schon wieder endete.

„Jetzt wird es ein bisschen holprig, aber am Ende der Brücke sind wir dann auch fast da“, sagte Jesse beruhigend zu ihnen.

Es fühlte sich unheimlich an, der Jeep schwankte besorgniserregend. Doch die Auren der Rebellen veränderten sich nicht, es drohte keine Gefahr.

„Oh Mist, gleich kotze ich euch vor die Füße!“, jammerte Kira.

„Wir sind fast drüben“, erwiderte Jesse sanft.

 

Plötzlich fühlte er sich erschöpft und seine müden Gedanken verselbstständigten sich galoppierend. Wer war jener Liam gewesen? Caseys Geliebter? Und was war ihm passiert? War sein Tod der Grund für Caseys bodenlose Trauer, seinen Schmerz gewesen? Hatte er ihn vielleicht geliebt? Und wenn ja, gab es etwas, das Casey und ihn selbst verband – außer seiner Liebe für den Anderen?

Zum allerersten Mal hatte Eljakim Zweifel. Nicht an sich und seinen Gefühlen, jedoch an Caseys Gefühlen. Wie selbstverständlich war er davon ausgegangen, dass dieser dasselbe fühlte, wie er. Es bestand jedoch die Möglichkeit, dass dies nicht so war, dass Casey ihn nicht liebte.

Unter Umständen hatte der Andere ihn vergessen, spürte das Band zwischen ihnen nicht … immerhin waren sie fast noch Kinder gewesen … und Casey ein Mensch …

Allein diese Gedanken verursachte Schmerzen, körperliche und seelische. Auf einmal verstand er Kiras Übelkeit.

 

Als der Wagen das nächste Mal hielt, war seine Angst zu einem Knoten in seiner Brust geworden. Was, wenn er hier gar nicht willkommen war? Wenn Casey ihn nicht wiedersehen wollte? Vor über fünf Jahren waren sie sich das einzige Mal begegnet und hatten nur wenige Worte geteilt. Für ihn hatte es nie einen Zweifel gegeben, aber was wusste er von Casey und seinen Gefühlen?

„Aussteigen!“ Kadens Befehl zwang ihn, in die Gegenwart zurückzukehren und sich dem zu stellen, was ihn hier erwartete. Ohne sich konzentrieren zu müssen, spürt er Casey. Er war in der Nähe, nicht unmittelbar, doch für Eljakim deutlich wahrnehmbar. Sein Herz schlug augenblicklich schneller.

„Was habt ihr uns denn da Schönes mitgebracht?“ Eine tiefe sympathische Frauenstimme.

„Hallo, Mel, die sind aus dem Tunnel gekrochen, als Jesse sich die Brücke ansehen wollte“, antwortete Kaden. „Mal sehen, was Casey zu ihnen sagt.“

„Den einen müssen wir aber erst desinfizieren, der stinkt wie eins der Tunnelmonster!“

„Ich hoffe, du meinst nicht die Sinelumen, Ava!“

Die Stimme brachte jede Faser seines Körpers zum Schwingen. Nur wenige Schritte trennten Eljakim noch von dem Mann, den er liebte. Caseys Aura wahr dunkelgrün durchzogen von silbernen Fäden. Silber fand sich sonst nur in den Auren der Anima! Was immer der Andere für ihn fühlte, er war mit ihm verbunden! Was immer auf der Brücke zwischen ihnen geschehen war, er hatte etwas von seinem Sein an Casey weitergegeben! – Was eigentlich unmöglich war!

„Ich habe es dir gesagt“, raunte Jesse der jungen Frau leise zu.

„Nein, natürlich nicht, Casey. Doch da unten lebt so viel Getier …“, antwortete die Frau und Eljakim hätte gewettet, dass sie rot geworden war. Ihre Aura zeigte ihre Demütigung vermischt mit Scham deutlich.

 

„Und warum sind sie gefesselt und ihre Augen verbunden? Damit sie den Weg zum Wasserkraftwerk nicht wiederfinden? Diesen Weg kennt jeder Soldat der IC-Security!“ Sanfter Spott schwang in Caseys Stimme mit.

Hinter Eljakim war er stehengeblieben, löste die Fesseln, ehe er um ihn herumging und sich vor ihn stellte. Konnte er ihn fühlen? Sein Herz schlug hart gegen seine Rippen, seine Kehle war trocken und in ihm tobte ein Orkan.

„Weil der dort ein Seelenfresser, ein Mörder ist!“, knurrte Hayden hasserfüllt.

Casey stand so dicht vor ihm, dass er seine Körperwärme spüren konnte, seinen Duft wahrnahm. Alles in Eljakim strebte dem Mann entgegen. Hände legten sich an das Tuch, das seine Augen verband und lösten den Knoten.

„So, ein Seelenfresser …“ Caseys Stimme klang weich, erwartungsvoll.

 Seine Augen waren geschlossen, trotzdem spürte er, dass Casey nervös war, ihn anstarrte. Ganz langsam öffnete er die Augen, sah in die samtbraunen Iriden seines Geliebten. Unglaube ließ dessen Pupillen weit werden.

Wie lange starrten sie sich an? Die Welt um sie herum existierte nicht mehr. Die Erde hatte aufgehört sich zu drehen und das Universum hielt die Luft an. Eljakim hob die Hand und legte sie sachte auf Caseys Herz. Augenblicklich spürte er das pulsierende Band intensiver, spürte den Fluss ihrer Gefühle. Ohne etwas dagegen tun zu können, übermannt von den tiefen Emotionen und der Erinnerung, trat er einen Schritt näher, legte seinen freien Arm um Caseys Taille, der seine Hände auf Eljakims Brust legte, bereit hochzufahren und sie in seinen Nacken zu schieben, ihn erneut in einen Kuss zu ziehen.

Er liebte Casey und Casey liebte ihn! Kein Zweifel! Und keine Worte konnten beschreiben, was dies ihn ihm auslöste.

 

„Nimm die Finger von ihm, verdammter Seelenfresser!“ Der Gewehrkolben traf ihn an der Schläfe und sein letzter Gedanke gehörte Casey, bevor ihn die Dunkelheit umfing.

 

„Wie geht es ihm, Pharrell?“ Sorge machte Caseys Stimme dünn. Hören konnte er ihn, aber er fühlte sich noch etwas benommen, sein Kopf brummte und die Augenlider waren noch zu schwer, um sich nach oben zu bewegen.

„Er hat einen harten Schädel, Casey, mach dir keine Sorgen. – Das ist er, nicht?“ Die Stimme war tief und wohlklingend. „Der Junge von der Brücke.“

„Ja“, lautete die simple Antwort.

„Eigentlich musst du Hayden dankbar sein. Was wäre passiert, wenn du ihn da unten geküsst hättest?“ Eljakim versuchte, die Emotionen des anderen Mannes zu spüren, doch er fühlte nur Casey. So intensiv, als würden zwei Herzen in seiner Brust schlagen.

„Na und? Dann hätten sie gewusst, worüber sie schon lange spekulieren. – Meinst du ich weiß nicht, dass sie sich das Maul über Liam und mich zerrissen haben?“ Nicht die Aura, nicht den Fluss der Emotionen spürte er, sondern die Emotion selbst, so als wäre ein Teil von ihm genervt über den Umstand, dass die anderen redeten. So hatte er noch nie einen Menschen oder Anima gefühlt!

„He, mich brauchst du nicht anzumeckern. Ich bin auf deiner Seite. Meinst du, für mich und Jesse ist es leichter?“

Der andere Mann, Pharrell, war also auch schwul!

„Nein, aber ich will mich nicht mehr verstecken! Nicht, wenn Eljakim hier ist!“ Casey sprach seinen Namen so weich und warm aus, dass eine Gänsehaut über seine Arme kroch. Dann legte Casey seine Hand auf Eljakims Schulter, löste damit sanftes Kribbeln aus. „Ich kann es gar nicht. Er ist ein Teil von mir, ein Stück meines Herzens, meiner Seele. Jeder kann es sehen, wenn ich ihn nur anschaue. – Pharrell, er ist mein Schicksal.“

Zärtlich hatte Casey bei seinen Worten die Finger hinunter bis zu seiner Hand gleiten lassen. Als er über die Finger strich, griff Eljakim zu. Nicht fest, nur geradeso, dass er Caseys Hand festhielt.

Energie durchströmte ihn und er öffnete die Augen, sah in Caseys, der sich über ihn gebeugt hatte. Mit einem Lächeln betrachtet dieser ihn.

„Ich komme dann später wieder.“ Doch das hörten sie nur am Rande, ebenso wie Pharrells tiefe Lachen und das Klappen der Tür, als er das Zimmer verließ.

 

„Hallo“, flüsterte Casey. „Es tut mir Leid …“

„Vergiss es … Casey.“ Der Name glitt über seine Zunge, weich wie eine Liebkosung, hallte in ihm wieder. Er hob die Hand, fuhr durch die kurzen blonden Haare, so hell wie ein Weizenfeld im Sonnenlicht.

„Elja …“, flüsterte Casey die Antwort, überbrückte die Distanz und küsste ihn.

Wenn er je einen Zweifel gehabt oder eine Bestätigung für seine Gefühle gebraucht hätte, dann war dieser Kuss die Antwort, das Versprechen, das Siegel ihrer Liebe.

Eljakim rutschte, ohne seine Lippen von Caseys zu nehmen, ein Stück zur Seite und zog den Anderen neben sich auf das Bett.

Es war ein unschuldiger, sanfter Kuss, der nur aus der zärtlichen Berührung ihrer Lippen bestand.

„Meine Hoffnung“, flüsterte Casey heiser, als sie sich für einen Atemzug trennten.

„Meine Liebe“, murmelte Eljakim die Antwort und verschloss erneut Caseys Mund mit seinem. Vorsichtig er strich mit seiner Zunge über Caseys Lippen, die sich ihm bereitwillig öffneten. Jede Berührung erfüllte ihn mit Emotionen, hüllte sie beide ein. Ein begrüßender, kennenlernender Tanz ihrer Zungen, ihrer Seelen.

 

„Was ist das, was ich empfinde, wenn du mich berührst?“, fragte Casey. Eng umschlungen lagen sie auf dem Bett.

„Ich weiß nicht, was spürst du?“

„Es fühlt sich an … wie eine Verbindung zwischen uns, ich spüre dich in mir.“ Casey streichelte durch Eljakims Gesicht. „Ich fühle deinen Herzschlag, deine Liebe.“

„Das dürftest du nicht können.“ Er musste sich einen Kuss von Caseys Lippen stehlen. „Du bist ein Mensch und dürftest mich nur wahrnehmen, wenn ich die Hand auf dein Herz lege.“

„Ich habe dich vor zwei Tagen gespürt. Genauso wie damals auf der Brücke. Du hast die Dunkelheit und Trauer von mir genommen.“ Diesmal stahl sich Casey einen Kuss.

„Vor über fünf Jahren, auf der Brücke, muss etwas zwischen uns geschehen sein. Etwas Besonderes, das es so bisher nicht gab – oder das noch nie überliefert wurde!“ Wieder küssten sie sich.

„Was spürst du jetzt?“ Eljakim ließ etwas von dem Gefühl der Liebe, die er für ihn empfand, zu Casey fließen.

