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Der Neue

Schon als er den alten, klapprigen Golf auf dem Parkplatz vor der Schule abstellte, hasste er den Tag, die Schule und den ganzen beschissenen Ort. Vierzehn Tage war es her, dass der Möbelwagen seine Mutter und ihn hier ausgespuckt hatte und nicht einer dieser Tage war gut gewesen.

Vor der Schule standen mit gegen die Kälte hochgezogenen Schultern die volljährigen Raucher und sahen zu, wie Josua aus dem Wagen stieg, verfolgten kritisch seinen Weg durch das hohe Schultor.

Nimm dich zurück, zwei Jahre, dann bist du hier wieder raus. Du brauchst keine Freunde, sie sollen dich nur in Ruhe lassen.

Alle Augen auf dem morgendlichen Schulhof wandten sich ihm zu – oder kam es ihm vielleicht nur so vor? Dabei war er nicht besonders auffällig, ein bisschen groß mit seinen 192 cm vielleicht, aber sonst… weite, dunkle Hose, weiter Hoodie in dunkelblau, schlichte Turnschuhe. Ungewöhnlich vielleicht die weißen Strähnen in seinem schwarzen Haar…

Einfach so normal, wie er sein konnte. – Auf jeden Fall nicht normal genug für die Kinder dieses reichen Kurortes.

Das Schulgebäude war alt. Eine ausgetretene, steinerne Treppe führte ihn in den Eingangsbereich. Schnell hatte er den ausgeschilderten Verwaltungstrakt gefunden. Dann musste er sich wohl anmelden in der schönen neuen Welt…

 

***

 

Wer war der Junge mit den kurzen, schwarz-weißen Haaren? Tom stand mit seinen Freunden zusammen auf dem Schulhof und verfolgte, wie er über den Schulhof ging. Was für ein Freak! Die linke Augenbraue war gepierct und trotz der unauffälligen Klamotten sah der Typ voll schräg aus.

„Mann, wo ist der den ausgebrochen?“, fragte Florian neben ihm. „Der geht doch hoffentlich nicht auf unsere Schule.“

„So einen Abschaum nehmen die doch hier nicht auf“, tönte André und stieß Tom mit dem Ellenbogen in die Seite.

„Wir werden sehen, wie lange er bleibt“, entgegnete er trocken und starrte auf die Tür, hinter der der Junge verschwunden war. Was für ein Loser!

 

***

 

Vom ersten Moment schlug ihm Ablehnung entgegen. Warum, konnte er nicht genau benennen. Dabei hielt er sich von allem fern, zog sich vollkommen zurück, ließ die dummen Sprüche kommentarlos über sich ergehen. Beschwerte sich nicht über ihre dummen Streiche, fehlende Bücher, die sich an den unmöglichsten Stellen wiederfanden, sein mit Sekundenkleber fixiertes Mathebuch, das er am Ende des Schuljahres wegen fehlendem Einband würde bezahlen müssen, die Kratzer auf dem Golf… - Na ja, die fielen eh kaum auf.

Je weniger er reagierte, desto mehr schien er sie zu provozieren. Am Sportunterricht nahm er noch nicht wieder teil. Obwohl die Verletzungen des Unfalls verheilt waren, nutzte er sie, um nicht teilnehmen zu müssen. Leider konnte er langfristig nicht auf die guten Sportnoten verzichten. Jede Sportstunde saß er auf der Bank und sah den tollen Sportskanonen um Tom herum beim Posieren zu. Dieser Tom war ein arroganter, idiotischer Fatzke – und er konnte ihn, Josua, nicht ausstehen. Wobei Josua nicht begriff, warum.

Die sechste Woche saß er jetzt mit dem Kopf an die Hallenwand gelehnt und sah den anderen beim Aufwärmen zu.

 

„Guten Morgen, meine Damen und Herren“ Die Schulleiterin Frau Dr. Rosanna Weingärtner hatte zusammen mit der Musiklehrerin Frau Berthold die Halle betreten. Obwohl sie nie laut sprach, gehörte ihr sofort die Aufmerksamkeit aller Schülerinnen und Schüler.

„Wie wir schon zu Beginn des Schuljahres angekündigt haben, wird der zwölfte und dreizehnte Jahrgang sich in der diesjährigen Projektwoche mit der Verbindung von Sport und Tanz auseinandersetzen. Dieser Kurs wird mit Frau Berthold und Herrn Dr. Breitenbach einige Szenen einüben, in denen tänzerische und sportliche Elemente verbunden werden.“ Ein murrendes Gemurmel wurde laut. „Auch Männer können tanzen. Und in der Verbindung mit turnerischen Elementen ist es auch nicht “unmännlich“.“ Ihr eisig blauer Blick streifte die Schülerinnen und Schüler. „Es gibt keine Verweigerung. Jeder nimmt die ihm zugewiesene Aufgabe wahr. – Ansonsten sehen wir uns schneller wieder, als Sie sich das wünschen.“

Frau Berthold und Dr. Breitenbach erklärten der Klasse, die sich vor ihnen auf den Boden gesetzt hatte, was sie geplant hatten. Es sollten drei bis vier Szenen aus der West-Side-Story eingeübt werden. – Die meisten der zwanzig Schüler kannten die West-Side-Story gar nicht und bekamen als erstes die Aufgabe, sich damit vertraut zu machen.

Josua spürte ein Ziehen in seiner Brust. Seine Augen wanderten über die Klasse, wer von ihnen konnte tanzen? Sportlich waren einige. Tom und sein Gefolge auf jeden Fall, drei andere spielten Baseball, aber der Rest? Vielleicht noch fünf bis sechs Mädchen. Als Frau Berthold den CD-Player anstellte und die vertrauten Töne durch die Sporthalle klangen, war es wie ein Jucken in seinem Körper. – Nein, er durfte nicht. Einerseits hatte er eine Befreiung vom Sportunterricht, anderseits, wollte er auch nicht mit dem Stigma schwuler Tänzer gezeichnet werden. Schwul reichte schon, auch wenn er nicht wusste, woher es kam. – Außerdem war er kein Tänzer… mehr.

 

Am Montagnachmittag, dem ersten Tag der Projektwoche, setzte sich Lena neben ihn auf die Bank. „Ich habe einen Freund in Hamburg, der kennt deine Mutter.“

„Er kennt ihren Namen“, erwiderte Josua, ohne sie anzusehen.

„Er wusste auch einiges über dich zu erzählen.“ Als er nicht antwortete, fuhr sie fort: „Warum sitzt du hier auf der Bank? Du könntest uns alle in die Tasche stecken.“

„Weil ich meine Ruhe haben will.“

„Dann hilf mir wenigstens.“ Flehend sah sie ihn an. „Bitte. Ich kann das nicht. Weder bin ich sportlich, noch kann ich tanzen.“

Er musterte sie. Lena war eine der unauffälligen, eine die immer wieder in das Kreuzfeuer der selbst ernannten Klassenelite geriet und sich nicht wehren konnte. Sie war eine Außenseiterin, vielleicht nicht so krass wie er, aber immerhin.

„Wir sollen nicht singen, wir sollen nicht fragen, aber wir sollen den ordentlichen Hintergrund abgeben, vor dem sich die anderen in Szene setzen können. – Nur keiner von uns weiß, wie das geht. – Und die Berthold kümmert sich um Tom, Rabea und die anderen Stars.“ Die Anführungszeichen schwebten durch den Raum.

„Okay, gerade warst es nur du, jetzt seid ihr schon mehrere. Was willst du von mir?“

„Zeig uns wie es geht, wie wir nicht wie latschende Riesenbären aussehen und uns wieder einmal blamieren.“ Bittend legte sie ihre Hand auf sein Bein.

 

„Oh, klein Lena sinkt immer tiefer. Jetzt machst du schon diesen Freak an. Ekelt dich vor gar nichts?“, fragte Florian und blieb abfällig grinsend vor ihr stehen. „Außerdem verlorene Liebesmühe: der Kerl ist schwul. Das bedeutet, er steht auf Männer – oder vielleicht Knaben, auf jeden Fall nicht auf dumme Mädchen.“

„Lass mich in Ruhe“, antwortete sie. In ihrer Haltung und ihrer Stimme konnte Josua spüren, wie viel Stress der Kerl und sein verbaler Angriff ihr bereiteten.

„Leni, Leni, such dir nicht die falschen Freunde aus. Dieser Arsch bringt dir nur Ärger“, fügte André hinzu, der sich neben Florian gestellt hatte und seinen Arm auf dessen Schulter gelegt hatte. Sie bildeten eine Wand vor dem zierlichen Mädchen, das schluckte.

„Das geht dich nichts an“, sagte sie leise. „Kann euch doch völlig egal sein.“ Ihren Blick hielt sie gesenkt auf die Füße der beiden.

„Aber Leni, du bist uns doch nicht egal, du bist ein Teil dieser Klasse. Anders als der Abschaum da.“ Nun war auch Tom da und deutete auf ihn.

„Mein Gott, könnt ihr uns nicht einfach in Ruhe lassen? Ihr könnt uns nicht leiden, okay, doch dann lasst uns einfach in Ruhe!“ Jetzt sah Lena die drei Jungs vor sich an. „Wenn man euch reden hört, kann man nicht glauben, dass ihr schon volljährig seid.“

„Unsere Kleine wird frech, hör sich das einer an.“ Florian lehnte sich herunter und wollte durch ihr Gesicht streichen.

„Sie hat gesagt, dass du sie in Ruhe lassen sollst“, sagte Josua und fing seine Hand ein. Alle sahen ihn erstaunt an. Bisher hatte er noch nie etwas gesagt, wenn sie ihn provoziert hatten.

„Pass mal auf, du Arschloch, wenn…“ Tom hatte sich vorgelehnt und seine Hand neben seinen Kopf an die Hallenwand gelegt. Ihre Gesichter berührten sich fast und widersinnigerweise fuhr Josua durch den Kopf, was für wunderschöne blaue Augen der andere hatte. Wie würde Tom wohl reagieren, wenn er das jetzt sagen würde. Ein Grinsen schlich sich in seinen Mundwinkel.

„Was ist hier los? Feierabend. Wenn ihr zu viel Energie habt, dann geht auf den Sportplatz“, fuhr Dr. Breitenbach dazwischen. Widerwillig zogen Tom und seine beiden Freunde sich unter Dr. Breitenbachs Blick zurück. „Auch ihr beide könnt gehen“, sagte er zu Lena und Josua, dann verließ er selber die Halle.

„Wenn ihr wollt, versuche ich, euch zu helfen. – Doch dazu brauchen wir Platz, am besten wäre die Turnhalle.“ Josua drehte sich zu Lena um.

„Kein Problem, Beckys Vater ist der Hausmeister. – Heute Abend?“ Mit großen Augen sah sie ihn hoffnungsvoll an.

„Ich kann erst um 20:00 Uhr“, antwortete Josua und fragte sich, ob es wirklich eine gute Entscheidung war, gleichzeitig freute sich sein Körper darauf, unbeobachtet von den Spinnern seiner Leidenschaft nachgeben zu können.

 

Um 20:00 Uhr erwarteten ihn neun der einundzwanzig Schülerinnen und Schüler seines Sportkurses. All jene, die nur eine Nebenrolle spielten und höchstens mal als Opfer dummer Späße dienen durften. Es waren auch alle Nebenrollen der Tanz-Szenen. Erwartungsvoll sahen sie ihm entgegen.

„Okay, ich weiß nicht genau, was ihr von mir erwartet…“, begann er.

„Zeig uns eine Möglichkeit, nicht wie der letzte Depp zwischen all den Sportlichen und Begabten auszusehen“, sagte ein schlaksiger, Akne gequälter Junge. Jan, wenn Josua sich nicht irrte. Und die anderen nickten. „Wir haben keine Lust mehr auf Bertholds dumme Sprüche, auf die schreiende Arroganz von Tom und Konsorten. Wir wollen einmal nicht die Loser sein.“

Josua sah von einem zum anderen. „Versuchen wir es.“

 

Zwei Stunden später saßen alle erschöpft und verschwitzt auf den Matten.

„Warum muss das so anstrengend sein?“, stöhnte Mattes und ließ sich nach hinten fallen.

„Das war noch nicht anstrengend“, sagte Josua, der als Einziger weder erschöpft, noch verschwitzt war.

Lena betrachtete den Jungen, den sie zum ersten Mal nicht versteckt unter schlabbrigen Pullis oder Sweatern sah. Hinter der schlanken trainierten Gestalt konnten sich sogar Tom und seine Sportfreunde verstecken. Nicht ein Gramm Fett, nur Muskeln und Sehnen. Jede Bewegung war geschmeidig und wenn er ihnen zeigte, wie sie tanzen sollten, dann hätte sie ihn am liebsten gebeten, einmal wirklich für sie zu tanzen, zu zeigen, was er konnte. Erstaunt hatte sie zur Kenntnis genommen, dass er auch turnen konnte. Seine Körperbeherrschung war unglaublich. Wenn die anderen Mädchen ihn so sehen würden, wären sie sofort hin und weg. – Obwohl, er schien kein Interesse an Mädchen zu haben… an Jungen allerdings auch nicht.

„Dann machen wir Schluss für heute. Wenn ihr wollt, treffen wir uns morgen zur selben Zeit noch einmal.“ Seine grau-blauen Augen sahen sie an. Lena nickte. „Ja, das ist genau das, was ich mir vorgestellt habe. – Auch wenn ich morgenfrüh keinen Schritt werden gehen können.“ Die anderen nickten und Josua lächelte. Wow, ein hübscher Kerl, wenn er sich nicht versteckte, dachte Lena, eigentlich gehörte er auf die andere Seite, zu der oberen Klassenkaste, nicht auf die Seite der Verlierer.

„Lena, ich würde gerne etwas länger bleiben…“, Josua sah sie an.

„Kein Problem, wenn du das Licht löschst, kein Wasser laufen lässt und mir den Schlüssel morgenfrüh vor dem Unterricht wiedergibst“, antwortete Becky, die hinter ihr stand, und lächelte.

„Danke.“

 

***

 

Was war passiert? Die sonst so unbegabten, die Langweiler, waren seit gestern immer besser geworden. Er betrachtete die Dreiergruppe, die zu dem Song “Cool“ den Hintergrund tanzten. Sie waren synchron und verpassten keinen Einsatz. Wie machten sie das?

Einige Zeit später musste er zugeben, dass Lena ihre Schritte zu “America“ besser beherrschte als Rabea, die früher einmal Ballettunterricht hatte. Was ging hier vor?

„Woher kann die Schlampe das?“, fragte ihn Rabea fünf Minuten später. Tom schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung.“ Aber er würde es herausfinden. Sein Blick fand Josua, der wie immer scheinbar desinteressiert am Rand saß. Was löste der Junge in ihm aus – und warum? Immer war er wütend auf den Typ, wollte mit ihm streiten, ihn provozieren – und doch konnte er nie länger seinen Blick von ihm lassen, wollte mehr von ihm wissen, wurde fast magisch von ihm angezogen – und genau das machte ihn noch wütender.

Genauso wie der wirre – verwirrende Traum, den er in der letzten Nacht von dem Loser hatte. Was war an diesem Kerl, dass er es bis in seine Träume schaffte?

 

Am Abend wartete er dem Twingo seiner Mutter vor Lenas Haus. Nach zwei Stunden, gerade als er nach Hause fahren wollte, kam sie um kurz vor 20:00 Uhr mit ihrer Sporttasche aus dem Haus. Hoffentlich würde er ihr jetzt nicht nur zum Sportverein folgen.

Erstaunlicherweise fuhren sie zur Schule. Unbeirrt ging Lena zur Turnhalle und verschwand darin. Nach einander kamen die anderen Loser und folgten ihr. Um 20:10 Uhr ging er ihnen leise nach, schlich sich auf die Tribüne hinauf.

Alle saßen auf der Matte und sahen zu Josua hoch. Das war doch Josua? Tom starrte ungläubig auf die trainiert Gestalt in Jogginghose und Muskelshirt. Das versteckte sich hinter der unmöglichen Kleidung?

Dann begriff er, warum die anderen so gut geworden waren. Die Musik setzte ein und Josua trainierte mit ihnen. Offensichtlich verstand der Junge etwas davon.

In einer Mischung aus Lachen und Stöhnen quälte er sie durch zwei Stunden Training – ohne auch nur einmal schneller zu atmen, obwohl er mit tanzte und dabei redete. Nach zwei Stunden war Schluss und alle gingen duschen, außer Josua. Nach ein paar Minuten, in denen er nur still dagestanden hatte, stellte er die Musik wieder an und dann bekam Tom den Mund nicht mehr zu. Das war Tanz! Wie lächerlich musste ihr Rumgehüpfe für den Jungen aussehen, der dort unten die gesamte Fläche nutzte, nebenbei, ohne Unterbrechung, die für den sportlichen Teil aufgebauten Geräte einbezog. Er sprang, wirbelte und demonstrierte, wie die Verbindung von Tanz und Sport aussehen konnte.

Wieso machte Josua nie Sport mit? Der Junge war fit. So fit, wie er selber im ganzen Leben noch nie war.

Am Ende der Musik kniete Josua in der Mitte der Halle und Tom musste sich zurückhalten, um nicht begeistert zu klatschen. Für den Moment war sein Zorn auf den Jungen verschwunden. Er wollte mehr von ihm wissen, seine anderen Geheimnisse ebenfalls lüften.

Nachdem Josua sich langsam erhoben und seinen Sachen genommen hatte, wartete Tom noch einen Moment, bevor er hinunter ging. Die anderen waren schon lange fort und Tom geduldete sich, bis er das Wasser in der Dusche rauschen hörte. Schnell warf er einen Blick in die Umkleide, nur Josuas Kleider lagen noch auf der Bank. Magisch angezogen ging Tom auf den Durchgang zum Duschraum zu. Das Wasser rauschte, an die Wand gedrückt ging er weiter, bis er den nackten Körper sehen konnte. Josua drehte ihm den Rücken zu, er sah den breiten Rücken, die Muskel und Sehnen, die schmalen Hüften – und die breite Narben darüber. Fasziniert starrte er den jungen Mann an, der sein Gesicht in den Wasser strahl hob und sich langsam umdrehte. Er war schön, durchschoss es Tom und verwirrt bemerkte er, wie sehr ihn der Anblick anmachte. Schnell bewegte er sich rückwärts, fort von Josua, der so viele verschiedene Reaktionen in ihm auslöste.

Vor der Schule wartete er in dem Wagen, bis Josua herauskam und in den klapprigen Golf stieg. Irgendjemand hatte mit wasserfestem Stift Schwuchtel und Wichser auf den zerkratzten Lack geschrieben und ziemlich plumpe, eindeutige Bilder dazu gemalt. Direkt und ohne Zögern fuhr Josua aus dem Ort hinaus in ein Neubaugebiet. Dort stieg er vor einem modernen Bungalow mit riesigen Fensterfronten aus. Tom hielt schräg gegenüber. Von seinem Auto konnte er in den Küchenbereich und weiter hindurch in das Wohnzimmer sehen. Licht flammte auf und Josua tauchte in der Küche auf, öffnete den Kühlschrank, verschwand einen Augenblick hinter der Tür. Als er die Tür wieder schloss, sah Tom, dass er ein Stück Käse zwischen den Zähnen hatte und ein Glas in der Hand. Wohnte er mit seinen Eltern zusammen? Tom musste gestehen, dass es nicht wusste. Eigentlich wusste er gar nichts von Josua. Bisher hatte er sich wie alle von den Gerüchten leiten lassen, die über ihn im Umlauf waren: dass er schwul war; dass er in Hamburg mit Drogen gehandelt habe; dass er rücksichtslos brutal war; dass er ein angeberischer Spinner war. – Obwohl sich bisher nicht ein einziges Gerücht bewahrheitet hatte… Josua war stoisch ruhig, ging allen und allem aus dem Weg.

Der Junge hinter der Scheibe hob plötzlich den Kopf, nahm das Stück Käse aus dem Mund und rief etwas über seine Schulter, dann legte er das Essen auf den Küchenschrank und verschwand nach hinten.

Tom stieg aus, sah sich um und lief über die Straße. Der Stimme, die ihn fragte, was er dort täte, stopfte er schnell den Mund. Vorsichtig schlich er sich um das Haus. Das ganze Haus schien aus Fensterfronten zu bestehen. Ungehindert konnte er sehen, wie Josua durch das Wohnzimmer in ein Schlafzimmer ging. In einem Bett, das Tom an ein Krankenhausbett erinnerte, lag eine zierliche, dunkelhaarige Frau. Ihr schmales Gesicht schien zwischen den Kissen zu versinken. Josua setzte sich an ihr Bett, redete mit ihr – und er konnte seinen Blick nicht abwenden. Josua zog sein Sweatshirt über den Kopf und wieder starrte er auf die muskulösen Arme.

Kurz darauf stand Josua auf, trat an die Fensterfront und schloss die schweren Vorhänge. Einen Moment blieb Tom still stehen, dann ging er langsam zurück zu dem Wagen und fuhr nach Hause.

 

Am Donnerstagabend fuhr Tom wie magnetisch angezogen wieder zur Turnhalle und schlich hinauf auf die Tribüne, sah sich das Training erneut von oben an. Josua war ein geduldiger Trainer, er war lustig und traf immer den richtigen Ton. Jeder bemühte sich, ihm alles recht zu machen, gab sein Bestes. Josua lobte oder gab gute Ratschläge, wenn es nicht klappte. Nie war er ungeduldig, schrie die andern an oder beleidigte sie, weder das Pickelgesicht Jan, noch die stotternde Louise – oder einen der anderen Loser.

Es sah wirklich gut aus, was sie nach zwei Stunden zeigten. Josua klatschte, gratulierte und schlug jeden ab.

„Morgen ist Generalprobe. Ich denke, Ihr seid so gut, wie es innerhalb einer Woche möglich ist. – Und das habt nur Ihr geschafft! Ich bin gespannt, was die anderen morgen sagen“, sage Josua lächelnd.

„Ohne dich hätten wir das nie geschafft. Wir danken dir“, sagte Lena und alle schlugen gegen das Holz der Kästen, die überall in der Deko standen. Tom konnte sogar von der Tribüne sehen, wie Josua errötete.

Nacheinander gingen alle an ihm vorbei und bedankten sich. Lena drückte ihn zum Schluss, flüsterte ihm noch etwas in das Ohr und lief schnell aus der Halle. Bestimmt hatte sich die romantische Lena in Josua verliebt. – War er nun schwul oder nicht?

Josua streckte sich, dehnte seinen Körper, ging zu der Anlage und schloss seinen MP3-Player an. Dann ging er zur freien Fläche in der Mitte der Halle, nach einigen Sekunden drang Depche Mode „Wrong“ aus der Anlage – und Josua begann sich zu bewegen. Es war Tanz – und ungewöhnlich – und schön. Tom sah ihm zu, sah, wie er immer wieder stoppte, die Choreografie zu ändern, neu ansetzte. Es waren Bewegungen, die aus Kraft und Körperbeherrschung bestanden und es war Tanz, schnell und rhythmisch. Manchmal schien es Tom so, als wäre es eine Choreografie für zwei Tänzer, als fehlte der Partner, dann stockte Josua, überlegte und veränderte Schritte. Wie wunderschön – und erotisch waren die Bewegungen zum Teil. Sie regten Toms Fantasie an – und die erschreckte ihn. Zum Schluss blieb Josua lang ausgestreckt liegen, die Arme weit über den Kopf gestreckt. Dann, nach zwei bis drei Atemzügen, rollte er sich zusammen, machte sich ganz klein. Tom konnte seine Verzweiflung bis zur Tribüne hoch spüren, war sich sicher, dass der Junge da unten weinte – und hatte das dringende Bedürfnis ihn zu trösten. – Was würde passieren, wenn er jetzt hinunter ginge und ihn berührte? Tom mochte sich das nicht vorstellen – und wünschte sich zeitgleich genau das zu tun.

Nach einer Viertelstunde stand Josua auf, wischte sein Gesicht ab und ging langsam Richtung Dusche.

Er sollte jetzt nach Hause fahren. Jetzt sofort, doch er wartete im Auto so lange, bis Josua in seinen Wagen stieg. Er hatte nicht einmal versucht, die Schrift von dem Wagen zu entfernen. Was ging in dem Kopf des jungen Mannes vor?

Wieder fuhr Josua nach Hause. Überall war das Licht im Haus an. Tom sah die Frau, wahrscheinlich Josuas Mutter, im Rollstuhl. Josua küsste sie auf die Wange, hockte sich vor den Rollstuhl, strich über ihre Arme. Mit einem sanften Lächeln redete er auf sie ein. Dann fuhr er mit ihr in einen weiteren Raum, den Tom vom Garten aus sehen konnte. Vorsichtig hob er sie aus dem Stuhl, legte sie auf die Matten am Boden und fing an, ihre Beine zu bewegen. Langsam und mit unendlich viel Geduld bewegte er die Beine, während er dauernd mit ihr sprach. In ihrem Gesicht sah er den Schmerz, den die Bewegungen auslösten. Was war mit der Mutter geschehen? – Und was für ein Mensch war Josua?

 

***

 

Der letzte Tag. Josua saß wie immer an die Hallenwand gelehnt und betrachte ohne sichtbare Emotionen die Generalprobe. Ein wenig Stolz machte sich in ihm breit. Die Neun waren gut, besser als die „Stars“ dieser Show. Nicht zu lächeln, kostete ihn Kraft.

„Ich weiß nicht, wie Ihr das geschafft habt, aber das war großartig“, sagte Frau Berthold dementsprechend auch zu ihnen. Als Josua aufsah, begegnete er Toms verschlossenem Blick. Diesmal wandte er seinen Blick nicht ab, sah in die dunkelblauen Augen. Wenn dieser Typ nicht so ein Scheißkerl wäre, wäre er echt niedlich. Diese großen, blauen Augen, die blonden Haare und dieses freche Lächeln, wenn er jemanden mochte. – Ihn würde er nie so anlächeln, wie er gerade Sina anlächelte. Mit einem Kopfschütteln verdrängte er den Gedanken. Schwachsinn.

„Das war eine gute Generalprobe. Ich danke Ihnen für ihr Engagement und wünsche uns morgen zwei gute Aufführungen.“, sagte Dr. Breitenbach mit einem Lächeln, während Frau Berthold eifrig nickte.

Endlich frei! Josua stand langsam auf, behielt die üblichen Verdächtigen im Blick und verließ die Sporthalle. Wenigstens musste er den Samstag nicht auch hier verbringen. Entgegen der Ankündigung der Schuldirektorin hatten nicht alle etwas zu tun, er war der Einzige, der keinen Job hat. Mit einem Grinsen ging er zu seinem Auto, nur um dort festzustellen, dass zwei seiner Reifen zerstochen waren.

„Na, Probleme?“ André stand zusammen mit Florian nur wenige Schritte entfernt und grinste. Wo war ihr Anführer abgeblieben?

Ohne die beiden zu beachten, nahm Josua sein Handy heraus und rief die Werkstatt an, bat darum gleich zwei Ersatzreifen mitzubringen. Die Antwort war, dass es bis zum Nachmittag dauern konnte, sie würden sich wieder melden. Josua lehnte sich an den Wagen und wartete, was konnte er sonst tun? André und Florian waren verschwunden, andere Schülerinnen und Schüler kamen an ihm vorbei. Manche sahen ihn mitleidig, andere schadenfreudig an.

„Kann ich dir helfen?“, fragte Lena und blieb mit einem schüchternen Lächeln vor ihm stehen.

„Nee, schon okay“, antwortete er.

Unschlüssig sah sie ihn an, doch er hatte keine Lust auf Gesellschaft und sah an ihr vorbei. „Ich wünsch dir viel Glück für morgen“, sagte er, als sie sich umdrehte. Über die Schulter sah sie ihn an. „Dank dir wird alles gut.“

Wenn das für die anderen stimmte, war das wenigstens etwas. Warum taten diese Idioten das? Hatte Tom ihnen das aufgetragen? Doch warum genoss er dann nicht seinen Triumph?

„Was ist denn hier passiert?“ Toms erstaunte Frage riss ihn aus seinen Überlegungen. Misstrauisch sah er ihn an. „Ist das nicht eine deiner großartigen Ideen?“

„Nein!“ Tom hatte wirklich keine Ahnung. Außerdem ging ihm das doch ein wenig zu weit. Ein Mathebuch zerstören war eins, aber zwei Reifen zerstechen etwas anderes.

„Hm, zumindest waren es deine beiden Leibeigenen. Wenn du damit nichts zu tun hast, dann hast du die beiden aber schlecht erzogen“, fuhr Josua ihn an. „Sonst sind sie doch nur deine Handlanger.“

Bevor Tom antworten konnte, klingelte Josuas Handy. Seine ganze Konversation bestand aus: Ja – hm – hm – Scheiße – Muss ich wohl. – Bis später.

„Die Werkstatt?“, fragte Tom.

„Ja, sie können den Wagen heute nicht mehr reparieren und ich muss jetzt den Schlüssel hinbringen.“ Wütend schlug Josua auf die Motorhaube, dann warf er einen Blick auf die Uhr. „Verdammte Scheiße! Zu spät komme ich auch noch.“ Hektisch tippte er auf sein Handy ein.

 

***

 

„Soll ich dich zu der Werkstatt fahren?“, fragte Tom.

Überrascht sah Josua ihn an. „Du willst mich fahren? – Wo ist der Haken?“

„Kein Haken. – Mensch, ich mache viel Mist, aber soweit würde ich nie gehen!“ Wobei ein kleiner Teil von ihm sich fragte, ob das nicht nur daran lag, dass er Einblick in Josuas Leben bekommen hatte.

Misstrauisch sah Josua ihn an, dann nickte er langsam. „Danke“, sagte er, immer noch nicht hundertprozentig überzeugt.

„Der rote Twingo“, sagte Tom und während er zu dem kleinen Flitzer seiner Mutter vorging, dankte er für die Eingebung heute Morgen den Wagen genommen zu haben.

In dem begrenzten Raum des Autos nahm Tom zum ersten Mal bewusst Josuas Geruch war. Ein frischer, angenehmer Duft umgab ihn.

Schweigend fuhren sie zu der einzigen Werkstatt in der näheren Umgebung. Josua gab den Schlüssel und die Papiere ab. Nachdem er wieder im Auto saß, fragte ihn Tom, wo er wohnte. Natürlich konnte er nicht zugeben, dass er dies schon wusste.

 

***

 

„Danke“, sagte Josua nochmals, als sie vor dem Haus standen und wandte sich Tom zu. Er hatte sich vorhin geirrt, dieses Mal galt das freche Lächeln eindeutig ihm. Und sein Herz erhöhte die Schlagzahl. Nein, versuchte Josua sich zuzureden, tu das nicht. Nicht Tom Klemens, bitte nicht.

 

***

 

„Kein Problem, wenn ich dich noch irgendwo hinbringen soll, dann ruf mich an“, hörte Tom sich sagen.

Die grau-blauen Augen sahen ihn verwundert an und gerade als Josua etwas sagen wollte, hörten sie jemanden rufen: „Jos? Wir müssen los.“

„Ja, Ma, ich komme“, rief Josua über die Schulter, dann warf er Tom noch einen Blick zu. „Ich denke, es geht schon. – Trotzdem danke für das Angebot.“ Er lächelte ihn an und Tom spürte wieder das Ziehen in seiner Brust, Wärme, die sich ausbreitete.

Die Autotür wurde geschlossen und Josua ging über den Plattenweg zur Haustür. Was für Gefühle löste der andere Junge in ihm aus? Sie waren vielfältig und sehr verwirrend.

Tom startete den Wagen und fuhr nach Hause.

 

In dieser Nacht wachte er auf, schweißbedeckt und mit feuchter Hose. Das war schon lange nicht mehr vorgekommen – und es war noch nie bei dem Traum von einem anderen Jungen geschehen. Er hatte noch nie von einem anderen Jungen geträumt! Und jetzt passierte ihm das fast ständig. Fast jede Nacht träumte er von Josua, aber das es so weit ging, war noch nie passiert!

Aus dem Dunkel stiegen die Traumbilder hoch: der schlanke Körper, die grau-blauen Augen, die schlanken Hände, die ihn berührten, der Mund, der ihn anlächelte, bevor er ihn wild küsste, sich an ihm rieb, die Stimme, die in sein Ohr flüsterte…

Was um alles in der Welt war nur los mit ihm? Warum beherrschte Josua sein Denken, seine Träume?

Nachdenklich kletterte er aus dem Bett, schmiss die Boxershorts, in denen er geschlafen hatte, in den Wäschekorb und ging in das Badezimmer. Ganz stimmte es nicht, dass er noch nie von einem Jungen geträumt hatte, doch das war schon lange her und nicht halb so intensiv, wie dieser Traum von Josua. – Scheiße, er musste den Jungen aus seinem Kopf bekommen.

 

Samstagmorgen trafen sich alle wieder in der Turnhalle, räumten um, stellten Bänke für die Gäste auf. André und Florian versuchten, sich im Blödsinn machen zu überbieten, und Tom fragte sich, warum er eigentlich mit den beiden befreundet war. – War er überhaupt mit ihnen befreundet? Oder waren sie eine Zweckgemeinschaft?

Die beiden jagten sich quer durch die Halle und André fiel dabei über eine der Bänke, stürzte und schrie. Schnell stand fest, dass er sich den Knöchel verstaucht hatte und nicht tanzen konnte. Nicht einmal alleine gehen konnte er.

„Und nun?“, fragte Dr. Breitenbach genervt. „Wenn André nicht tanzen kann, dann können wir die Aufführung gleich absagen!“

„André kann sowieso nicht tanzen, vielleicht kann er ja einfach dumm rumstehen“, flüsterte jemand aus der zweiten Reihe. Leises Kichern folgte.

„Rumstehen allein reicht nicht. Kann jemand für André einspringen?“ Dr. Breitenbach sah sie alle an.

Tom wusste, wer diese Rolle tanzen konnte, doch er bezweifelte, dass Josua dies tun würde. Trotzdem schlich er sich aus der Halle und fuhr zu ihm. Nach dem er einmal tief Luft geholt hatte, klingelt er. Im Inneren des Hauses hörte er die Stimme der Mutter: „Jos, hast du die Klingel gehört?“

„Ja, bin schon unterwegs“, kam die Antwort und die Tür öffnete sich.

 

***

 

„Tom?“ Was wollte der schon wieder von ihm, doch zeitgleich freute sich ein Teil von ihm, wie er irritiert feststellte.

„Ich muss mit dir sprechen“, sagte Tom und sah ihn mit seinen blauen Augen bittend an. Josua öffnete die Tür. „Dann komm herein.“

„Wer ist da?“, fragte seine Ma aus der Küche.

„Ein – Freund“, sagte Josua und warf Tom einen leicht zweifelnden Blick zu. Tom lächelte sein süßes Lächeln und ging an ihm vorbei.

„Hinten links“, sagte Josua und ging hinter ihm her.

 

***

 

Das Zimmer war groß, es gab ein breites Bett, einen Schreibtisch, vollgepackt mit Büchern, eine Musikanlage in einem aus bunten Würfeln bestehenden Regal, in dem sich ansonsten viel Bücher befanden. Über dem Bett hing das Bild eines Tänzers, der in einem hohen Sprung über durch die Luft flog. Zumindest nahm Tom das an, es war eigentlich nur eine neongrün umrahmte Silhouette die Schwarz von Schwarz trennte. Ob es im Dunkeln fluorisierte?

„Was kann ich für dich tun?“, fragte Josua ihn und Tom wandte sich ihm zu.

„André hat sich den Knöchel verstaucht und kann nicht tanzen“, sagte er direkt.

„Nein“, erwiderte Josua sofort.

„Bitte, Josua, du bist der einzige, der die Aufführung retten kann.“ Er trat eine Stück näher an Josua, nahm seinen Geruch intensiv wahr.

„Nein, warum sollte ich das tun?“ Josua sah ihn an, wich nicht zurück.

Erst jetzt fiel ihm auf, was ihn von Anfang an irritiert hatte. Die weißen Strähnen waren weg, Josuas Haare waren nur noch einfarbig dunkel. „Was hast du mit deinen Haaren gemacht?“, fragte er aus dem Konzept gebracht.

Josua lachte leise. „Sie durchgefärbt. Die Strähnen gefielen mir nicht mehr. – Warum soll ich einer Klasse helfen, die mich zu gut 70 Prozent ablehnt? Die meine Reifen zersticht?“

„Für die neun Jungs und Mädels, mit denen du geprobt hast“, kam es wie aus der Pistole geschossen.

„Woher weißt du, dass ich es kann?“, fragte Josua und kam noch ein Stück näher, sie berührten sich jetzt fast.

„Ich… ich habe dich gesehen“, fing Tom zögernd an zu erzählen, „am Mittwoch in der Turnhalle. Lena ist um 20:00 Uhr hinein gegangen und ich bin ihr gefolgt. Dann habe ich dich und die anderen gesehen. – Josua, bitte, sonst war die ganze Arbeit umsonst.“ Während er in die grau-blauen Augen sah und auf eine Antwort wartete, kam ihm ungefragt der Traum der letzten Nacht in den Sinn. Josuas Lippen waren so nah und sie sahen so sanft und verführerisch aus…

„Und Montag ist alles wieder beim alten und ich bin der Loser, mit dem keiner etwas zu tun haben will. Nein!“, sagten die Lippen und Tom sah wieder höher in die Augen.

„Nein, wenn du es tust, wird nie wieder etwas so sein, wie vorher. – Für mich ist es schon jetzt nicht mehr wie vorher…“ Sein Herz schlug jetzt schneller. „Josua, es tut mir Leid, wenn ich mich wie ein Idiot benommen habe, aber lass Lena, Jan und die anderen nicht dafür büßen.“

„Keine zerstochenen Reifen mehr? Keine alltäglichen Gemeinheiten? Ihr lasst mich einfach in Frieden?“

„Wenn es das ist, was du willst…“ Hoffentlich würden Florian und André sich daran halten. „Bitte, Josua.“

„Okay, aber nicht für die anderen, nur für dich und dein Wort“, sagte Josua und lächelte ihn an. „Ich verlass mich auf dich.“

Tom nickte und sah zu, wie Josua sich abwandte und schnell seine Sachen zusammensuchte.

 

In der Turnhalle herrschte immer noch große Aufregung. Potentielle Tänzer oder begabte Turner wurden gesucht, doch keiner konnte die Schritte wirklich oder war so sportlich wie André.

„Ich habe die Lösung“, rief Tom, als sie die Halle betraten. Alle Augen richteten sich auf ihn und Josua. „Josua wird denn Part übernehmen.“

„Ich denke, du darfst dich noch nicht wieder sportlich betätigen“, sagte Frau Berthold und sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an.

„Ich soll es noch nicht übertreiben“, antwortete Josua. – Tom fragte sich, was bei ihm übertreiben war.

„Warum soll Josua uns helfen können?“, fragte Dr. Breitenbach und sah den großen, jungen Mann erstaunt an.

„Sagen Sie bloß, sie wissen nicht, wen Sie in Ihrer Klasse haben? Josua Rosenbaum ist der Sohn von Sophie Rosenbaum, der berühmten Balletttänzerin.“

Dr. Breitenbach sah sie immer noch sehr irritiert an.

„Machen Sie sich nichts daraus, wer sich nicht für das Ballett interessiert, kennt sie nicht“, sagte Josua zu ihm und lächelte.

„Und Sie können Andrés Teile tanzen?“, fragte Frau Berthold erstaunt.

„Ja, ich denke schon.“ Josua lächelte wieder und Tom spürte wieder dieses verstörende Bedürfnis, ihn zu berühren. Seine Hand auf seinen Arm oder Rücken zu legen, einen körperlichen Kontakt zu ihm herzustellen.

„Dann eine schnelle Probe“, rief Frau Berthold, mit Blick zu Tom fuhr sie fort: „Und woher haben Sie das alles gewusst, Tom?“

Mit den Schultern zuckend konnte er nur später sagen und schon zog Florian ihn hinter sich her. Zum Glück hatten sie keine Zeit zu reden und wurden gleich von Dr. Breitenbach auf ihre Plätze gewiesen.

Tom sah förmlich, wie Josua sich zurückhielt, versuchte, sich nicht in den Vordergrund zu tanzen. Er sprang nicht so hoch und weit, wie am Mittwoch und doch war dort diese jahrelang eintrainierte Präzession, gegen die er wahrscheinlich gar nichts tun konnte. In der rein musikalischen Messerkampfszene musste er mit ihm tanzen und kam sich total plump vor, obwohl es mehr Turnen als Tanz war.

Berthold brach ab und ließ sie erneut anfangen. „Tom, das können sie besser“, sagte sie.

„Deine Körperspannung, du musst sie halten. Und zeig noch ein bisschen mehr deiner sonstigen Aggression mir gegenüber, dann klappt das. Du kannst das viel besser“, flüsterte Josua ihm zu, als sie nebeneinander einen Schluck Wasser tranken, ihre Schultern berührten sich.

Tom versuchte es und beim dritten Anlauf war es gut. Warum hatte Frau Berthold Josua nicht von Anfang an in das Projekt eingebunden, wenn sie wusste, wer er war? Selbst, wenn er nicht selber hätte tanzen können, hätte sie ihm doch das Gefühl geben können, dazu zu gehören.

Nachdem sie durch waren, entließ Dr. Breitenbach sie alle mit der Auflage, um Punkt 15:00 Uhr wieder in der Turnhalle zu sein.

 

***

 

Es war ein riesiger Erfolg. Von den Eltern gab es Standing Ovation und auch Frau Berthold und Dr. Breitenbach waren begeistert.

Um 21:00 Uhr waren alle in den Duschen, planten eine Feier als Abschluss des Tages, der ganzen Woche. Zum ersten Mal schien fühlte Josua sich angenommen, keiner lästerte, keiner grenzte ihn aus. Im Gegenteil, jeder, mit dem er sprach, wollte, dass er mitkam, dass er mit ihnen feierte.

Schnell rief er seine Mutter an, fragte, ob es in Ordnung sei, wenn er etwas später käme. Gerade als er wieder hinein gehen wollte, hörte er André. „Du willst doch jetzt nicht sagen, dass dieser Penner dein Freund ist? Ein schwuler Tänzer, viel schlimmer geht es doch gar nicht. Mann, Tom, du wirst draußen sein, wenn sich das rumspricht.“

„Ja, jetzt sind sie alle euphorisch, finden den Kerl toll und ein paar von den dummen Gänsen himmeln ihn vielleicht an, doch du weißt, dass das nicht anhält. Bald werden alle wieder sehen, das er pervers ist. Ein Schwanzlutscher – und als wäre das nicht genug: ein Tänzer. – Das ist ja fast so passend wie Friseur.“ Florians dreckige Lache erklang. „Also wenn du dich mit dem abgibst, dann ist das echt das Ende.“

„Spinnst du? Nee, ich wusste nur, dass er uns helfen kann. Da muss man dann mal ein bisschen so tun, als ob. Montag steht er wieder da, wo er hingehört“, sagte Tom und Josua schloss kurz die Augen, dann straffte er seinen Rücken und ging durch die Tür, hinter der die drei standen. Er beachtete sie nicht, konnte es nicht. Wenn er Tom jetzt angesehen hätte, hätte er sich vergessen. Er holte Tasche und Jacke, ignorierte jeden, der ihn ansprach und verschwand, versuchte, dabei nicht zu laufen, es nicht nach Flucht aussehen zu lassen. Der Weg war zu Fuß weit, doch besser als sich von diesem falschen Arschloch fahren zu lassen. Am liebsten hätte er seine Wut, seinen Schmerz hinausgeschrien, doch das ging hier nicht.

Mit schnellen Schritten ging er die Straße hinunter, warf einen Blick auf den Busfahrplan, doch wie befürchtet, fuhr der nächste Bus erst in eineinhalb Stunden. Also ging er weiter, kochend vor Wut und Ärger. Ärger auf sich selber, dass er dem Penner vertraut hatte. Man durfte keinem Menschen vertrauen. Keinem Einzigen! Jedenfalls nicht in diesem Paradies.

Den völligen Tiefpunkt erreichten der Tag und seine Laune, als es anfing zu regnen. Nach den ersten schüchternen Tropfen ging es richtig los. Kalt und nass lief das Wasser an ihm herunter und durchnässte schnell seine Kleidung.

„Steig ein, du holst dir den Tod.“ Der rote Twingo fuhr neben ihm. „Bitte, Josua, lass uns reden.“

Reden? Josua blieb stehen, hielt kurz sein Gesicht in den Regen und beugte sich zu dem offenen Fenster hinunter. Tropfen fielen aus seinem Haar auf den Beifahrersitz. „Willst du mich verarschen? Verpiss dich! Lieber hole ich mir den Tod, als bei dir verlogener Ratte ins Auto zu steigen. – Fahr zu deinen Freunden und lass dich für deinen gelungenen Coup feiern. – Veranstaltung gerettet! Mann, du bist doch bestimmt der Held der Klasse. – Verschwinde, du Wichser.“ Er trat vom Fenster zurück, ohne Tom die Möglichkeit zur Antwort zu geben, und ging weiter.

Warum hatte er Tom geglaubt? Weil er sich nach Normalität sehnte? Nach Freundschaft? Nach mehr? – Ausgerechnet Tom Klemens, das konnte doch nicht gut gehen. Was war er für ein Vollidiot! Geschah im ganz recht, jetzt bis nach Hause laufen zu müssen!

 

Den ganzen Sonntag verbrachte er mit sauber machen. Schließlich war Samstag alles liegengeblieben. Nebenbei machte er mit seiner Mutter ihre Dehn- und Streckübungen, rieb ihre schmerzenden Gelenke ein. Es war Abend bevor er sich auf sein Bett legte und versuchte abzuschalten. Seine Mutter ließ ihn in Ruhe, fragte nicht. Sie kannte ihn gut genug, wusste er würde kommen, wenn er reden wollte. Doch er wollte nicht reden, nicht sagen, was für ein Blödfisch er war, zu glauben, dass jemand wie Tom…

Der Schmerz fraß an seinen Eingeweiden, er schlug wütend auf sein Bett, rutschte herunter, hatte das Gefühl, alles sei zu eng und stickig. Kurzentschlossen nahm er seine Jacke und ging. Luft und Weite, er brauchte jetzt dringend Platz zum Atmen.

 

***

 

Warum war er wieder hier? Stand vor dem Haus, beobachtete Josua, konnte damit nicht aufhören. Wenn ihn jemand entdeckte, würde er die Polizei holen. Man würde ihn für einen Stalker halten – oder einen Einbrecher, der den nächsten Bruch plante.

Eigentlich war er ja auch ein Stalker, er musste Josua sehen, beobachten, wie er das Haus sauber machte, Dinge tat, die bei ihm zu Hause seine Mutter oder die Putzfrau taten. Nie wäre er darauf gekommen das Bad sauber zu machen, die Küche zu wischen oder den Staub im Wohnzimmer zu entfernen. Und ganz nebenbei musste er sich um seine Mutter im Rollstuhl kümmern.

Am Morgen hatte er im Internet recherchiert und viel über Sophie und Josua Rosenbaum herausgefunden. Sophie war eine international berühmte Balletttänzerin. Vor gut vier Jahren hatte sie angefangen, weniger selber zu tanzen und stattdessen als Choreografin gearbeitet. Vor fast zwei Jahren war sie mit ihrem überaus talentierten Sohn in München engagiert. Sie steckten mitten in den Vorbereitungen zu einer Ballettaufführung, in der auch Josua mittanzen sollte. Am 27. August des Jahres zerstörte ein schwerer Autounfall alle Pläne. Der Nissan, in dem neben Josua und Sophie Rosenbaum auch ein Sergej Landski saß, wurde von einem Mercedes gerammt, überschlug sich und rutschte vor einen LKW, der den Wagen gegen einen weiteren LKW schob. Sergej, der Fahrer, war sofort tot. Mutter und Sohn kamen mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus.

Sophie hatte laut eines Zeitungsartikels, den Tom gefunden hatte, einen Bruch in der Lendenwirbelsäule, ein total zertrümmertes Becken und mehrfach gebrochene Beine. Josua hatte ein gebrochenes Becken und ein mehrfach gebrochenes Bein, ein gebrochenes Handgelenk. Schwere Gehirnerschütterungen hatten beide. Ihm war angesichts der Schwere des Unfalls am wenigsten passiert. Wahrscheinlich, weil er hinter dem Fahrer gesessen hatte.

 

Warum war er so ein Feigling? Warum hatte er gestern so unglaublich dämlich auf Andrés und Florians Fragen reagiert? “…nicht für die anderen, nur für dich und dein Wort“ hatte Josua gesagt und er hatte ihn sofort… Für einen Moment ekelte ihn vor sich selber. Er hatte sich immer für ehrlich und zuverlässig gehalten, hatte immer Wert darauf gelegt, sein Wort zu halten – und jetzt? Nur weil die beiden Spinner, die er Freunde nannte, gegen diesen Jungen waren, hatte er ihn, ohne zu zögern, verraten. Konnte er das jemals wieder gut machen?

Auf jeden Fall musste er sich entscheiden. Versuchen es wieder gut zu machen und mit Josua reden, hieße nicht mehr mit Florian und André befreundet zu sein. Was würde das für seine Stellung in der Klasse bedeuten, wenn er sich mit Josua zeigen würde? Wollte er diese Konsequenzen?

Die Tür ging auf und Josua kam heraus. Mit schnellen Schritten ging er die Straße entlang. Was sollte er machen? Mit ihm reden? Alles war so schwer und verwirrend, seit Josua da war. Und das Begehren, das Josua auslöste, machte es nicht einfacher. Was würde passieren, wenn er nicht nur einfach mit Josua befreundet wäre, sondern mit ihm…

Der Gedanke machte ihm Angst. Schwul war ein Schimpfwort. Einer der Gründe, warum alle so ablehnend auf Josua reagiert hatten, war das Gerücht, dass er schwul war. War er das überhaupt? Einen Beweis gab es nicht und nur, weil er sich von ihm angezogen fühlte, heißt nicht, dass er diese Gefühle erwiderte. – Das war alles viel zu kompliziert! Viel zu verwirrend für ihn. Tom startete den blauen BMW seines Vaters. Mit dem roten Twingo hätte er sich nicht mehr her getraut. Darum hatte er sich den Wagen genommen, den er eigentlich nicht fahren sollte. Langsam fuhr er nach Hause, übervoll mit den verwirrenden Gefühlen für Josua und seiner eigenen Unsicherheit.

 

***

 

Montagmorgen. Josua parkte den Golf wie immer vor der Schule, hoffte, dass seine Reifen nicht wieder das Ziel der beiden Idioten waren. Die Stimmung in dem Kurs war zum ersten Mal eine andere, als er den Raum betrat. Er wurde gegrüßt, nachträglich zu seiner Leistung beglückwünscht und in ein Gespräch mit eingebunden. Zwar sahen Florian und André ihn giftig wie immer an, doch das war nebensächlich. Tom war noch nicht da und wenn es nach ihm ginge, könnte er auch wegbleiben. Zu sehr schmerzte der Verrat immer noch.

Doch er blieb nicht weg. Kurz vor der Schulglocke betrat er den Raum, sah niemanden an und ließ sich auf seinen Platz fallen. Als Florian ihm etwas erzählen wollte, brachte er ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.

Am Nachmittag, in der siebten und achten Stunde, hatten sie Sport bei Dr. Breitenbach. Zum ersten Mal seit er in der Schule war, zog Josua sich um. Er konnte nach seiner Einlage am Samstag kaum weiterhin den Unterricht verweigern. Er war einer der ersten in der Umkleide und schlechte Erfahrungen mit André, Florian und Tom ließen ihn seine Sachen mit in die Halle nehmen. Dr. Breitenbach, der schon da war, sagte nichts dazu. „Schön, dass Sie schon da sind, dann können Sie mir gleich helfen“, war alles, was er sagte. Zusammen bauten sie zwei Geräteparcours durch die Halle auf. Böcke, Kästen, schräg gestellte Bänke, Barren führten von einer Seite zur anderen. Zwei identische Bahnen bauten sie nebeneinander auf. Das bedeutet, Dr. Breitenbach wollte wieder einmal zwei Gruppen gegeneinander antreten lassen. Eine Art Staffellauf über den Parcours, schon für die sportlicheren schwer, war es für die unsportlichen eine frustrierende Aufgabe.

Entsprechend waren die Reaktionen der eintrudelnden Schülerinnen und Schüler. Florian und Lena wurden von Breitenbach als Kapitäne erwählt. Josua hatte das Ganze nun schon mehrfach beobachtet. Lena würde die meisten der unsportlichen Mitschüler bekommen, Florian die sportlichen. Er würde wie immer als Erstes Tom wählen und Josua sah Lena an. Hoffentlich würde sie ihn wählen, dann konnte – müsste er gegen Tom antreten und dem Arschloch zeigen, wo es stand.

Die Münze entschied, dass Florian anfing und dem Gesetz folgend wählte er Tom. Lena sah sich unsicher um, begegnete seinem Blick und er nickte leicht. „Josua“, sagte sie und lächelte dabei Florian an.

Die Wahl ging weiter und die Gruppen waren eigentlich wie immer gemischt, nur das Lenas Gruppe ein Mitglied zu wenig hatte.

„Hm, dann müssen wir Florians Gruppe verkleinern“, brummte Dr. Breitenbach.

„Nein, ich laufe zweimal“, sagte Josua lächelnd. Kritisch sah der Sportlehrer ihn an und nickte dann. „Okay, versuch es.“

 

***

 

Gegen Josua hatte er keine Chance, das war ihm durchaus bewusst. Er hatte gesehen, welche Kraft, Geschicklichkeit und Ausdauer Josua hatte. Ihm war ebenso bewusst, dass Josua genau das wollte: ihn demütigen. – Und er hatte es verdient, arrogant und überheblich, wie er bisher dem anderen gegenüber aufgetreten war; nach dem Verrat, den er begangen hatte. – Und er wusste, er musste hinterher mit Josua reden. Die ganze Nacht hatte er wach gelegen, versucht, die Verwirrungen in seinen Gefühlen und Gedanken zu lösen. Immer wieder hatten alle Enden zu Josua geführt.

Schon heute Morgen war ihm als Erstes aufgefallen, dass Josua nicht mehr in den weiten, unauffälligen Klamotten in die Schule gekommen war. Eine Jeans und ein enges rotes Shirt versteckten nicht mehr viel von ihm. Und dass er jetzt Sport mitmachte, zeigte, dass sich alles verändert. – Genau wie das Verhalten der anderen. Sogar Rabea war nicht mehr so abweisend, nachdem sie Josua am Samstag gesehen hatte. Nur André und Florian waren hasserfüllt wie immer. Im Gegenteil, ihr Hass war im gleichen Maße gewachsen, wie Josuas Beliebtheit. – Beide erwarteten, dass es ihm genauso ging. Wie sollten sie auch wissen, dass er sich in Josua verliebt hatte? Etwas, das er sich nur mit Mühe heute Nacht selbst eingestanden hatte. Vielleicht war es pervers und abartig, doch er hatte sich in ihn verliebt. Er wollte den Körper berühren, die Lippen küssen und…

„Tom, sind Sie bereit?“, fragte Breitenbachs Stimme und er nickte, warf einen Blick nach links, sah Josuas gespannte Gestalt und fügte sich seufzend in sein Schicksal. Hier und heute konnte er nur verlieren.

Dr. Breitenbach pfiff und sie liefen los. Es war deprimierend, wie locker und leicht Josua die Hindernisse überwand – und wunderschön anzusehen. Nicht, dass der Parcours ein Problem für Tom war, brauchte er doch länger für jedes Hindernis und schlug deutlich später an die Glocke. Josua gönnte ihm nicht einen Blick, lief locker zurück an das andere Ende und wiederholte das Ganze genauso spielerisch gegen Florian, der noch mehr Boden verlor. Tom konnte nur auf Josua starren und wunderte sich, dass er nicht sabberte. Als die grau-blauen Augen ihm endlich begegneten, senkte er den Blick.

Sie mussten noch einmal zurück durch die Hindernisse. Als alle einmal durch waren, mussten die letzten wieder beginnen. Naturgemäß hatte Lenas Gruppe Boden verloren, doch nicht so deutlich wie sonst. Rückwärts war immer schwerer und es wurde zum ersten Mal richtig spannend, als Florian von der Bank, die er hochklettern musste, rutschte und so wieder ansetzten musste, während Josua lächelnd an ihm vorbei lief.

Tom hatte drei Hindernisse Vorsprung, doch er machte sich nur geringe Hoffnungen. Auch wenn er verbissen kämpfte, hatte er das Gefühl langsam und träge zu sein. Spielerisch einfach überholte Josua ihn kurz vor dem Ziel. Lenas Gruppe jubelte. Für einen Teil der Gruppe war es das erste Mal in ihrer Schulzeit, dass sie auf der Seite der Gewinner im Sport waren.

„Dieser Wichser, wenn ich nicht abgerutscht wäre, hätten die das nie geschafft“, zischte Florian wütend.

„Vergiss es, er ist einfach zu gut“, antwortete Tom und ließ sich auf die Bank fallen.

„Er ist ein Penner, ein krankes Arschloch. Aber warte, das wird ihm noch leidtun!“ Florian grinste.

„Lass ihn in Frieden! Es reicht, Florian. Er hat uns nichts getan und er hat die Aufführung gerettet, die André beinah ruiniert hätte.“ Tom lehnte sich zurück, er wollte diesen Scheiß nicht mehr.

„Spinnst du? Du willst akzeptieren, dass diese tanzende Schwuchtel sich bei uns breitmacht?“

„Woher weißt du, dass er schwul ist? Und wenn, lass ihn doch. Deinen Arsch will er ja nicht haben“, entgegnete Tom.

„Das weiß doch jeder! Und kennst du einen Tänzer, der nicht schwul ist?“, hakte Florian nach.

„Ich kenne gar keine Tänzer. Mensch, Flori, lasst ihn einfach in Ruhe. Du musst ihn ja nicht mögen, aber ignorier ihn doch einfach.“ Tom stand auf. „Ich geh nach Hause.“

„Bist du jetzt ein Fan von ihm geworden? Hat André recht und du stehst auf ihn?“, rief Florian ihm nach.

 

In der Umkleide war es schon ruhig. Nach der achten Stunde wollten alle so schnell wie möglich nach Hause. Geduscht wurde zu Hause. Florian kam kurz nach ihm in den Raum und warf ihm nur zornige Blicke zu. Zum Glück war André aufgrund seines verstauchten Knöchels heute nicht beim Sport.

Josua betrat zuletzt den Raum, ignorierte sie und streifte sein T-Shirt ab. Tom wandte den Blick ab.

„Das wird dir noch leidtun, du Wichser“, fauchte Florian plötzlich.

Josua ignorierte ihn.

„Hörst du mich, du Arschloch? Was bildest du dir ein? Meinst du, irgendwer kümmert sich um einen schwulen Tänzer? Wo ist denn dein Tutu, Primaballerina?“, schrie er Josua an, der sich langsam umdrehte. Sein Blick wanderte von Florian zu Tom, blieben einen Augenblick auf ihm hängen, ehe sie zu Florian zurückkehrten.

„Was willst du von mir?“, fragte er und sah auf den gut zehn Zentimeter kleineren Florian herunter.

„Was ich will? Das du verschwindest! Du bist Abschaum, der vielleicht einen Platz in der Kloake der Großstadt hat, aber hier bist du überflüssig. Jemand wie du hat kein Recht hier zu leben. Fraglich ist ja schon, ob du überhaupt das Recht hast zu leben!“ Florians Stimme klang ätzend wie Säure.

Die beiden Jungs, die außer den Dreien noch in der Umkleide waren, erstarrten und sahen Josua an.

„Halt den Mund, Florian!“ Es war jedoch Tom der aufsprang und als Erster reagierte. „Bist du noch ganz echt? Weißt du, was für eine Scheiße du labberst? Du bist so ein Vollidiot! Tu allen ein Gefallen und verschwinde!“

„André hat recht: Du stehst auf seinen Arsch! Mann, Tom, ausgerechnet du stellst dich auf die Seite dieser Missgeburt? Wie krank ist das denn? Bist du auch so eine dreckige Schwuchtel?“ Florian war einen Schritt vorgetreten und starrte ihm ins Gesicht. „Willst du ihm deinen Schwanz in den Arsch schieben?“

„Und wenn es so wäre, würde es dich nichts angehen!“ Tom fragte sich, woher er die Ruhe nahm. Was er gerade gesagt hatte, würde sich nicht zurücknehmen lassen. Mit diesen paar Worten hatte er seinen Platz verlassen – und es fühlte sich nicht schlecht an.

„Du bist genauso eklig, wie er“, sagte Florian und stieß ihn vor die Brust. „Und du warst mal mein Freund… Was für eine eklige Vorstellung, dass du mich berührt hast.“

Er streckte seine Hand aus, als wollte er sie mit vor Abscheu verzogenem Gesicht an Tom abwischen, als eine Hand vorschoss und sich um seine legte.

„Es ist jetzt besser, du gehst“, sagte Josua völlig ruhig und mit einem fast freundlichen Lächeln.

„Was bildest du…“ Weiter kam Florian nicht, weil Josua seine Hand zusammendrückte. Schmerz verzerrte sein Gesicht.

„Ich bilde mir gar nichts ein. Nimm deine Sachen und verschwinde!“ Die Stimme blieb freundlich ruhig. „Und erspar uns jedes weitere Wort aus deinem Mund, okay?“ Noch einmal drückte er die Hand zusammen, worauf Florian schnell nickte. Josua ließ ihn los. Mit einem giftigen Blick auf Josua und Tom nahm er seine Sachen und verschwand aus der Umkleide. Josua drehte sich um.

„Danke“, flüsterte Tom, traute sich nicht, den anderen anzusehen, geschweige denn zu berühren.

Josua antwortete nicht, nahm nur seine Sachen und ging an ihm vorbei. Tom ließ sich auf die Bank fallen. Dieser Tag war ein wirklich hervorragender Wochenbeginn.

 

Langsam ging er zur Bushaltestelle, heute Morgen hatte seine Mutter ihr Auto selber gebraucht und er musste mit dem Bus fahren. Normalerweise störte ihn das nicht, doch heute wollte nicht mit der schnatternden Schar fahren. Langsam schlenderte er in Richtung Straße, sah Josua neben seinem Golf stehen und wütend gegen die Reifen treten, sofort war ihm klar, was geschehen war.