„Dass du mich genauso liebst, wie ich dich“, erwiderte Casey und zog ihn in den nächsten Kuss. „Ich müsste dich tausend Dinge fragen, dir mindestens genauso viele sagen, doch ich will dich nur fühlen. So lange habe ich auf dich gewartet.“

 

Es klopfte an der Tür. „Casey? Können wir reden?“ – Kaden.

„Wer ist er?“

„Einer, der schon ewig bei den Rebellen ist.“ Casey rollte sich vom Bett. „Lauf mir nicht weg!“

„Ich warte hier einfach auf dich.“ Lächelnd betrachtete Eljakim, wie sich Casey durch die kurzen Haare fuhr, ehe er die Tür öffnete. Als ob es etwas nützen würde, so rot geküsst wie seine Lippen aussahen.

Entsprechend wanderte der Blick des Mannes an der Tür auch von Caseys Lippen zu ihm. Zum ersten Mal sah er die extrem hellen Augen Kadens, die er vorhin hinter der Sonnenbrille verborgen hatte.

„Können wir in Ruhe reden?“ Ein weiterer vielsagender Blick ging zu Eljakim.

„Du kannst vor Eljakim offen sprechen“, erwiderte Casey kühl.

„Es geht um … du weißt schon!“ Kaden war offensichtlich nicht bereit, vor dem Fremden zu reden. Casey seufzte vernehmlich.

„Ich bin gleich wieder da“, mit dem Versprechen und einem langen Blick auf Eljakim trat er auf den Flur und schloss die Tür.

 

Eljakim stand auf, ging in das kleine Bad, das neben dem Turmzimmer lag und begutachtete sein Spiegelbild, um zu sehen, wie schlimm er aussah. Immerhin hatte ihm Hayden mit einem Gewehrkolben ins Gesicht geschlagen.

Dafür jedoch war wenig zu erkennen. Sein Wangenknochen hatte sich leicht verfärbt, sonst sah sein Gesicht normal aus. Die Energie, die beständig zwischen ihm und Casey floss, musste das ihre dazu beigetragen haben.

Konnte dieser intensive Energiefluss Casey, der ein Mensch war, schaden? Doch Casey spürte Gefühle wie ein Anima und er trug Silber in der Aura. Etwas in ihm war anders – anders als bei all den Menschen, denen er bisher begegnet war – und von denen er gehört hatte.

Nachdenklich strich er sich durch die schwarzen Haare, die in den letzten Wochen so lang geworden waren, dass sie bis zu seinen Schultern reichten.

Eine Dusche befand sich in dem kleinen Raum. Luxus, den es in der Unterwelt nicht gegeben hatte. Dort musste man mit etwas Wasser in einer Schüssel zurechtkommen. Schnell warf er einen Blick in das Zimmer. Von Casey war noch nichts wieder zu sehen. Eljakim streifte seine Kleider ab und trat unter die Dusche, genoss das heiße Wasser, das über seinen Kopf und seinen Körper hinunterlief. Wie sehr man etwas Alltägliches zu schätzen lernte, wenn man es über einen längeren Zeitraum nicht gehabt hatte! Mit Caseys Seife, die nach Sandelholz roch, schäumte er sich ein. So sauber hatte er sich seit einer Ewigkeit nicht gefühlt!

Ohne sich umzudrehen, wusste er, dass Casey in der Tür des Badezimmers stand und ihn betrachtet. Die roten Empfindungen seines Begehrens fanden sich in Eljakims Gefühlen wieder.

„Du könntest auch hereinkommen.“

„Hm, die Dusche ist ziemlich klein – und ich will dich auf meinem Bett.“

Eljakim warf ihm einen Blick über seine Schulter zu. „Dann gib mir wenigstens ein Handtuch.“

„Ich trockne dich ab!“ Ein weißes Handtuch breitete Casey zwischen seinen Händen aus. „Und was ich nicht abtrockne, puste ich trocken.“

Caseys Blick, der an ihm herabglitt, sorgte dafür, dass sich seine Härchen aufstellten. Aus der Dusche tretend ließ er sich von Casey in das Handtuch wickeln und abtrocknen.

Dieser setzte kleine Küsse in seinen Nacken, auf seine Schulter und er schloss die Augen, genoss mit allen Sinnen.

„Komm, Elja“, flüsterte Casey, nahm seine Hand und er folgte ihm, würde ihm überall hin folgen.

 

Vor dem Bett drehte sich Casey zu ihm um und lächelte. „Du bist unglaublich schön.“ Mit den Fingerspitzen fuhr er über Eljakims Schulter, das Schlüsselbein, über seine Brust und die Bauchmuskulatur, bis er seine Hand auf der Hüfte liegen ließ. Sein Daumen berührte vorsichtig die kleine Narbe, die von der Schussverletzung zurückgeblieben war. Gänsehaut war seinem Streicheln gefolgt. Casey beugte sich vor und küsste Eljakim. „Damals warst du kleiner als ich“, hauchte er gegen die Lippen, strich neckend mit seiner Zunge darüber und wich zurück, als Eljakim ihn küssen wollte. „Heute bist du fast größer als ich.“

„Ich bin größer“, entgegnete Eljakim schmunzelnd und schlang seine Arme um ihn. Ihre Augen verhakten sich, sagten einander so viel mehr, als Worte es gekonnt hätten.

Casey wollte ihn küssen, doch diesmal wich Eljakim spielerisch aus. „Erst ziehst du dich aus.“ Lächelnd ließ Eljakim ihn aus seiner Umarmung und legte sich auf das Bett. „Komm schon, zeig mir was.“

Mit einem Grinsen begann Casey sein Hemd aufzuknöpfen und ließ es von seinen Schultern gleiten.

Caseys Körper wurde von ausgeprägten Muskeln definiert, deren Verlauf Eljakims Augen folgten. Straff und samtweich spannte sich seine helle Haut darüber, verführte zum Anfassen und Streicheln.

Langsam strich Casey mit seinen Händen über seine Seiten hinunter zu dem Bund der schwarzen Hose. Unter Eljakims brennendem Blick öffnete er Knopf für Knopf, streifte die Hose über seine Hüften, stockte einen Moment und wartete, bis Eljakim ihm ins Gesicht sah, dann lächelte er. „Mehr?“

„Alles!“ Eljakim befeuchtete seine Lippen mit der Zungenspitze. „Ich würde gerne jeden Zentimeter deiner Haut erkunden.“

Casey schob die Hose herunter und kletterte direkt auf das Bett zwischen Eljakims geöffnete Beine. Er küsste sich von den Knöcheln hoch über die zarte Haut der Innenseiten zu Eljakims Leisten.

„Komm her!“ Eljakim streckte seine Hand nach ihm aus.

„Nicht so ungeduldig“, murmelte Casey, während er mit der Zunge den Bauchmuskeln hinauf fuhr bis zu den kleinen Brustwarzen, die er zwischen seine Lippen nahm und dabei tief in Eljakims Augen sah. Sanft zupfte er daran, hörte das leise Keuchen, das dem Anderen entkam, wechselte zur anderen und genoss die Lust, die er damit schenkte. Mit seiner Zungenspitze leckte er über das Brustbein, den Hals bis zum Ohr, folgte der Linie des Kinns und küsste ihn.

Eljakim rollte sich über ihn. „Ich wollte jeden Zentimeter von deiner Haut erkunden …“

„Dann tu das“, flüsterte Casey und biss ihn leicht in die Unterlippe. „Alles gehört dir.“

„Du machst mich verrückt, Ca, ich will dich schnell und ich will dich unendlich langsam. Ich will dich spüren und dich nehmen. Ich verbrenne vor Verlangen und möchte jeden Millimeter von dir erkunden.“ Mit einem harten Kuss eroberte er Caseys Mund. „Sag mir, was ich machen soll.“

„Nimm mich schnell und lass es ewig dauern. Elja“, raunte Casey und küsste ihn ebenso verlangend, bis sie sich keuchend trennten.

Zärtlich begann Eljakim Caseys Körper zu erkunden. Die kleine Narbe an der linken Schulter, ein winziges, ovales Muttermal unter der rechten Brustwarze, eine weitere, ältere Narbe, die sich dünn über seine linke Seite zog … unter den zarten Berührungen seiner Lippen und Zunge bildete sich eine Gänsehaut. Manchmal kicherte Casey verhalten, bei anderen Berührungen krallte er sich in das Bettlaken und stöhnte leise, ohne ihn nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.

Irgendwann – Stunden oder Sekunden später - war er zwischen Caseys Beinen angekommen, widmete sich zum ersten Mal dem wunderschönen beschnittenen Glied des anderen. Es war lang und nicht zu kräftig. Ein gutes Gefühl, seinen Lippen darum zu schließen und es tief aufzunehmen.

„Elja“, stöhnte Ca lang gezogen und legte den Kopf in den Nacken, sein Becken hob sich. Offen genoss er die Lust, die ihm Eljakim schenkte.

„Sieh mich an, Ca!“ Er löste seinen Mund und befeuchtete einen Finger, um damit vorsichtig Cas Eingang zu massieren.

Ca öffnete ein Stück die Lider, sein Atem ging kurz und schnell. Dann winkelte er die Beine an, entspannte sich und Eljakims Finger glitt hinein. Mit wenigen tastenden Bewegungen hatte er jenen Punkt gefunden, der Ca hemmungslos aufstöhnen ließ. War das geil! Mit jeder Faser seines Körpers spürte er neben seiner eigenen durch das pulsierende Band auch die Lust, die er Ca schenkte.

Bevor er fragen konnte, schob Casey ihm eine Dose in die Hand und er öffnete sie lächelnd. Der Anblick, den Casey ihm bot, war unglaublich!

Eljakim beugte sich über ihn und küsste ihn. „Ich liebe dich, Ca!“ Da er zeitgleich mit zwei Fingern ein den Anderen eindrang, blieb dem nicht viel mehr, als ihn aufstöhnend in einen weiteren Kuss zu ziehen.

Vorsichtig ließ er einen weiteren Finger folgen und spürte eine leichte Nervosität bei Casey. „Du hast noch nie?“, fragte er zwischen zwei Küssen. Kopfschütteln war die Antwort. „Vertrau mir, ich passe auf dich auf.“ Nach einem weiteren verzerrenden Kuss rutschte er wieder zwischen Caseys Beine. Mit kleinen Küssen über die angespannte Bauchmuskulatur kehrte er zu Cas Erektion zurück. Tief nahm er ihn auf, Caseys griff fast verzweifelt in seine Haare, gab seine Anspannung in kleinen, heiseren Töne Ausdruck.

So sehr es ihn verlangte, sich in Casey zu versenken, so wenig wollte er ihm wehtun. Er entließ Casey, widmete sich seinen Hoden und saugte kleine Male auf die empfindliche Haut daneben, ließ dabei seine Finger vorsichtig den Muskelring dehnen.

„Elja, bitte …“

Ein dünner Schweißfilm hatte sich auf Caseys Haut gebildet, seine Augen waren groß und sein Blick brannte vor Verlangen. Glühend rote Wellen schlugen zwischen ihnen hin und her. „Ich kann nicht mehr!“ Und er zog seine Beine ungeduldig dicht an seinen Körper, bot sich an. „Nimm mich endlich!“

Ein Angebot, dem Eljakim nicht widerstehen konnte. Er rutschte höher und drang vorsichtig ein, immer Casey und seine Reaktionen beachtend. Jede Regung spürte er direkt in seiner Seele, jeden Schmerz und jedes Unwohlsein. Zärtliche Küsse, sanfte oder fordernde Streicheleinheiten brachten sie immer weiter, bis sie einander so nahe waren, wie sie es überhaupt nur seien konnten.