Vorsichtig näherte er sich ihm, wusste nicht, wie Josua jetzt auf ihn reagieren würde. Die zornigen grau-blauen Augen richteten sich auf ihn, als er neben ihn trat.

„Was willst du?“, fragte Josua aggressiv.

„Ich kann nicht dafür“, sagte Tom und hob die Hände.

„Oh, nein“, sagte Josua. „Sicher warst du es nicht, doch es ist die Saat, die du gesät hast. Deine beeindruckende Vorarbeit.“ In dem schmalen Gesicht zeichnete sich mit einem Mal Resignation ab. „Vergiss es. In Zukunft wirst du selber damit rechnen müssen, dass sie deine Reifen zerstechen. – Bastarde!“

„Josua, es tut mir Leid. Ich bin ein Idiot gewesen“, sagte Tom und berührte ihn zaghaft am Arm.

„Ja, aber das ändert nichts. Wir müssen damit leben. Vielleicht wird es für dich nicht schlimm, wenn du dich von mir fernhältst“, sagte er mit einem schiefen Lächeln.

„Ich will mich aber nicht von dir fernhalten“, sagte Tom zögernd nach einem Moment des Schweigens.

Josuas Augen sahen ihn prüfend an. „Was soll das jetzt wieder?“

„Ich… ich weiß es selber nicht! Du… ach, Scheiße, ich weiß nicht einmal, wie ich es sagen soll“, sagte Tom und drehte sich weg, weg von Josuas Augen, die ihn intensiv ansahen. „Vielleicht ist es besser, ich geh jetzt.“

„Warte, Tom“, sagte Josua. „Vielleicht sollten wir reden.“ Sein Blick war jetzt weicher.

Unsicher blieb er stehen, sah Josua fragend an.

„Ich muss zu Fuß nach Hause gehen. Willst du mitgehen?“, fragte Josua und lächelte ihn an.

Tom überlegte kurz, dann nickte er.

 

***

 

Tom schwieg neben ihm, während sie langsam die Straße entlang gingen. Doch das war nicht schlimm, so konnte er seine eigenen Gedanken sortieren. Was wollte Tom von ihm? Und was wollte er von Tom? Er warf einen schnellen Seitenblick auf den jungen Mann neben sich. Die blonden Haare wurden vom Wind zerzaust, der Blick war ernst auf die Straße gerichtet. Das Bedürfnis, die Hand auszustrecken und ihn zu berühren erwachte in ihm. Wie würde Tom reagieren?

„Wie… Ich weiß nicht, ob ich dich fragen darf…“ Tom sah ihn kurz an.

„Was willst du fragen?“

„Der Unfall, ich habe im Internet davon gelesen…“

„Du willst etwas über unseren Unfall wissen?“ Josua sah ihn an. „Frag ruhig.“

„Ich habe gelesen, dass der Unfall – dass er deine Karriere…“ Tom wusste offensichtlich nicht genau wie er fragen sollte.

„Wenn du wissen willst, ob der Unfall meine Karriere beendet hat? Wenn man von einer Karriere sprechen konnte, dann war sie schon vorher beendet. Ich bin zu groß für das klassische Ballett.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe trotzdem weitergetanzt, weil es meine Leidenschaft war – ist. Und zusammen mit Sergej…“ Er schwieg.

„War er…“Tom errötete.

„Du willst wissen, ob wir zusammen waren? Ob ich schwul bin?“ Mit einem Lächeln betrachtete er Toms gerötete Wangen. „Ja, wir waren ein Paar und ja, ich bin schwul. – Stört dich das? Oder bestätigt das jetzt all eure Vorurteile?“

 

***

 

„Hör auf! Ich…“ Wie sagte man einem anderen Mann, dass er einen verwirrte und anzog.

Josua blieb stehen und sah ihn an, dann lächelte er auf einmal. „Komm, wir reden bei mir.“

Es dämmerte schon, als sie bei Josua ankamen. Eine junge Frau öffnete ihnen die Tür, als sie gerade davor standen.

„Hallo Jos, deiner Mutter geht es gut. Sie ist ziemlich müde, der Tag in der Klinik war anstrengend und sie schläft auf dem Sofa. – Gegessen hat sie schon. – Bis morgen“ Mit einem Kuss auf seine Wange hüpfte sie an ihm vorbei.

„Danke, Lisa“, rief Josua ihr hinterher und sie hob kurz die Hand.

„Geh in meine Zimmer, ich komme gleich“, sagte Josua zu ihm und verschwand im Wohnzimmer.

Nervös blieb Tom in der Mitte des Zimmers stehen. Ließ die Tasche auf den Boden fallen.

„Setzt dich ruhig.“ Josua war hinter ihm ins Zimmer getreten.

Unschlüssig sah er vom Schreibtischstuhl zum Bett, mehr Möglichkeiten gab es nicht.

Josua lachte leise. „Wenn du dich auf dem Schreibtischstuhl sicherer fühlst…“

„Quatsch“, sagte Tom und setze sich auf das Bett.

„Willst du etwas trinken? Cola, Wasser, Bier?“, fragte Josua.

„Ich weiß nicht…“

„Sekt habe ich vergessen“, Josua sah ihn an und lachte los. „Du siehst aus wie ein erschrecktes Kaninchen. Wovor hast du Angst? Vor mir? Warum bist du dann hier?“

„Ich fühle mich wie ein Idiot, entschuldige“, sagte Tom.

Josua setzte sich neben ihn auf das Bett. „Was willst du, Tom?“ Sanft strich er eine der blonden Strähnen aus Toms Gesicht. Tom schmiegte seine Wange an die kühle Hand. Josua beugte sich vor und sah ihm in die Augen, dann berührten seine Lippen Toms Lippen und die Welt versank in diesem Gefühl. Zart kribbelnd breitete es sich von seinen Lippen aus, kroch über seine Wirbelsäule tief in seinen Unterleib. Seine Lippen öffneten sich der fragenden Zunge und glühende Lava ergoss sich in seine Adern.

Als sich Josua von ihm löste, fühlte er sich wie berauscht, wollte mehr von diesem Gefühl, mehr von diesen Lippen, mehr von Josua. Sein Herz raste und sein Atem ging zu schnell. Josua sah ihn an, doch bevor er ihn wieder küsste, hörten sie das leise Rufen: „Jos, bist du da?“

„Warte, nicht weglaufen, ich bin sofort wieder zurück.“ Er hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen und ging. Tom ließ sich auf das Bett fallen. Wow, das war der beste Kuss seines Lebens. Da brauchte er gar nicht drüber nachdenken. Noch nie hatte es sich angefühlt, als würde die Erde aufhören sich zu bewegen, die Zeit stehenbleiben und Glückshormone gleich Sternschnuppen durch seinen Körper jagen. Mit geschlossenen Augen versuchte er, das Gefühl festzuhalten.

Die Matratze senkte sich und er spürte hinter geschlossenen Lidern, wie Josua ihn ansah. Ein Lächeln machte sich in ihm breit, wartete auf die Lippen und den Rausch, den sie bringen würden.

Ein Finger berührte sein Gesicht, fuhr den Schwung seiner Augenbrauen entlang, strich über seine Nase und folgte der Linie seiner Lippen. Spielerisch schnappte er danach, biss zärtlich in den Finger. Öffnete ein Spalt seine Augen und sah in Josuas Augen, die ihn ausgiebig betrachteten. Der intensive Blick verunsicherte ihn, brachte all die Zweifel hoch, die ihn quälten. Josua lächelte und beugte sich zu ihm herunter. „Wo waren wir stehengeblieben?“ Und mit den Lippen wich jeder Zweifel, verbrannte in dem Feuer, dass Josua in ihm auslöste. Er wollte Kontakt, wollte Josua spüren, schlang die Arme um ihn und zog ihn an sich. Eine Hand schob sich unter sein Hemd, streichelte sanft über seine Seite. Jede Berührung weckte Hunger nach mehr. Wie ein Fieber brannte das Verlangen in ihm. Ungestüm zerrte er an Josuas Shirt, wollte die Haut darunter fühlen.

„Langsam“, flüsterte Josua in seinen Kuss, löste sich ein Stück und sah Tom an.

Er wollte nicht langsam, konnte nicht langsam, alles an ihm brannte vor Verlangen, sein Atem ging keuchend und sein Blut rauschte in tosendem Tempo durch seine Adern. Berührung, er brauchte Berührung. Fordernd legte er seine Hand in Josuas Nacken und zog ihn zu sich. Küsste ihn, verlangend und ungestüm.

„Keine Zeit für langsam, ich merk schon“, flüsterte Josua und sein Mund küsste seinen Hals, sein Schlüsselbein und wanderte tiefer. Als er die kleinen Brustwarzen umschloss, stöhnte Tom auf, presste seinen Unterleib an Josua.

„Bitte“, stöhnte er und wusste nicht einmal genau, worum er bat. Hände streichelten seinen Bauch, fuhren unter den Rand seiner Jeans. Sein Gürtel wurde geschickt geöffnet und mitsamt der Shorts nach unten geschoben. Als Josua seine Hand um seine pochende Erektion legte, war es fast um ihn geschehen. Seine Hände krallten sich in das Shirt und sein Atem kam stöhnend. Josua zog ihn dicht an sich heran, schloss seinen Mund mit einem Kuss und brachte ihm mit wenigen Bewegungen seiner Hand einen Orgasmus, der aus der Tiefe seines Körpers aufzusteigen schien und jede Faser seines Körpers durchströmte. Keuchend blieb er in Josuas Armen liegen, schämte sich für diese egoistische Gier, das hemmungslose Verlangen. Am liebsten hätte er seine Augen nie wieder geöffnet.

„He, alles okay?“, fragte ihn Josuas Stimme heiser. Er nickte, das Gesicht in Josuas Halsbeuge versteckt. „Sicher?“, fragte Josua nach und Tom wusste, er musste ihn ansehen. Vorsichtig löste er sich ein Stück und sah ihn an, fühlte das Brennen in seinen Wangen. Josua lächelte ihn an. „Du siehst unglaublich geil aus, wenn du kommst“, sagte Josua und jetzt leuchteten seine Wangen bestimmt wie ein Feuerwehrauto.

„Was ist? Hat dir das noch niemand gesagt? – Sprichst du nicht mehr mit mir?“ Jetzt sah Josua doch ein wenig beunruhigt aus.

„Doch, es ist mir nur so – ich meine, ich war so… unbeherrscht und…“ Die Worte wollten ihm nicht so recht über die Lippen. „Es war so egoistisch, verdammt“, brachte er schließlich heraus.

Josua lächelte. „Egoistisch? Ein wenig vielleicht, aber völlig okay. He, ich glaube, ich habe noch nie jemanden im Arm gehabt, der so direkt auf mich und meine Zärtlichkeiten reagiert hat.“ Sanft küsste er ihn. „Ich schließ daraus, dass es dir gefallen hat.“

„Es war… ich weiß kein Adjektiv, mein Kopf ist noch leer. Großartig, unglaublich scheinen mir zu wenig. Es war wie ein Fieber, so brennend und… - auf jeden Fall fühlte es sich nach mehr an. Nach viel mehr.“

Nachdem Josua die Spuren auf Tom und seiner Hand beseitigt hatte, zogen sie sich aus, schlüpften unter die Decke, schmiegten sich aneinander. Tom beugte sich über Josua, sah ihn an. „Darf ich dich Jos nennen?“ – „Das dürfen nur Freunde, gute Freunde.“ Ernst sahen ihn die grau-blauen Augen an und sein Magen zog sich zusammen. „Sicher darfst du das auch. Wenn nicht du, wer denn dann?“

Tom betrachtete das Gesicht, sah zum ersten Mal eine kleine Narbe über dem linken Auge, strich mit dem Finger darüber.

„Ein Glassplitter, es waren nur drei Stück in meinem Gesicht. Ein Wunder meinte der Arzt. Meine Mutter hatte zwölf Stück und selbst da war der Arzt erstaunt.“

Tom suchte die anderen, fand eine kleine Narbe am Haaransatz und eine neben dem Ohr, schlecht zu sehen aufgrund der Haare, die diese verdeckten.

Zart küsste er die Narben, suchte Jos Mund und erkundete ihn schüchtern. Es war so neu und fremd – und berauschend. Vorsichtig begann er, Jos zu streicheln, die unbehaarte Brust, die kleinen Brustwarzen, sacht strich er drüber, beobachtete die Reaktion die diese Berührungen auslösten. Seine Fingerspitzen wanderten tiefer, über das Brustbein, die Bauchmuskeln und weiter über die schmale, verführerische Spur gelockter Haare, an den Leisten entlang. Das leise Stöhnen erregte ihn, sein Mund fand wieder Jos‘ und jetzt war sein Kuss hart und fordernd. Er wollte mehr, viel mehr. Seine Hand umschloss Jos, ein merkwürdig vertraut-fremdes Gefühl, unsicher strich er über die ganze Länge – und bekam ein tiefes Stöhnen. Schon wieder pulsierte das Verlangen durch seine Adern und er wollte mehr davon: mehr Berührung, mehr von dem leisen Stöhnen in seinem Ohr, mehr Jos.

Fordernd erwiderte Jos seine Zärtlichkeiten, streichelte ihn, küsste ihn und erkundete seinen Körper, brachte ihn an den Rand – und darüber hinaus. Diesmal jedoch gab er genauso viel, wie er nahm.

Verschwitz lagen sie aneinandergeschmiegt, genossen das sanfte Abklingen in der Nähe des anderen.

„Hättest du mir zum Anfang des Schuljahres gesagt, dass ich mit einem anderen Mann im Bett liegen würde, hätte ich dich für vollkommen verrückt erklärt“, flüsterte Tom leise, um die angenehme Trägheit nicht zu stören.

„Hm, hätte mir jemand vor einer Woche gesagt, dass ich mit dir in meinem Bett liege, hätte ich ihn für vollkommen verrückt erklärt“, entgegnete Jos ebenso leise.

„Und wie ist es dann passiert? Warum liegst du mit mir im Bett?“ Tom legte sich auf Jos‘ Brust und sah ihn an.

„Ich weiß nicht genau… Schon seit einiger Zeit finde ich dich anziehend, ohne es mir genau erklären zu können, wie ich einen solchen homophoben Macho-Angeber anziehend finden kann.“

Tom sah ihn einen Moment beleidigt an, dann lächelte er. „Ja, wahrscheinlich war die Einschätzung nicht ganz falsch. Schwul war schon immer eine Beleidigung und um sich zu distanzieren, muss man sich abgrenzen.“ Sanft streichelte er Jos durch das Gesicht. „Ich bin nur ein Idiot, ein Blödmann und schrecklich angeberisch und arrogant.“

„Und homophob!“

„Ab heute nicht mehr“, lachte Tom.

„Das wäre ja auch schwierig, dann müsstest du dich selber mobben“, erwiderte Jos und sah ihn auf einmal ernst an. „Wie geht es weiter, Tom? Was passiert morgen in der Schule?“

Gute Frage, wie sollte er mit der Situation umgehen? Wenn er sich offen zu Jos bekennen würde, würden das auch seine Eltern vor dem Sonnenuntergang wissen. Aber so zu tun, als sei nichts, wollte er auch nicht. Sollte er heute noch mit seinen Eltern sprechen? Nein, sein Vater war nicht da und seine Mutter würde heulen und ihm eine Szene machen…

„Bitte sag jetzt nicht, dass wir so tun müssen, als sei nichts passiert. Das kann ich nicht.“ Jos sah ihn durchdringend an.

„Das will ich auch nicht, aber ich möchte nicht, dass meine Eltern davon durch Dritte erfahren. Ich würde gerne die Chance haben, es ihnen selber beizubringen“, versuchte er zu erklären.

„Das kann ich verstehen. Also, wie soll ich mich morgen verhalten? Dich in Ruhe lassen? Dir aus dem Weg gehen? Sag mir, was du erwartest.“

„Freundschaftlich?“ Fragend sah er Jos an.

„Freundschaftlich? Du meinst, wir reden miteinander, aber nicht mehr?“

„Ja. – Nur bis zum Wochenende. Sonntag ist mein Vater auch wieder da und dann rede ich mit ihnen.“ Auch wenn er nicht die geringste Ahnung hatte, wie er das anstellen sollte.

„Okay, ich werde versuchen so zu tun, als würdest du mich nicht schon mit einem Lächeln verrückt machen und ich hätte mich nicht in dich verliebt.“ Bevor Tom darauf reagieren konnte, hatte sich Jos über ihn gerollt und küsste ihn.

 

***

 

Mit Müh und Not schaffte er es Dienstagmorgen pünktlich in den Unterricht. Tom war spätabends noch mit dem Taxi nach Hause gefahren. Die halbe Nacht hatte er dann wach gelegen und über die neue Situation und seine Gefühle für Tom nachgedacht. Dementsprechend unausgeschlafen war er heute Morgen.

Seine Mutter hatte am Morgen Probleme mit ihrem Kreislauf, Lisa kam zu spät und da sie ihn heute fuhr, war alles eng geworden. Zum Glück war seinen Wagen heute Mittag fertig und er konnte ihn nach der Schule abholen.

Den Kurs Philosophie in den ersten beiden Stunden hatte er nicht mit Tom zusammen, der in dieser Zeit Religion hatte. Auch die beiden Wichser André und Florian waren nicht in diesem Kurs, dafür Rabea und ihre beiden Freundinnen Insa und Marie, die allerdings seit gestern viel freundlicher zu ihm waren.

In der Pause ging Josua kurz auf den Hof, suchte Tom, konnte ihn aber nicht entdecken. Die nächsten Stunden Geschichte hatten sie zusammen, vielleicht war er schon in der Klasse.

In dem Raum 204 saßen nur André und Florian, sowie – so weit weg wie möglich von ihnen – Lena. Die beiden Jungs sahen ihn grinsend an und Josua spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Ohne sie zu beachten, ging er zu Lena, setzte sich neben sie. Die Blicke der beiden Spinner spürte er deutlich in seinem Rücken.

„War Tom in Reli?“, fragte er sie leise. Lena schüttelte den Kopf. „Nein, André und Florian sind zu spät zum Unterricht gekommen, ohne Tom.“

In seinem Magen begann der Knoten zu drücken. Langsam stand er auf und ging zu den beiden, die ihn höhnisch grinsend erwarteten.

„Wo ist Tom?“, fragte er und das Grinsen wurde noch breiter.

André zuckte mit den Schultern. „Weißt du nicht, wo dein Lover ist?“, fragte er mit honigsüßer Stimme, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. In seinem Rücken strömten weitere Schüler in den Raum.

Josua nahm seine Tasche und verließ den Raum, rannte in der Tür gegen Dr. Meister, ohne dessen fragenden Blick zu beachten ging er weiter. Schon auf dem Weg nach unten wählte er Toms Handy Nummer. Die Ansage verriet ihm, dass der Teilnehmer zurzeit nicht zu erreichen war. Scheiße! Auf dem Hof sah er Rabea und Insa, die offensichtlich eine Freistunde hatten. Schnell überquerte er den ansonsten leeren Hof.

„Hast du Toms Telefonnummer? – Nicht Handy, Festnetz“, fragte er, hörte selbst, wie atemlos er klang.

Rabea sah ihn an, dann kramte sie ohne Gegenfrage ihr Handy vor und gab ihm die Nummer.

„Danke“, rief er, während er wegging und die Nummer anwählte. Nur der Anrufbeantworter. Scheiße! Scheiße! Scheiße!

Tom kam meistens mit dem Bus. Die Bushaltestelle der Schule war direkt vor der Schule. Was immer André und Florian getan hatten, es hätte doch nicht hier, vor all den anderen Schülern stattfinden können, oder?

Einen Moment kam ihm der verrückte Gedanke, dass Tom sich vor ihm versteckte, weil er nicht wusste, wie er aus der Nummer wieder rauskam. Blödsinn. André und Florian hatten irgendetwas mit ihm angestellt und Josua wollte sich gar nicht vorstellen, was. Trotzdem arbeitete seine Fantasie, gaukelte ihm Bilder eines zusammengeschlagenen Toms, eines eingesperrten Toms vor. Was konnte er machen? Die Doppelstunde Geschichte dauerte noch ewig und wie sollte er die beiden Arschlöcher dazu kriegen, ihm zu sagen, was sie mit Tom gemacht hatten? Sollte er die Polizei anrufen? Doch was konnte er denen sagen? Ein Mitschüler, mein Freund, ist nicht im Unterricht erschienen und ich glaube, dass André und Florian ihm etwas getan haben? Superidee!

Er könnte mit dem nächsten Bus zu Toms Zuhause fahren und dort nach ihm suchen. Scheiße, warum hatte man nie ein Auto, wenn man es dringend brauchte?

Josua rief in der Werkstatt an und hatte zum ersten Mal heute Glück, der Wagen war fertig und ja, der Lehrling konnte ihn vorbeibringen. In zehn Minuten wäre er da. Langsam schritt Josua die Straße auf und ab, versuchte, rational zu denken, versuchte, sich zu sagen, dass André und Florian nie so weit gegangen waren, Tom ernsthaft zu verletzen. Doch es gelang ihm nicht, sich selber davon zu überzeugen. Wenn es Tom gut ginge, hätte er sich gemeldet. – Oder hatten sie ihm sein Handy weggenommen?

Der Golf hielt vor ihm und ein kleiner, dunkelhaariger Mann, fast noch ein Junge, stieg aus und reichte ihm die Schlüssel. Mit einem Dank schloss er den Wagen ab und begann neu zu überlegen. Dann rannte er die Treppe hoch und hatte zum zweiten Mal an diesem Morgen Glück. Gerade als er in den Gang zu Raum 204 einbog, kam André aus dem Raum gehumpelt und ging Richtung Toiletten. Josua ging hinterher, es gab kaum einen Augenblick einen Gegner unterlegener vorzufinden, als wenn er mit offener Hose vor dem Pinkelbecken stand.

Panik erschien in Andrés Augen, als er den Raum betrat und sich an die Tür lehnte. André war noch ein Stückchen kleiner als Florian und schmaler. Typen wie er waren nur in der Gemeinschaft stark, wenn andere auf sie aufpassten.

„Wo ist Tom?“, fragte Josua und fixierte den Jungen, der hektisch versuchte, seinen Reißverschluss zu schließen.

„Keine Ahnung“, gab er zurück, ohne Josua aus dem Blick zu lassen.

Mit zwei großen Schritten war er bei dem jungen Mann, presste ihn wütend gegen die Wand, ihre Nasen berührten sich fast. „Hör auf mit dem Scheiß! Wo ist Tom? Was habt ihr beiden Arschlöcher mit ihm gemacht?“

„Hast du Angst um seinen Arsch?“, presste André tapfer hervor.

Josua sah ihm einen Augenblick nur in die Augen, dann trat er mit seinem linken Fuß gegen den lädierten Knöchel und André schrie sofort auf. „Hast du einen Knall?“ Als Antwort trat er noch einmal gegen den Knöchel.

„Sag mir wo Tom ist“, forderte er leise.

„Keine Ahnung, echt“, antwortete André und biss sich auf die Lippe.

„Okay“, sagte Josua und trat mit mehr Kraft gegen das schmerzende Gelenk. André stöhnte auf, versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. „Versuchen wir etwas anderes: Wo ist Toms Handy?“ Und bevor André etwas sagen konnte, trat er noch einmal gegen den Knöchel, so kraftvoll, dass es auch ohne Verletzung geschmerzt hätte. „Und lüg mich nicht an.“

„In meiner Hosentasche“, jammerte André. „Wir haben es auf dem Weg gefunden, ehrlich.“

„Du verlogenes Arschloch“, fuhr Josua ihn an und nahm das Handy aus dessen Hosentasche. Es waren zwei, eins war ausgestellt, das musste Toms sein. Doch er sah sich das andere an. André versuchte, seinen Griff zu entkommen, und erneut trat er gegen das Gelenk. „Sei schön brav, Wichser.“

Das Handy war nur mit der Tastensperre gesichert. Ein kurzer Blick auf André zeigte ihm, dass der Junge angefangen hatte zu schwitzen. Vor Schmerz oder vor Angst? Schnell suchte er neue Bilddateien und als er fand, was er suchte, wurde ihm fast schlecht vor Wut. Diese Bastarde, Arschlöcher…

Mit einem Ruck zog er André an sich heran und stieß ihn dann mit wütender Kraft gegen die Wand. Der Hinterkopf des anderen knallte gegen die Fliesen. „Dein Handy nehme ich mit. Das wird euch beiden leidtun“, sagte er und verließ die Toilette. Auf dem Weg nach unten klingelte sein Handy. Seine Mutter. „Ja?“, fragte er, hoffte, nicht mit einer weiteren Krise konfrontiert zu werden.

„Jos? Dein Freund ist hier…“

Mehr brauchte sie nicht sagen. „Ich bin gleich da.“ Immer zwei bis drei Stufen auf einmal nehmend rannte er die Treppe hinunter, sprintete über den Hof zu seinem Golf und raste unter Missachtung sämtlicher Verkehrsregeln nach Hause.

 

Lisa öffnete ihm die Haustür schon, bevor er sie erreichte. Ihr besorgter Blick sprach Bände. „Wir haben Dr. Ziembel angerufen, er kommt gleich nach der Sprechstunde. Der junge Mann weigert sich, in ein Krankenhaus zu gehen.“

„Danke“, sagte Josua und legte im Vorbeigehen seine Hand auf ihren Arm. Tom war im Wohnzimmer, lag mit dem Rücken zur Tür auf dem Sofa, den Kopf auf dem Schoss seiner Mutter, die ihn mit ihren großen dunkeln Augen besorgt ansah, während sie beruhigend durch die blonden Locken strich. Tom trug eine Jogginghose und ein Sweatshirt von ihm. Beides musste ihm zu groß sein, dachte Jos.

Langsam und vorsichtig näherte er sich beiden, wusste nicht, wie Tom reagieren würde. Vor dem Sofa sank er auf die Knie und berührte sanft Toms Schulter. „Ich bin es“, flüsterte er leise und beugte sich vor.

Das rechte Auge war rot und fast zugeschwollen, Tom kühlte es mit einem in ein Taschentuch gewickeltem Kühlkissen, das er zur Seite legte, als Josua ihn berührte. Langsam drehte Tom sich zu ihm um. Die rasende Wut kochte wieder hoch in ihm. Die Nase war ebenfalls geschwollen, die linke Wange war rot, eine offene Wunde dicht unter dem linken Auge. Tom drehte sich so weit, dass er auf der rechten Seite lag, ihm zugewandt, auch wenn er ihn nicht ansah. Josua wusste nicht, was er sagen sollte, fühlte sich hilflos und wütend. Ganz sachte legte er eine Hand auf Toms Schulter, hoffte, ihm nicht wehzutun.

„Sieh mich an“, sagte er leise, brachte sein Gesicht dicht vor Toms. „Bitte“, fügte er hinzu, als sich die Augen schlossen. Nur zögernd öffneten sie sich und sahen ihn an. „Bist du wütend auf mich?“, fragte er.

„Nein, warum sollte ich“, kam die fast tonlose Antwort. „Es waren…“

„Ich weiß“, sagte Josua und strich leiht über die Schulter. „Ich habe Andrés Handy.“

„Hast du gesehen…“

„Ja.“ Josua lehnte sich vor und küsste vorsichtig seine Lippen, die nicht verletzt aussahen.

Schweigend tauschte er einen Blick mit seiner Mutter und nahm ihren Platz ein, nachdem Lisa ihr in den Rollstuhl geholfen hatte. Vorsichtig streichelte er durch das verschwitzte blonde Haar, hielt die Hand, die sich an ihn klammerte.

„Verachtest du mich…“ Josua hörte die Frage kaum.

„Nein, natürlich nicht!“ Zärtlich sah er ihn die – eigentlich nur in das linke Auge, das ihn so voller Angst ansah.

Die Türklingel erklang.

„Das ist Dr. Ziembel. Soll ich rausgehen?“, fragte er leise.

„Nein!“, antwortete Tom schnell und die Hand hielt ihn noch fester. „Nein. Ich meine, außer du willst lieber…“

„Ich bleibe bei dir!“, sagte Josua bestimmt.

„Danke“, wisperte Tom und eine heiße Welle Hass auf André und Florian erfasste Josua. Dafür würden sie büßen!

 

Dr. Ziembels Alter war schwer zu schätzen, mit seinen verstrubbelten braunen Haaren, seinen dunklen Augen, die hinter der schmalen Brille blitzten und das faltenlose Gesicht ließen ihn immer so jung aussehen, wie er es nach seiner Stellung in der ortsansässigen Klinik nicht sein konnte.

„Hallo, Josua“, begrüßte er ihn, bevor er sich Tom zuwandte. „Tom Klemens? Ich kenne Ihren Vater.“ Tom schloss die Augen. „Keine Angst, wenn du mein Patient bist, gilt trotzdem die Schweigepflicht. – Was ist geschehen?“

Verzweifelt sah Tom zu Josua hoch. Beruhigend drückte er seine Hand. „Dr. Ziembel, vielleicht ist es einfacher, wenn Sie sich das ansehen.“ Mit diesen Worten reichte er dem Arzt Andrés Handy.

„Scheiße“, entfuhr es Dr. Ziembel, als er die Bilder des Videos sah. „Tom, am besten wäre es, wenn du mit mir in das Krankenhaus kämst.“

Tom schüttelte nur den Kopf, klammerte sich an Josua.

„Okay“, sagte der Arzt nach einem Moment. „Dann zieh dich bitte aus.“

 

***

 

Nach fast einer Stunde fuhr Dr. Ziembel wieder. Tom lag erschöpft in Josuas Bett, fühlte sich beschissen.

Josua setzte sich neben ihn. „Dr. Ziembel meinte, du solltest etwas essen. Soll ich dir etwas bringen?“

„Nein, ich habe keinen Hunger“, flüsterte er.

„Willst du die beiden anzeigen?“ Josua strich ihm durch das Gesicht.

Tom schüttelte den Kopf.

„Du kannst sie damit nicht durchkommen lassen. Wir haben einen Beweis. – Tom, die beiden sind verrückt!“ Eindringlich beugte sich Josua zu ihm herunter.

„Ich kann das nicht, Jos“, sagte Tom verzweifelt und sah ihn an.

„Okay.“ Jos streifte seine Jeans ab und schlüpfte neben ihn unter die Bettdecke. „Es ist okay.“ Zärtlich zog Jos ihn in seine Arme.

„Sie haben auf mich gewartet. An der kleinen Wiese, es stehen dort nur ein paar Büsche, doch dahinter haben sie sich gehockt. – Florian ist vor mir aufgesprungen und hat mich geschubst, irgendwelche Beschimpfungen geschrien. Dann hat er mich geschlagen, ich konnte es gar nicht fassen. Wir sind – waren seit der Grundschule befreundet. André hat dann wie wild auf mich eingetreten, Ich habe versucht, mein Gesicht zu schützen, doch dann waren beide da…“, flüsterte er leise, das Gesicht an Jos Brust geschmiegt, froh ihn nicht ansehen zu müssen. „Florian hat gefilmt, wie André…“ Er konnte es nicht sagen, es war so eklig, widerlich.

„Ich weiß“, sagte Jos und streichelte ihn sanft.