Sie küssten sich und Eljakim fragte sich, ob auch Casey diesen Strom von Emotionen zwischen ihnen fühlen konnte – und wenn ja, ob er ihn auf Dauer aushalten konnte?

Die Finger des Anderen verhakten sich in seinem Nacken, die Schokoaugen suchten seinen Blick. „Ich liebe dich, Elja!“

Der Körper unter ihm kam ihm entgegen und er nahm einen sanften Rhythmus auf, der sich schnell steigerte. Ihre Lust wuchs mit jedem Stoß, ihr Atem kam nur noch stoßweise und keuchend. Ihre Küsse waren kurz und unkoordiniert. Alles strebte nur noch auf das eine hin.

Eine brennende Woge erfasste sie, riss sie mit, katapultierte sie hoch zwischen leuchtende Sterne, in ein völlig eigenes Universum. War es Glück oder ihre Liebe, die sie silbern durchfloss und alles bisher Erlebte verblassen ließ?

Caseys Arme hielten ihn umschlungen und langsam drang die Welt wieder zu ihm vor. Jede seiner Zellen war mit Energie gefüllt. Ein wenig fürchtete er sich, dass er Casey geschadet haben könnte. Eljakim hob den Kopf und sah ihn besorgt an. Ein zufriedenes und glückliches Lächeln lag in dessen Gesicht.

„Wow! Das war unglaublich!“

„Ja! Wahnsinn!“ Er küsste Casey zwischen die Augen, auf die Nase, auf jeden Mundwinkel und endete schließlich auf seinem Mund.

„Ist das bei euch immer so“, fragte Casey, als Eljakim seinen Mund wieder frei gab.

„Nein, das war einmalig, so ist es nur mit dir!“ Wieder ein Kuss. „Wie fühlst du dich?“

„Gut. – Nein, sehr gut! Hervorragend. Glücklich. Geliebt. Verliebt. – Brauchst du noch mehr?“ Casey lachte, als er ihn leicht kitzelte. „Hör auf!“

„Du bist kitzelig – sehr gut!“ Doch statt ihn weiter zu kitzeln, küsste er ihn erneut.

„So gerne ich hier den ganzen Tag mit dir verbringen würde, ich muss heute noch eine Entscheidung treffen!“ Casey fuhr mit beiden Händen durch sein Haar und legte sie dann an seine Wangen. „Und ich hätte dich gerne dabei an meiner Seiten.“

„Und deine Leute? Wie werden sie darauf reagieren, dass du nicht nur auf Männer stehst, sondern auch noch auf einen der verhassten Anima?“ Eljakim wollte sich von ihm lösen, doch Casey hielt ihn fest.

„Das ist mir egal, wenn sie wollen, dass ich verschwinden soll, dann tue ich das – und zwar mit dir, wo immer du hingehst, werde ich dir folgen!“ Noch einmal küsste er ihn, ehe er losließ. „Denn du bist mein Schicksal, Elja!“

Die Brücke

„Es handelt sich um eine Netzwerkbogenbrücke. Sie besteht aus zwei Bögen und der dazwischen eingespannten Fahrbahnplatte, die stabilisiert wird durch das seitliche Hängernetz. Unter diese Betonplatte müssten mehrere Minen gesetzt und in dem Moment gesprengt werden, in dem der Konvoi die Brücke quert. Bricht die Brücke dann erwartungsgemäß ein, wird der darunter gelegenen Teil des Tunnels ebenfalls einstürzen.“ Jesse stand neben einer Tafel voller Berechnungen. „Da der Übergang für uns, aufgrund der effektiven Sicherheitsmaßnahmen des IC, nicht einsehbar ist, muss derjenige, der die Sprengung auslöst, sich direkt darunter aufhalten.“

Seine Stimme klang neutral, doch jeder wusste, dass dies ein Himmelfahrtskommando war. Wer immer die Sprengung auslösen würde, käme nicht wieder zurück.

Eljakim sah, wie Pharrell schluckte. Wer würde sich für einen solchen Auftrag melden? Und wenn sich keiner bereit erklärte, wen würde Casey auswählen? Jesse, der die Ladung setzte? Oder war ein Sprengmeister zu wertvoll?

„Das heißt, dass derjenige, der die Ladungen zündet, sterben wird“, brachte Casey die Ausführung auf den Punkt.

„Ja, die Zeit reicht nicht, den Tunnel zu verlassen“, bestätigte der junge Mann mit einem Nicken. „Ich würde …“

Casey hob die Hand und brachte ihn zum Schweigen, dann sah er den Frauen und Männern vor sich einzeln ins Gesicht, anschließend zu Eljakim, der neben ihm saß. Ihre Blicke trafen sich und er streckte die Hand aus, die Eljakim ergriff.

„Ich kann und werde das von keinem von euch verlangen, darum werde ich gehen.“ Seine Hand schloss sich fest um Eljakims, der den Druck erwiderte.

Sofort sprangen Mel und Pharrell auf, um gemeinsam mit Hayden und Cynthia auf ihn einzureden, Argumente in den Raum zu werfen, die diese Idee ad absurdem führten.

„Du spinnst, Junge!“ Jacksons Stimme übertönte den einsetzenden Widerspruch. „Du bist die Hoffnung, und zwar nicht nur für die Menschen, die hier Seite an Seite mit dir kämpfen. Nein, du bist auch die Hoffnung für die Menschen, die aufgrund der Gesetze des IC, im Untergrund leben – vegetieren. Dein Name ist es, den sie dort unten flüstern. Deine Taten, die sie von Ohr zu Ohr raunen.“

Nachdem sich alle ihm zugewandt hatten, stand er auf. Im Laufe des Tages hatte Jackson gebadet und frische Kleider angezogen. Sein Äußeres ließ zum ersten Mal erahnen, welcher Mann er gewesen war, bevor das Schicksal ihn so schwer getroffen hatte. Rasiert und mit zurückgekämmten Haaren wirkte er jünger, seine straffe Haltung strahlte Entschlossenheit aus.

„Dort unten herrschen neben dem täglichen Kampf um das nackte Überleben, Wut, Hass und Verzweiflung. Der IC breitet sich gnadenlos aus, schluckt Stück für Stück den Rest der Nördlichen Stadt. Erst vor Kurzem wurde wieder der Grundstein für ein neues, noch höheres und teureres Gebäude gelegt. Die Menschen, die dort vorher in kleinen Ein- und Zweifamilienhäusern im Ersten Bezirk lebten, sind auf mysteriöse Weise verschwunden – oder ihre Häuser brannten ab – oder sie hatten einen tödlichen Unfall. Fragt Kira, wie das im IC funktioniert. – Täglich schicken sie Babys, Kinder oder Erwachsene, die nicht den strengen ästhetischen Maßstäben des IC genügen in den Untergrund, um die eine, reine und perfekte Rasse zu generieren. Zeitgleich kürzen sie die Wasserrationen für die Bewohner dieses menschlichen Abfallbeckens, das sie geschaffen haben.“ Jackson sah Casey direkt an. Seine dunkelblauen Augen funkelten herausfordernd.

„Die Unterwelt ist wie ein Haufen trockener Reisig, der auf den Funken wartet, der ihn entzündet. – Du, Casey, bist nicht nur ein Funke, du bist eine hell leuchtende Fackel! Wenn du es willst, wird der Untergrund aufstehen und sich gegen den IC erheben. Für dich werden sie brennen! – Stirbst du jedoch bei dieser Aktion, stirbt dein Ruhm, dein Einfluss, deine Macht mit dir. – Darum darfst du nicht gehen! Wenn jemand gehen und dort oben sterben muss, dann ein versoffener Schreiberling, dessen besten Jahre längst hinter ihm liegen, der alles, was ihm etwas bedeutete, verlor und den die Menschheit schon vor Jahren vergessen hat. – Ich werde diese Ladungen zünden!“ Tränen glitzerten in Jacksons Augen und heiser flüsterte er: „Lass es mich für dich tun. Lass es mich für Rahel tun!“

Eljakim spürte, wie tief Casey Jacksons Worte berührten. Obwohl Ca wusste, dass ihm die Rebellen bisher bedingungslos gefolgt waren, dass sie ihn teilweise verehrten, kam dieser Beweis von Treue und Loyalität doch unerwartet. Casey wollte einen Schritt auf Jackson zu gehen, ihm widersprechen, dieses Opfer nicht annehmen, doch Eljakims Hand hielt ihn fest.

„Jackson weiß, was er tut. Er hat seine große Liebe und damit den Sinn seines Lebens verloren. Der einzige Sinn, den er noch finden kann, ist die Revolution, bist du. Lass ihn gehen. – Wenn ich an seiner Stelle wäre und dich verloren hätte, würde ich auch gehen“, raunte er ihm zu.

Hin und her gerissen sah Casey ihn an, Emotionen tobten in ihm. Die Liebe zu den Menschen, die ihm hier ihre Zuneigung auf so unglaubliche Weise zeigten. Die Angst, den Erwartungen in seine Person nicht gewachsen zu sein und der Wunsch, diesen Kampf für seine Freunde, Gefährten und seinen Geliebten zu gewinnen.

„Du weißt auch, dass er Recht hat. Wenn du – wir – sterben, dann stirbt die Hoffnung. – Nicht nur für die Menschen, auch für die Anima.“ Eljakim zog ihn zu sich. „Wenn du gehst, dann gehe ich auch!“

„Ich weiß.“ Für einen winzigen Augenblick erlaubte sich Casey die Schwäche, sich an Eljakim zu lehnen.

 

Eljakim verzichtete darauf, Casey zu küssen, sie standen jedoch Hand in Hand so eng, dass an der Art ihrer Verbindung kein Zweifel bestehen konnte.

Als sie vor einer Stunde die Zentrale betreten hatten, sahen ihnen elf Augenpaare entgegen. Keiner von den Anwesenden reagierte auf ihr gemeinsames Erscheinen. Ein gelbliches Flackern fühlte er kurzfristig in der Aura von Reeves – Eifersucht? Die anderen waren angespannt, aber neutral, auch als er sich neben Casey setzte. Er konnte sich nur schwerlich vorstellen, dass man ihre Gefühle für einander nicht sofort sehen konnte. Doch er wusste auch, dass dies der Kreis Caseys engste Vertrauten war. In dieser Runde lehnte keiner ihre Liebe offen ab, wie jedoch die Reaktion der anderen Rebellen auf ihre Beziehung ausfallen würde, konnte er nicht vorhersagen. Zumindest fürchteten sich ja auch Pharrell und sein Partner davor, ihre Gefühle für einander offen zu zeigen.

Die Rebellen waren Menschen, aufgewachsen in den strengen moralischen Vorstellungen und Gesetze ihrer Rasse. Ebenso wie er mit den Geboten der Anima aufgewachsen war. Gleichgeschlechtliche Liebe war verboten, ein strenges Tabu, gegen das Casey und er offen verstießen.

Sein Blick fiel auf Mel, deren Haut die Farbe von dunklem Kaffee hatte, daneben saß die nicht viel hellhäutigere Jamie, nur war ihr Hautton rötlicher.

Anima waren alle blass, ihre Haare waren braun oder schwarz und ihre Augen grau. Der Vielfalt, der er in den letzten Tagen begegnet war, kannte er nicht.