„Danach hat André gefilmt, während Florian… Sie wollten noch mehr machen, doch die alte Frau Bergau kam mit ihrem Hund und sie sind abgehauen. – Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe aufzustehen, alles tat mir weh. Alles war nass und eklig.“ Ein Schauer schüttelte ihn. „Doch etwas in meinem Kopf wollte nur zu dir, hat mich vorwärtsgetrieben. – Klingt blöd, oder? Ich hätte nach Hause gehen sollen oder zum Arzt, doch das schien mir alles nicht richtig.“

„Was ist mit deinen Eltern? Was werden sie sagen, wenn du heute Abend nach Hause kommst?“

„Meine Mutter hat mir heute Morgen gesagt, dass sie Papa zu seinem Kongress in ich weiß nicht wo folgt und am Sonntag mit ihm nach Hause kommt. Bei uns ist keiner, der sich Gedanken machen kann“, sagte er bitter.

„Dann bleibst du hier! – Keine Widerrede. Ich lass dich doch nicht alleine zu Hause.“ Zärtlich küsste Jos ihn auf den Kopf.

„Danke, Jos. – Ich glaube, ich hätte Angst, jetzt allein zu sein.“

 

***

 

Nach einiger Zeit atmete Tom ruhig und gleichmäßig in seinem Arm, die Schmerzmittel, die Dr. Ziembel ihm gegeben hatte, sorgten dafür.

Unglaubliche Wut kochte in ihm. Diese Schweine! Sie durften nicht ungestraft davonkommen. Seine Reifen konnte er hinnehmen, doch die Gewalt und die Demütigung die sie Tom angetan hatten, konnte Josua nicht ruhig ertragen. Wenn Tom sie nicht anzeigen wollte, würden sie anders dafür büßen müssen. Er kannte jemand, der ihm noch einen Gefallen schuldete. Einen Freund, wenn Tom darauf beharrte, die beiden nicht durch die Polizei bzw. die Justiz strafen zu lassen, gab es auch andere Wege.

 

Irgendwann schlief er auch ein und wurde erst wach, als Lisa an seine Tür klopfte. „Jos, hier ist ein Anruf für dich.“

Verschlafen stand er auf und ging zur Tür. Lisa reichte ihm mit einem Lächeln den Hörer. „Ein Klassenkamerad“, flüsterte sie noch.

„Hm“, meldete er sich.

„Josua?“

„Ja.“

„Du bringst morgen Andrés Handy mit in die Schule, sonst wird es dir leidtun. – Und wag es nicht, irgendjemandem das Video zu zeigen, sonst geschieht dir dasselbe.“

„Florian? Bist du irre? Du Penner willst mir drohen? Wichser! Solltest du oder dein verstörter Freund versuchen mir oder Tom zu nahe zu kommen, wird dieses wunderschöne Video seinen Weg in das Internet und zur Polizei finden. Überlegt es euch.“

„Bring das Handy mit, sonst garantiere ich für nichts“, sagte die Stimme düster, ohne ihn zu beachten.

„Fick dich ins Knie! Sag deinem Freund, er wird sein Handy in diesem Leben nicht wiedersehen. Und ich warne euch beide, sehe ich euch nur in der Nähe meines Hause oder in Toms Nähe, dann lasse ich euch einsperren.“ Wütend legte er auf. Es reichte, es wurde Zeit für Alexej Charachow.

Josua ging zurück in sein Zimmer, um sein Handy zu holen. Tom lag wach im Bett und sah ihn mit müden Augen an. „Wo warst du?“, fragte er verschlafen.

Josua setzte sich auf das Bett, beugte sich über Tom. „Nur kurz telefonieren. Ich muss was essen, willst du auch etwas? – Und ein Nein akzeptiere ich nicht“, sagte er lächelnd und küsste Tom vorsichtig.

„Dann habe ich wohl keine Wahl“, sagte Tom und lächelte matt.

„Oh doch, zwischen Pizza, Tomatensuppe und überbackenem Toast.“ Josua strich durch die blonden Haare.

„Ich weiß nicht…“

„Dann musst du dich überraschen lassen…“ Josua wollte aufstehen, schnell griff Tom nach seiner Hand.

„Jos, kann ich mitkommen?“

Die Verunsicherung in Toms Stimme schnitt Josua ins Herz. „Natürlich!“

 

„Ist keiner da?“, fragte Tom.

„Nein, Lisa ist mit meiner Ma in der Klinik. Sie muss jeden Tag ein paar Stunden zu ihrem Aufbauprogramm.“ Josua sah in den Kühlschrank. „Hm, Salat… Tomaten… Pesto… - Was hältst du von Spaghetti?“

„Kannst du kochen?“, fragte Tom verwundert.

„Na ja, wenn ich früher etwas Warmes essen wollte, dann musste ich es mir selber machen und auf Dauer hatte ich keine Lust immer nur Pizza und Lasagne aus dem Tiefkühlfach zu essen.“ Mit einem Lächeln legte er den Salat und die Tomaten auf die Arbeitsfläche. Öffnete eine Schublade und legte eine Packung Spaghetti neben den Salat.

„Und deine Mutter?“ Tom sah ihn ungläubig an.

„Meine Ma? Die wäre nie auf die Idee gekommen für mich zu kochen, sie selber hat nur Salat und Grünzeug gegessen – und das nur in absolut überlebensnotwendigen Mengen“, sagte Josua grinsend und setzte Wasser in einem Topf auf, begann den Salat zu schneiden. „Also lernte ich, mich selber zu verpflegen. – Nicht, dass ich das immer so mache, manchmal reicht doch die Fertigpizza.“ Vorsichtig wusch er den Salat und ließ ihn im Durchschlag liegen, damit er abtropfen konnte. „Das wird jetzt auch nichts Aufregendes, Spaghetti mit Pesto und Salat“, sagte er, während er die Tomaten schnitt. „Leider haben wir kein Fleisch dazu, aber Fleisch darf ich nur kaufen, wenn ich es gleich verwerte, ohne das Ma es sieht. – Sie hasst Fleisch, aber nicht wegen der armen Tiere.“

Das Wasser fing zu sprudeln an, Josua tat etwas Salz hinzu und die Spaghetti. „Was für ein Dressing magst du? Balsamico?“

Tom sah ihn überfordert an. „Bei uns kocht nur meine Mutter, wenn sie da ist – und dann esse ich, was sie kocht. Salat ist selten dabei.“

„Gut, dann versuchen wir Balsamico.“ Wieder verschwand er ihm Kühlschrank. „Ich mache es mir einfach, nur ein Fertigdressing.“

„Ich wäre schon mit einem Fertigdressing überfordert. Bei mir müsste es ein Fertigsalat sein“, sagte Tom lachend.

Josua drehte sich zu ihm um und küsste ihn vorsichtig. Tom antwortete dem fragenden Kuss, legte die Arme um seine Taille. Ein sanfter, beruhigender Kuss, ohne Erwartungen, ohne Verlangen, voller Zärtlichkeit.

Der Kurzzeitwecker klingelte, Josua löste sich von Tom. „Ich muss die Spaghetti abgießen, sonst haben wir gleich Spaghetti-Mus.“

„Jos?“ – „Hm“, antwortete er und goss die Spaghetti durch einen zweiten Durchschlag.

„Ich weiß nicht, wie ich dich fragen soll… - Wie wird es weitergehen?“

„Was meinst du, Tom? Mit uns? In der Schule? Mit André und Florian?“ Die Spaghetti wanderten zurück in den Topf, zwei Löffel von dem Pesto dazu.

„Alles.“

„Mit uns? – Das kommt darauf an, was du willst. In der Schule? – Ich denke nicht, dass wir dort auf große Probleme stoßen. Mit André und Florian? – Das weiß ich noch nicht, aber ich arbeite daran.“ Der Salat landete in einer Schüssel, die Tomaten kamen dazu und ein paar Spitzer des Balsamico-Dressings.

„Was heißt das?“, hakte Tom nach.

„Ich denke darüber nach – wie soll ich es nennen – das Problem fremd zu vergeben.“ Die Schüssel kam auf den Tisch, zwei tiefe Teller, Gabel und Löffel daneben und zum Schluss der Topf mit den Spaghetti. „Setz dich. Was möchtest du trinken? Von Alkohol hat der Doc wegen der Schmerzmittel abgeraten, also Wasser, Cola oder…“ Josua warf einen Blick in den Kühlschrank. „…O-Saft?“

Tom starrte ihn an, setzte sich aber an den Küchentisch. „Fremd zu vergeben? Jos, wovon redest du?“

„Nach dem Essen, Tom. Jetzt essen wir und dann reden wir. – Parmesankäse?“

Tom nickte und Josua ging erneut an den Kühlschrank. Nachdem er den Käse auf den Tisch gestellt hatte, nahm er noch ein Fladenbrot aus dem Brotkasten und setzte sich ebenfalls an den Tisch.

Schweigend aßen sie.

 

***

 

Fremd vergeben? Tom beobachtete Jos. Sein geschwollenes Gesicht fühlte sich gespannt an, Schmerzen hatte er dank der Medikamente kaum. Die grau-blauen Augen richteten sich auf ihn und Jos lächelte, Wärme breitete sich in seinem Magen aus. Es war gut, dass er hierher gekommen war! Aus einem unerfindlichen Grund fühlte er sich bei Jos sicher. Geborgen. Ja, das traf es, auch wenn es klang, als sei er ein hilfloses Kind, war es das, was er fühlte. Wann hatte er sich das letzte Mal geborgen gefühlt? Früher, als seine Mutter noch da war, innerlich da war. Heute war sie meistens weit fort und nahm ihn nur noch am Rande wahr.

Jos Hand legte sich auf seine. „Alles in Ordnung?“, fragte er.

„Ja“, antwortete Tom und versuchte zu lächeln, doch das war unangenehm mit dem geschwollenen Gesicht. Warum hatten sie das getan? Seit der Grundschule waren sie befreundet. Zumindest hatte er das gedacht, doch heute Morgen…

„He, essen, nicht nachdenken.“ Jos riss ihn aus den Gedanken.

Nicht nachdenken, ging nicht. Immer wieder musste er an die beiden denken, alles was sie gesagt hatten, mit wie viel Hass und Ekel sie ihn überschüttet hatte…

Ein Stuhl rutschte über den Boden und als er aufsah, saß Jos direkt neben ihm. „Entweder du isst freiwillig oder ich füttere dich. – Und glaub nicht, dass ich spaße, ich habe Erfahrung darin.“ Sanft strich Jos ihm durch das Haar. So vorsichtig, dass er die Berührung kaum spürte. „Du musst essen. Ein leerer Magen ist viel depressiver als ein voller.“

„Ich. Meine Gedanken.“, stotterte er hilflos, spürte Tränen, die hinter seinen Augen drückten.

„Ist okay“, sagte Jos und legte den Arm um seine Schulter, zog ihn zu sich. Er schmiegte sich in den Arm, überließ sich dem sicheren Gefühl, dem Trost.

Nach dem Essen saßen sie im Wohnzimmer und sahen einen Film. Seinen Kopf hatte er auf Jos‘ Schoß gebettet. Die Medikamente machten ihn müde und er war zu träge, nach dem Fremd vergeben zu fragen. Ließ sich abgleiten in den Schlaf, beruhigt durch die Hand, die ihn langsam streichelte.

Sein eigener Schrei weckte ihn.

„Alles gut, ich bin hier, dir kann nichts passieren.“ Jos‘ Stimme drang in seinen Traum. Mit einem Schluchzen schlug er die Augen auf, sah in die grau-blauen Augen, sah die Sorge in ihnen. Mit einem matten Lächeln versuchte er ihn zu beruhigen, auch wenn die Angst ihn gefangen hielt.

„Ich könnte die Scheißkerle umbringen“, flüsterte Jos rau in sein Ohr, während er ihn beruhigend streichelte.

Tom war sich nicht sicher, dass das helfen würde. Diese Angst schien tiefer zu gehen. Den Gedanken verdrängend hielt er sich an Jos fest, gab sich dem guten Gefühl hin, dass dieser ihm gab. In diesem Arm würde ihm nichts passieren.

 

***

 

Nachdem Tom wieder eingeschlafen war, rief er Alexej an. Die harte Stimme meldete sich sofort mit einem gebellten: „Ja!“ Jos lächelte, er sah den breitschultrigen Mann mit dem grauen Bürstenhaarschnitt vor sich, dessen Augen das gleiche Eisblau hatten wie Sergejs.

„Hallo, Alexej“, sagte er.

„Jos! Wie schön deine Stimme zu hören! Wie geht es dir?“ Im Gegensatz zu seinem Sohn, der völlig akzentfrei gesprochen hatte, konnte Alexej seine russische Herkunft nicht leugnen.

„Mir geht es gut, danke. – Wie geht es dir?“ Die Frage war keine Floskel, Alexej war es nach Sergejs Tod sehr schlecht gegangen. Auch wenn Sergej bei seiner Mutter, einer Tänzerin aufwachsen war, hatte er seinen Sohn immer begleitet, war immer für ihn da gewesen. Nach dem Unfall war er am Boden zerstört.

„Besser, ich kann es ertragen. – Was ist passiert, Jos?“

Alexej kannte ihn und er fragte sich, ob es für ihn sprach, dass Alexej sofort wusste, dass etwas passiert war und er etwas von ihm wollte.

„Es – es gibt hier etwas Ärger. Ich…“ Konnte er dem Vater seines letzten Freundes darum bitte, seinem aktuellen Freund zu helfen?

„Raus mit der Sprache, Jos. Du hast einen Freund?“ – „Ja…“ – „Das ist gut, Jos. Wirklich. Glaub nicht, dass ich ewige Trauer von dir erwarte. Sergej hätte gewollt, dass du glücklich bist…“

Ja, das hätte Sergej. Einen Moment sah er ihn vor sich, den etwas kleineren, durchtrainierten Mann, seine strahlend Augen, sein Lachen, tief und grollend.

„Also, was ist los? Hast du Schwierigkeiten?“

„Ja, ich weiß nicht, ob du mir helfen kannst…“ … und ob ich das wirklich will, dachte Jos.

„Lass das mich entscheiden“, sagte Alexej und Jos sah seinen leicht hochgezogenen linken Mundwinkel. Kein Lächeln, nur eine andeutende Geste.

„Hier sind zwei Jungs, Mitschüler, die – sie haben Tom verprügelt, sie haben – Ich schick dir das Video, das sie gemacht haben.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Tom hat Angst, sie waren seine Freunde und als er angedeutet hat, dass er mich – den schwulen Tänzer – mag, haben sie ihm das angetan. – Alexej, er liegt hier auf meinem Sofa und hat Angst, Angst bis tief in seine Seele. Seine besten Freunde…“ Wie sollte er ihm verständlich machen, wie ihn das berührte.

„Seine besten Freunde – wohl kaum, doch ich weiß, was du meinst. – Schick mir das Video und ihre Namen. – Und mach dir keine Sorgen, sie werden deinem Freund nie wieder etwas tun…“ Jos überlief ein Schauer und er hoffte, dass die Lösung nicht ganz so endgültig war, wie sie klang.

„Danke, Alexej“, sagte er leise.

„Für dich immer, Jos. Du hast Sergej glücklich gemacht. Er hat dich geliebt, so wie du ihn. - Ruf mich immer an, wenn du etwas brauchst. – Und mach dir keine Sorgen mehr, Jos.“

Ja, sie hatten sich geliebt, körperlich, geistig und im Tanz. Einen Moment überfluteten ihn die Erinnerungen, dann schüttelte er sie ab und schickte Alexej das Video und die Namen, Adressen von André und Florian.

Tom schlief zusammengerollt auf dem Sofa. Was empfand er für ihn? Ramponiert, wie das hübsche Gesicht aussah, hatte er ein tiefes Gefühl von Verantwortung für Tom, für das, was André und Florian ihm angetan hatten. Er wollte den Jüngeren beschützen und er wollte ihm die Angst nehmen. – Und ihm zeigen, wie wunderbar Sex zwischen ihnen sein konnte, wollte den Körper erobern. Würde er dazu kommen? Würde Tom ihn lassen oder würden seine Gefühle kippen und er ihm die Schuld gegeben? Immerhin wäre ihm nichts geschehen, wenn er sich nicht mit ihm, Josua, eingelassen hätte…

 

Die Haustür wurde aufgeschlossen und er hörte Lisa. „Morgen ins Bewegungsbad hat der Doc gesagt. Also gehen wir morgen schwimmen. – Ich rieche Essen, Josua muss gekocht haben. Hoffentlich hat er genug gekocht. – Sophie, du musst mir ein bisschen helfen…“

Tom schlug neben ihm die Augen auf, sah in ein wenig verwirrt an, erkannte ihn und lächelte.

„Jos, gibt es noch etwas zu essen?“

„Lisa, schrei doch nicht so! Du weißt doch, dass Tom sich ausruhen soll“, sagte seine Mutter entnervt.

„Steht in der Küche, Lisa“, rief er aus dem Wohnzimmer und küsste Tom. „Wollen wir schnell zu dir fahren, ein paar Sachen holen – oder soll ich dir etwas leihen?“

„Lass uns zu mir fahren“, antwortete Tom, legte seine Hand in Jos‘ Nacken zog ihn näher. „Gleich…“ Ihre Lippen begegneten sich. Trotz Toms lädiertem Aussehen, floss sein Blut in seinen Unterleib und er erwiderte den Kuss.

„He, hast du kein Zimmer?“ Lisa stand in der Tür und starrte sie an.

„Oh, Lisa, lass die Jungs in Ruhe und geh in die Küche“, forderte Sophie hinter ihr. „Gönn ihnen doch ein bisschen Spaß. – Oder bist du nur neidisch?“

„Worauf, Sophie?“

„Auf das Gefühl begehrt zu werden. Los beweg deinen Hintern.“

Tom und Jos sahen sich an, grinsten.

„Schön, dich lächeln zu sehen“, sagte Jos.

„Rede nicht, küss mich!“, erwiderte Tom ungeduldig.

„Wir fahren jetzt zu dir, holen deine Sachen – und dann gehen wir ins Bett – und dann…“ Vielsagend lächelnd sah er ihn an.

„Versprochen?“

„Versprochen!“

 

Tom wohnte in einer riesigen, weißen Villa umgeben von einer hohen weißen Mauer, mit einem Stahltor vor der Einfahrt, dass sich nur mit dem richtigen Code öffnen ließ.

„Wow, ich wusste nicht, dass du in Fort Knox wohnst. Was macht dein Vater? Ist er Bankdirektor?“

Tom nickte nur, während seine Augen das Öffnen des Tores verfolgten.

„Scheiße, das ist dein Ernst! Wo sind deine Leibwächter? Du bist doch ein potenzielles Entführungsopfer.“

„Hör auf! Du hörst dich an wie mein Alter. – Er ist nicht Bankdirektor, er ist Manager, kein normaler Mensch kennt ihn.“

„Na ja, man muss ihn nicht kennen, nur diese Villa sehen und dann dich, ohne Leibwächter, ohne Schutz…“

„Hör auf! Es ist in achtzehn Jahren nichts passiert und in zwei Jahren studiere ich irgendwo weit weg von hier. – Wenn es nach mir ginge, würde ich jetzt schon woanders wohnen. Ich hasse das große Haus und seine Kälte.“ Er wollte das Gesicht verziehen, doch das schmerzte.

Jos sah ihn an. „Lass uns beeilen“, sagte er und hielt vor der Tür.

Tom stieg aus dem Wagen, sah zu den dunklen Fenstern hoch. „Du kannst dir nicht vorstellen, wir furchtbar es ist, in diesem Ungetüm zu leben. Das Haus hat mein Vater gekauft, weil er meinte, es sei seiner Wichtigkeit angemessen. – Ich sollte mindestens genauso angemessen sein.“

„Was wird er sagen, wenn du ihm – von mir erzählst?“, fragte Jos. Tom drehte sich um, sah ihn an. „Ich weiß nicht, mit etwas Glück schmeißt er mich aus dem Haus.“

Jos überbrückte die Distanz zwischen ihnen, schloss ihn in die Arme. „Wenn er es tut, kommst du zu mir. – Wenn ich dieses Haus sehe, wird mir einiges klar.“

„Was meinst du?“, fragte er, schmiegte sich in die Umarmung.

„Warum du so ätzend warst. In diesem Haus kann kein Mensch normal bleiben. – Ein Wunder, dass du dich überhaupt…“

„Für dich interessiert hast?“, vollendete Tom, lachte sehr vorsichtig. „Ich wollte es ja nicht. Ich wollte dich genauso schlecht behandeln wie André und Florian, doch… Du machtest mich wütend, weil ich die Augen, meine Gedanken nicht von dir lassen konnte. – Und als ich dich in der Turnhalle sah, wie du mit den anderen geübt hast, wie du getanzt hast, da habe ich mein Herz verloren. – Jos, ich habe mich in dich verliebt.“

 

Der Blick aus den blauen Augen traf sein Innerstes, seine Seele. Er küsste ihn. „Das passt, weil ich mich auch in dich verliebt habe.“

Eine Weile standen sie umschlungen da, dann löste Tom sich. „Ich beeile mich, dann sind wir hoffentlich bald im Bett.“ Und er lächelte ihn an.

Das Haus war von innen genauso imposant wie von außen und Josua sah sich staunend um. Alles sah teuer – und tot aus.

Tom lief vor ihm die Treppe ins Obergeschoss hoch. Auch hier war alles so beeindruckend gefühllos.

„Wie in einem Museum“, sagte Josua und sah die Bildergalerie im Flur an.

„Ja – und genauso tot“, antwortete Tom.

Josua folgte ihm. Ein geräumiges Zimmer mit Balkon. Hier lebte zumindest jemand. Bücher lagen neben DVD-Hüllen auf dem Boden. Das Bett war ungemacht und daneben ein Haufen Wäsche. Er sah, wie Tom errötete, als er seinem Blick folgte. „Ich weiß, ich bin nicht besonders ordentlich“, sagte er in dem Versuch einer Bemerkung von Josua zuvorzukommen.

„Ich wollte gar nichts sagen, aber wenn du es erwähnst…“ Ein Kissen traf ihn und er lachte.„Auf jeden Fall scheint hier jemand zu wohnen.“

„Hm, frag meinen Vater, dann hause ich hier“, entgegnete Tom. „Dann muss ich aufpassen, nicht die Ungeziefer ins Haus zu holen. – Wenn ich es ihr nicht strikt verboten hätte, würde Svenja jede Woche hier sauber machen und mein Zimmer in ebenso ein Museum verwandeln wie der Rest des Hauses. – Die meisten sind überwältigt, wenn sie das Haus zum ersten Mal sehen.“

„Ich finde es eher erschlagend. Hier kann man sich doch nicht zuhause fühlen.“ Josua schüttelte sich. „Hier braucht man ja ganzjährig eine Heizung, um gegen die natürliche Kälte des Hauses anzuheizen.“

„Ja, ich kann es auch nicht leiden“, sagte Tom trocken.

Eine Sporttasche nahm er vom Schrank und legte Jeans, Shirts und Shorts hinein. Josua hatte sich auf das Bett fallen lassen und sah ihm zu. Socken folgten, dann ging er ins direkt anschließende Bad und holte Duschgel, Zahnbürste, Kamm und ließ es in die Tasche fallen.

„Alles okay?“, fragte Josua, der ihn beobachtete.

„Die Schmerzen kommen wieder“, sagte Tom nur und nahm ein Handtuch aus dem Schrank.

„Dann lass uns fahren.“ Josua sprang auf und nahm die Tasche. Tom nickte und warf noch ein Buch in die Tasche. Zusammen verließen sie das Haus wieder.

 

Tom schwieg auf der Rückfahrt. Josua konnte sehen, wie sich seine Hände verkrampften. Sie hatten ihn geschlagen und getreten. Dr. Ziembel war angesichts der brutalen Verletzungen ziemlich schockiert gewesen und hätte Tom am liebsten mit in das Krankenhaus genommen, doch stur hatte der sich geweigert. Der Arzt hatte darauf bestanden, die Verletzungen zu dokumentieren und zu fotografieren, dann hatte er ihm dringend geraten, die Täter anzuzeigen. Doch auch das hatte Tom abgelehnt. Wobei Josua nicht klar war, warum Tom es ablehnte. Diese beiden Arschlöcher gehörten bestraft für das, was sie Tom angetan hatten. Sie waren jahrelang seine Freunde gewesen…

„Was meintest du mit Fremdvergeben?“, fragte Tom leise.

„Du willst sie nicht anzeigen und ich will nicht, dass sie dich oder mich weiterhin belästigen, also habe ich einen Freund gebeten, sich darum zu kümmern“, antwortete er ohne Tom dabei in das Gesicht zu sehen.

„Das klingt, als hättest du die Mafia eingeschaltet“, sagte Tom.

„Nicht ganz“, erwiderte er. Er konnte Toms Blick spüren, der ihn fixierte.

„Das ist ein Scherz.“

„Na ja, Alexej ist nicht die Mafia…“

„Du hast einen russischen Mafiosi gebeten. Um was eigentlich? André und Florian mit Betonschuhen im Meer zu versenken?“

„Nein, nur dafür zu sorgen, dass sie es sich zweimal überlegen, ehe sie sich uns nähern. – Tom, was sollen wir machen? Warten, ob sie das nächste Mal vielleicht noch eine Eisenstange oder einen Baseballschläger nehmen um auf dich einzuprügeln. Hast du den Hass in ihren Gesichtern gesehen? Mit den Jungs kannst du nicht reden.“ Josua warf Tom einen Blick zu.

„Aber… - Nein, Jos, ich will das nicht!“ Energisch schüttelte Tom den Kopf.

„Okay, nenn mir die Alternative, sag mir, was du tun willst. Willst du dich mit den beiden auf ein Gespräch verabreden? – Tom, sie hassen dich – und zwar mehr als mich.“ Josua hielt am Straßenrand an und wandte sich Tom zu. „Wenn du willst, rufe ich Alexej an und bitte ihn, die ganze Sache zu vergessen. Aber wie soll es dann weitergehen? Die einzige Möglichkeit wäre, sie anzuzeigen, aber die lehnst ebenfalls ab.“

„Aber wenn dein Freund sie einschüchtert, bin ich nicht besser als sie“, sagte Tom leise.

„Für jemanden, der kein Problem damit hatte, mein Mathebuch am Tisch festzukleben, mich mit sämtlichen gängigen Schimpfwörtern für Schwule zu titulieren und durchaus auch gerne seine körperliche Überlegenheit gegenüber anderen ausspielt, sind dies unerwartete Worte.“ Josua sah nach vorne. „Du warst nicht besser als sie.“

„Das ist nicht wahr, ich…“

„Hör auf! Du brauchst Jan oder Mattis nur anzusehen und sie zucken zusammen. Wenn sie etwas sagen müssen, haben sie keine Angst vor den Lehrern, nein, vor dir und deinen beiden Freunden. – Du warst bisher nicht besser als sie und nun siehst du zum ersten Mal, wie es für die anderen aussieht.“ Wieder sah er Tom an. „Du warst ihr Anführer, derjenige, der am besten aussah, am sportlichsten war und aus einem reichen Haus kommt – und jetzt bist du am tiefsten gefallen. Du bist das Letzte, weil sie dir jahrelang gefolgt sind. Sie haben sich die ganze Zeit mit einem verkappten, verdammten, schwanzlutschenden Arschficker abgegeben. Dich hassen sie mehr als alles andere auf der Welt. Du bist ein Verräter!“

Er sah, wie Tom unter seinen Worten zusammenzuckte, doch er musste ihm klarmachen, wo er stand. Nur so konnte er verhindern, dass sich die beiden Arschlöcher noch einmal an Tom vergriffen.

„Wenn ich so ein Arschloch bin, warum interessiert es dich dann, was die beiden mit mir anstellen. Vielleicht sollte ich…“ Tom legte die Hand auf die Tür.

„Du warst so ein Arschloch! Und wenn du ehrlich zu dir bist, siehst du das auch selber.“ Sanft legte Josua seine Hand auf Toms Arm. „Und obwohl du so ein Mistkerl warst, habe ich mich in dich verliebt und ich möchte nicht, dass dir etwas zustößt.“

Mit seinen Worten wich die Anspannung aus Tom und er sah unglücklich zu Josua. „Ich…“

„Okay, ich rufe Alexej an“, sagte Josua ergeben.

 

***

 

„Holst du uns etwas zu trinken? Im Kühlschrank müsste ein Flasche Apfelschorle stehen“, sagte Josua zu Tom und ging, während er das Handy hervorholte in sein Zimmer. Tom sah ihm einen Moment hinterher, bevor er in die Küche ging. Aus dem Wohnzimmer kam Musik herüber und Tom ging zur Tür. Sophie saß im Rollstuhl vor dem Fernsehen, betrachtete ihr unversehrtes Ich, dass auf dem Bildschirm Pirouetten drehte. Es waren Aufnahmen von Proben. Aus dem Hintergrund gab ein Mann Anweisungen. Als die Kamera schwenkte, sah Tom an der Seite Josua stehen. Er dehnte seinen Körper an einer Stange. Neben ihm stand ein blonder Mann, der Sophies Tanz verfolgte. Die Kamera schwenkte zurück auf Sophie. Die Musik endete und ein Mann trat zu der Tänzerin, sagte ein paar lobende Worte und drehte dann den Kopf. Es wurde kurz dunkel, dann sah man Josua und den blonden Mann. Sie tanzten zusammen – oder war es gegeneinander? Der andere musste Sergej sein. Er war älter als Josua und einen Kopf kleiner. Sein Körper war muskulöser, wirkte kompakter. Es war Tanz, der ein wenig an Kampfkunst erinnerte. Kämpfen, wehren, abwehren, überwältigen. Sie endeten eng umschlungen, verschlungen, beide besiegt. Sergej halb auf Josua liegend. Der sagte etwas, was nicht zu verstehen war und lachend erhob Sergej sich.

 

„Mama, du sollst nicht immer diese alten Filme ansehen.“ Josua trat an ihm vorbei ins Wohnzimmer und nahm seiner Mutter die Fernbedienung aus der Hand.

„Manchmal muss ich mich erinnern“, sagte sie leise.

„Nein, es ist vorbei. Wir können nicht zurück.“ Josuas Stimme klang genervt, als hätte er diese Worte schon tausendmal gesagt.

„Ich brauche die Vergangenheit, ich habe keine Zukunft mehr!“ Sophie sah zu ihrem Sohn hoch. „Das war alles, was ich wollte. Alles, was ich konnte. Tanzen. Ich bin eine Tänzerin, Josua, was soll aus einer verkrüppelten Tänzerin werden?“

„Ich weiß, dass du nie wieder tanzen wirst. Aber du wirst wieder gehen können und dann kannst du Tanz unterrichten…“

„Ich will das aber nicht!“, schrie sie und schmiss das Glas, das neben ihr auf dem Tisch gestanden hatte an die Wand. „Ich bin eine Tänzerin, Tanz ist alles für mich, genau wie für Sergej. Für dich mag das einfach sein. Du hattest mit dem Tanzen schon längst abgeschlossen. Für dich war das alles nur Hobby, ein großer Spaß. Was hast du schon verloren…“

Tom konnte sehen, wie sich Josuas Körper anspannte, seine Hand verkrampfte sich um den Griff des Rollstuhls.

„Es spielt keine Rolle, was das Tanzen, für wen war. Es ist für uns alle zu Ende. Sergej ist tot, du wirst es nie wieder können und ich…“ Er stockte, sah auf den dunklen Bildschirm und verließ das Zimmer.

Sophie senkte den Kopf und Tom konnte sie weinen hören. Einen Augenblick blieb er stehen, dann folgte er Josua. Die Zimmertür war zu und er klopfte zaghaft an. Keine Reaktion. Sachte öffnete er die Tür, Josua stand am Fenster, die Arme vor der Brust verschränkt und sah hinaus.

„Soll ich lieber gehen?“, fragte Tom leise.

Josua drehte sich um und er konnte die Tränen sehen. „Nein. Nein!“ Er streckte die Hand aus. „Komm her, bitte.“ Mit wenigen Schritten überbrückte er die Distanz und ließ sich in Josuas Arme ziehen, schlang die Arme um ihn.

„Immer muss sie die alten Aufnahmen ansehen. Es ist vorbei…“ Josua vergrub sein Gesicht in Toms Haaren.„Ich habe mit Alexej gesprochen, er wird nichts unternehmen.“ Josua löste sich und sah ihn an. „Auch wenn ich es für einen Fehler halte.“

 

Was war passiert? Tom saß am Bettrand und betrachtete den schlafenden Josua. Ja, noch vor ein paar Tagen war er genauso ein Arschloch wie André und Florian. Was hatte er nicht alles zu und über Josua gesagt… Und nicht nur über Josua. Seit Jahren benahm er sich wie das größte Arschloch. Arrogant, überheblich, selbstgerecht. Wie oft hatte er andere fertiggemacht. Vielleicht nicht verprügelt, aber doch ausgegrenzt, gedemütigt und ‚ihnen gezeigt, wo ihr Platz ist‘. Scheiße, er war so…

Lena, Jan, Mattis, der kleine Luca… jeden von ihnen hatte er seine Überlegenheit demonstriert. Weil er gut aussah, weil alle seine Freunde sein wollten, weil sie ihn wie ein Held feierten: André, Florian oder auch Rabea und Sina. Er hatte bestimmt, wer dazu gehört und wer ein Außenseiter ist. Maike zum Beispiel, die keinem etwas getan hatte, die schüchtern und zurückhaltend war – und in ihn verknallt. Was hatte er gemacht? Sie vorgeführt, lächerlich gemacht und sie heulend Rabea und ihren Krähen überlassen… Tom stand auf und ging zum Fenster, sah sein eigenes Spiegelbild in der Scheibe. Das verfärbte und immer noch leicht geschwollene Auge, der kleine Cut über seine rechten Augenbraue, das Hämatom an der Schläfe… Er hatte jeden dieser Schläge verdient, jeden Tritt und auch. Das konnte er nicht einmal denken. Was er nicht verdiente, war Jos, die Zuneigung, die dieser ihm entgegenbrachte.

Wieso stand er überhaupt auf einmal auf Jungs? Warum hatte er sich in Josua verliebt? Wie konnte ihm als homophoben Arschloch das überhaupt passieren? Letzte Woche hätte er jedem der ihm gesagt hätte, er würde sich danach sehnen einen Jungen zu küssen, in den Arsch getreten. Wenn jemand gesagt hätte, es wäre das unglaublichste Gefühl des Universums, von einem Jungen befriedigt zu werden, hätte er ihn einweisen lassen. Jetzt kreisten seine Gedanken in unbeobachteten Momenten sogar darum weiter zu gehen, mehr zu probieren, Josua näher zu kommen… Rabea hatte ihm einmal einen Blowjob verpasst, wie wäre es, wenn Josua das täte – oder wenn er es bei Josua täte? Könnte er das? Einen fremden Schwanz in den Mund nehmen? Ein dumpf pochendes Gefühl machte sich in seinem Magen breit. Scheiße, es machte ihn an, darüber nachzudenken. An die Härte, die weiche Haut… Josuas Schaft (er wollte bei Jos nicht an Schwanz denken) war samtig und schlank. Wie würde es sich im Mund anfühlen? Und könnte er es zu Ende bringen, den Saft schlucken? Rabea hatte es nicht gekonnt.

Wie würde Jos reagieren, wenn er ihn jetzt wecken würde, um ihm einen zu blasen? Tom spürte, wie das sanfte Pochen sich verstärkte, und sein Blut langsam aber sicher in seinen Schwanz floss.

Was würde sein Vater zu solchen Gedanken sagen? – Der Gedanke ließ die Erregung sofort verschwinden. Sein Vater! Der perfekte Lars Klemens. Er sah gut aus, er hatte Erfolg, ein prächtiges Haus, eine hübsche Ehefrau und einen schwulen Sohn. Ein Kichern entkam ihm, wenn er sich vorstellte, was Lars zukünftig zu seinen wichtigen Geschäftspartnern sagen würde. – Vielleicht gar nichts, vielleicht würde er ihn umgehend aus dem Haus schmeißen. Zukünftig hätte er dann einfach keinen Sohn mehr. Auf die Frage: ‘Was macht den dein Sohn Tom eigentlich?‘, würde er antworten: ‘Sohn? Ich habe gar keinen Sohn.‘ Damit wäre das Problem für ihn gelöst.

Und seine Mutter? Was würde sie sagen? Bestimmt würde sie ihn zu ihrem Seelendoktor schleppen, erwarten, dass dieser ihn heilt. ‘Das ist doch bestimmt nur eine Phase, Lorenz, das gibt sich doch wieder‘, würde sie zu Professor Lorenz Bittermann sagen und ihn mit ihren großen babyblauen Augen bittend ansehen. Wenn der ihr dann in fünf überteuerten Sitzungen schonend klargemacht hat, dass es keine Phase ist, wird sie sich den Rest ihres Lebens selber bedauern. Die ‘Schuld‘ würde sie ihrem Mann geben, noch mehr Tabletten schlucken und noch viel mehr Sitzungen bei Prof. Bittermann haben.

Bestand die kleine Hoffnung, dass sie es einfach akzeptieren würden? Dass sie ihn einfach akzeptieren würden? ‘Tom, mein Junge kein Problem. Wir lieben dich so, wie du bist…‘

Genau, ‘wir lieben dich‘ wäre schon die erste Lüge. Wir fordern, verlangen, erwarten – und wenn du das erfüllst, dann…

 

„Tom? Alles in Ordnung?“

Er drehte sich um und sah Jos, der sich aufgesetzt hatte und ihn verschlafen ansah. Ein warmes Gefühl machte sich in seiner Brust breit und Tom ging zum Bett hinüber.

„Ich habe nur nachgedacht“, sagte er leise und fuhr durch Jos‘ Haare.

„Und worüber?“ Jos lehnte sich leicht gegen die Hand.

„Über alles Mögliche. Mich, dich, meine Eltern…“ Seine Hand legte sich in Josuas Nacken, zog ihn heran, bis seine Stirn ihn berührte. „Blowjobs.“ Diesmal strömte sein Blut nicht, es war mit einem Schlag in seinem Glied angelangt. Unter seiner Hand konnte er einen Schauer spüren, der Jos Körper kurz durchlaufen hatte. Wenn er sich nicht täuschte, ging es Jos ähnlich wie ihm.

„Blowjobs?“, flüsterte Jos rau. Tom nickte und küsste ihn.

„Ja. – Wie es sich wohl anfühlt, wenn ich…“ Seine Hand streichelte Jos‘ Oberschenkel hoch. Er hatte sich nicht getäuscht! „Ob ich es könnte… wie es wäre mit meiner Zunge…“ Immer wieder unterbrach er den Kuss für die leise geflüsterten Worte.

Jos keuchte in seinen Mund, als er seine Hand unter die Shorts schob und ihn streichelte. „Wie du dich in meinem Mund anfühlst… wie du schmeckst…“

Tom küsste Jos Mundwinkel, sein Ohr, fuhr mit der Zunge über seinen Hals hinunter zu den kleinen Brustwarzen. „Wie sich deine seidige Haut anfühlt, wenn ich mit meiner Zunge daran entlangfahre… oder wie es wäre mit meiner Zunge durch den winzigen Spalt zu lecken…“ Langsam küsste er sich über die Bauchmuskulatur weiter. Als er die Augen hob, begegnete er Jos‘ Blick, der ihn dunkel ansah, während er tief und schnell atmete.

„Weißt du, wie geil du aussiehst?“, flüsterte Tom leise und berührte zum ersten Mal die Eichel eines anderen Mannes mit seiner Zunge. Das heisere Stöhnen, das er bekam, fuhr ihm direkt in den Unterleib. Vorsichtig, ein bisschen ängstlich legte er seinen Mund um Jos‘ Eichel und saugte sie in den Mund.

Jos stöhnte seinen Namen und das war geil! Er nahm ihn tief auf und wunderte sich, dass es kein großes Problem war. Rabea hatte zum Teil dabei ziemlich eklig gewürgt. Ein paar Mal glitt er schnell auf und ab, spürte, wie Jos sich anspannte.

„Wenn du so weiter machst, ist es gleich vorbei“, keuchte Jos und er ließ ihn aus seinem Mund gleiten. „Oh shit, aufhören habe ich nicht gemeint.“

„Keine Angst, erst muss ich wissen, wie du schmeckst“, flüsterte Tom leise und küsste ihn kurz und heftig. „Und ich will, dass du meinen Namen stöhnst, wenn ich dich tief schlucke.“

Jos stöhnte. „Du schaffst es, dass ich nur von deinen Worten komme.“

Wieder nahm Tom ihn auf, nahm ihn zärtlich ohne Hast. Josua lehnte sich ein Stück weiter zurück, betrachtete Tom und widerstand nur mühsam der Versuchung, in den Mund zu stoßen, so sehr erregte ihn allein der Anblick.

Tom ließ sich Zeit, probierte und beobachtete. Noch nie hatte er es als so geil empfunden, die Erregung in einem Gesicht zu sehen, zu spüren und zu hören, wie er Jos immer weiter trieb. Wieder ließ er ihn aus seinem Mund gleiten, er konnte spüren, wie dicht Jos davor war und leckte die ganze Länge hoch. Aus der winzigen Spalte trat ein Tropfen aus und er nahm ihn mit der Zungenspitze ab, während er Jos‘ Gesicht betrachtete.

„Du bringst mich um den Verstand“, flüsterte Jos heiser, sein Becken wölbte sich verlangend Tom entgegen.

„Du schmeckst aufregend.“ Tom glitt mit der Zungenspitze durch die kleine Spalte. „Davon will ich mehr.“ Und er nahm Jos tief auf, saugte, bewegte sich, bis er das lang gezogene, heisere ‘Tom‘ bekam.

Abartig, widerlich und ekelig, wären seine Adjektive noch vor wenigen Tagen gewesen, wenn ihm jemand von diesem Blowjob erzählt hätte. Er verstand selber kaum, warum es so unglaublich gut war und warum er nicht genug von Jos bekommen konnte.

„Komm her“, flüsterte Jos und zog ihn neben sich. Seine Rippen protestierten kurz und er verzog das Gesicht.

„Alles in Ordnung?“, fragte Jos ihn beunruhigt. Tom nickte. „Nur die Prellung.“ Vorsichtig zog Jos ihn neben sich auf das Bett, begann, ihn zu streicheln, fand den Weg zu seiner Erektion und lächelte. „Ich glaube, das hat dich angemacht.“

Erst als sich Jos‘ Hand um seine Erektion schloss und er ungeduldig hineinstieß, wurde ihm selber bewusst, wie geil er war. Er wollte, brauchte Erlösung. „Jos, bitte“, flüsterte er. Jos ließ ihn nicht warten und gab ihm, was er so dringend brauchte. Stöhnend ergab er sich dem Orgasmus, der ihn heftig mit sich riss.

 

„Und du bist sicher, dass du das noch nie gemacht hast?“, fragte Jos, als sie nebeneinander unter der Bettdecke lagen.

„Nein, bestimmt nicht. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das kann.“ Tom kuschelte sich in seinen Arm. „Ich hätte immer bestritten, dass ich das kann.“

„Du kannst es“, sagte Jos mit einem Lächeln.

Eine Weile lagen sie schweigend nebeneinander, genossen ihre Nähe.

„Es war hart, was deine Mutter zu dir gesagt hat“, durchbrach Tom die Stille.

„Hm, sie hat recht, ich habe das Tanzen schon früher aufgeben müssen.“

„Aber du hast…“, fing Tom an und wusste dann nicht genau, wie er es beenden sollte, „…doch viel mehr verloren.“

Jos sagte nichts und Tom fragte sich, ob er zu weit gegangen war. Eine Frage gestellt hatte, die er nicht hätte stellen dürfen.

„Ich habe Sergej verloren. Das war schlimm, gerade, weil wir uns an diesem Abend gestritten hatten. Wie immer ging es um das Tanzen. Ich wusste, dass ich etwas anderes machen musste, doch er wollte das nicht einsehen. – Sergej wollte nicht, dass ich das Ballett verließ, doch ich konnte nicht bleiben. Wir haben die letzte Zeit immer darüber gestritten.“ Jos schwieg und drehte sich dann zu Tom. Lehnte seine Stirn gegen Toms. „Ich habe Sergej kennengelernt, da war ich dreizehn und er neunzehn Jahre alt. Er tanzte im selben Ensemble wie seine Mutter Jekatarina Landski und meine Mutter. Eine Saison lang sahen wir uns jeden Tag. Ich war klein, schmächtig und begabt. Das blieb ich, bis ich siebzehn wurde, da hatte ich 192 cm erreicht und keine Karriere als Tänzer mehr. Gleichgültig, wie begabt ich war.“

Tom traute sich nicht, etwas zu sagen, wollte ihn nicht unterbrechen und streichelte Jos sachte über den Rücken.

„Sergej verlor mich in den Jahren nicht aus den Augen. Er blieb in unserer Nähe und bevor ich so groß wurde, hatte er schon beschlossen, dass wir zusammen tanzen würden. Ich war noch nicht so weit. – Und als ich es war, war ich zu groß, um diesen Traum wahr zu machen. Die Proben, die du gesehen hast, waren für ein Programm meiner Mutter. Ein Workshop des Tanzes. Ich hatte beschlossen, mein Abitur zu machen und etwas zu studieren, etwas, das nicht mit Tanzen zu tun hat. – Sergej konnte es nicht verstehen. Er hatte sein – unser Leben geplant. Doch ich wollte das nicht. Ich wollte mein Leben, nicht seins. – Wenn wir uns stritten, warf er mir vor, ich würde ihn nicht lieben, nicht genug lieben. – Vielleicht stimmt das. Er war der erste und einzige Mann in meinem Leben, ich wusste nichts von der Liebe.“ Wieder machte Jos eine Pause. „Vielleicht hat er aber mich nicht genug geliebt. Er konnte mich nicht verstehen, darum dieser Streit. Wenn ich ehrlich bin, habe ich auch Sergej schon vor dem Unfall verloren. Als ich beschlossen habe, ein eigenes Leben zu leben.“

Was konnte er dazu sagen? Tom fühlte sich so – wortlos.

„Weißt du, das Traurige ist vielleicht, dass weder Sergej noch meine Mutter verstanden haben, dass ich nichts anderes wollte, als Tänzer werden. Ich liebe das Tanzen. Keiner hat verstanden, was die Aufgabe dieses Traumes für mich bedeutete. Beide sprachen immer nur von dem, was es für sie und ihr Leben bedeutete. Dass ich den Sinn meines Lebens verloren hatte, nahmen sie nicht zur Kenntnis.“

Tom zog ihn an sich heran, hielt ihn fest. „Ich versteh dich. Du warst gezwungen, diese Entscheidung zu treffen, und keiner hat gesehen, was sie für dich bedeutete. Sie dachten nur an ihre Konsequenzen, dabei hätten sie es dir leichter machen können.“

„Die, die behaupten dich zu lieben, sollten doch sehen, was in dir vorgeht.“ Jos erwiderte seine Umarmung. „Sie hätten wissen müssen, wie viel es mir bedeutet, wie schwer, aber unausweichlich diese Entscheidung für mich war.“

„Was wirst du jetzt machen?“, fragte Tom und fuhr mit seinen Händen in die dunklen Haare, zerwühlte sie. Was für ein wunderbares Gefühl.

„Ich weiß es nicht genau. – Ich zeichne, vielleicht…“

„Wie viele verborgene Talente hast du noch?“

Jos lachte und küsste ihn. „Ich weiß nicht, ob ich wirklich talentiert bin, aber ich liebe es, fast wie tanzen. – Was willst du machen?“

„Wenn es nach meinem Vater geht, studiere ich Betriebswirtschaftslehre oder irgend so ein Mist.“

„Und wenn es nach dir geht?“

„Sport“, antwortete er postwendend.

„Und was wird es werden?“, fragte Josua, rückte ein Stück zurück und sah Tom an.

„Ich weiß es nicht…“

„Du weißt es, du musst nur den Mut haben, es zu tun“, flüsterte Jos und küsste ihn. „Keiner kann dich davon abhalten, außer du selbst.“

„Das klingt so einfach…“

„Das ist so einfach!“

„Und wenn er mir dann das Studium nicht bezahlt?“

„Vielleicht hat er dich bis dahin schon aus dem Haus geschmissen, weil du schwul bist.“

Tom sah ihn an und lachte leise, was ihn gleich das Gesicht vor Schmerz verziehen ließ. „Ja, du hast recht.“

„Wenn du Sport studieren willst, dann tu das. Egal, was andere sagen.“

„Es ist nicht einfach, sich allein gegen Lars Klemens zu stellen“, sagte Tom bitter.

„Aber du bist nicht mehr allein, wenn du es nicht sein willst“, erwiderte Jos.

„Ist das dein Ernst?“ – „Sehe ich aus, als würde ich spaßen?“ – „Du kennst mich doch kaum – und das was du kennst, ist zum größten Teil ziemlich fragwürdig.“ – „Ja, doch das, was ich seit Montag sehe, ist alles wert.“ Jos küsste ihn ausgiebig.

„Sicher?“ – „Ja, Tom, ganz sicher.“ – „Danke.“

 

***

 

„Schlaf weiter, Tom, ich muss zur Schule.“ Josua rollte sich aus dem Bett.

„Ich komme mit“, antwortete Tom und setzte sich auf.

„Dr. Ziembel hat dich krankgeschrieben, du sollst diese Woche zu Hause bleiben.“ Die Hämatome in Toms Gesicht fingen an, sich zu verfärben. Die Nase, die zum Glück nicht gebrochen, sondern nur geprellt war, leuchtete lila.

„Ich muss, Jos.“ Tom sah ihn eindringlich an. Nachdenklich betrachtete er den Jüngeren, dann nickte er.

„Komm, wir gehen duschen.“ Er streckte Tom die Hand hin, die dieser ergriff und sich aus dem Bett ziehen ließ.

 

Schweigend fuhren sie in dem alten Golf zur Schule. Beide hingen ihren Gedanken nach, grübelten über die Frage, was sie erwartete.

Hoffentlich würden sie nicht wieder seine Reifen zerstechen. Das wurde auf die Dauer teuer. Josua parkte den Wagen ein und sah zu Tom, der auf seine Hände starrte. „Bist du dir sicher?“ Er betrachtete das gezeichnete Gesicht.

„Ja.“ Tom nickte und wollte aussteigen, Josua legte ihm die Hand auf die Schulter, zog ihn zurück.

„Hey, ich liebe dich“, sagte er und küsste ihn flüchtig, ehe er selbst ausstieg.

Die unvermeidlichen Raucher beobachteten ihr Kommen und sahen tuschelnd ihrem Weg ins Gebäude nach. Toms Anspannung konnte er deutlich neben sich spüren.

Es war früh, nur Lena und Becky saßen schon im Klassenraum. „Oh, Scheiße“, entfuhr es Lena, als sie Toms Gesicht sah. „Was ist dir denn passiert?“

Misstrauisch sah Tom sie an, erwartete Spott oder Genugtuung und fand nur Mitgefühl. Tapfer zuckte er mit den Schultern. „Kleiner Unfall“, sagte er und setzte sich mit Josua nach hinten auf die sonst leeren Stühle. Ein Blick auf Josua sagte Lena, dass sie lieber nicht nachhaken sollte.

Langsam füllte sich der Klassenraum, zuerst kamen wie immer die Außenseiter, die schnell und unauffällig ihren Platz erreichen wollten. Dann die Mitläufer und zum Schluss die Stars, wie Rabea, Insa und Marie oder André und Florian. Die beiden blieben in der Tür stehen und wirkten etwas verunsichert, als sie Tom sahen. Florian fing sich als erster und stapfte zu seinem Platz, nicht ohne einen finsteren Blick in Josuas Richtung zu werfen.

Tom starrte auf die Tischplatte vor sich, doch Josua konnte seine Nervosität, seine Anspannung und Angst spüren. Die beiden verunsicherten ihn zu tief und Josua musste mit dem wütenden Knoten in seinem Magen fertig werden. Diese Arschlöcher!

Die Doppelstunde verlief normal, dann kam die Pause. André und Florian verließen als eine der ersten das Klassenzimmer.

„Was werden sie tun?“, fragte Tom und Josua hasste das Zittern, das er in der Stimme hörte.

„Das werden wir gleich feststellen. Komm“, erwiderte er und stand auf. Hinter den beiden verließen Lena, Becky, Jan, Luca, Luisa und Mattis den Raum.

Auf dem Hof herrschte das übliche Treiben. Einige Augenpaare richteten kurzfristig ihr Interesse auf sie, doch die meisten taten das, was sie immer taten.

Tom blieb dicht bei ihm. Seine Augen schweiften ohne Unterlass über den Hof. Gerne hätte Josua ihm die Anspannung genommen, doch was konnte er sagen oder tun, damit es für Tom einfacher wurde? Er konnte ihm nur das Gefühl geben, da zu sein.

„Josua?“ Lena war zu ihm getreten und sah ihn an. Fragend zog er die Augenbrauen hoch.

„Wir haben uns gedacht… Na ja, wir haben die Hoffnung… - Oh, Mann, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.“ Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe herum. „Wir wollten dich fragen, ob du dir vorstellen kannst, noch ein bisschen länger mit uns zu trainieren? Das Training mit dir hat Spaß gemacht und wir alle fühlten uns gut dabei. – Also wir fänden es schön, so einmal die Woche…“ Sie verstummte und suchte in seinem Gesicht eine Reaktion.

„Ich soll euch trainieren? In was denn? Tanzen oder Sport?“, fragte er erstaunt. Warf Tom neben sich einen Blick zu, der ihn aber nur betrachtete.

„Wir dachten an eine Art Fitnesstraining. Mehr Körperbeherrschung, mehr Ausdauer, usw.“, antwortete Lena, sah schnell zu Becky, die hinter ihr stand. „Wir könnten uns einmal in der Woche in der Sporthalle treffen.“

„Einmal in der Woche ist nicht viel, wenn man wirklich trainieren will. Zwei- bis dreimal sind dann notwendig.“ Josua sah von Lena zu Becky. „Wie viele diesmal?“

Lena lachte. „Fünfzehn bis zwanzig. Du hast echt Eindruck hinterlassen und nachdem sich herumgesprochen hat, dass du uns trainiert hast…“

„Ich denke darüber nach, okay?“

Lena und Becky nickten. „Klar, wir fänden es auf jeden Fall super.“ Damit verschwanden die beiden.

„Lass uns gehen.“ Die nächsten beiden Stunden hatten sie Englisch zusammen, danach hatte Josua Kunst und Tom Spanisch. Gemeinsam gingen sie in Raum 105. André und Florian saßen schon auf ihren Plätzen und sahen ihnen tuschelnd und grinsend entgegen. Tom versteifte sich und am liebsten hätte Josua seine Hand genommen. Wieder setzten sie sich zusammen in die letzte Reihe. Mit dem Pausengong waren André und Florian nach dem Unterricht verschwunden.

„Die hecken irgendetwas aus“, sagte Tom. Sie hatten gewartet, bis alle den Raum verlassen hatten.

„Ja, ich weiß. – Hast du mit den beiden Spanisch?“

„Nur mit Florian. André hat Musik.“ Tom wischte die schweißnassen Hände an seiner Jeans ab.

„Wollen wir abhauen? Wenn du willst, gehen wir.“ Josua nahm ihn an den Schultern und drehte ihn zu sich um. „Du musst dir das heute nicht antun.“

„Es ist egal, wann ich es mir antue, ich werde immer Panik haben“, antwortete Tom. „Lass uns gehen.“

Was sollte er dazu sagen?

 

Die Stimmung auf dem Schulhof war eine andere. Es lag etwas in der Luft. Josua spürte sein Herz kraftvoll gegen die Rippen schlagen. Ein Blick über den Schulhof sagte ihm, dass die elfenhafte und unscheinbare Frau Meijer Aufsicht hatte. Eine zweite Lehrkraft konnte er nicht sehen. Sie gingen die Stufen hinunter, einige Schüler wichen ihnen aus und sein Adrenalinspiegel stieg an. Dann sah er sie: André, Florian, Kurt, Kevin, den ebenso großen wie breiten Sören, den Oberspinner Lothar, die Zwillinge Bernd und Karsten sowie der ständig aggressive Holger. Reflexartig trat er einen Schritt vor, stellte sich halb vor Tom.

Wenige Schritte vor ihm blieben sie stehen. Florian trat vor und musterte ihn von oben bis unten.

„Wir wollen euch nicht an unserer Schule haben. Ihr seid pervers und abartig. Mistkäfer, die von der Landkarte gelöscht gehören“, sagte er.

Weder er noch Tom sagten etwas. Was sollte man auch darauf antworten? Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie immer mehr Schülerinnen und Schüler näher traten.

„Wir werden nicht dulden, dass ihr schwulen Säcke weiter hier herumstolziert. Wenn ihr nicht freiwillig geht, werden wir euch das Leben auf dieser Schule zur Hölle machen.“ Er grinste. „Glaub nicht, dass deinem kleinen Liebhaber schon das Schlimmste geschehen ist.“

„Du reaktionäres Stück Scheiße. Du und deine faschistischen Freunde werdet eure dreckigen Finger nicht noch einmal an meinen Freund legen, sonst verspreche ich dir, dass ein bestimmtes Video, in dem man deine hässliche Visage gut sehen kann, seinen Weg ins Internet findet.“ Josua war noch einen Schritt nach vorne getreten. Wut ließ ihn alles andere vergessen. „Ich habe keine Angst vor dir und deines gleichen.“

„Du nicht, aber vielleicht dein kleiner Schwanzlutscher. Oder meinst du, dass er mir freiwillig den Schwanz leckt? Das wird er nämlich müssen, wenn ihr nicht geht.“ Der feist grinsende Sören drängte sich vor. „Und von mir aus kannst du ins Internet stellen, was du willst. Ich hasse Schwuchteln!“

Bevor Josua etwas sagen konnte, schob sich auf einmal Lena vor ihn. „Pass mal auf, Sören. Seit der fünften Klasse bist du das größte Arschloch auf dem Schulhof. Du kommandierst uns rum, du schikanierst uns, du isst unsere Schulbrote, verprügelst uns, wenn dir danach ist. Damit ist jetzt Schluss. Wir lassen uns das nicht mehr gefallen“.

Perplex starrte Sören auf das Mädchen, das ihm Gerademal bis zum Kinn ging. „Verpiss dich, Lena, du bist jetzt nicht dran.“

„Doch, Sören, mit jedem Außenseiter, den du quälst, bin ich dran. Wir lassen uns das nicht mehr gefallen. Wenn du Josua oder Tom verprügeln willst, dann musst du erst an mir vorbei.“ Sie stemmte die Fäuste auf ihre Hüfte.

Sören sah sich um zu seinen Begleitern, alle begannen zu lachen. „Aus dem Weg, Hase.“ Er wollte sie wegschieben, da traten Becky und Mattis rechts, Jan und Luca links neben sie. Unter den ungläubigen Blicken der Gruppe schoben sich immer mehr Schülerinnen und Schüler zwischen sie und Josua.

Als ungefähr vierzig unterschiedlich alte Schülerinnen und Schüler dazwischen standen, sagte Lena: „Jetzt kannst du versuchen einen von uns anzurühren, Sören. Oder du, André.“ Der Gong läutete die Stunde ein, doch keiner rührte sich.

Zögernd gab Sören nach, wich zurück. „Ihr seid doch alle verrückt“, brummte er und wandte sich ab. Die anderen folgten ihm.

Lena drehte sich um und strahlte Josua an. „Na, die Außenseiter haben gesprochen.“

„Danke!“ Eigentlich wusste Josua nicht, was er sagen sollte. Etwas Ähnliches hatte er noch nicht erlebt und hätte bestimmt nicht damit gerechnet, es ausgerechnet an diesem Gymnasium zu erleben.

„Kein Thema. Du hast uns geholfen, jetzt waren wir dran. – Außerdem tyrannisieren uns diese Typen schon viel zu lang.“ Lena sah Tom an, der noch halb hinter Josua stand. „Nachdem sie schon einen der ihren an uns verloren haben…“ Freundschaftlich gab sie ihm einen Klaps auf den Oberarm. „Ich weiß nicht, womit du diesen Traumtypen verdient hast, Tom, aber behandle ihn anständig.“ Zusammen mit Becky ging sie in die Schule.

„Komm, Zeit für Englisch. Frau Hansen-Oberdorf wartet.“ Sanft zog er Tom hinter sich her.

„Kannst du mir bitte erklären, was das gerade war?“, fragte Tom hinter ihm.

„Keine Ahnung, aber es war beeindruckend. Ich glaube, ich werde sie trainieren müssen.“ Josua grinste den Jüngeren an.

„Ich glaube nicht, dass das schon alles war. – Die nächsten Reifen für den Golf bezahle ich.“

 

Englisch verlief ereignislos. Vielleicht war es ganz gut, dass er Alexej nicht auf die beiden Spinner losgelassen hatte. Da er jahrelang mit seiner Mutter auf Tournee gewesen war, stellte Englisch an ihn keine hohen Anforderungen. Zeitweise war er in England und Amerika zur Schule gegangen oder von englischsprachigen Lehrern unterrichtet worden. Sein Geist schweifte ab, würden sie wieder seine Reifen zerstechen? Oder ihn mit neuen Schmierereien verzieren? Was konnten sie ihnen beiden noch antun? Oder wie weit würden sie dabei gehen? Toms Hand berührte ihn unter dem Tisch und er warf ihm einen Blick zu. Gleich würden sie sich trennen müssen und er konnte sehen, dass Tom der Gedanke beunruhigte. Erst gestern waren diese Arschlöcher über ihn hergefallen, hatten ihn körperlich und seelisch verletzt. Unauffällig legte er seine Hand auf Toms, strich über seinen Handrücken.

 

„Du musst das nicht tun. Wenn du willst, gehen wir jetzt nach Hause.“

„Nein, ich will es tun. Ich muss da durch.“ Stur schüttelte Tom den Kopf.

„Verdammt, du bist ein Sturkopf. Du wartest in der Klasse auf mich. Ich hole dich dort ab. Sollte der Lehrer gehen, bevor ich da bin, geh mit raus. Bleib nicht mit irgendeinem dieser Arschlöcher allein. Wir wissen ja nun, wer auf jeden Fall dazu gehört. – Hörst du mich überhaupt?“

„Ja.“ Tom nickte.

„Gut. – Ich habe heute noch ein bisschen was mit dir vor. Pass auf dich auf.“ Vielversprechend lächelte Josua ihm zu und ließ ihn die letzten paar Meter zum Klassenraum alleine gehen.

„Das sind hoffentlich keine leeren Versprechungen“, erwiderte Tom und lächelte zurück, ehe er in dem Raum verschwand.