Auch oben in der Nördlichen Stadt war er nur hellhäutigen Menschen begegnet. Wurden Menschen anderer Hautfarben auch in die Unterwelt abgeschoben? Oder nur versteckt?

 

„Wir entscheiden das, wenn es so weit ist. Auf jeden Fall werden wir versuchen, den nächsten Transport zu stoppen. – Und ich vermute, dass sich der IC nicht allzu lange Zeit bis zu diesem lassen kann.“ Casey löste sich von Eljakim und ging zu Jesse. „Wie lange dauert es, die Brücke entsprechend zu präparieren?“

„Einige Tage. Es ist notwendig, mehrer Abschnitte mit Sprengladungen zu versehen, um ausreichende Detonationen vorzubereiten, die die gesamte Brücke zeitnah zum Einsturz zu bringen. – Wir können nur nachts arbeiten und werden die Minen mit mehreren Teams verteilen. Alle Ladungen müssen letztlich in einer Zündvorrichtung zusammenführen. – Uns fehlen leider zwei Sprengstoffexperten“, fügte er leise mit einem Seitenblick auf Casey hinzu.

„Ja“, war Caseys knappe Antwort. „Dann beginnen wir umgehend. Ich spreche mit den Sinelumen. Keiner von ihnen darf sich in der Nähe der Brücke aufhalten. – Morgenfrüh fahren wir gemeinsam zum Tunnel und fangen an!“

Das war das Zeichen und die Anwesenden erhoben sich. Casey trat zu Jackson, legte ihm die Hand auf die Schulter. „Du musst das nicht tun.“

„Das weiß ich, Casey, aber ich will es tun. Viel zu viel Zeit meines Lebens habe ich verschwendet, lass es mich sinnvoll beenden“, bittend sah er Casey an. „Lange habe ich eh nicht mehr. Luca meint, mir bleiben noch ungefähr sechs Monate. Das Blackwater hat meine Körper ruiniert, meine Nieren streiken, meine Leber ist dabei, sich aufzulösen, und mein Herz ist der Belastung nicht mehr gewachsen. Es stellt sich nur die Frage, ob meine Leber, meine Nieren oder mein Herz zuerst aufgibt. – Bitte, Casey!“ Seine Stimme war rau und flehend. „Gib meinem Tod einen Sinn! Oder besser, gib meinem Leben in seinem letzten Moment einen Sinn!“

„Jackson, ich werde es dir bestimmt nicht verbieten. – Danke.“ Casey legte seine Hand auf Jacksons Schulter und Eljakim spürte warme, rote Zuneigung zu dem heruntergekommenen Autoren.

Jackson legte seine Hand auf Caseys, sah von ihm zu Eljakim. „Pass gut auf ihn auf, Anima. Er ist die Hoffnung der Menschen.“

„Er ist die Hoffnung der Welt, Jackson.“, entgegnete Eljakim, der sich hinter Casey gestellt hatte. Ihre Körper berührten sich kaum, die Energie floss trotzdem zwischen ihnen, alle Emotionen: Die Liebe rot, die Hoffnung rosablau, das Vertrauen in schillerndem Türkis – ihr Band in hellem Silber.

Was machte ihn so sicher? Warum gab es nicht den Hauch eines Zweifels? Sie beide trugen Verantwortung, auf ihren Schultern ruhte die Hoffnung auf eine andere, bessere Welt, auch wenn er nicht die geringste Vorstellung davon hatte, wie diese aussehen würde – oder was dies für ihre Zukunft hieß. Doch das Schicksal hatte sie aneinandergebunden, aus zwei Seelen eine gemacht und sie hatten keine Wahl, als diese Herausforderung anzunehmen.

„Er oder ihr?“, hakte Jackson mit hochgezogenen Augenbrauen nach und sah ihn an.

 

Bevor Eljakim antworten konnte, traten Cynthia und Jesse zu ihnen. „Wir haben genügend Sprengstoff, aber leider nicht ausreichend Zünder. – Einige sind mit … mit dem Jeep verloren gegangen“, sagte Cynthia und beide sahen bedrückt Casey an.

„Ohne diese Auslöser haben wir keine Chance, genügend Sprengsätze zur Explosion zu bringen“, ergänzte Jesse.

„Und die fehlenden Zünder hat allein die IC-Security?“, fragte Eljakim nach.

„Ja. Die letzten haben wir in einem erbeuteten Jeep der Jäger gefunden. Das war Glück! Denn eigentlich brauchen Jäger diese nicht, sie führen keine Sprengungen durch.“ Jesse wandte sich jetzt an Eljakim. „Normalerweise muss man einen der gesicherten Transporter der Soldaten abfangen. Darin befördern sie neben Sprengstoff auch das Zubehör.“

„Das klingt nicht einfach“, bemerkte Jackson.

„Nein, sie gehören normalerweise zu einem großen Verbund von Fahrzeugen. Unmöglich, diese zu überfallen und an die Auslöser zu kommen. In der Kürze der Zeit, vollkommen undenkbar!“

„Die andere Möglichkeit ist ihr Basislager Omega“, sagte Cynthia leise.

„Basislager Omega?“, fragte Eljakim nach.

„Theoretisch, aber nicht praktisch“, Jesse schüttelte seinen Kopf.

„Na ja, wir haben das noch nie …“ Cynthia fixierte Casey. „Nach dem letzten Glücksfall war es nicht notwendig, sich diesbezüglich Gedanken zu machen, aber jetzt ist es vielleicht unsere einzige Chance.“

„Wir haben darüber nachgedacht und gesprochen“, widersprach ihr Jesse. „Es ist unmöglich, an diese Zünder heranzukommen!“

„Nur wenn alle Soldaten dort sind.“

„Halt.“ Casey hob die Hand. „Langsam. Wir haben über Omega geredet und alle Anwesenden waren der Meinung, es sei unmöglich, überhaupt irgendetwas aus diesem befestigten Stützpunkt zu bekommen. – Selbst wenn einige der Truppen unterwegs sind, ist die Präsenz der Soldaten zu groß, als dass wir eine Chance hätten.“

„Ja, darum müssen sich so viel wie möglich außerhalb aufhalten! Dann ist es ein Kinderspiel!“ Cynthias Wangen leuchteten vor Aufregung. Gelborange.

„Genau, die IC-Soldaten werden bestimmt einen gemeinsame Ausflug unseretwegen machen“, sagte Jesse sarkastisch.

„Nein, natürlich nicht, aber vielleicht können wir sie ja herauslocken“, entgegnete Cynthia sofort.

„Und wie stellst du dir das vor?“, fragte Casey. Inzwischen standen alle um sie herum. Eljakim sah, dass Pharrell dicht hinter Jesse stand und in seiner samtblauen Aura fühlte er die rötlichen Spitzen von Liebe und Begehren. Unbewusst hatten sie ihre Körper so nahe wie möglich zusammengebracht. Auch Jesses Aura hatte jetzt diesen dem Morgenrot am frühen Horizont gleichenden rötlichen Schimmer.

„Wir brauchen ein Ablenkungsmanöver, etwas richtig Großes!“ Fast erwartete Eljakim, dass Cynthia aufgeregt auf und ab hüpfen würde.

„Und was soll das sein?“ Pharrells Bass übertönte die entstandene Unruhe.

„Ein paar Sprengungen an der Stadtmauer!“ Triumphierend sah sie von einem zum anderen.

„Nein!“ Die Antwort kam sofort und Casey sah sie an. „Zum Einen ist es fast unmöglich, an die Stadtmauern heranzukommen. Das geht nur durch den Tunnel und der wird vor der Sprengung der Brücke für keine andere Aktion genutzt. Stell dir vor, die Security entdeckt den Zugang? – Zum Anderen wird es keinen einzigen Soldaten aus dem Basislager locken! Omega dient dem Versuch der Kontrolle außerhalb der Stadtmauern. Sie überwachen die Transporte und sichern deren Wege. Mehr Aufgaben haben sie zurzeit nicht. Der Rest des Gebietes hier draußen wird entweder von uns oder den Anima kontrolliert. Die Einzigen die du auf den Plan rufst, sind die Jäger. Sie werden sofort und in großen Mengen aus der Stadt strömen.“ Casey schüttelte den Kopf. „Und du kannst mir eins glauben, ich werde keinen von uns in einen sinnlosen Kampf mit diesen verrückten Killern schicken!“

Eljakim wurde in diesem Moment klar, dass Casey nicht wusste, dass sein Bruder ein Jäger war. Es gab einiges, über das sie reden mussten.

„Aber, wenn wir scheinbar die Stadt angreifen …“, begann Cynthia.

„Dann lacht sich die IC-Security tot. Cynthia, wir sind keine Armee, die die Nördliche Stadt angreifen kann! Damit machen wir der IC-Security keine Angst. – Wir müssen sie treffen, wo es ihnen wehtut.“ Casey sah sie ernst an. „Lass uns lieber überlegen, ob es nicht einen anderen Weg gibt, die Soldaten aus ihrem Lager zu locken.“

Einen Moment lang sah es so aus, als wollte Cynthia widersprechen, ihren Plan verteidigen, doch dann nickte sie nur.

„Mel, hast du einen Plan von Omega?“ Casey sah die junge Frau mit den raspelkurzen Haaren an.

„Ja, und er ist so genau, wie es geht. Wir wissen, wo es liegt, und einige Gebäude ließen sich bei den letzten Beobachtungen identifizieren.“ Ihre Aura war dunkelgrün, sie war ausgeglichen und ruhte in sich selber.

„Okay, lass uns einen Blick darauf werfen.“

 

Die Security hatte ihr Basislager strategisch günstig auf einer natürlichen Erhebung, Berg wäre für diesen Hügel eine Übertreibung gewesen, angelegt. Ein unbemerktes Nähern an den Standort war so gut wie unmöglich.

Das befestigte Gelände wurde ständig sowohl von Soldaten, die Wache liefen, als auch von Kameras überwacht. Sprengladungen, Elektrozäune und freilaufende Wachhunde vervollständigten das Sicherheitskonzept.

„Selbst wenn fast alle weg wären, gäbe es noch genug Hindernisse!“ Jesse zeigte auf die Wachtürme. „Als ich mit Liam das letzte Mal dort war, hat es nicht mal ein Kaninchen in das Lager geschafft. Es erwischte einen Stolperdraht und wurde von einer kleinen, aber sehr effektiven Sprengladung weggefegt. – Um uns sicher auf dem Gelände bewegen zu können, brauchten wir einen Insider.“

„Oder sie müssen die Sicherheitsanlagen abschalten“, warf Eljakim ein.

Alle sahen ihn an. „Und warum sollten sie das tun?“, formulierte Casey die Frage, die allen ins Gesicht geschrieben stand.

„Das ist genau die Frage: Was macht es notwendig, alle Sicherheitsanlagen außer Kraft zu setzen?“ Eljakim sah auf den Plan, sah Garagen und zwei Wohncontainer eingezeichnet, dann ein Gebäude in dem der Sprengstoff vermutet wurde. Weit entfernt befanden sich die Waffenkammern. Daneben standen Objekte, deren Nutzung nicht bekannt waren. Zwischen den baulichen Anlagen lagen Freiflächen, Hundezwinger und ein Exerzierplatz. „Feuer! Ein – nein, mehrere Brände verteilt auf dem Stützpunkt. An unterschiedlichen Orten müssen Sprengladungen und Brandsätze gezündet werden. Wir müssen Omega in Panik versetzen.“ Kurz sah er von Casey zu den Anderen, die ebenfalls auf die Karte schauten. „Die Soldaten, die Jäger, die Anima und auch die Rebellen, sehen alle fast gleich aus. Wir sind alle in Schwarz gekleidet. Wenn nun in einer Nacht genügend Konfusion auf dem Gelände herrscht, fallen ein paar weitere schwarz gekleidete Personen nicht auf. Das ist die Möglichkeit, bei einer notwendigen Evakuation der Sprengmaterialien ein bisschen was abzuzweigen.“

„Bist du verrückt?“ Mel starrte ihn an. „Also, erst einmal, wie sollen wir Brände auf dem abgeriegelten Gelände legen? Und wie sollen wir anschließend nahe genug herankommen, um die entstehende Panik auszunutzen? – Nein, das ist genauso unmöglich wie Cynthias Plan!“

„Was für Fahrzeuge gelangen auf das Gelände?“ Eljakim ließ sich von Mels Worten nicht aus der Ruhe bringen.

„Die Soldaten, die von den Patrouillen zurückkehren, die Lebensmittellieferungen, die Mannschaftsbusse zum Wachwechsel und die Frischwassertankwagen“, zählte Jesse auf.

„Mit welchem Wagen könnten sich ein bis zwei Leute einschleusen?“

„Mit gar keinem!“ Mel schüttelte energisch den Kopf. „Wie willst du an die Wagen herankommen? Die Patrouillen lassen ständig Soldaten bei ihren Fahrzeugen. Die Lebensmittellieferungen kommen streng bewacht aus unbekanntem Gebiet – zukünftig wahrscheinlich mit weitaus größerem Sicherheitsaufwand als bisher. Die Mannschaftsbusse starten direkt in der Nördlichen Stadt und halten erst im Basislager. – Und auch die Tankwagen werden ohne Unterlass von mindestens zwei Wachmannschaften gesichert!“

„Aber sie halten direkt am Ufer“, warf Jamie ein. Alle sahen die junge Frau an. „Die Soldaten fahren einmal pro Woche mit fünf Tankwagen an den Fluss. Sie pumpen das Wasser direkt in die Tanks, dabei stehen diese relativ dicht am Rand. Die Wachen kontrollieren das Gelände, aber ihre Aufmerksamkeit gilt kaum der Flussseite. Die überprüfen sie nur einmal, bevor die Wagen dort halten.“

„Du meinst, von dort aus könnte man unter die Tankwagen gelangen?“ Eljakim nahm eine andere Karte, auf der neben dem Basislager auch der Fluss verzeichnet war.

„Wenn man Glück hat und die Soldaten einen nicht doch erwischen“, antwortete Jamie mit einem schiefen Lächeln. „Dort ist der einzige Punkt, an dem man eine Chance hat, an sie heranzukommen.“

„Wir wissen nicht, wie die Wagen von unten aussehen“, warf Pharrell ein. „Vielleicht ist es unmöglich, sich festzuhalten.“

„Das geht, sicher nicht für ewig, aber ein paar Kilometer …“, meldete sich Seth zu Wort. „Ich könnte eine Konstruktion entwerfen, damit man sich unter dem Fahrzeugboden sichern kann.“ Nachdenklich strich er über sein Kinn.

„An wie viele Leute hattest du gedacht?“ Casey sah Eljakim kurz an, dann wanderte sein Blick über die Karte.

„Zwei müssten reichen. Nur nicht zu viele. Die Beiden müssen sich auf dem Basisgelände unbemerkt bewegen. – Mindestens einer müsste sich mit Spreng- und Brandsetzen auskennen.“ Eljakim spürte Caseys Unruhe wie seine eigene. „Ich würde mitgehen. Im Gegensatz zu jedem anderen hier kann ich die Soldaten spüren und weiß, wann sich eine Gelegenheit bietet, unter den Wagen zu klettern.“ Deutlich spürte er kaltblaue Abneigung gegen den Plan. Ein verwirrendes Gemisch aus seinen und Caseys Emotionen, mit dem er erst umzugehen lernen musste.

„Okay, wann fahren die Tankwagen?“ Casey klang äußerlich kühl und gefasst.

„In zwei Tagen. Immer ganz frühmorgens, mit dem ersten Grau am Horizont“, kam es von Jamie wie aus der Pistole geschossen.

„Dann werden wir uns morgen ebenfalls mit dem Fluss und seinen Möglichkeiten beschäftigen.“ Casey beendete die Besprechung damit.

 

Kurze Zeit später waren sie wieder oben in Caseys Turmzimmer. Eljakim lag auf dem Bett und betrachtete Mels Karten von dem Basislager, während Casey mit verschränkte Armen am Fenster stand und hinunter auf den Fluss starrte. Das Surren der Turbine hing schwer in der Luft.

Nach einer Weile senkte Eljakim die Blätter und sah auf Caseys starren Rücken. „Ich weiß, dass du nicht begeistert bist von der Idee, aber es ist die einzige Chance, die wir haben. Die Zeit ist zu knapp, uns ausgereifte und komplizierte Pläne auszudenken. - Der nächste Konvoi wird nicht lange auf sich warten lassen.“ Casey rührte sich nicht, doch Eljakim war sich sicher, dass er ihn gehört hatte. Die Karten legte er auf den Nachtisch und ließ sich auf den Rücken fallen, streckte sich wohlig auf dem Bett. Dies war eine feste und bequeme Matratze, nicht so alt und durchgelegen, wie die in Emmas Zimmer. Seine Hände streiften die Verstrebungen des Kopfteils und fanden ein Lederband. Neugierig drehte er sich auf den Bauch und fand ein paar Streben weiter ein weiteres Band.

Fesseln? Da Casey nicht der Typ schien, der sich freiwillig fixieren lassen würde, musste es für seinen – Sexpartner gewesen sein. Stand der Mann, der sich ihm erst vor wenigen Stunden hingegeben hatte, auf diese Spiele? Wie stand er selber dazu? Nachdenklich ließ er das Band durch seine Finger gleiten.

„Hast du dich schon einmal jemandem ausgeliefert, Elja?“

Er wandte seinen Kopf und sah Casey an. Dieser hatte sich umgedreht und lehnte sich gegen die Fensterbank. Die braunen Augen musterten ihn abwartend.

„Du meinst, ob ich mich schon einmal habe fesseln lassen? Nein, bisher noch nie.“

„Es geht nicht nur um die Fesseln, es geht darum dich einem anderen anzuvertrauen – dich mir anzuvertrauen.“ Casey ließ seinen Blick über Eljakims Körper wandern. „Dein Körper in die Fesseln zu legen und deine Seele in meine Hände.“

Eljakim konnte Caseys Erregung spüren, wie sie bei dieser Vorstellung stieg, zeitgleich ihn erreichte.

„Nein. Selbst, wenn ich bisher schon einmal auf die Idee gekommen wäre, gab es bisher niemandem, dem ich mich so hingegeben hätte!“

Casey stieß sich von der Fensterbank ab und kam herüber, Eljakim im Blick behaltend. „Und heute?“

„Dir gehören mein Herz, meine Seele und mein Körper.“ Mit einem auffordernden und alles versprechenden Lächeln musterte Eljakim Casey.

„Du würdest dir die Bänder von mir anlegen lassen?“

„Zweifelst du daran?“ Eljakim streckte die Arme über den Kopf. „Ich gebe dir die Kontrolle über mich, wenn du sie willst.“

Casey biss sich auf die Unterlippe. „Ich …“

„Komm schon, Ca, tu es.“ Aus halb gesenkten Lidern sah Eljakim ihn an. Die Vorstellung, die Kontrolle über seinen Körper und damit seine Gefühle an Ca abzugeben, zündete kleine orangrote Feuer in seinem Inneren.

Langsam kletterte Casey auf das Bett und setzte sich auf seine Oberschenkel. Ihre Blicke blieben verhakt und Caseys Hände strichen langsam unter das Shirt, fuhren über seine Haut und schoben den Stoff immer höher, bis er über seine Hände herunterrutschte. Dann er nahm ein Seil und schlang es um Eljakims Handgelenk. Auf dem Weg zu dem anderen küsste Casey ihn und sie verloren sich für einen Augenblick in dieser Berührung ihrer Lippen, ehe er auch das andere Handgelenk fesselte.

Casey streifte sein eigenes Hemd ab, legte sich auf Eljakim. Das Gefühl von Cas nacktem, warmem Oberkörper auf seinem, war erregend.

Casey legte seine Hände auf Eljakims Handgelenke. Noch einmal küsste er ihn, dann richtete er sich langsam auf, zog dabei die Fingernägel über Eljakims Haut. Die Arme hinunter, über die Schultern zu den Brustwarzen, die sich schon erwartungsvoll zusammengezogen hatten. Leicht kratzte Casey über die Nippel und entlockte ihm ein Keuchen.

Die Fingernägel fuhren weiter über die Haut, die empfindlichen Seiten und wieder hoch zu den Armen. Dann stieg Casey von ihm herunter und zog sich langsam aus, Eljakim dabei genau beobachtend.

Eljakim ließ seinen Blick über den geliebten Körper schweifen, bereute es ein wenig, gefesselt zu sein und nicht die weiche Haut berühren zu können, seine Nase in die blonden Haare zu wühlen und den Geschmack seines Körpers zu erneut zu kosten.

Casey streichelte provozierend über seinen Bauchmuskeln hinunter zu seiner eigenen Erektion, umfasste sie und massierte sich träge.

Es wurde eng in seiner Hose und Eljakim wand sich. Er wollte angefasst werden und Ca spüren.

„Bitte“, flüsterte er heiser.

„Bitte, was?“

„Bitte, komm her, zieh mir diese verdammte Hose aus und fass mich an. Ich will dich spüren!“

Ca lachte leise, kam einen Schritt näher. „Du willst?“ Er beugte sich vor und leckte über Eljakims Bauch, höher zu den Brustwarzen, in die er sanft abwechselnd biss. „Vielleicht will ich noch nicht.“ Bevor Eljakim antworten konnte, küsste er ihn verlangend. Seine Hand glitt zwischen Eljakims Beine, rieb ihn durch die Hose, provozierte heiseres Stöhnen, das er gierig aus dem Kuss atmete.

Die Doppelwirkung seiner eigenen Lust und Cas Verlangen trieben Eljakim immer höher. Wenn der Andere nicht gleich stoppen würde, würde er in der Enge dieser verfluchten Hose kommen. Doch Ca schien das zu wissen, denn er hörte auf, ließ Eljakim zu Atem kommen, während seine Hände ihn beruhigend streichelten.

„Ich liebe dich, Elja! Ab jetzt bestimme ich das Tempo. Du genießt, gibst dich hin und lässt es geschehen. Ich werde dich dahin bringen, dass alles was du willst, nur ich bin - und die Lust, die ich dir schenke. Ich will dich meinen Namen schreien hören, wenn ich dich viel später zum Orgasmus bringe.“ Dabei öffnete er Knopf für Knopf Eljakims Hose. „Und wage es nicht zu kommen, ehe ich es dir erlaube! Du gehörst mir! Dein Körper gehört mir! Deine Lust gehört mir! Und deine Seele gehört mir!“

 

Eljakim kam nicht dazu, irgendetwas zu sagen, denn Ca schob seine Hand in den geöffneten Hosenschlitz und nahm seinen Erektion in die Hand, streichelte ihn sacht, aber bestimmt. Seine Hände hielten sich an den Seilen fest und sein Körper spannte sich an.