Mit schnellen Schritten ging er die vier Treppen hinunter in den Kunstraum. Heute würde es ihm schwerfallen, sich zu konzentrieren. Herr Cors war schon im Klassenraum, er war einer der wenigen Lehrer, die immer pünktlich waren. Mit einem entschuldigenden Lächeln schob er sich auf seinen Platz.

Wie er befürchtet hatte, bleiben seine Gedanke bei Tom. Sollte irgendeiner dieser Penner ihn anfassen, würde er Alexej anrufen. So oft er sich einzureden versuchte, dass Tom nichts geschehen konnte, so oft malte ihm sein Gehirn die abstrusesten Ideen aus. Er war wie eine alte Glucke. Vielleicht sollte er sich mehr auf den Unterricht konzentrieren. – Seine Gedanken blieben jedoch nicht in diesem Zimmer, sie wanderten vier Stockwerke nach oben zu seinem Freund.

Liebte er Tom wie Sergej? Nein, es war etwas völlig anderes. Sergej war immer da gewesen. Es hatte keine bewusste Entscheidung seinerseits für Sergej gegeben. Trotzdem hatte er den anderen geliebt, sie hatten so viel miteinander geteilt… Tom war ganz anders, er hatte nichts mit Tanz zu tun, er kam aus diesem spießigen, kleinen Kurort und er hatte keine Erfahrungen mit Männern. Josua musste grinsen. Gerne würde er ihn all die Möglichkeiten der Liebe zwischen Männern zeigen…

 

Endlich waren die zwei Stunden rum und er lief die vier Stockwerke wieder hoch. Die Tür des Klassenraums stand offen und er ging darauf zu. Eine Stimme redete und als er hineinsah, unterhielt sich Tom mit dem jungen Lehrer, Herrn Sommer, wenn Josua sich recht erinnerte. Tom sah ihn und ein Strahlen erschien auf seinem Gesicht, fand seinen Weg in Josuas Seele. Mann, was war er verliebt in diesen Kerl!

 

***

 

Zehn Minuten später saßen sie im Auto. Tom legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Der Tag war anstrengender gewesen, als er gedacht hatte und sein Gesicht schmerzte.

„Alles okay?“, fragte Josua ihn und er nickte. Als der Wagen trotzdem nicht startete, öffnete er die Augen und sah zu Jos herüber. Die grau-blauen Augen sahen ihn an. „Ganz sicher?“ - „Ja“, sagte er lächelnd.

„Gut.“ Der Motor sprang an und sie setzten aus der Lücke. Zehn Minuten später hielten sie vor dem Supermarkt. Josua zog den Einkaufszettel aus der Hosentasche, Tom holte einen Einkaufswagen. Um die Zeit war nicht viel los, keine Schlangen vor den Kassen. Jos suchte die Einkäufe zusammen, während er den Wagen langsam durch den Laden schob.

„Ist das wahr, Tom, lässt du dich wie ein Mädchen ficken?“

Er fuhr herum. Jürgen Hegerland, der Sohn ihrer Nachbarn, stand hinter ihm und sah ihn an. Jürgen war ein arroganter, überheblicher Arsch, den er vom Tag ihres Einzuges nicht leiden konnte. Jürgen war drei Jahre älter als er und fertig mit der Schule. Gerüchte sagten, sein Vater habe sein Abitur bezahlt, weil er selber nicht in der Lage gewesen wäre, es zu schaffen. Jürgen war so groß wie er selber, allerdings stämmig gebaut. Sein Äußeres strahlte eine primitive Gewaltbereitschaft aus.

„Wie ist es, sich den Schwanz eines anderen bis um Anschlag in den Arsch schieben zu lassen? Fickt er dich von hinten, wie ein Hund?“ Seine kleinen dunklen Augen sahen ihn von oben bis unten an. „Ist im Moment wohl besser, weil du echt beschissen aussiehst.“

Normalerweise würde er antworten, sich nicht so dämlich von diesem Arschloch anmachen lassen, doch etwa hemmte ihn, machte ihn wort- und hilflos.

Jürgen hob die Hand und kam näher, wollte ihn berühren. Panik breitete sich in ihm aus. Wehr dich, schrie eine Stimme in ihm, eine andere riet ihm, weit wegzulaufen.

„Was ist hier los?“ Jos tauchte hinter der massigen Gestalt auf, schob sich an dem Penner vorbei und stellte sich vor Tom. „Was willst du?“, blaffte er Jürgen an.

„Oh, Tom und ich sind Nachbarn. Ich wollte ihn nur mal begrüßen und zu seinem neuen “Glück“ beglückwünschen.“ Aggressiv musterte er Josua.

„Es geht ihm gut, verpiss dich“, entgegnete Josua.

„Du bist der schwule Tänzer!“, stellte Jürgen fest. „Wie ist es seinen kleinen, geilen Arsch zu ficken?“

„Komm, Tom, lass uns gehen“, sagte Jos zu ihm und zog ihn hinter sich her.

„Nun komm schon, stell dich nicht so an. Ich kenn den Kleinen schon ewig und als André mir erzählt hat, dass er sich jetzt ficken lässt…“

Josua fuhr herum und stellte sich dicht vor Jürgen. „Halt dir Fresse, Arschloch! Penner wie du, André oder Florian gehen mir echt auf den Geist. Lasst uns einfach in Ruhe!“ Dann drehte er sich wieder um, nahm Toms Hand und zog ihn hinter sich her, hinaus aus dem Geschäft.

„Der Einkauf?“, fragte Tom unsicher.

„Später. Lass uns nach Hause fahren.“ Josua legte seinen Arm um Toms Schulter, nahm ihn aber sofort weg, als er dessen unglücklichen Blick sah.

„Jos, ich…“, sagte Tom.

„Schon gut“, antwortete er und ging mit großen Schritten vor.

„Nein, Jos, es ist mir egal, wenn ich mit meinen Eltern gesprochen habe, aber bis dahin…“, sagte Tom bittend.

„Schon gut, vielleicht bin ich etwas empfindlich.“ Josua sah ihn an und lächelte schwach.

„Nein, bist du nicht. Ich würde gern mit dir Arm in Arm gehen.“

Josua blieb vor dem Auto stehen, sah ihn über das Autodach hinweg an. „Gut, dann Sonntagabend.“ Er blinzelte ihm zu und stieg ins Auto.

 

***

 

„Warum konnte ich ihm nicht die Meinung sagen?“, fragte Tom, als sei später zusammen auf dem Sofa lagen. „Ich hatte Angst und wäre am Liebsten weggelaufen.“

„Erst gestern Morgen haben dir André und Florian aufgelauert, wie sollst du auf dieses aggressive Gehabe dieses Spinners reagieren?“ Josua streichelte sanft über den Rücken des Jüngeren.

„Ich hoffe, meine Eltern hören nicht vorher schon von den Nachbarn, was geschehen ist.“ Tom schmiegte sich an ihn und sah ihn an.

„Wann kommen sie wieder?“ – „Sonntag gegen Mittag.“ – „Dann sollten wir – oder willst du lieber allein mit ihnen sprechen?“ – „Ich weiß nicht. Bin ich allein, weiß ich nicht, ob ich jemals wieder aus diesem Haus herauskomme. Kommst du mit, könnte es sein, dass er dich von der Polizei abholen lässt.“

„Von der Polizei? Warum? Wir sind volljährig, welches Gesetzt sollte mir verbieten, mit dir zusammen zu sein?“

„Und wenn er extra eins erfindet…“ Tom sah ihn an. „Je länger ich darüber nachdenke, desto schlimmer stelle ich mir die Konsequenzen vor. Seine Reaktion.“ Tom drückte sich so eng an ihn, dass er fast in ihn hineinkroch.

„Du machst mir etwas Angst. Ich würde dich nur ungern alleine zu diesem Monster gehen lassen.“ Zärtlich küsste er Tom auf die Stirn. Schweigend hingen sie ihren Gedanken nach.

„Jos, würdest du mich ficken wollen wie ein Mädchen?“, fragte Tom nach einer Weile leise.

Josua drehte sich über ihn, sah ihm in die unruhig blinzelnden Augen. „Nein, ich will dich nicht ficken wie ein Mädchen. Ich würde gerne mit dir schlafen. Dir so nahe sein, wie möglich. – Das ist etwas völlig anderes.“ Sacht strich er ihm durch das verletzte Gesicht. „Und das auch erst, wenn du es willst. Wenn dir die Vorstellung nicht mehr Angst macht.“

„Ich habe keine Angst!“, widersprach Tom.

„Doch. Das ist auch gut so. Du wirst wissen, wenn du so weit bist.“ Er küsste ihn ausgiebig, bis sie schnaufend durch die Nase atmeten, erst dann lösten sie sich.

 

***

 

Gegen Abend fuhren sie Einkaufen. Im Laden war jetzt mehr los, zwei lange Schlangen standen an den Kassen. Seufzend stellte Tom sich an die eine Schlange an, während Jos den Einkaufszettel abarbeitete.

„Tom. Hilfst du deiner Mutter beim Einkaufen?“ Frau von Grün, eine Bekannte seiner Mutter, schob ihren Wagen hinter ihn in die Schlange, dann sah sie ihn erschrocken an. „Was ist dir denn passiert?“

„Nein, Frau von Grün, meine Eltern sind nicht da“, antwortete Tom. Vorsichtig streichelte er durch sein Gesicht. „Das ist nicht so schlimm wie es aussieht. Ein kleiner Unfall. Ich war etwas unvorsichtig.“ Er zog die Schultern hoch, lächelte.

„Sie lassen dich aber oft allein“, sagte sie mitleidig.

Tom zuckte mit den Schultern, wusste nicht, was er dazu sagen sollte, wünschte sich irgendwo anders hin. Jos kam mit dem Arm voller Waren und ließ sie in den Wagen fallen. „Gleich geschafft!“, sagte er und lächelte ihn an, dann sah er Toms Blick auf Frau von Grün und drehte sich um. Frau von Grün sah ihn neugierig an und Josua schenkte ihr sein strahlendes Lächeln, grüßte sie höflich. Mit einem erfreuten Lächeln grüßte sie zurück. Bevor Jos sich auf die nächste Runde machte, zwinkerte er ihm.

„Ein netter junger Mann. Ein Schulfreund von dir?“, fragte Frau von Grün.

„Ja“, antwortete Tom und sah Jos hinterher. Was würde Frau von Grün wohl denken, wenn sie die Wahrheit kenne würde?

Endlich erreichte er das Laufband und legte die Einkäufe darauf. Jos kam und legte den Rest dazu. Zehn Minuten später verpackten sie die Waren in den Kofferraum. Auf dem Rückweg holten sie noch Pizza aus dem beliebten „Bella Rosa“, zwei Familienpizzen mit allem Möglichen drauf. Beim Herausgehen trafen sie auf André, der nervös zurückzuckte und ihnen Platz machte.

„Na, Süßer, Angst ohne deine Freunde?“ Josua lehnte sich zu ihm herüber. „Doch wir sind nicht wie du und Florian. Auch wenn du ein absolutes Arschloch bist, würden wir dich nie anfassen.“ Er nahm Toms Hand und ging mit ihm weiter.

 

Jos lag auf dem Bett und las, während Tom am Schreibtisch ein Referat vorbereitete. Im Hintergrund lief ein Musiksender im Fernseher, sorgte für unbeachtete Untermalung. Tom sah über die Schulter, betrachtete Jos, der sich quer auf das Bett legte und die Beine an der Wand hochgestellt. Sein T-Shirt war hochgeschoben, Tom konnte ein Stück seines Bauches sehen. Seine Gedanken wanderten ab, hatten keine Lust mehr auf Biologie. Er stand auf und ging zum Bett. Jos sah ihn fragend an und er lächelte, setzte sich neben ihn auf das Bett. Sanft schob er das T-Shirt höher, streichelte die weiche Haut.

„Keine Lust mehr auf lernen?“, fragte Jos, legte das Buch zur Seite.

„Ich habe viel mehr Lust auf dich“, antwortete Tom und küsste ihn. Jos legte den Arm um seine Nacken, hielt ihn fest. „Zeig mir, wie viel Lust du auf mich hast“, forderte Jos leise. „Zieh dich aus.“

Tom spürte das Kribbeln, mit dem sich sein Blut in Bewegung setzte und in seinen Unterleib strömte. Betont langsam zog er das Shirt über den Kopf, öffnete den Knopf an seiner Jeans, den Reißverschluss und schob die Daumen unter den Bund. Ohne weiterzumachen, legte er den Kopf schräg und sah Jos an, der ihn mit zu Schlitzen verengten Augen ansah.

„Sehe ich mit all den blauen Flecken nicht eher abturnend aus?“, fragte Tom unsicher.

Jos setzte sich auf, rutschte an den Bettrand und legte die Arme um Toms Hüften. „Nein. Ich habe nur immer Angst, dir wehzutun.“ Er küsste den Bauchnabel, der sich direkt vor ihm befand, küsste die Spur aus Haaren entlang, schob die Hose tiefer um endlich seinen Mund um die Erektion zu legen, die sich ihm entgegen reckte. „Du bist sexy, auch mit den blauen Flecken“, flüsterte er und leckte einmal die gesamte Länge hoch, bevor er ihn wieder in den Mund nahm. Tom legte den Kopf in den Nacken und stöhnte.

Jos hörte auf, sah ihn von unten an. „Schlaf mit mir“, forderte er leise und Ton stöhnte auf. „Bitte.“ Der verlangende Blick aus den grau-blauen Augen, die Bilder, die sein Kopfkino augenblicklich produzierte, ließen ihn fast kommen. Keuchend zog er sich ein Stück zurück. Jos streifte sein T-Shirt ab, zog sich unter Toms Blick die Jeans und die Pants mitsamt Socken aus, rutschte auf das Bett. „Komm her“, flüsterte er und streckte die Hand aus.

Tom entledigte sich schnell seiner Kleider, während Jos ihn nicht aus den Augen ließ und provozierend seine Erektion streichelte. „Finger weg“, sagte er rau, krabbelte zu Jos auf das Bett, der die Hände neben sich auf das Bett legte.

Konnte er mit einem Mann schlafen? Das war sicher etwas anderes als mit einem Mädchen und er fühlte sich verunsichert. Zwischen den Beinen des älteren kniend sah er ihn an. Jos lächelte. „Tu, was du willst.“ Und er spreizte die Beine. Tom überlief ein Schauer und er beugte sich über die Erektion, die ihn ungeduldig erwartete. Nach einiger Zeit wanderte er tiefer, widmete sich den Hoden. „Tom“, flüsterte Jos und er sah hoch, nahm automatisch die Tube, die der ihm in die Hand drückte. Gleitgel. Sein träges Gehirn brauchte einen Moment, um den Grund zu verstehen, dann öffnete er die Tube und gab etwas von dem kühlen Gel in seine Hand, wärmte es auf, ehe seine Hände Jos weiter erkundeten. Jos stöhnte, als er mit einem Finger in ihn eindrang, wand sich unter seinem massierenden Finger. Er schien den von Gerüchten umwobenen Punkt gefunden zu haben, streichelte ihn ausgiebig.

„Wenn du so weitermachst, komme ich“, keuchte Jos und er hörte auf, nahm einen zweiten Finger zur Hilfe um den Muskelring zu dehnen. Natürlich nicht, ohne ab und zu über diesen Punkt zu streichen und das leise Wimmern zu genießen. „Komm endlich“, forderte Jos stöhnend. – „Kondom?“

Jos drehte sich etwas, wühlte in der Schublade, riss die Kondomverpackung auf und sah Tom an. „Komm her, ich mache es.“

Tom rutschte hoch und Jos rollte das Kondom über sein hartes Glied. Das war geil! Nachdem er noch einmal großzügig Gel verteilt hatte, schob er sich hoch zwischen Jos‘ angezogenen, gespreizte Beine und dann durch den engen Muskelring. Sofort wurde er enger als jemals zuvor umschlossen. Es nahm ihm die Luft, ließ ihn stocken. Verharrend blickte er Jos an, der ihn schwer atmend ansah. „Komm endlich, Baby, nimm mich“, keuchte Jos und er nahm ihn. Bewegte sich und wusste nicht, wie er es in dieser Enge aushalten sollte. Wie er sich bewegen sollte, ohne sofort zu kommen… - Gar nicht, stellte eine kleine Ecke seines Hirns fest, bevor ihn die Lust einfach überrollte. Ein paar Stöße und er kam, spürte nur am Rande, das es Jos genauso ging. Atemlos keuchend kam er langsam zu sich. „Wow, das war… wow.“ – „Hm, das war mehr als wow“, knurrte Jos unter ihm zufrieden.

 

Donnerstag und Freitag verliefen ruhig. Weder wurde der Golf weiter mit Schmierereien verschandelt, noch wurden sie angesprochen. Beide wusste sie jedoch, dass es noch nicht vorbei war. So einfach würden ihnen die Spinner es nicht machen.

Am Freitagnachmittag lag Tom im Übungsraum auf dem Boden und sah Jos beim Training zu. Er konnte sich nicht sattsehen an dem schlanken Körper, der sich geschmeidig und sportlich vor ihm bewegte. Wie konnte man so beweglich sein? Er sah in dem engen Shirt und den engen Hosen einfach geil aus! Gleich würde er auf den Boden sabbern. Mit einer Drehung auf dem Boden lag Jos neben ihm und sah ihn mit großen grau-blauen Augen an. „Gefällt dir, was du siehst?“, fragte er mit einem anzüglichen Grinsen. Tom beugte sich vor und küsste ihn. „Gleich hast du einen Fleck auf dem Boden“, antwortete er. Jos lachte leise. „Ich brauche eine Dusche, kommst du mit?“ – „Ich folge dir überall hin.“

„Gehen wir morgen ins Kino?“, fragte Jos als sie eine halbe Stunde später auf dem Bett lagen. Tom sah ihn nachdenklich an.

„Komm schon, was kann passieren? Wir fahren in die Stadt und sehen uns einen Film an.“ Jos beugte sich über ihn. „Wir können und sollten uns nicht verstecken. Dazu besteht keine Veranlassung.“

„Und wenn wir ihnen begegnen?“ – „Wenn wir davor Angst haben, dann können wir nie wieder etwas machen und müssen uns den Rest unseres Lebens verstecken. – Nur Kino und nach Hause.“ Er spürte Toms Unsicherheit. „Ich möchte mich nicht verstecken müssen, weil ich dich liebe. Weil du und ich ein Paar sind.“

„Ich will mich auch nicht verstecken, aber…“ – „Kein aber, Tom, wir gehen morgen ins Kino. Punkt.“ Und mit einem Kuss unterband Jos jedes weitere Wort.

„Das ist das zweite Mal, dass du sagst, dass du mich liebst…“, sagte Tom, nachdem er wieder Luft bekam.

„Ja“, sagte Jos einfach, so als sei das nichts Besonderes.

„Und…“

„Und was? – Du willst wissen, ob ich es auch so meine?“ Die grau-blauen Augen blitzten. „Meinst du, ich würde es nur so dahin sagen?“

„Nein. Ja. Ich weiß es ehrlich nicht.“

„Blödmann! Nie würde ich es sagen, wenn ich es nicht fühlen würde.“ Er gab ihm einen Schlag auf die Schulter. „Ich. Liebe. Dich. Tom Klemens.“

Tom spürte, wie er rot wurde, und verbarg sein Gesicht an der Schulter seines Freundes. Sein Freund. Was fühlte er für Jos? Er horchte in sich hinein, während er Jos‘ Geruch einatmete. Wie viel bedeutete ihm dieser Geruch, Jos’ Gesicht mit den grau-blauen Augen, seine Berührungen, seine Gegenwart? Warum war er zu ihm gegangen, statt nach Hause? Warum fühlte er sich in seinen Armen so sicher und geborgen? Wollte den Platz in seinen Armen auf keinen Fall aufgeben?

„Ich liebe dich auch, Josua Rosenbaum“, flüsterte er.

„Danke“, antwortete Jos genauso leise. „Das ist das Schönste, was du sagen konntest.“

„Ich sage es nicht nur, ich fühle es.“

 

Jos schlief. Auf dem Rücken liegend, den rechten Arm über dem Kopf, ein kleines Lächeln im Gesicht. War es Liebe? – Diese Frage ließ ihn nicht wieder los. Er war achtzehn, Jos einundzwanzig und sie beide noch dabei ihr Abitur zu machen. Wussten sie, was Liebe war, wie sie sich anfühlte? – Jos vielleicht schon, er war viel herumgekommen, hatte Sergej gehabt… Trotzdem waren sie jung und Liebe etwas großes, schweres… oder? War sie so leicht wie die Luftblasen in seinem Inneren, die mit einem angenehmen Kitzeln platzen, wenn Jos ihn anlächelte, küsste, streichelte? So beruhigend wie Jos Berührung, die ihm Sicherheit gab? So federleicht wie seine Seele, wenn er mit Jos lachte?

Konnte es nach nur einer Woche Liebe sein? Oder, waren sie schwer verliebt und nicht in der Lage es zu unterscheiden? Oder war es ganz und gar nur Sex?

Liebe. Er drehte und wendete das Wort in seinem Mund. L I E B E – Liebe, lieben, liebend. War es das Bedürfnis, bei Jos zu sein? Ihm die kleine Falte zwischen den Augen weg zu streicheln, die gerade dort erschienen war?

Ein Seufzer verließ Jos und er drehte sich auf die Seite, rollte sich zusammen. Wovon träumte er? Es schien ein schlechter Traum zu sein. Tom ging zu ihm, schob sich hinter seinen Körper ins Bett und legte den Arm um seine Taille. „Alles okay, ich bin da“, flüsterte er leise und musste lächeln, als der Körper sich entspannte. Er mochte jung sein und noch nicht viel Erfahrung haben, mit Gefühlen für Männer noch gar keine, aber er wollte Jos glücklich machen, er wollte ihn festhalten, wenn er schlecht träumte, mit ihm Lachen und Lieben. Er bedeutete ihm im Moment alles – und wenn diese Gefühle keine Liebe waren, dann war Liebe doch die einzige Bezeichnung, die ihm passend dafür erschien.

 

***

 

Tom saß neben ihm im Kino und entspannte sich langsam. Es war nicht viel los, der Film lief schon eine Zeit und in diesen schnelllebigen Zeiten war ein Monat Laufzeit eine Ewigkeit. Sie hatten sich Popcorn geholt und immer wieder trafen sich ihre Hände in dem großen Eimer. Ohne lange zu überlegen, hatten sie sich für einen Actionfilm entschieden, Popcornkino zum Abschalten. Es fühlte sich gut an, sich hier ablenken zu lassen. Tom neben ihm lachte und er konnte seinen Blick nicht von ihm abwenden. Die Schwellungen waren weg und die Verfärbungen kaum noch zu sehen. Die Angst würde noch bleiben, doch Tom wollte keine professionelle Hilfe, noch nicht. Immerhin hatte er sich heute zu diesem Ausflug überreden lassen. Hinterher vielleicht noch ein Stück Pizza auf die Hand oder einen Burger und dann nach Hause. Morgen würden Toms Eltern nach Hause kommen und er wollte mit ihnen reden. Was für Eltern waren das, wenn ihr Sohn solche Angst vor ihnen hatte? Sollten Kinder ihren Eltern nicht vertrauen können, ihnen alles sagen können und auf Unterstützung rechnen können? Zumindest, wenn es die Frage betraf, welches Geschlecht man liebte. Eine Frage, die doch für den Menschen, der dahinterstand, völlig unerheblich war. Der Mensch Tom wurde doch kein anderer, weil er ihn, Josua, liebte. – Und es war ja nicht so, dass er sich das ausgesucht hatte, er hatte dagegen gekämpft und verloren. Weil es keine Entscheidung war, die der Geist traf, sondern eine angeborene Veranlagung. Hetero-, homo- oder bisexuell. Jos war sich sicher, dass es weder mit der Erziehung, noch mit dem Umgang oder mit den Freunden zusammenhing, er war so wie er war geboren worden. Wie konnte es dann falsch oder schlecht oder unnatürlich sein? Er liebte einen Mann, keine Kinder, das würde er auch als pervers empfinden. Auf unschuldige, noch asexuelle Kinder zu stehen, war krank und bestimmt nicht angeboren, sondern hart erarbeitet. Erziehung, Umgang, Lebensgeschichte. Und eh nach veranlagter Sexualität stand der Perverse auf Jungs oder Mädchen.

Tom neben ihm lachte und holte ihn zurück in das Kino. Spontan legte er seine Hand auf Toms, verschlang ihre Finger ineinander. Ein kurzer Seitenblick und ein Lächeln trafen ihn. Wie konnte dieser Kerl nur so einfach in sein Herz eindringen? Hatte er sich nach dem Unfall nicht vorgenommen, sich nicht wieder zu verlieben? Sich nicht wieder an jemanden zu binden, weil starke Bindungen auch starke Schmerzen mit sich bringen konnten? – Zu spät, sein Herz gehörte Tom. Und wenn der wollte, könnte er sein Herz in kleine Fetzen zerreißen und ihn unendlich leiden lassen.

 

***

 

Pizza essend gingen sie zum Auto, diskutierten über den Film. Eine Gruppe junger Frauen kam ihnen entgegen, doch erst, als sie sie fast erreicht hatten, erkannten sie Rabea und ihr Gefolge. Tom spannte sich neben ihm an.

„Hallo Josua. Hallo Tom“, sagte Rabea. „Auch unterwegs ins Empire?“

„Hallo. Nein, wir waren im Kino und wollten gerade nach Hause“, antwortete Josua und lächelte den Mädchen zu, von denen zwei sich kichernd hinter Rabea verbargen. Diese verdrehte die Augen. „Hühnerhaufen“, sagte sie und lachte. „Überlegte es euch, es soll heute richtig was los sein. Irgend so ein Großstadt-DJ macht heute Musik.“ Mit einem Winken verabschiedete sie sich und ging, ihr kicherndes Gefolge hinter sich herziehend.

„Willst du?“, fragte Tom unsicher. – „Nein, kein Bedarf. Disco und ähnliches ist nichts für mich.“ Jos sah ihn mit einem vielsagenden Grinsen an. „Und ich habe heute noch etwas anderes vor.“ Tom konnte nichts dagegen tun, dass er errötete, und ging weiter, damit Jos es nicht sah.

„Oder willst du dorthin?“

„Nein! Ich… Dein Vorschlag gefällt mir besser.“

 

Es war schon fast morgen, Tom lag in Jos‘ Arm und dämmerte in den wohlverdienten Schlaf, als ein merkwürdiges Geräusch ihn aufschreckte. Er konnte nicht sagen, was ihn letztlich munter gemacht hatte, doch er war schlagartig wach. Lauschte mit gespitzten Ohren auf die Geräusche draußen. Knirschte dort Kies? Flüsterte jemand? Der Schweiß brach ihm aus, Panik machte sich breit. Ja, da schlich jemand um das Haus! Tom setzte sich auf, lauschte intensiv, mit all seinen Sinnen, versuchte das Rauschen in seinen Ohren zu verdrängen und nur auf die Geräusche zu hören…

Ein lautes klatschendes Geräusch ließ ihn zusammenzucken. „Jos“, wisperte er und fasste ihn an den Arm. Wieder dieses Geräusch, eine Scheibe schien zu vibrieren – oder?

Jos neben ihm knurrte unwillig. Da war es wieder, etwas prallte gegen eine Scheibe. Seine Hand verkrampfte sich in Jos‘ Oberarm, der schreckte hoch.

„Tom!“

Und wieder, diesmal gefolgt von Stimmen, Gelächter, Füßen, die über den Kies rannte. Bevor er reagieren konnte, war Jos über ihn hinweg aus dem Bett gesprungen, rannte durch den Flur. – Er wollte doch nicht die Haustür öffnen? Seine Eingeweide verkrampften sich, doch er befahl seinen Körper aus dem Bett, folgte dem Anderen. Sah wie Jos die Tür öffnete und gleich wieder schloss, hörte wie etwas an diese Tür prallte.

„Jos? Was geht hier vor?“

Sophie aus ihrem Zimmer.

„Ruf die Polizei, Ma“, antwortete Jos ruhig. „Diese verdammten Arschlöcher!“

Abstoßendes Rudelgelächter drang in den Flur, Motoren wurden gestartet und Autotüren klappten und mindestens drei Fahrzeuge fuhren los.

Tom war hinter Jos getreten, legte ihm die Hand auf die Schulter und sah durch die rosarote Farbe, die träge an der Scheibe der Tür hinunterlief.

 

„Kondome mit rosa Farbe gefüllt“, sagte der Polizeibeamte eine Stunde später zu Jos. Neben ihm stand eine blonde Polizistin und zog die Augenbrauen hoch.

„Können Sie etwas zu den mutmaßlichen Tätern sagen?“, fragte der Beamte, der rotbraune Haare und ein ovales Muttermal auf der linken Wange hatte.

„Nein. Ich würde vermuten, dass es sich um Schüler des Wilhelm-Busch-Gymnasiums handelt, kann dies aber nicht mit irgendwelchen Hinweisen belegen“, sagte Jos mit einem Seufzer.

„Warum sollten diese Schüler rosarote Farbe an Ihr Haus werfen?“

Jos sah ihn an und überlegte, was er dazu sagen sollte.

„Sie sind Tänzer“, stellte die junge Polizistin fest.

„Nein. Ich bin Abiturient“, stellte er klar und sah sie an.

„Sie haben aber getanzt. Ich habe von ihrem Unfall gelesen. – Sie sind schwul, darum die rosarote Farbe.“ Die Frau sah ihn merkwürdig an.

„Was denken Sie? Tänzer – schwul – rosarote Farbe – selber schuld?“

„Kein Grund aggressiv zu werden, Herr Rosenbaum“, sagte die Polizistin. „Wir wollen nur den Täterkreis einschränken.“

„Okay, treiben Sie ruhig die homophoben Arschlöcher zusammen, dann finden Sie die Richtigen schon.“ Jos war nicht in der Stimmung, sich von ihr provozieren zu lassen.

Der Polizist mischte sich wieder ein. „Haben Sie denn auch ein paar Namen für uns? Irgendwen, mit dem sie in den letzten Tagen in Streit geraten sind?“

Sollte er André und Florian erwähnen? – Nein, das war Toms Entscheidung, daher schüttelte er den Kopf. „Nein, es gibt einige, die mich schief ansehen, aber keinen, den ich heute hier erkannt hätte.“

„Warum sollten Ihre Mitschüler so weit gehen? Habe Sie diese Aktion mit Ihrem Verhalten herausgefordert?“, fragte wieder die Blonde.

„Marit, kannst du bitte mal mit Bernhard sprechen, ob die Spurensicherung fertig ist“, sagte der Polizist und seine Stimme duldete keinen Widerspruch. „Entschuldigen Sie die Kollegin, bitte.“

„Ich bin Schlimmeres gewohnt. – Und nein, ich habe nichts gemacht, außer in ihrem traumhaften Dorfgymnasium erschienen zu sein.“ Jos lachte leise. „Vielleicht ist aber auch meine Existenz Grund genug.“

„Es wird schwer bis unmöglich die Täter ausfindig zu machen, wenn uns nicht jemand hilft, der die Täter gesehen hat. Ansonsten wird es im Sande verlaufen.“ Bedauernd zog der Polizist die Schultern hoch. „Und glauben Sie bitte nicht, jeder wäre in diesem Ort so reaktionär.“

„Nein, das ist mir schon aufgefallen. Trotzdem danke“, antwortete Jos und lächelte dem Polizisten zu.