Endlich befreite ihn Ca aus der Hose, krabbelte zwischen seinen Beinen auf das Bett. Mit seinen Händen strich er Eljakims Beine an der Innenseite hoch, massierte mit den Daumen seinen Damm und streichelte wieder hinunter, um die gleiche Reise zu wiederholen. Kribbeln folgte den Händen, summte zwischen seinen Beinen, überall dort, wo Ca ihn berührte.

Bei diesem zweiten Mal ging er weiter, streichelte die Leisten und folgte seinen Fingern mit der Zunge. Automatisch öffnete Eljakim die Beine weiter. Ca leckte über die Unterseite seines harten Gliedes, nahm einen klaren Tropfen mit der Zungenspitze ab. Fuhr damit über seine Lippen.

Stöhnend hob Eljakim sein Becken, versuchte, Ca dazu zu animieren, ihn ganz aufzunehmen. Doch Ca lächelte nur und setzte einen saugenden, markierenden Kuss auf die zarte Haut daneben. Mit seiner Brust streifte er höher rutschend Eljakims Erektion, während er sich über die Bauchmuskeln wieder hoch zu seinem Mund küsste. Eljakim drückte sich gegen seinen festen Körper, in dem Bestreben, so viel Reibung wie möglich zu bekommen.

„Du bist ein Monster, Ca“, flüsterte er gegen dessen Lippen, die ihn federleicht berührten, sein Hunger nach einem Kuss nicht beachtend. Nur heiseres Lachen, das auf seinem Mund vibrierte, war die Antwort.

Mal zärtlich, mal verlangend küsste, biss und leckte Ca jedes Stückchen Haut, das er von Eljakim erreichen konnte, tat immer das, was dieser nicht erwartete und bald beherrschte nur noch seine – und Cas – Lust sein Gehirn.

„Bitte, Ca“, flehte er und bekam erneut einen verzehrenden Kuss, der ihn die Welt vergessen ließ.

Cas Hand wanderte zwischen seine Beine, die er bereitwillig an seinen Körper zog, begierig, endlich alles von Ca zu bekommen, ihm so nahe wie möglich zu spüren. Sanft fing sein Geliebter an, ihn vorzubereiten. – Wann hatte er die Gleitcreme genommen? – Egal, wie alles, was nicht seinen Körper und Cas Berührungen auf diesem betraf. Er wollte nur noch Ca: fühlen, riechen, schmecken und mit ihm zusammen in den Himmel zu fliegen.

„Was willst du?“ Die Frage flüsterte ihm Ca heiser ins Ohr.

„Nimm mich! Schlaf mit mir! Gibt mir, was ich brauche!“ Eljakim fühlte sich wie eine Kerze, die in zu großer Hitze schmolz. Oder ein Reisigzweig, der knisternd Feuer fing. „Fi…“

Bevor er es aussprechen konnte, küsste ihm Ca ein weiteres Mal den Verstand weg. Konnte man innerlich vor Lust verbrennen? – Unnütze fliehende Gedanken.

Sachte und immer auf seine Reaktion bedacht, fing Ca an, in ihn einzudringen. Niemandem hatte er diese Nähe bisher erlaubt. Niemanden hatte er bisher geliebt. Noch nie wollte er einem Mann unbedingt vollkommen nah sein, wie Ca in diesem Moment. Es hatte etwas drängendes, unabwendbares, unverzichtbares.

Stammelnd kamen nur noch unzusammenhängende Worte aus ihm heraus, die alle nur eins waren: Bitten und Flehen an Ca.

Endlich spürte er ihn und hatte das Gefühl, vollständig zu sein, körperlich und geistig. Dieser Mann komplimentierte ihn und machte aus ihnen beiden ein Ganzes, ein Herz – eine Seele.

Ca begann in ihn zu stoßen, erst mit langsamen, weichen Bewegungen, die schon bald nicht mehr reichten, dann immer schneller und härter.

„Ca, bitte.“ Er würde es nicht mehr lange aushalten! Seine Nerven surrten, die Lust zog durch sein Rückgrat hinunter in sein Becken und sammelte sich dort zu geballter Energie. Casey ging es nicht besser, in Eljakim tobte ihrer beiden Lust, nahm ihm den Atem, peitschte ihn hoch.

Ca küsste ihn und griff zwischen sie, legte seine Hand um Eljakims Erektion und massierte ihn im Takt seiner Stöße.

„Komm, Elja, komm für mich!“, stöhnte er leise. Mehr brauchte es nicht, um die Energie in Eljakim explodieren zu lassen und ihn in die sternenerfüllte Unendlichkeit zu katapultieren. Mit Ca vereint, verbunden in jeder erdenklichen, spürbaren Form, als eine Seele, die ihr eigenes Sternenbild im Weit des Universums schuf.

 

 

Das Basislager

„Ich kenne die Tanklastwagen der Soldaten“, begann Seth am nächsten Tag. „Mit Hilfe dieses Gurtsystems, sollte es euch möglich sein, euch auch über Stunden unter den Wagen zu halten.“ Mit einer Hand hob er die zwei Gurte hoch. „Immerhin müsst ihr ja warten, bis es dunkel ist, bevor ihr hervorkommen dürft. – Später zeige ich euch anhand eines Transporters, wie ihr sie befestigen müsst, damit sie euch die größtmögliche Sicherheit geben.“

Casey sah Elja an. Egal, was er sagen würde, er könnte den Anderen von dieser Idee nicht abbringen. Und wenn er nicht mit seinem verliebten Herzen, sondern mit seinem Kopf darüber nachdachte, dann war es die richtige Entscheidung.

Von seinem Platz, leicht versetzt hinter Elja, konnte er ihn in Ruhe betrachten. die tiefschwarzen Haare, die sich leicht in seinem Nacken kringelten. Es waren keine Locken nur kleine Dreher am Ende einer Strähne. Eljas Schultern waren nicht so breit wie seine eigenen, die Hüften schmal und er hatte einen knackigen Hintern. Lange, gerade Beine steckten in den schwarzen Cargohosen. Der ganze Mann war optisch ein Traum!

Casey musste lächeln und das nicht nur von Außen! Diese tiefen und intensiven Gefühle, die sie verbanden. Beständig hatte er das Gefühl, Elja in sich zu fühlen. Sie teilten sich ihre Emotionen. – Wieso war das so? Und warum war sich Elja so sicher, dass sie die Rettung der Welt waren. Wie? Ein Anima und ein Rebell, beide gehörten sie einer Minderheit an.

Was ihre Gefühle für einander anging, entsprachen sie in keiner Weise den geltenden Vorstellungen und Regeln. Im Gegenteil, sowohl die Menschen als auch die Anima verdammten und verboten die Liebe zwischen gleichgeschlechtliche Partnern. Im IC konnte ein Mann dafür sterben, einen Mann zu lieben. Je reicher und elitärer die IC-Bewohner wurden, desto enger und strenger wurden ihre Regeln. Nicht nur, wer wen lieben durfte, nein, auch hinsichtlich der individuellen Abweichungen, die toleriert wurden. Wenn die Gerüchte stimmten, wurden in den letzten Jahren Kinder, mit krankhaften, nicht behandelbaren abnormalen Veränderungen, nicht nur in die Unterwelt abgeschoben, sondern systematisch getötet, wenn diese Abweichung bestimmten genetischen Voraussetzungen entsprach. Selektive Humanauswahl. Ihre Eltern als potenzielle Erbgutträger wurden gleich mit entsorgt. Entsetzliche, grauenvolle Szenarien, die ihm bewusstmachten, dass er nie aufhören würde, gegen den IC zu kämpfen.

„Wie kommen wir an die Tanklastwagen heran?“, fragte gerade Elja und nur der Klang seiner Stimme, ließ ihn lächeln. Konnte man so verliebt sein? Bald würde er in Eljas Nähe nur noch sabbernd mit einem debilen Dauergrinsen durch die Gegend laufen!

„Ihr müsst im Wasser sein, wenn die Wagen kommen. Weit genug weg, um bei der Kontrolle des Flusses nicht gesehen zu werden, nahe genug, um schnell unter die Fahrzeuge klettern zu können!“, antwortete Mel. „Die Tanks stehen immer an derselben Stelle, von der aus sie gut das Wasser erreichen können. Das Befüllen dauert seine Zeit, zuerst sind die Wachen aufmerksam, dann fangen sie an sich zu unterhalten, stehen zusammen und schenken ihre Aufmerksamkeit nur dem Gebiet hinter ihnen. In dem Moment müsst ihr euch nähern. Jeder einen Tank. Ihr habt fünf Versuche.“

„Okay, wir hängen uns unter die Wagen, fahren mit den Soldaten in das Basiscamp Omega und warten, bis es dunkel wird“, fasste Jesse zusammen. „Dann kommen wir aus unserem Versteck und setzen fünf Brandbomben und lösen dazu drei laute Explosionen aus, die neben Krach auch noch viel Licht machen. – Eljakim und ich rennen zum Sprengstofflager, holen uns die Zünder und hauen im allgemeinen Tumult ab.“

„Das klingt wie ein Sonntagsspaziergang“, sagte Casey und konnte nicht ganz den Sarkasmus aus seiner Stimme verbannen, was ihm auch gleich einen scharfen Blick von Pharrell einbrachte. Himmel, er war nicht perfekt! Er liebte Elja und natürlich hatte er Angst um ihn! Nur Idioten hatten keine Angst!

 

„Zwei von uns gehen mit euch ins Wasser“, warf Casey ein. Er musste nicht betonen, dass er einer dieser beiden wäre. „Wenn irgendetwas schief geht, können wir euch vielleicht herausholen, bevor etwas Schlimmeres geschieht.“ 

Bevor sie euch töten oder gefangen nehmen, doch diese Gedanken sprach er nicht aus, stattdessen fuhr er fort: „Wir fahren heute Nacht hinaus, um vor der Ankunft der Wagen im Wasser sein. Da wir unsere Fahrzeuge verstecken müssen, wird es notwendig sein, bis zu einem geeigneten Platz zu schwimmen.“

„Ein Stück weiter flussabwärts ist eine solche Stelle, dort kann man auch den Jeep gut tarnen. Jemand könnten dort bleiben, während die anderen versuchen, zu dem Uferstück zu gelangen, an dem die Tankwagen befüllt werden.“ Jamie zeigte die Stelle auf der Karte. „Der Jeep wäre dort durch den Felsüberhang auch von der Straße aus nicht zu sehen. Ihr kämt den Fluss hinunter, das heißt, auf dem Weg zu den Tankwagen mit dem Strom, zurück dagegen. Das wird anstrengend.“

Casey wollte lieber nicht daran denken, wie anstrengend es werden würde, zu wissen, dass Elja unter diesem verdammten Tankwagen hing und hinein in das Reich des Bösen fuhr. Wenn die IC-Security die beiden Männer entdeckte, dann würde sie sich nicht mit Fragen aufhalten. Elja zu verlieren, war eine grauenhafte Vorstellung, doch dabei zuzusehen und nicht eingreifen zu können, war unerträglich!

 

Auf dem Weg zu der Brücke waren sie schweigsam. Casey wollte mit Elja alleine fahren. Das war vielleicht nicht vernünftig, doch diesen Moment ohne Zuschauer brauchte er. Außerdem hatten viele der Rebellen Angst vor den Sinelumen – oder den verschiedenen Lebewesen, die in dem unterirdischen Tunnelsystem existierten, das zum IC führte insgesamt.

An einem felsigen Krater hielten sie. Ein paar Meter weiter befand sich der Eingang des Tunnels unter einem riesigen, instabil wirkenden Felsüberhang verborgen.

Stille umgab sie, nachdem das Brummen des Motors verstummte. Es dauerte einige Momente, dann setzte das zaghaftes Zirpen einer Grille ein.

„Die Brücke ist nicht weit entfernt, hinter dem Felsmassiv und seinem Überhang beginnt das von der Stadt aus kontrollierte Gebiet. Kein Kaninchen kann sich dort aufhalten, keine Echse, ohne von der Überwachung erfasst zu werden. Schon allein deswegen ist Cynthias Idee Wahnsinn. Bis zu der verdammten Stadtmauer kommt kein Mensch – und kein Anima“, fügte er hinzu und drehte sich zu Elja um. Leichte Bartschatten verschärften die Konturen der Wangen, betonten das leuchtende Grau von Eljas Augen, seinen roten Mund, der so fantastisch schmeckte …

„He, nicht träumen, Ca!“ Sanft berührte ihn Eljas Hand, ein Lächeln verzog die Mundwinkel.

„Es ist schwer, dich anzusehen und nicht sofort abzudriften“, entgegnete er mit einem schiefen Grinsen, drehte seine Hand und verschränkte ihre Finger. „Ich habe Angst, Elja. Mein Leben aufs Spiel zu setzten, bereitet mir keine Furcht, dein Leben zu riskieren, ist jedoch unerträglich. Egal, was der Verstand sagt und wie sinnvoll es erscheint.“

„Ich weiß, Ca. Mir geht es nicht anders. Die Vorstellung, dir könnte etwas passieren, nimmt mir den Atem, zerquetscht mir das Herz, das darf uns jedoch nicht abhalten.“ Elja beugte sich vor und küsste ihn sanft. „Ca, etwas in mir sagt, dass wir zusammen leben oder gemeinsam sterben werden. Daran halte ich mich fest.“

„Ich verlasse mich auf dein Wort, Elja!“ Noch ein Kuss, dann verließen sie den Jeep.

 

Nebeneinander stiegen sie in die Dunkelheit, die nur durch den Schein ihrer Taschenlampen punktuell durchbrochen wurde, hinab in den Tunnel. Nach anfänglicher Stille umgaben sie bald schon wieder eine Vielzahl von Geräuschen. Etwas beobachtete und begleitete sie, Krallen schabten über den Boden, was immer es war, es traute sich nicht an sie heran.

Abrupt blieben sie stehen, als sie die Sinelumen spürten. Den Lichtstrahl senkten sie zu Boden und im Halbdunkel dahinter sahen sie eine große Gruppe der Bewohner dieser dunklen Welt.

Der blonde Mann stand etwas vor den anderen, an seiner Hand das kleine Mädchen. Casey kannte ihn von seinen Kontakten mit den Sinelumen als ihren Sprecher. Mit Elja an seiner Seite ging er langsam weiter, bis sie vor ihm stehenblieben

Das Mädchen löste sich von seiner Hand, der Mann neben ihr hob beide Arme und berührte ihre Wangen. „Wie schön, euch gemeinsam zu sehen!“ Die Stimme sprach in seinem Kopf. Ein Blick zu Elja zeigte ihm, dass dieser den Sinelumen ebenso hörte, wie er. „Ein Schritt, doch es fehlen noch viele, bevor die Welt sich ändert.“

„Wir sind gekommen, um euch zu warnen.“ Eljas Stimme konnte er genauso hören, wie die des Sinelumen. „Der Kampf gegen die Menschen des IC erfordert die Sprengung der großen Brücke. Deren Einsturz zerstört allerdings auch den daruntergelegenen Tunnel und würde jeden töten, der sich in ihm aufhält.“

„Der Konvoi ist euer Ziel. Wir werden uns aus dem Tunnel zurückziehen. – Passt auf, der Feind ist unter euch!“ Bedächtig strich er über ihre Wangen. „Und zweifelt nicht. Niemals, nur ihr könnt euch letztlich verraten. Sie werden versuchen, euch zu überlisten, unterschätzt sie nicht, die Improbie sind schlau und ihre Gedanken gehen verschlungene Wege.“

 

Sie schwiegen, bis sie wieder im Wagen saßen.

„Der Feind ist unter uns?“ Elja sah ihn fragend an. „Meint er, dass einer von den Rebellen für den IC arbeitet?“

„Hm, oder jemand, der mit dir gekommen ist.“ Casey startete den Motor.

„Kira, Emma oder Jackson? – Kann ich mir nicht vorstellen.“

„Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es einer meiner Freunde ist, doch ausschließen kann ich es nicht bei allen. Das Leben hier draußen ist hart. Immer werden wir bedroht, verfolgt und wenn sie uns erwischen, ist Sterben noch das kleinste Übel.“ Mit einem Schulterzucken wandte Casey sich an Elja. „Wir müssen ständig mit Verrat rechnen.“

„Und wie gehen wir damit um?“

„Wir halten die Augen auf und versuchen, das schlimmste zu verhindern.“ Casey beugte sich zu Elja und küsste ihn leicht. „Hauptsache, wir können uns vertrauen.“

„An dir zweifeln, hieße, an mir zweifeln“, entgegnete Elja, sah ihm tief in die Augen. „Dich belügen, hieße, mich belügen.“

 

 

In dieser Nacht lagen sie eng umschlungen, nachdem sie sich langsam und ohne jede Hast geliebt hatten. Das Bewusstsein des bevorstehenden Tages mit all seinen Möglichkeiten ließ sie jeden Moment genießen, jedes Gefühl auskosten. Wenn alles gut ging: leben, wenn es schlecht lief: sterben. Ohne darüber zu sprechen, wussten sie, dass dies für sie beide galt. Leben oder Sterben.

An Schlaf war nicht zu denken, nur ausruhen, entspannen und auf den frühen Morgen warten. Reden brauchte sie nicht, sie teilten ihre Gefühle, ihre Liebe. Diese Nacht schenkte ihnen einen friedlichen, stillen, gemeinsamen Moment, der ihnen Kraft für den nächsten Tag geben würde.

 

„Es wird Zeit“, raunte Casey und zog Elja in einen letzten zärtlichen Kuss. „Wenn wir rechtzeitig am Fluss sein wollen, müssen wir los.“

Nur widerwillig schwang Elja seine Beine aus dem Bett und streckte sich. Bewundernd glitten Caseys Augen über seinen Körper. Heute Abend würde der Mann wieder ihm gehören, daran wollte er nicht zweifeln.

 

Die anderen erwarteten sie schon, als sie vor die Tür traten. Die Stimmung war konzentriert. Wenn diese Aktion fehlschlug, konnten sie den kommenden Konvoi nicht stoppen. Jeder wusste um die Bedeutung dieses Morgens. Wenige Augenblicke später stiegen sie in den Jeep und fuhren los.

Wie ein schwarzes Band schlängelte sich der Fluss durch die Landschaft. Eljakim und Jesse würden in ihren Kleidern durch den Fluss müssen, damit sie am Abend zwischen den Soldaten nicht auffielen. Zum Glück war es warm und die Sachen würden im Laufe des Tages trocknen. Außer Elja, Jesse und Casey fuhr Pharrell in dem großen Jeep mit, den Mel steuerte. Auch er ließ es sich nicht nehmen, seinen Geliebten zu begleiten.

Das Wasser war kühl, Nebelschwaden zogen malerisch darüber hinweg. Am Horizont zeigte sich das erste Grau, das den beginnenden Tag ankündigte.

Elja und Jesse verstauten die Sprengladungen in wasserdichten Beuteln an ihrem Körper. Die Sicherheitsgurte, die sie später unter den Tankwagen halten sollten, legten sie um, ehe sie sich hinab zum Ufer begaben.

Zuerst gingen Jesse und Elja in den Fluss. Ihre Kleider saugten sich mit Wasser voll, schmiegten sich an ihren Körper. Langsam waten sie immer tiefer, bis sie nicht mehr stehen konnten und schwimmen mussten. Pharrell und Casey folgten ihnen, nachdem sie ihre Kleider abgelegt hatten.

„Verdammt, ist das kalt!“, murrte Pharrell, als das Wasser gegen seinen Bauch schwappte.

„Stell dich nicht so an, alter Mann“, entgegnete Casey und tauchte unter. „Wir werden etwas länger hier drinbleiben müssen.“

„Erinnere mich nur nicht daran. Ich befürchte, dass gewisse Teile hinterher abgefroren sind.“

„Das will ich nicht hoffen“, murmelte Jesse und Eljakim lachte.

Dicht am Ufer, das sich an dieser Stell felsig den Fluss entlang zog, folgten sie der Strömung. Auch Casey spürte die Kälte, die seine Haut auskühlte. Noch ungefähr eine Stunde, bis die Tanker kämen. Die vier suchten sich einen sichtgeschützten Platz zwischen den Felsen, die in der Nähe der Ankunftsstelle lag.

„Es ist wirklich kalt“, flüsterte Jesse.

„Komm her, Kleiner.“ Pharrell zog ihn an sich heran. „Körperwärme hilft gegen die Kälte.“

„Gefällt mir“, raunte Elja und presste sich gegen Casey, der seine Arme um ihn schlang.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hörten sie die Motoren, der herannahenden Tanklastwagen. Sofort lösten sie sich voneinander. Eljakim bewegte sich den Felsüberhang zu.

 

Ganz in der Nähe hielten die Tanklastwagen und die Motorengeräusche erstarben. Die ersten Männer stiegen aus. Zwei Wagen, je zwei Männer, dazu kamen die Soldaten, die das Gelände kontrollierten. Eljakim konnte sie spüren. Sie waren angespannt, überprüften die Umgebung. Graublau zuckend sah er ihre Nervosität. Solange dies nicht verblasste, konnten sie keinen Versuch wagen.

Mit einer Geste signalisierte er den anderen, dass sie Geduld haben müssten.

Die Tanker fuhren, ohne dass sich ihnen die Chance hatten ihren Plan umzusetzen.  Erst beim dritten Mal bot sich ihnen die Gelegenheit. Endlich waren die Wachen abgelenkt, Elja gab Jesse, der direkt hinter ihm stand, das Zeichen. Ohne zu zögern tauchten beide unter, schwammen bis zu den Schläuchen, die von den Tanklastern in den Fluss ragten. Schnell und möglichst leise kletterten sie an das Ufer, krochen unter die Wagen und befestigten die Spanngurtsysteme an sechs Punkten. Nicht besonders bequem, aber sicher hielten diese sie dicht am Unterboden. Kaum hatte Eljakim die letzte Halterung eingehakt, hörten das Geräusch der Pumpen auf. Ein Surren verriet ihm, dass der Schlauch aufgerollt wurde. Die Wagentüren klappten und die Motoren sprangen an. Langsam rollten die Fahrzeuge auf dem unebenen Untergrund an, bis sie auf befestigten Grund trafen und das Tempo erhöhten.

Staub wirbelte hoch, der Krach der Motoren dröhnte in seine Ohren und Vibrieren des Wagens zerrte an seine Muskeln, während er verkrampft versuchte sich festzuhalten. Zweifellos gab es bessere Arten zu reisen.  Eine Senke führte zu kurzfristigem Bodenkontakt und Eljakim unterdrückte einen Fluch. Den Mund aufzumachen war in seiner Position nicht besonders klug.