 

„Sie werden nichts herausfinden, oder?“, fragte Tom als sie später wieder im Bett lagen.

„Ich befürchte nicht. Diese verdammten Arschlöcher!“, antwortete Jos wütend. Vielleicht sollte er doch Alexej anrufen. Wie weit würden sie gehen? Was würde als nächstes kommen? Und wann würden sie jemanden ernsthaft verletzen?

„Ich hatte Angst“, sagte Tom neben ihm leise. „Nur, weil meine Angst um dich größer war, konnte ich aus diesem verdammten Bett klettern.“

Josua zog ihn in seinen Arm. „Du willst dir doch keine Vorwürfe machen, weil du Angst hattest? Vor sechs Tagen sind die Arschlöcher über dich hergefallen, wie solltest du keine Angst haben? Du weißt, wie brutal und rücksichtslos sie sind, dass sie keine Scheu haben zu verletzen. Wenn ich nicht so wütend gewesen wäre, wäre ich bestimmt nicht an die Tür gegangen.“ Er rollte sich über Tom. „Danke.“

„Danke?“

„Danke, dass du für mich deine Angst überwunden hast.“

„Spinner. Ich hatte einfach mehr Angst, dass du vor die Tür läufst und sie dich…“ Ein Zittern durchlief Tom.

„Dann Danke, dass du dir Sorgen um mich machst.“ Jos küsste ihn sanft.

„Spinner“, murmelte Tom noch einmal in den Kuss.

 

Die Türklingel ging zum dritten Mal, ehe es Josua schaffte, sich aus dem Bett rollen zu lassen. Tom knurrte neben ihm unwillig und zog sich die Decke über den Kopf. 9:20 Uhr zeigte sein Wecker. Schnell schlüpfte er in die Jogginghose und erreichte zum vierten Klingeln die Tür. Ein Mann in einem gut sitzenden schwarzen Anzug stand vor der Tür und betrachtete die Farbspuren an dem Haus. Unbewusst strich sich Jos durch das Haar und öffnete die Tür. Die blauen Augen des Mannes richteten sich mit einem beurteilenden Blick auf ihn. Ungefähr Mitte vierzig, schätzte Jos. Teurer Anzug, teure Schuh, teurer Haarschnitt und ein teurer BMW in der Auffahrt. „Ja?‘“, fragte er unhöflich, doch angesichts der Zeit und des arroganten Gesichtsausdruckes des Mannes war Freundlichkeit nicht drin.

„Josua Rosenbaum?“, fragte der Mann mit einer Stimme, die bei dieser Frage schon klarmachte, dass er Josua Rosenbaum nicht mochte, wenn er es also war, mochte er ihn auch nicht.

„Ja“, antwortete er nur.

„Auch wenn ich es mir nicht vorstellen kann, habe ich gehört, dass mein Sohn Thomas sich bei ihnen aufhalten soll“, sagte Toms Vater, Lars Klemens, mit einem verächtlichen Blick auf die farbverschmierte Front. „Wenn das so ist, dann will ich ihn auf der Stelle sprechen.“ Der Ton duldete keinen Widerspruch, die sicherste Methode, Jos‘ Widerspruch herauszufordern.

„Tom schläft noch, aber ich sage ihm gerne, dass er sich bei Ihnen melden soll, wenn er aufwacht“, entgegnete er mit seinem freundlichsten Lächeln.

„Hör zu, ich habe keine Lust, mit dir zu diskutieren, sag meinem Sohn, er soll sofort seinen Hintern hierher bewegen, sonst kann er bleiben, wo er ist“, sagte der Mann mit schneidender Stimme und trat einen Schritt näher. „Wenn es wahr ist, was ich über dich gehört habe, dann mach dich auf einiges gefasst. Wenn du meinen Sohn in deine schmutzigen, kleinen, perversen…“

Jos spürte, wie er blass wurde, kalter Hass stieg in ihm hoch und nur, weil dies Toms Vater war, zügelte er diesen. „Ich habe mit Tom nichts gemacht, was er nicht wollte“, sagte er und hielt dem kalten Blick stand. „Und nichts davon war schmutzig oder pervers.“

„Vater?“ Toms Stimme klang erschrocken und jung hinter ihm.

„Thomas! Du ziehst dich sofort an und kommst mit mir nach Hause!“ Befehlston, gewohnt, dass seine Anweisungen befolgt wurden. – Tom würde sie befolgen, er war dazu erzogen, darüber machte Jos sich keine Hoffnung.

„Ich…“, setzte Tom hinter ihm an. Jos sah über die Schulter, sah in dem Blick des Jüngeren sein Verhältnis zu seinem Vater. Unterordnung, Gehorsam und der Wunsch, sich gegen ihn auflehnen zu können, gepaart mit Resignation, weil es keinen Zweck hatte.

„Keine Widerrede! Zieh dich an!“ Lars Klemens stand jetzt direkt vor der Tür.

Jos sah von Tom zu seinem Vater und zurück, dann machte er die Tür zu, drehte sich zu Tom um, der ihn ungläubig ansah. Es klingelte.

„Mach sofort die Tür auf!“, brüllte ein wütender Lars Klemens.

Jos ignorierte ihn und ging zu Tom, der über seine Schulter auf die Tür starrte.

„Du weißt, er wird es niemals dulden.“

Tom biss sich auf die Unterlippe, senkte den Blick.

„Wenn du mit ihm gehst, dann kommst du nicht wieder.“

„Nein, das ist nicht wahr. Ich muss mit ihm reden. Ich muss ihm und meiner Mutter die Chance geben, es zu verstehen.“ Er zuckte zusammen, als eine Faust gegen die Tür schlug.

„Jos?“, rief die Stimme seiner Mutter.

„Alles in Ordnung, Ma“, antwortete er und sah wieder Tom an. „Es ist für ihn nicht akzeptabel. – Wenn du willst, kannst du hierbleiben.“

„Jos“, sagte Tom und streichelte ihm durch das Gesicht. „Danke. Ich spreche mit ihnen. Ich muss das tun. Er ist nicht so, wie es jetzt aussieht. Darum wollte ich es ihm ja selber sagen.“

„Soll ich mitkommen?“ – Tom schüttelte den Kopf.

Es klingelte, zeitgleich schlug die Faust gegen die Tür. „Mach auf. Du weißt nicht, mit wem du dich anlegst, Junge.“

„Er wird es niemals hinnehmen.“ Jos schüttelte den Kopf. „Ich habe Angst, Tom. Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch, vertrau mir.“ Nach einem schnell Kuss ging Tom sich anziehen und Jos öffnete die Tür, sah dem erbosten Mann mit der erhobenen Faust ins Gesicht.

„Tom kommt gleich“, sagte Jos und schaffte es, den Mann freundlich anzulächeln. In seinem Inneren zog sich sein Magen jedoch eng zusammen.

 

Zehn Minuten später war Tom weg und Jos saß vor seinem Bett. Er wollte sich alleine nicht wieder hineinlegen. Lars Klemens würde seinen Sohn niemals freiwillig der Homosexualität und ihm überlassen. Was konnte er tun? Tom war volljährig, ging jedoch noch zur Schule. Ein Druckmittel würde also das Geld sein, auch, wenn er Tom Unterhalt gewähren musste, wäre es ein langer Weg diesen einzuklagen. Was würde er noch einsetzen? Die enttäuschte Mutter? Die enttäuschte Familie? Die Schande?

Jos stand auf und ging in den Übungsraum, schaltete die Musik ein und ließ Frust, Angst und Wut zu Tanz werden.

„Du bist unglaublich“, sagte seine Mutter, als er später erschöpft auf dem Boden lag. „Du musst tanzen, Jos, du musst dich über die Regeln hinwegsetzten. Du hast so viel Talent.“

„Hör auf“, sagte er müde. „Nicht heute, Ma.“ Stand auf und ging in Richtung Badezimmer.

„Es war Toms Vater. Er wird es nicht hinnehmen, dass sein Sohn mit einem schwulen Tänzer zusammen ist.“ Sie kam ihm mit dem Rollstuhl hinterher.

„Er wird es nicht hinnehmen, dass er schwul ist.“ Hilflos sah er sie an. „Es wird ihm etwas einfallen, Tom zur Vernunft zu bringen, und ich weiß nicht, ob ich das ertrage.“ Er streifte die Jogginghose ab und trat unter die Dusche. „Ich liebe ihn und die Vorstellung ihn zu verlieren, macht mich krank.“

Sophie sah auf den vernarbten Rücken ihres Sohnes. Wie viel hatte er schon verloren? Den Traum ein berühmter Tänzer zu werden, Sergej, der ihn jahrelang ergänzt hatte, seine Mutter, die nur noch ein Wrack war und ihn belastete… Wie sollte er noch einen Verlust ertragen? Und was konnte sie für ihn tun?

 

Seit Stunden schlich er durch das Haus, starrte auf sein Handy und wartete. Hoffte. Verzweifelte. Um 17:00 Uhr wählte er Toms Handynummer. Die Mailbox. Er schrieb eine SMS, ohne sich Hoffnung zu machen, dass er diese las. Noch nicht einmal die E-Mail-Adresse von Tom kannte er. – Allerdings seine Festnetznummer. Das Telefon läutete dreimal, dann meldete sich eine Frau, eine Angestellte. Höflich fragte er, ob er Tom sprechen konnte, doch genauso höflich wurde er abgewiesen. Tom sei nicht zu sprechen. Um 19:00 Uhr versuchte er es erneut, doch nur der Anrufbeantworter ging dran. Am Handy ging inzwischen nicht einmal mehr die Mailbox dran. Er würde bis morgenfrüh warten müssen. – Falls Tom zur Schule käme.

 

Er kam nicht. Dafür sahen ihn André und Florian die ganze Zeit provozierend an und tuschelten. Sie zu ignorieren, fiel ihm nicht leicht. Nach der Sportstunde saß er im Wagen und wusste nicht, was er tun konnte. Nach fast einer Stunde fuhr er zur Villa, parkte den Wagen und klingelte. Eine verzerrte Stimme fragte durch einen knarzende Leitung nach seinem Namen. Er sah in die Kamera über sich, sagte seinen Namen und das er Tom sprechen wollte.

„Es tut mir Leid, Herr Thomas Klemens ist nicht zu sprechen“, erwiderte die seelenlose Stimme.

„Ich werde nicht hier weggehen, bevor ich mit ihm gesprochen habe.“ Stur verschränkte er die Arme.

„Es tut mir Leid, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Herr Klemens ist nicht zu sprechen.“ Das Knarzen hörte auf.

Josua lehnte sich gegen die Mauer und blieb stehen. Nach einer Stunde setzte er sich auf den Boden, auch wenn es kalt war, er würde nicht gehen. Eher würde er sich den Tod vor diesem verdammten Tor holen.

Um 19:30 Uhr rollte ein BMW in die Auffahrt. Geräuschlos glitt das Fenster herunter und er sah in Lars Klemens überhebliches Gesicht. „Tom wird nicht mit Ihnen reden“, sagte er in seinem arroganten Tonfall.

„Gut, dann bleibe ich hier sitzen.“

„Das ist Privatgelände.“

„Der Bürgersteig? Zur Not setze ich mich mitten auf den Bürgersteig.“ Ihm war kalt und er war nicht zum Scherzen aufgelegt.

„Dann lasse ich sie von der Polizei abholen.“

„Weil ich auf dem Bürgersteig vor ihrem Haus auf meinen Freund warte? Mal sehen, was die Polizei oder die Presse dazu sagen.“ Gelassen erwiderte er den wütenden Blick des Mannes. „Ich will mit Tom sprechen. Wenn er mir sagt, dass ich gehen soll, dann gehe ich.“

„Er will aber nicht mehr mit Ihnen reden“, schnaubte Lars Klemens.

„Auch das will ich von ihm selber hören.“

Das Fenster glitt wieder geräuschlos hoch, das Tor öffnete sich und der Wagen fuhr auf den Hof. Josua blieb sitzen. Würde er überhaupt wieder aufstehen können? Sein Körper war durchgefroren.

„Jos?“ Die Stimme kam knarzend durch die Anlage.

„Tom!“ Er sprang auf und seine kalten Gelenke dankten es mit Schmerz.

„Jos, du musst gehen“, sagte Toms Stimme.

„Komm her und sag es mir ins Gesicht, Tom. Sag mir, dass du mich nie wieder sehen willst. Dass du die letzten sechs Tage gelogen hast. Dass ich ohne dich weggehen soll.“ Sein Blick hob sich zu der Kamera.

„Ich kann nicht. Geh einfach weg. Ich will dich…“ Knarzendes Schweigen. „Ich kann dich nicht mehr sehen.“

„Komm her und sag es mir ins Gesicht. Das bist du mir schuldig!“

„Ich bin dir gar nichts schuldig. Hau einfach ab! Verschwinde! Lass mich in Ruhe! – Kapierst du? Verpiss dich!“

„Nein, erst, wenn du hierher kommst. – Komm schon, das kann doch nicht so schwer sein. Ein paar Schritte über den Hof… Papa kann dich doch über die Kameras beobachten. Du sagst mir deinen Spruch noch einmal und ich gehe.“

Das Knarzen endet. Bestimmt sprach er jetzt mit seinem Vater. Würde der Arsch ihn gehen lassen? Und dann? Doch er musste Tom sehen, konnte nicht glauben, dass er ihn wirklich nicht mehr sehen wollte. Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen. Nicht, dass ihm davon viel wärmer wurde. Die Tür vor ihm öffnete sich mit einem diskreten Knirschen. Tom stand auf der anderen Seite und sah ihn an. Er sah einfach scheiße aus.

„Womit droht er dir? Was hält dich hier? Sag es mir, Tom und erspar mir den Quatsch, dass du mich belogen hättest oder mich nicht liebst.“ Gerne hätte er den anderen berührt, durch die wirren blonden Strähnen gestrichen.

„Es gibt nichts zu sagen, Josua. Ich habe gelogen. Ich…“ Groß sahen ihn die blauen Augen an. „Geh bitte. Mach es doch nicht schwerer als es ist.“

„Nein, Tom, ich werde dich nicht einfach aufgeben, weil dein Vater es will. Sag mir, womit er dir droht. Was kann er dir antun? Du bist volljährig, du kannst ganz alleine entscheiden, wo du lebst. – Mit wem du lebst.“

„Josua, wenn ich dir etwas bedeute, dann geh, bitte.“ Das war so ziemlich der einzige Satz, der ihn dazu bewegen konnte, zu gehen.

„Gut, ich gehe, wenn du es möchtest. Doch ich…“ Alle Kraft wich aus ihm und er spürte, wie die Wut der Trauer wich. Ungeduldig wischte er über seine Augen, wollte nicht vor dem Kameraauge dieses Mannes weinen. „Ich hoffe, mein – nein, unser Schmerz ist es wert.“ Er drehte sich um, spürte die Tränen in seinen Augenwinkeln, wollte nicht mehr verlieren. Tränenblind stieg er in den Golf, startete den Wagen und fuhr los.

 

***

 

Tom drehte sich um. Er hatte gehorcht, hatte dem Mann, den er liebte, das Herz gebrochen. Langsam ging er über den Hof zurück, betrat das kalte Haus und ging zur Treppe.

„Gut gewählt, mein Sohn. Und jetzt vergiss diesen ganzen Quatsch mit ‚ich bin schwul‘ mal schnell wieder. Du hast dich ausgetobt, okay, aber jetzt konzentrier dich wieder auf dein Abitur.“ Sein Vater lehnte unten an der Wand und sah ihn an. „Warum ausgerechnet ein schwuler Tänzer? Noch klischeehafter wäre nur der schwule Friseur gewesen.“

Am liebsten hätte er sich auf den grinsenden Mann geschmissen, der behauptete, sein Vater zu sein. Doch er musste Geduld haben, ein paar Tage nur, dann würde er sich aus dieser Farce von einer Familie verabschieden.

„Ein schwuler Friseur war leider nicht zu bekommen“, sagte er und ging weiter.

„Wie schön, dass du es mit Humor sehen kannst. – Und glaub nicht, dass du mich verarschen kannst, Junior. Du bleibst von diesem Kerl weg, wenn ich einmal höre, dass du mit ihm gesprochen hast, wirst du – oder besser er und seine Mutter – die Konsequenzen tragen müssen.“ Lars Klemens grinste. „Und das willst du doch bestimmt nicht, oder? Ich würde sie fertigmachen. Dieses Pack.“

„Ich weiß, du hast es mir deutlich gemacht. Ich werde ihn nicht sprechen, ja, ihn nicht einmal ansehen. Dein Bodyguard fährt mich zur Schule und holt mich ab. – Sollte ich es nicht tun, hast du genug Einfluss, um die Versicherungsgelder, die Sophie Rosenbaum bekommt und von denen die beiden leben, zu stoppen.“ Tom blieb am Ende der Treppe stehen. „Und du erfährst alles, auch wenn ich Josua nur zuzwinkere.“

„Ganz genau, Tom. Und das alles geschieht nur zu deinem Besten, weil du keine verdorbene Schwuchtel, sondern nur ein bisschen verwirrt bist.“

„Ja, ich werde dir bestimmt für immer dankbar sein.“ Mit schnellen Schritten entfernte er sich von der Treppe und ging in sein Zimmer. Wie konnte er mit Josua kommunizieren? Alles war verboten, kein PC, kein Handy, kein Telefon. Er würde sich etwas einfallen lassen müssen…

 

Jos war am nächsten Tag nicht in der Schule. In der zweiten Doppelstunde schaffte Tom es, sich neben Lena zu setzen. Wer immer in der Klasse von seinem Vater gekauft, war, würde alles beobachten, was er tat. Darum sagte er nichts zu ihr, sondern folgte nur dem Unterricht. Mit dem Pausengong und dem Einpacken vertauschte er schnell ihre Blöcke. Sie sah es, nahm es aber kommentarlos zur Kenntnis. Am späten Nachmittag hatten sie Physik zusammen und sie tauschte genauso geschickt den Block zurück. Nach dem Unterricht stieg er brav neben dem 2-Meter-Mann Klaus in den BMW und fuhr nach Hause. Ohne Murren oder Kommentar aß er mit seinen Eltern unter den forschenden Blicken seines Vaters zu Abend, ehe er sich in sein Zimmer verzog. Dort nahm er das Mathematikbuch vor und rechnete auf seinem Block verschiedene Aufgaben, als sein Vater hereinkam. Ohne etwas zu sagen, nahm er den Block und blätterte ihn durch. Tom sah ihm wortlos zu. Danach durchsuchte er seinen Taschen, die Mappen und Bücher, bis er endlich zufrieden war und das Zimmer verließ. Tom wandte sich wieder seinen Aufgaben zu. Erst um 22:00 Uhr, als er sich in sein Bett legte, nahm er den Zettel aus dem Futter seiner Jacke. Er kam sich vor wie James Bond.

Josua liegt mit einer schweren Erkältung zu Hause. Ich werde ihm deine Botschaft heute Nachmittag bringen. Gebe dir die Handys morgen in Geschichte.

Für ihn würde Lena das nie tun, aber für Josua. Auf seine Freunde - ehemaligen Freunde – konnte er sich nicht verlassen. Den kleinen Zettel knüllte er zusammen und schluckte ihn hinunter. Sicherlich würde sein neurotischer Vater sogar seinen Müll durchsuchen lassen. Hoffentlich war Lena bei Jos gewesen und hoffentlich vertraute er ihm.

 

***

 

„Du bist ein Idiot, Josua Rosenbaum“, schimpfte Lisa und stellte die Tasse heiße Zitrone auf seinen Nachttisch. Es war ihm völlig egal, wie sie ihn bezeichnete, er würde den nächsten Tag bestimmt nicht erleben, so schlecht wie es ihm im Moment ging. Zum ersten Mal seit er ein Kleinkind gewesen war, hatte er Fieber, seine Knochen schmerzten, seine Nase lief und ihm war schlecht. Sterben schien im Augenblick als annehmbare Alternative.

„Du hast Besuch. Ein Mädchen.“

Besuch? Mühsam versuchte er, seine Augen zu öffnen, und erkannte Lena, die sich auf einen Stuhl vor sein Bett setzte. „Mann, siehst du scheiße aus“, sagte sie wenig mitfühlend. Wenn ihm der Hals nicht so unglaublich wehtun würde, würde er sich dazu äußern, so konnte er sie nur aus trüben Augen ansehen.

„Ich wollte dir die Unterrichtsmaterialien bringen und…“ Erwartungsvoll sah sie ihn an. „Eine Nachricht von Tom.“

Eine Nachricht von Tom? Trotz allem Elend versuchte er, sich aufzusetzen, und sah sie erwartungsvoll an. Lena kramte einen Zettel aus ihrer Hosentasche und hielt ihn ihm hin. Kleine, krakelige Buchstaben verschwammen vor seinen Augen.

„Gib her, ich lese es dir vor. – Es tut mir Leid. Du musst mir vertrauen. Nur ein paar Tage. Egal, was ich sage oder mache, vertrau mir. Ich liebe dich. Tom – Ist das nicht romantisch?“ Lena sah ihn mit großen Augen an. Zum Glück musste er aufgrund seiner Halsschmerzen nicht antworten und streckte die Hand aus.

Lena legte den kleinen Zettel hinein, grinste ihn an. „Soll ich etwas von dir mitnehmen? Eine Liebesnachricht?“

So gern er sie hatte, in diesem Moment wünschte er sie zu Mond. Dies war kein großartiger Liebesroman, dies war real. Natürlich würde er Tom vertrauen. Immerhin war er sich sicher, dass Tom ihn liebte. Mit einem Kopfschütteln ließ er sich wieder auf sein Kissen gleiten, schloss die Augen und hoffte, dass Lena es verstehen und gehen würde.

 

***

 

Josua würde die ganze Woche nicht in den Unterricht kommen. Gut, dann war er nicht gezwungen, so zu tun, als sei er ihm egal. Mit den beiden Handys, die Lena in sein Rucksack geschmuggelt hatte, verschwand er auf der Toilette. Er musste an sein Konto, Gelder transferieren, ehe sein Vater ihm irgendetwas sperrte. Zum Glück hatte er vorgesorgt und andere Konten angelegt. Eigentlich war das ganze nur eine Fingerübung gewesen, um zu sehen, ob er seinem Vater das Geld unter der Nase weg auf andere Konten transferieren konnte. Er hatte es nie wirklich ausprobiert, da er es letztlich für albern hielt und seinen Vater nicht verärgern wollte. Manchmal wusste man nicht, wie der Alte reagieren würde.

Es war nicht einfach, die Transaktionen mit einem Handy durchzuführen, doch dadurch, dass er die Sim-Card, die er vor Monaten extra gekauft hatte, in dem zweiten Handy einsetzte, konnte er alles abwickeln. Nun musste er nur noch in die Stadt kommen…

Seine Mutter ließ sich überreden, mit ihm einen Einkaufsbummel zu machen. Fast wirkte sie so, als habe sie etwas gut zu machen. Tom war es egal. Stundenlang schlenderten sie durch die Geschäfte, tranken dann Schokolade in einem Café und er ging mal eben zur Toilette. Es dauerte zwanzig Minuten, das Geld abzuheben und zu verstauen. Genug, um erst einmal nicht auf seinen Vater angewiesen zu sein. Es war sein Geld, Geld, das ihm seine Großeltern vererbt hatten. Doch das würde den Alten kaum interessieren. Jetzt musste er es nur noch verabredungsgemäß Lena geben, die es zu Jos bringen würde.

Seine Mutter maulte ihn an, er habe so lange gebraucht. Durchfall, murmelte er und sie verzog das Gesicht. Eine Stunde später tauschte er mit Lena die Einkaufstasche und fuhr wenig später mit seiner Mutter nach Hause. Hoffentlich hatten die Wachhunde seines Vaters nichts mitbekommen!

Der Ärger fing an, als sie das Haus betraten. Sein Vater brüllte ihn an, wo das Geld geblieben sei und er schwieg. Stubenarrest, Internat und sogar Schläge drohte er ihm an, doch Tom schwieg. Letztlich schloss er ihn in sein Zimmer ein und versprach, dass er dort versauern könne, wenn er nicht sagte, was mit dem Geld geschehen sei.

„Habe ich Unicef gespendet“, antwortete er und bekam die angedrohte Ohrfeige. Egal, nie und nimmer würde der Alte sein Geld bekommen.

 

***

 

„Ich soll dir diese Tasche bringen. Du sollst sie sicher verstauen. Tom erklärt es dir in ein paar Tagen. Mehr weiß ich auch nicht“, sagte Lena und zuckte mit den Achseln. „Ich kam mir vor, wie in einem Spionageroman. Taschentausch in der Öffentlichkeit.“ Sie lachte. „Irgendwann musst du mir dann mal die ganze Geschichte erzählen.“

So beschießen wie er sich fühlte, so wenig verstand er, was Lena ihm erzählte. Bei seinem nächsten Gang ins Bad stellte er die Tasche, die Lena gebracht hatte in seinen Schrank, hinter seine Sporttasche unter eine alte Jogginghose und zwei ausgeleierte Sweatshirts. Vielleicht würde Tom ihm irgendwann erzählen, worum es hier eigentlich ging.

 

***

 

Woher wusste ein Achtzehnjähriger wie man Geld verschob, sodass es hinterher verschwunden war? Er lag auf seinem Bett und hörte Musik. Was immer sein Vater auch über ihn dachte, er war nicht blöd. Warum sollte er nicht in der Lage sein, sich die Vorgänge, die sie im großen durchzogen nicht auf das Kleine zu übertragen? Wie oft hatten sie in seiner Gegenwart geredet von Geldtransfusionen, von Konten an den verschiedensten Standorten, von verwischten Fährten und der Möglichkeit dieses Geld steuerfrei an dem Staat vorbeizuschieben. In ähnlicher Weise hatte er das Geld an seinem Vater vorbeigeschleust. Sollte er doch sehen, ob er es finden konnte.

Am Mittwoch durfte er nicht zur Schule. Als ob ihn das belasten würde. Stundenlang hatte sein Vater auf ihn eingeredet, ihn beschworen, verflucht und bedroht. Jetzt war er weg und Tom lag auf seinem Bett. Sein Zimmer hatten sie ausgeräumt, kein Fernseher, keine Konsolen, keine Musikanlage. Nur den iPod hatten sie übersehen. Auf dem Bett liegend übte er sich in Geduld. Das Einzige, was ihm Bauchschmerzen bereitete, war, dass er nicht wusste, was mit Jos war. Wie es ihm ging und ob er ernsthaft krank war. Während er dort lag, dachte er an den Film Psycho, an die Schlussszene, in der Norman Bates völlig durchgedreht in dem Zimmer sitzt und im Kopf mit sich redet, sich überzeugt, sich nicht zu bewegen, nicht die Fliege zu verjagen. So kam er sich im Moment auch vor: nur nicht bewegen, nur nichts verraten. Seine Gedanken drehten sich währenddessen beständig um Jos. Zum Glück konnten sie nicht in seinen Kopf schauen!

 

***

 

Samstag ging es ihm besser. So viel besser, dass er Fernsehen gucken wollte. Schlichte Berieselung, die ihn am Denken hinderte. Würde er Tom wiedersehen? Und wenn ja, wann? Tom… jetzt hatte er ihn schon vier – eigentlich fünf Tagen nicht mehr gesehen, nichts von ihm gehört oder Nachricht erhalten. Was war mit ihm? Ging es ihm gut? Was verlangten seine Eltern und würde er ihnen nachgeben? Wie sehr vermisste er ihn!

„Was siehst du, Jos?“ Seine Mutter rollte ins Wohnzimmer. „Wollen wir uns einen Filmabend machen? Irgendetwas lustiges oder eine Liebesgeschichte?“

„Liebesgeschichte? Ich weiß nicht, ob ich dazu in der Stimmung bin…“

„Komm schon, es gibt nichts Besseres gegen Liebeskummer, als einen traurigen Liebesfilm.“

„Was willst du dir ansehen? Love Story? Casablanca? Titanic?“, fragte er mit einem Lächeln.

„West Side Story“, schlug sie vor.

„Nein, vielleicht doch etwas lustiges.“

„Notting Hill?“ Sophie war zum Sofa gerollt und strich ihm durchs Gesicht.

„Ich bin für Tatsächlich Liebe, so viel Liebe wie möglich.“ Josua setzte sich auf und küsste ihre Handinnenfläche. „Ich mache Popcorn, du legst den Film ein.“

„Ein Eimer Popcorn bitte“, sagte sie lachend. „Ich muss nicht mehr auf meine Figur achten.“

„Dann natürlich Cola dazu.“

 

Eine viertel Stunde später lagen sie auf dem Sofa, Jos rechts, Sophia links, eine Kuscheldecke über die Beine gelegt, die große Schale voller Popcorn in der Mitte und jeder ein Glas Cola vor sich auf dem Tisch.

„Eigentlich ja ein Weihnachtsfilm“, sagte Sophie.

„Hm, so lange dauert es nicht mehr bis Weihnachten“, antwortete er träge.

„Was wünscht du dir zu Weihnachten, Josua?“

„Ich weiß es nicht. Dafür ist es noch zu lange hin – und eigentlich brauche ich nichts. Nichts Materielles.“ Er dachte an Tom. Gerne würde er Weihnachten mit ihm verbringen, das wäre schön. Hier im Haus, mit Sophie und vielleicht Lisa, einem Weihnachtsbaum bis unter die Decke, voller leuchtender Lampen. Sophie war fast immer über die Feiertage aufgetreten. Nicht, dass diese Weihnachtsfeste nicht schön – und speziell – gewesen waren, so wünschte er sich dieses Jahr ein stinklangweiliges, spießiges, völlig normales Weihnachtsfest. „Oder doch: Einen riesigen, geschmückten Weihnachtsbaum. Einen, der strahlt und leuchtet.“

Sophie sah ihn an, als zweifele sie an seinem Verstand. „Und Weihnachtslieder, Kartoffelsalat und Würstchen, sowie einen Besuch in der Kirche? – Josua, habe ich bei der Erziehung versagt?“

„Nein, Mama“, er sprach die Silben lang, fast getrennt aus, wie er wusste, dass sie ein normales Mama hasste. „Doch in diesem Jahr möchte ich es spießig normal haben.“

„Wenn es dich glücklich macht, Jos.“

„Und wir laden Lisa ein.“

„Sie hat bestimmt etwas anderes vor. Mit ihrer Familie. Oder ihrem Freund.“

„Du magst sie. Du willst sie nicht an dich herankommen lassen. Warum? Weil du dich nicht mehr attraktiv fühlst?“

„Hör auf mit dem Quatsch, Josua!“ Wütend funkelte sie ihn an. „Sie hilft mir, mehr nicht. – Und ich bezahle sie.“

„Wenn du meinst…“

„Du weißt es sicher besser.“ Sie funkelte ihn an.

„Ich habe Augen im Kopf. Du magst sie und sie mag dich.“

Sophie schnaubte. „Hör auf, Jos. – Was ist mit Tom?“

„Ich würde ihn gerne einladen, doch ich weiß nicht einmal, ob ich ihn wiedersehe. – Warum bedeutet er mir so viel? Allein der Gedanke daran tut weh.“

„Manchmal passiert das: Man trifft jemanden, an dem alles passt, der die Ergänzung der eigenen Person ist, wie ein Puzzleteil, das in ein anderes passt. – Nicht, dass es eine Garantie für die ewige Liebe ist“ fügte sie mit einem schiefen Lächeln hinzu.