Endlich stoppten die Wagen. Aus den folgenden Geräuschen schloss Eljakim, dass die Tore geöffnet wurden, anschließend rollten die Tanklastwagen hindurch. Nur im Schritttempo fuhren sie über das Gelände des Basislagers. Eljakim konnte die Füße einiger Soldaten sehen, an denen sie vorbeikamen, dann kamen sie zum Stehen, die Türen klappten und die Männer entfernten sich.

Eljakim drehte den Kopf, neben ihm hing Jesse unter dem Wagen und sah staubig, schmutzig und erschöpft aus. Wahrscheinlich bot er selbst das gleiche Bild.

Jesse wendete ihm das Gesicht zu und lächelte kurz. Seine Aura war dunkelblau, mit leichten grauen Spitzen, die auf die angespannte Situation zurückzuführen waren. Er lächelte zurück. Sie würden noch ein paar Stunden in dieser unbequemen Position ausharren müssen. Zum Glück hielten die Spanngurte sie sicher und stützten vom Becken an den Rücken bis zum Kopf ab. So viel Spannung wie möglich entließ Eljakim aus seinem Körper und versuchte Ca zu spüren. Vermutlich war er nicht allzu weit weg und beobachtete das Basislager. Er würde wissen, dass es Eljakim gut ging, genauso wie er spüren würde, wenn sich dies änderte.

 

Der Jeep kam erst nach den Tanklastwagen auf dem Hügel an, von dem sie die Operation Omega beobachten würden. Casey sprang ungeduldig heraus, legte sich neben Jamie auf den Vorsprung, der ihnen Sichtschutz gewährte und nahm ihr wortlos das Fernglas ab. Auch wenn er Elja spürte, musste er ihn – oder zumindest den Lastwagen –sehen.

„Sie stehen dahinten links, zwischen dem vermuteten Sprengstofflager und den Mannschaftsunterkünften“, informierte ihn Jamie mit ihrer ruhigen Stimme. „Keine Auffälligkeiten, die beiden Soldaten sind ausgestiegen und ohne Zögern zu der Baracke ganz rechts gegangen.“

Statt einer Antwort brummte Casey nur. Er konnte nichts dagegen tun, in seinem Kopf sah er immer wieder, wie die Soldaten Jesse und Elja fanden, unter den Wagen hervorzogen und vor seinen Augen umbrachten, wobei sein Hirn variierte zwischen qualvoll zu Tode foltern und schnell per Kopfschuss töten.

Jamies Hand legte sich auf seinen Arm. „Ganz ruhig, Casey, sie haben sie nicht bemerkt. Wenn ja, gäbe es keinen Grund für die Soldaten, die beiden nicht umgehend zu exekutieren.“

Casey schluckte, sie hatte recht, egal was sein Kopf dazu meinte. Jetzt mussten sie warten, lange warten, denn noch stand die Sonne nicht einmal am Zenit.

 

Jeder von ihnen hatte zwei Rationen Wasser in kleinen Beutel auf dem Körper befestigt. So lange wie möglich zögerte Eljakim das Trinken hinaus, doch gegen Mittag, als das Wasser über ihn sich spürbar durch die Sonne erhitzte, trank er das erste aus. Der Schweiß lief ihm aus jeder Pore, ungeschützt standen die Tanklastwagen in der prallen Sonne. Wenigstens hingen sie unter den Fahrzeugen im Schatten.

Von Zeit zu Zeit hörten sie Stimmen, die schweren Schritte der Soldaten auf dem Betonboden. Einmal sah Eljakim, wie sich ein Soldat die Schuhe zuband, würde er nur einen Moment den Kopf gedreht, wären sie verloren. Doch er verbat sich darüber nachzudenken. Lieber ging er im Kopf noch einmal ihren Plan durch.

In der Dunkelheit würden sie versuchen, zwei oder drei Jeeps der Soldaten in die Luft zu sprengen. Jesse hatte ihm erklärt, dass für diese Explosionen einen Großteil ihrer Zünder verwenden mussten. Das Rapsöl, mit dem die Wagen betrieben wurden, war relativ schwer entflammbar und brauchte daher einen gewissen Anschub, ehe es brennen würde.

Diese Brandbomben würden zeitverzögert ausgelöst.

Wie würde Jesse die Zeit überstehen? Dachte er an Pharrell oder an die bevorstehende Gefahr, die Möglichkeit zu sterben? Für Eljakim war das Warten kein Problem, zu viele Stunden hatte er still in der Kammer seine Strafe abgesessen, gelernt seine Gedanken zu beschäftigen.

 

Endlich versank die Sonne hinter dem Horizont und die Dunkelheit kroch über das Land. Langsam wurden die Schatten immer länger, ehe die Nacht sie verschluckte. Die Freifläche vom Tor bis zu der Hauptbaracke des Basislagers wurde ebenso wie die Zäune ringsum durch Schweinwerfer erhellt. An den anderen Gebäuden gab es Bewegungsmelder. Eljakim und Jesse mussten versuchen, diese zu umgehen.

Casey lag seit Stunden mit dem Fernglas auf dem Vorsprung und behielt die Tanklastwagen im Auge. War da eine Bewegung? Wie mussten sich die beiden Männer nach der langen Zeit fühlen?

Mit Sicherheit konnte er nicht sagen, ob sich etwas unter den Wagen bewegt hatte. Aber die Zeit war reif, bald mussten sie handeln. Casey drehte sich zu den anderen um. Zwei Jeeps standen bereit, sobald das Feuerwerk im Lager begann, würden sie starten und versuchen, Eljakim und Jesse mitsamt der Zünder aufzusammeln.

Wieder wandte er seine Aufmerksamkeit nach unten, kaum erfasste das Fernglas die Tanklastwagen, explodierten der erste Jeep. Mit einem Mal brach die Hölle im Basislager Omega aus.

 

Der ersten folgte schnell die zweite Explosion, dann zündete Jesse die Brandbomben und Rauchschwaden behinderten die Sicht. Offiziere riefen laut Befehle, überall huschten schwarz gekleidete Männer und Frauen hektisch über das Gelände. Alles wirkte sehr kopflos.

Jesse lief dicht neben Eljakim. Unbeachtet gelangten sie zu der Baracke, in der sie die Zünder vermuteten. Die Tür stand offen. Mehrere Soldaten waren dabei Kisten herauszutragen. Sie schlossen sich einfach an. Jesse kontrollierte die Aufschrift und reichte ihm drei der handlichen Kisten, bevor er selbst die gleiche Anzahl hochhob. Zwischen den anderen rannten sie aus dem Gebäude.

In diesem Moment explodierte der dritte Jeep. Die Detonation sorgte für noch mehr Verwirrung. Wie erhofft, wurden die Tore zum Basislager geöffnet. Fast hatten sie das Tor erreicht, als ein sehr junger Soldat sich breitbeinig vor ihnen aufbaute und sie zum Stehen brachte.

„Wer seid ihr? Wo wollt ihr mit den Kisten hin?“ Der Stress verzerrte sein Gesicht und er hob die Waffe. In einer lange trainierten, fließenden Bewegung streckte Eljakim seine Hand aus und berührte den Kopf des Soldaten, ehe dieser darauf reagieren konnte, setzte er ihn mit einem gedanklichen Schlag außer Gefecht.

„Das ist gruselig“, rief Jesse, während sie weiterliefen. „Aber cool!“

Stimmen riefen ihnen hinterher, forderten sie auf stehenzubleiben. Dann folgten Schüsse, doch sie liefen weiter, durch das Tor, das gerade wieder im Begriff war, sich zu schließen.

Ein Auto hielt vor Eljakim, Sand spritzte hoch und die Tür flog auf. „Rein hier!“ Sofort warf er sich in den Wagen, sah aus dem Augenwinkel, dass Jesse in einen zweiten Jeep einstieg. Schon raste ein mit Soldaten vollgeladener Wagen auf das Tor zu. Ohne zu zögern schossen die Soldaten auf die beiden Fahrzeuge.

„Weg hier“, rief Casey und Mel fuhr an. Schüsse, Schreie, eine Explosion vor ihnen und Mel fluchte, wich dem entstandenen Krater aus, beschleunigte. Kurzfristig gerieten sie ins Schleudern, dann konnte Mel den Jeep wieder stabilisieren und sie rasten in die Nacht.

Keiner sagte etwas, es herrschte angespanntes Schweigen. Mels Fahrstil ließ sie von rechts nach links schwanken. Hinter ihnen zerschnitt Scheinwerferlicht das Dunkel. Sie konnten nicht erkennen, ob es der Jeep von Seth war, in dem Jesse und Pharrell saßen oder der der Soldaten.

„Festhalten!“, schrie Mel und jeder griff nach der nächsten Möglichkeit seinen Platz zu sichern. Eine scharfe Kurve folgte und dann fuhren sie durch eine Furt. Wasser und Schlamm spritzten hoch und die Insassen wurden durchgeschüttelt.

„Scheiße“, fluchte Ca und Eljakim grinste.

Der Wagen beschleunigte und schlitterte erneut um die Kurve. Die Zentrifugalkraft schleuderte sie nach außen. Eljakim schob die Kisten in den Fußraum und klammerte sich fest.

„Nur nicht loslassen!“ Mel schaltete das Licht des Jeeps aus und raste mit unverminderter Geschwindigkeit in ein Waldgebiet.

„Ich glaub, ich muss kotzen!“, kam von Hayden, der neben Ca auf dem Rücksitz saß.

„Wag es nicht, mein Wagen vollzukotzen“, knurrte Mel und jagte zwischen den Bäumen durch. Eljakim konnte sich nicht entscheiden, ob er die Augen lieber zu machen oder der Katastrophe lieber entgegensehen wollte. Mehr als einmal sahen sie im schwachen Licht des Mondes die Bäume deutlich, an denen der Jeep dicht vorbeirauschte.

„So, Freunde, alles, was nicht rausfliegen soll, ein letztes Mal festhalten“, rief Mel und schon rasten sie fast senkrecht einen Hügel hinab.

Unten fuhren sie erneut durch einen schmalen Bach. Dann brachte Mel den Wagen zum Stehen. Erstarrt saßen alle in dem Jeep, auf einmal war es beunruhigend still um sie herum.

„Wo sind sie geblieben?“

„Abgehängt, was denkst du?“

Die Anspannung löste sich und alle begannen zu lachen, erst verhalten und dann immer lauter, bis sie hysterisch lachend keine Luft mehr bekamen.

„Du bist unglaublich, Mel!“ Ca legte der jungen Frau die Hand auf die Schulter. „Jetzt bring uns nach Hause.“

Mit einem Nicken startete Mel den Jeep und schaltete die Schweinwerfer an.

 

 

Impressum

Texte: Gabriele Oscuro
Bildmaterialien: Gabriele Oscuro
Lektorat: In wundervollster Weise Ulla / Alle verbleibende Fehler sind ganz alleine meine
Tag der Veröffentlichung: 27.08.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Eine neue Art von Denken ist notwendig, wenn die Menschheit weiterleben will. Albert Einstein All jenen, die versuchen nicht in Schubladen zu denken und für die ein Mensch in erster Linie ein Mensch ist. Egal, wie er aussieht oder wenn er liebt.

Nächste Seite
Seite 1 /