„Ja, das trifft es ziemlich, wie zwei Puzzleteile…“, lachte Josua.

„Du bist doof“, sagte Sophie und schlug ihm auf den Oberschenkel.

„Nein, es stimmt, wir passen genauso zusammen. Er fehlt mir.“ Josua hielt ihre Hand fest. „Es ist verrückt, doch er fehlt mir.“

„Er wird kommen, denn er ist verliebt in dich.“ Sanft streichelte ihren Daumen über seinen Handrücken.

„Er würde kommen, wenn er es könnte.“

„Wenn er kommt, dann lass ihn nicht wieder gehen.“

„Auf keinen Fall!“

 

Es war nach 22:00 Uhr, Sophie war neben ihm eingeschlafen, als es an der Tür klingelte. Unwillig, sich aus der warmen Decke zu bewegen, knurrte er, doch es klingelte sofort erneut. Sophie brummte und Josua stand auf, ging zur Tür. Durch die Scheibe sah er einen ganz in schwarz gekleideten Mann, der die Kapuze gegen den Regen tief ins Gesicht gezogen hatte. Konnte das sein? Mit schnellen Schritten überbrückte er die Distanz und öffnete die Tür. Nass bis auf die Knochen sah Tom ihn an und grinste leicht. „Lässt du mich rein?“

Er zog ihn ins Haus und direkt in seinen Arm. „Tom! Wo kommst du her? Du bist völlig durchnässt.“ Zärtlich strich er eine feuchte Strähne aus dem schmalen Gesicht. „Du brauchst eine heiße Dusche – oder besser, eine heiße Badewanne.“ Entschlossen streifte er die schwere Jacke von Toms Schultern. „Bist du ins Wasser gefallen?“

„An einem See entlang gewatet“, antwortete Tom mit klappernden Zähnen.

„An einem See entlang, durchs Wasser? – Warte, sag nichts, du verschwindest jetzt erst in der Badewanne, ich mache dir eine heiße Zitrone und dann erzählst du.“ Sanft schob er den Jüngeren in das Badezimmer und ließ Wasser in die Wanne laufen, während er ihm half, die vor Nässe klebenden Sachen auszuziehen. Großzügig goss er Erkältungsbad in das heiße Wasser und schob Tom hinterher.

„Ich bin gleich wieder da. Entspann dich, ertrink aber nicht“, sagte er und küsste ihn leicht.

„Ich gehe nirgends hin. Hier ist es warm und gut“, erwiderte Tom mit geschlossenen Augen.

 

„Na, ein vorweihnachtlicher Wunsch in Erfüllung gegangen?“ Sophie hatte sich in den Rollstuhl geschoben. Josua hatte sofort ein schlechtes Gewissen, da er wusste, wie schwer ihr das fiel.

„Schau nicht so schuldbewusst, ich bin nicht ganz hilflos. – Kümmere dich um ihn. Es ist schwer, wenn die ganze Familie gegen einen ist.“ Sophie wusste, wovon sie sprach, ihr Vater war Uhrmacher, ihre Mutter Hausfrau. Ballettunterricht war in Ordnung für die Mittelstandsfamilie, doch als die Tochter Tänzerin werden wollte, da endete der Spaß. Verboten hatte sie ihr das Tanzen, darum war sie mit 13 Jahren abgehauen, natürlich war sie wieder eingefangen worden und musste von da an heimlich üben. Alles was Sophie wollte, war Tanzen, alles was ihre Eltern wollten, war es ihr zu verbieten. Sie lief immer wieder weg und bekam die Chance zu tanzen. Von dem Tag an ging ihr Stern auf, sie tanzte, sei war ein Naturtalent, flog regelrecht über die Bühne. Sie ging ihren Weg, gegen ihre Eltern.

„Ich weiß. – Soll ich dir helfen?“

„Nein, geh zu ihm, Jos.“

Jos beugte sich herunter und küsste sie auf die Wange. „Danke, Mama.“

 

Wenig später kam er mit einem Glas heiße Zitrone in das Bad. Mit geschlossenen Augen lag Tom in der Badewanne. Josua setzte sich auf den Rand, betrachtete das schmale Gesicht. Die Haut war wieder makellos und blass. Die hellen Wimpern waren unverschämt dicht und lang, die Nase gerade und schmal, die Unterlippe sanft geschwungen. Er legte seine Hand an Toms Wange und streichelte mit dem Daumen über die weichen Lippen, die sich leicht öffneten, dann biss Tom sanft hinein. „Komm rein“, flüsterte Tom und Jos lächelte.

„Ich zieh mich aus und du trinkst die heiße Zitrone aus“, sagte Josua und gab ihm das Glas. Tom legte seine Hände um das Glas und sah ihm unter halbgeschlossenen Augenlidern hervor an. „Dann will ich aber auch etwas sehen.“

 

***

 

Jos lachte und begann sich langsam auszuziehen, streifte das Shirt über den Kopf. Der Anblick seines sehnigen, muskulösen Oberkörpers ließ ihn die Luft tief einatmen. Die schlanken Hände fuhren unter den Hosenbund, schoben die Hose über seine Hüften. Tom nahm die Hände hoch und strich durch seine Haare, die vorwitzigen Strähnen zurück, die in seine Stirn hingen. Sein Mund war trocken und sein Blut sammelte sich in seinem Unterleib. Er streckte die Hand aus und Jos nahm sie, ließ sich von ihm in die Wanne ziehen. In dem warmen Wasser kniete er sich zwischen Toms Beine. Tom legte die Hände auf seine Schultern, Jos kam ihm entgegen und sie küssten sich.

„Du hast mir gefehlt“, flüsterte Jos in den Kuss.

„Du mir auch“, erwiderte Tom und zog ihn dicht an sich, legte den Kopf schief und sie küssten sich intensiv, suchten so viel Körperkontakt wie möglich, rieben sich aneinander. Das Feuer breitete sich rasend in ihm aus und er keuchte, stöhnte Jos‘ Namen, als er endlich seine Hand um ihn schloss. Er verlor alle Bodenhaftung, klammerte sich an den Körper über ihm, stieß mit der Hüfte in die Faust und flehte abgehackt. Jos gab ihm, was sein Körper verlangte, schnell und schnörkellos. In seinem Inneren ballte sich die Energie zusammen, bis sie sich in einer unglaublichen Explosion entlud.

„Na, Baby, langsam war mal wieder nicht möglich“, flüsterte Jos in sein Ohr und er wurde rot.

„Entschuldige“, murmelte er.

„Quatsch! Fang nicht wieder damit an. Ich liebe es, dich anzusehen, wenn du kommst. Das ist unglaublich geil!“ Jos küsste ihn. Tom legte seine Hand in Jos‘ Nacken und zog ihn heran, während er begann, ihn zu streicheln, über die harte Bauchmuskeln, tiefer, bis er seine Erektion umschloss. Jos stöhnte in den Kuss, gab sich seinen Händen hin und es dauerte nicht lang, bis er über die Klippe stürzte. Erschöpft lagen sie gemeinsam im kälter werdenden Wasser, die Arme umeinander geschlungen.

„Komm, wir wechseln ins Bett“, sagte Jos und schob sich aus der Wanne, während er den Stöpsel heraus zog. Tom knurrte unwillig. „Los, komm, das Wasser wird kalt. Du musst in ein kuscheliges Bett.“

„Nur wenn du dicht neben mir liegst.“

„So dicht wie möglich.“

 

„Der Alte wollte mich nicht gehen lassen“, erzählte Tom, als er in Jos‘ Arm lag. „Er hat mich eingeschlossen und einen Therapeuten angerufen. – Um mich heilen zu lassen.“ Ein heiseres, tiefes Lachen. „Er ist ein Arsch und hat nichts verstanden. – Ich wusste, dass ich abhauen musste, doch nicht ohne Kohle. Meine Großeltern haben mir 25.000 Euro vererbt, ohne die wollte ich nicht gehen.“ Er genoss die zärtlichen Berührungen mit denen Jos über seine Schulter strich. „Lena hat mir zwei Telefone besorgt und ich habe das Geld über etliche Konten verschoben, um es letztlich von der Bank um die Ecke abzuheben. Danach die Nummer mit dem Taschentausch und jetzt müsste es bei dir sein.“

„In der Tasche war Geld? 25.000 Euro? Das hättest du mir früher sagen sollen“, sagte Jos und er knuffte ihn in die Seite.

„Der Alte hat es natürlich gemerkt und mich in mein Zimmer gesperrt. Er wollte mich erst wieder hinaus lassen, wenn ich Vernunft annehme. – Und damit meinte er das Geld, nicht mich.“ Tom schnaufte abfällig. „Die Mauer, die das Grundstück umgibt, hast du gesehen. Es ist schwer, dort ungesehen hinüberzukommen. Hinter dem Haus ist ein kleiner See. Der Strand wird kameraüberwacht. Es war nicht einfach, die Tür von meinem Zimmer aufzubekommen. Wenn mir nicht Rosa, die Tochter der Köchin, geholfen hätte, wäre ich nicht hinausgekommen. Schnell über die Wiese, durch den See drei Grundstücke weiter. Von dort zu Fuß bis hierher.“

„Hat dich keiner gesehen?“

„Natürlich, ich musste schnell sein. Von dem Moment, wo sie mich sahen, musste ich mich echt beeilen. Mein Vorteil war, dass das Grundstück, bei dem ich aus dem Wasser gekommen bin, nicht direkt mit dem Auto zu erreichen ist. Bis sie dort waren, war ich schon wieder weiter.“ Tom gähnte und kuschelte sich tief in Jos‘ Arm. „Auf jeden Fall hat es sich gelohnt.“

„Woher weißt du, wie man Geld verschiebt?“

„Man hört so einiges“, brummte Tom. „Morgen, jetzt will ich nur noch schlafen. – Neben dir schlafen.“

„Das klingt gut.“ Jos küsste in auf die Stirn. „Schlaf gut.“

„Hm, du auch.“

 

***

 

Die Türklingel! War nicht Sonntag? Wer würde Sonntag um… 6:05 Uhr klingeln? Tom knurrte unwillig und Jos musste lächeln. Aus dem Bett steigen, Jogginghose, T-Shirt an und zur Tür wanken, während er sich die müden Augen rieb. Anzugträger. Das konnte auch am Sonntagmorgen nichts Gutes bedeuten. Josua öffnete die Tür und sah in das wutverzerrte Gesicht von Lars Klemens.

„Wo ist er?“ Eisige blaue Augen musterten ihn von oben bis unten.

„Schläft noch“, antwortete er und erwiderte ruhig den Blick.

„Ich will ihn sprechen. Hol ihn her!“

„Nein.“ Auf Befehle hörte er grundsätzlich nicht.

„Ich muss meinen Sohn sprechen.“ Lars Klemens machte Anstalten, sich an ihm vorbei zu drängen, doch er hielt die Tür fest. „Ich will meinen Sohn. Er gehört nicht in dieses…“ Sein Blick schweifte über das Haus. „Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Auf jeden Fall ist das nicht die Welt meines Sohnes. Wenn du also brav bist, dann bleibt alles, wie es ist. Bist du nicht kooperativ, wird es finanziell wohl etwas eng für deine Mutter werden in den nächsten Wochen. Ob sie sich dann noch ihre Therapien wird leisten können…“

Bevor Jos antworten konnte, tauchte Tom neben ihm auf. Die blonden Haare vom Schlaf verwuschelt, nur in einer Jogginghose, die ihm zu lang war und auf seine Hüften hing. Die blauen Augen sprühten Funken.

„Spinnst du?“, fuhr er seinen Vater an. „Wenn du nicht sofort verschwindest, dann erkläre ich mal der Steuerbehörde, wo du deine Gelder anlegst.“

„Thomas…“

„Nein!“

Jos konnte die Spannung in Tom spüren, die Wut, die er nur mühsam unterdrückte.

„Du hörst mir jetzt zu. Wenn du jetzt nicht deine Sachen nimmst und nach Hause kommst, dann brauchst du nie wieder zu kommen. Dann habe ich keinen Sohn mehr.“ Lars Klemens trat vor. „Du brichst deiner Mutter das Herz.“

„Das glaubst du doch selber nicht. Euch bin ich völlig egal. Sie rennt dann eben noch mehr zu Professor Bittermann und du dir fällt es sowieso nicht auf, ob ich da bin oder nicht. So oft wie du unterwegs bist“, konterte Tom. „Du kannst mich gerne rausschmeißen, aber ich brauche einige meiner Sachen. Meine Schulsachen und etwas zum Anziehen.“

„Tom, komm zur Vernunft. Natürlich lieben wir dich“, sagte Lars Klemens und die Wut verschwand aus seinem Blick. „Es ist für uns auch nicht immer leicht. – Aber das ist doch kein Grund, sich…“Sein Blick ging zu Josua und er atmete durch. „Wenn es nur ist, um uns zu schockieren…“

„Was?“, fragte Tom und fixierte seinen Vater.

„Na ja, wenn nur deswegen mit einem Mann…“

„Nein!“ Tom lachte auf. „Du glaubst, ich gehe mit Jos ins Bett, um dich zu schockieren?“ Lars Klemens zuckte kurz zusammen, als Tom seinen Arm um Jos Taille legte. „Ich liebe Jos, darum ist mir egal, was du darüber denkst, oder, womit du mir drohst. Lass mich meine Sachen holen und anschließend kannst du jedem erzählen, dass du keinen Sohn mehr hast.“

Jos legte seinen Arm um Tom, spürte die kalte Haut unter seinen Fingern. Die Hand an seiner Taille verkrampfte sich.

„Bitte, Tom, denk darüber nach. Komm nach Hause. Du bist nicht – so, das ist sicher nur eine Phase, du bist verwirrt und sicher haben wir dich…“

„Hör endlich auf! Es ist keine Phase. Entweder findest du dich mit dem Gedanken ab, dass ich mit Jos zusammen bin oder du verschwindest.“

Lars Klemens sah von seinem Sohn zu Jos. „Ich lasse dir deine Sachen bringen. Wenn du noch einmal zur Vernunft kommst, dann kannst du dich bei mir melden.“ Er drehte sich zum Gehen, stockte und wandte sich noch einmal um. „Glaub nicht, dass ich dir das hier bezahle. Keinen Cent bekommst du von mir.“

„Verschwinde. Du kannst es dir vielleicht nicht mehr vorstellen, aber es gibt wichtigere Dinge als dein verdammtes Geld!“, rief Tom ihm hinterher.

Ohne sich noch einmal umzudrehen, stieg Lars Klemens in den schwarzen BMW und fuhr los.

Jos schloss die Tür, zog Tom in seinen Arm, der lehnte den Kopf gegen seine Schulter und schlang beide Arme um ihn. All die wenig netten Bezeichnungen für Toms Vater, die ihm durch den Kopf gingen, behielt er für sich, streichelte nur sanft über den Rücken des Jüngeren. In seinem eigenen Leben war ihm zwar oft von außen, von Leuten wie André und Florian Ablehnung und Hass entgegengebracht worden, auf seine Mutter hatte er sich jedoch immer verlassen können. Sophie war bestimmt nicht die beste aller Mütter, aber sie war immer für ihn da gewesen, wenn er Probleme hatte. Nie gab es für ihn Zweifel, dass sie ihn liebte.

„Lass uns ins Bett gehen, mir ist kalt“, flüsterte Tom und er nickte.

 

***

 

„Immer habe ich versucht, so zu sein, wie sie mich haben wollten. Erfolgreich in der Schule, beliebt, sportlich… Nie habe ich ernsthaft Ärger gemacht, keine Drogen, keine Alkoholexzesse, kein Mädchen geschwängert.“ Tom hielt sich an Jos fest und wurde von ihm festgehalten. „Nie war es genug, nie haben sie mich wirklich wahrgenommen. – Bei meiner Mutter war das früher noch anders, als sie innerlich noch bei uns war, doch seit sie zu Professor Bittermann geht, dreht sich ihr Leben nur noch um sie und ihre Seele.“ Tränen stiegen in ihm auf, er wollte sie nicht, wollte sich nicht so schwach fühlen. „Immer wollte ich, dass sie mich sehen…“

„Dich lieben“, flüsterte Jos in sein Haar.

„Lieben? Manchmal denke ich, dass können sie beide nicht: lieben“, sagte er resigniert. „Sie lieben bestenfalls sich selber und mein Vater noch seine Kohle.“

Eine Zeit lang lagen sie schweigend nebeneinander, hielten sich fest, dann hob Tom seinen Kopf, küsste Jos. Erst zart, kaum zu spüren, dann intensiver. Ihre Körper rückten aneinander heran, immer dichter, in dem Wunsch sich so nah zu kommen wie möglich. Hände fingen an zu wandern, zu erkunden, zu liebkosen. Der Atem ging keuchend, wenn sie schafften, ihre Lippen voneinander zu lösen. Jos ließ von Toms Lippen, küsste seinen Hals, das Schlüsselbein, leckte über das Brustbein, bis er die Brustwarzen erreichte, saugte und biss so sanft hinein, dass Schmerz und Lust sich vermischten. Seine Hand streichelte über die angespannten Bauchmuskeln, ignorierte Toms harte Erektion, schloss sich um seine Hoden, massierte diese, während sein Mund sich tiefer küsste, bis er seine Lippen um die Eichel legte. Tom brannte, wimmerte leise, als die Lippen über die ganze Länge glitten und die Erektion tief aufnahm, wieder hoch glitt und das Ganze wiederholte. Lippen, Zunge und Zähne reizten, erregten ihn. Doch bevor er fallen konnte, hörte Jos auf, umschloss seine Hoden mit den Lippen, saugte sie abwechselnd ein. Sein Rücken bog sich durch, er bestand nur noch aus Erregung. Der Mund wanderte weiter, während sich Jos‘ Hand um seine Erektion legte, drückte er Toms Beine hoch, widmete sich der kleinen Rosette. Für einen Moment versteifte Tom sich, dann gab er sich der vorsichtigen Liebkosung hin. Ungewohnt und fremd, doch auch erregend waren die Signale, die sein Körper sendete. Ein Deckel knackte, warum fragte er sich nicht, dann spürte er kühle Feuchtigkeit und etwas – ein Finger durchdrang den engen Muskelring. Zeitgleich wurde das Pumpen der Hand stärker, ließ ihn erneut wimmern. Er kannte die Töne, die ihm ungewollt über die Lippen kamen, nicht, konnte sie aber auch nicht unterdrücken. – Wollte es auch gar nicht. Der Finger war tief in ihn eingedrungen, fand einen Punkt in ihm, der Lust gleich eines elektrischen Schlages durch in jagte. In ihm formte sich die Erregung zu einer geballten Kraft. Keuchend zog er die Beine an, wollte mehr davon. Eine glitschige warme Hand massierte seine Erektion, Finger drangen in ihn ein, trieben ihn höher als er jemals war. Er bettelte, flehte, wollte mehr, viel mehr. Wollte kommen – und ewig in diesem Zustand verharren. Die Finger reizten ihn intensiver, die Hand massierte ihn fester und es gab kein Halten, alles in ihm explodierte und der Orgasmus schleuderte ihn in das Universum. Seine Hände verkrampften sich, er spürte nicht, wie sich seine Hand in Jos Schulter krallte. Zuckend ergoss er sich, sein Körper schnellte hoch und er stöhnte Jos‘ Namen. Leicht und leer wie die Hülle eines Luftballons kam er wieder auf die Erde zurück, spürte Jos sanfte Küsse und die Arme, die ihn hielten.

„Ich liebe dich, Tom“, flüsterte Jos ihm in das Ohr. „Du bist unglaublich.“ Im Moment fühlt er sich auch unglaublich. Es gab keinen Ausdruck für das, was er fühlte. Als Jos sich neben ihm bewegte, spürte er dessen Erektion, die an seine Hüfte stieß. Wieder war er egoistisch gewesen! Doch Jos und seine Hände trieben ihn in den Wahnsinn. Er richtete sich auf den Ellenbogen auf und begann mit den Fingern über Jos‘ Körper zu streichen. Sofort stöhnte der andere. Jos‘ Gesicht nicht aus den Augen lassend, erkundete er den schlanken Körper. Jede Reaktion nahm er in sich auf, jedes Schaudern, Zittern und Stöhnen, das seine Hände dem anderen entlockten. Er schob sich zwischen Jos‘ Beine, streichelte die empfindlichen Innenseiten seiner Beine, umschloss mit dem Mund die Erektion, die sich ihm erwartungsvoll entgegen reckte. Jos stütze sich auf seine Ellenbogen und sah ihm zu, die grau-blauen Augen glänzten vor Erregung, sein Atem ging keuchend und schnell. Während er Jos betrachtete, spürte er seine eigenen Erregung wieder wachsen. Seine Hände drangen tiefer vor, bereitwillig öffnete Jos seine Beine, ließ ihm Platz. Die Tube mit dem Gleitgel lag noch neben ihm und er verteilte etwas auf seinen Händen. Es war ein glitschiges Gefühl, als er den Schaft, die Hoden und die Spalte vor sich massierte. Aufregend, erregend und sein eigenes Glied war schon wieder steif. Jos legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen, als er den richtigen Punkt traf, zog die Beine an.

„Komm, Baby, schlaf mit mir“, raunte er in einer tiefen Stimme, die Tom erzittern ließ. Er kramte ein Kondom aus der Schublade und zog es über, ehe er sich noch näher schob, vorsichtig und langsam eindrang. Obwohl er gerade erst gekommen war, hatte er das Gefühl, es in der engen Wärme nicht lange aushalten zu können. Schon gar nicht, wenn er auf Jos sah und dieser mit tiefer Stimme seinen Namen stöhnte. Das war zu geil!

Als Jos sich aufbäumend unter ihm ergoss, kam er auch noch einmal, bevor er zusammenbrach. Keuchend blieb er auf ihm liegen. Mit keinem Mädchen war Sex so unglaublich gewesen! Nachdem er vorsichtig das Kondom entfernt hatte, legte er sich neben Jos, der nur den Arm ausstreckte. Schnell kam er der Aufforderung nach und kuschelte sich an Jos.

„Lass uns noch eine Runde schlafen.“ Jos drehte sich so, dass sie sich an der Stirn berührten. „Ich bin erschöpft. – Du hast mich fertiggemacht.“

„Wer hier wen fertigmacht“, brummte Tom, nahm Jos‘ Hand und ließ sich in den Schlaf gleiten.

 

***

 

Am Nachmittag klingelte es wieder an der Tür. „Ich geh schon“, rief Lisa, Jos und Tom arbeiteten am Computer, während Sophie im Wohnzimmer vor dem Fernseher saß.

Jos hörte die lauten Stimmen vor der Tür und spitzte die Ohren. „Was ist das?“, fragte Lisa gerade. „Wer sind sie?“ – Jemand antwortete unwirsch.

„Ich geh mal eben schauen, was dort los ist“, sagte er und stand auf. Im Flur stapelten sich Taschen und Kisten. Jos ahnte sofort, worum es ging. Mit wenigen Schritten war er an der Tür. Davor stand ein Chauffeur und lud eine letzte Tasche aus dem Wagen. Vor Jos blieb er stehen, hielt ihm die Tasche hin. Seine grauen Augen sahen ihn ausdruckslos an. Automatisch nahm er die Tasche. Der Chauffeur drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ging.

Jos wandte sich um, blickte in Toms bleiches Gesicht. „Er hat meine Sachen gebracht.“ Das war weder eine Feststellung, noch eine Frage, die Aussage stand einfach so im Raum. Jos ließ die Tasche fallen, zog ihn in seine Arme, hielt ihn einfach fest.

„Tom?“ Sophie stand im Rollstuhl in der Tür. Er löste sich aus der Umarmung und drehte sich zu ihr um. „Du bist bei uns herzlich willkommen. – Und damit du dich mal zurückziehen kannst, wenn dir Jos auf den Nerv geht, kannst du dich im Gästezimmer einrichten.“

Tom starrte sie an. „Ich meine, vielleicht brauchst du einen Platz für deine Sachen und wir würden uns freuen, wenn du…“ Bevor sie weiterreden konnte, ging Tom zu ihr und umarmte sie. Sie legte ihre Arme um ihn. „Danke“, sagte er leise.

„He, Jos liebt dich. Wie kann ich dich nicht lieben? Und wie könnten wir dir nicht ein Heim anbieten?“

„Hör auf, Ma, sonst lauft Tom gleich wieder weg.“ Er trat dazu und nahm Toms Hand. „Fühl dich einfach wie zu Hause.“

 

„Ich kann nicht glauben, wie sich mein Leben in den letzten Tagen, Wochen, verändert hat. Ich liebe einen Mann und schlafe mit ihm. Mein Vater hat mich deswegen hinausgeworfen. Und meine ehemals besten Freunde hassen mich. Echt krass.“ Tom lag auf dem Boden und sah Jos zu, der sich dehnte.

„Ja, manchmal verändert sich das Leben von heute auf morgen. Manchmal verändert es sich nie.“

„Oh, wie philosophisch.“ Tom kicherte.

„Mein Leben, dein Leben. Wie von einem Tornado erfasst, durchgeschüttelt und wieder abgesetzt, von jetzt auf gleich. – Und das Leben deiner Mutter? Wie lange plätschert es schon vor sich hin? Erstarrt in scheinbarer Bewegungslosigkeit.“

„Okay, wenn du es so betrachtest… Und mein Vater?“

„Ich weiß nicht. Es stagniert, er will keine Veränderung, keinen Tornado. Mit Händen und Füßen wird er den Zustand verteidigen.“

Tom bewunderte die Beweglichkeit seines Freundes. Er liebte es, ihm zuzusehen, sein Körper während der Bewegung, während des Tanzes. Die klassische Musik, die Jos an diesem Nachmittag gewählt hatte, war ihm fremd, gefiel ihm aber gut. Die Zeit verging schnell und Jos legte sich neben ihn auf dem Rücken, ein leichter Schweißfilm überzog den schlanken Körper. Tom beugte sich über ihn und betrachtete ihn. Er roch nach Schweiß, guten frischen Schweiß. Erstaunlicherweise ein angenehmer Geruch, der ihn anmachte. Mit der Fingerspitze seines rechten Fingers umkreiste er die Brustwarzen, die er unter dem knappen Muskelshirt erkennen konnte. Jos streckte seine Arme über den Kopf, schloss die Augen. Tom führt mit seiner Fingerspitze über den ganzen Körper, zeichnete seine Konturen nach. Dann küsste er Jos. „Du machst mich verrückt. Ich kann meine Finger nicht von dir lassen.“ Jos lachte tief. „Tu dir keinen Zwang an.“

 

***

 

Bis Mittwoch verlief alles ruhig. Keine zerstochenen Reifen, keine Schikane. Obwohl sich die beiden sicher waren, dass dies nur eine kurze Ruhephase war, genossen sie die Ruhe. Auf Drängen des „Clubs der Loser“, wie sich Lena und die anderen nannten, wollte Jos am Donnerstag mit Unterstützung von Tom eine Art Fitnessstunde geben. Am Mittwochabend entwarfen sie unter viel Gelächter einen Plan für diese eineinhalb Stunden.

„Viel zu anspruchsvoll“, sagte Tom und setzte sich auf den Boden. „Entweder brechen sie sich etwas oder sie verknoten sich.“

Jos setzte sich neben ihn. „Das ist schwer. Beim letzten Mal war es einfacher, da wusste ich, was ich machen musste.“

„Komm, du kannst das. Wenn nicht du, wer dann?“

„Danke für dein Vertrauen“, lachte Jos und rollte sich über ihn.

Sie rangelten miteinander, rollten über den Boden, küssten sich zwischendurch, kitzelten sich, bis Jos auf Toms Oberschenkeln saß und seine Arme rechts und links neben seinem Kopf festhielt.

„Gibst du auf?“, fragte Jos und beugte sich hinunter.

„Niemals“, keuchte Tom und schüttelte den Kopf, bäumte sich auf, versuchte, Jos abzuwerfen. Eisern hielt Jos ihn fest. Statt sich zu befreien, erhöhten seine Versuche, die Reibung zwischen ihnen und damit die Erregung. Sie keuchten nicht mehr vor Anstrengung, sondern vor aufkeimender Lust. Jos beugte sich tiefer, bis seine Lippen nur noch Millimeter von Toms entfernt waren. Tom lag still, wartete auf die Berührung, als sie nicht kam, überbrückte er den Abstand und küsste Jos fordernd, wild, ungestüm. Biss dabei in seine Unterlippe. Jos antworte, der Kuss wurde immer leidenschaftlicher. Das Becken kreisen lassend heizte Jos ihre Erregung immer mehr an. Immer wieder lösten sie sich nur kurz, um zu Atem zu kommen. „Schlaf mit mir“, flüsterte Tom so leise zwischen zwei Küssen, dass Jos sich nicht sicher war, ob er richtig gehört hatte. Er unterbrach den Kuss, sah Tom an, suchte in seinem Blick die Bestätigung.

„Schlaf mit mir“, wiederholte Tom unwesentlich lauter.

Bist du sicher, wollte… konnte er nicht fragen. „Komm“, sagte er und stand Toms Hand greifend auf. Sie gingen in Jos‘ Zimmer, blieben an der geschlossenen Tür stehen, küssten sich. Jos löste sich. „Soll ich lieber erst duschen?“ – „Keine Zeit“, flüsterte Tom und zog ihn in den nächsten Kuss. Langsam näherten sie sich ihre Kleider abstreifend dem Bett, fielen zusammen darauf. Jos küsste sich über Toms Körper, hielt sich an jenen Punkten länger auf, die Tom keuchen ließen, bis er zwischen Toms Beinen kniete. Er betrachtete den muskulösen Körper vor sich, die zarte, helle Haut, haarlos bis auf jene verführerische Spur, die genau zu seinem hochaufgerichteten Glied führte. Blaue Augen, die ihn erregt und vertrauensvoll ansahen. Seine ganzen Erfahrungen hatte er mit Sergej gemacht, weder vorher noch nachher hatte er mit einem anderen Mann Sex gehabt. – Nur mit Tom. Seine Hände streichelten zart über die Innenseiten der Beine, sein Mund senkte sich und umschloss die Eichel. Ein leises Seufzen war die Antwort. Mit einer Hand tastete er nach dem Gleitgel, das auf dem Nachttisch stehen müsste. Er wollte seinen Mund, seine Aufmerksamkeit nicht von Tom lösen. Die Tube wurde ihm in die Hand gedrückt und ein Blick zeigte ihm Toms verschmitztes Lächeln. Das Gel wärmte er erst in der Hand an, dann widmete er sich Toms Hoden, massierte sie leicht, nicht zu sanft, ehe er tiefer wanderte und die Rosette berührte. Tom spannte sich an und er strich erst einmal nur darüber, streichelte mit leichtem Druck den Bereich. Sein Mund beschäftigte sich wieder stärker mit Toms Erektion, was diesen keuchen und sich entspannen ließ. Sofort durchdrang er den Muskelring, suchte mit sanfter Reibung seine Prostata. Er wusste von Sergej, dass nicht jeder Mann gleich stark auf die Berührung reagierte, dass manche allein durch die Stimulation dieses Punktes kommen konnte, andere dieser Reiz kaum erregte. Tom keuchte auf, als er ihn dort berührte. Alle Verspannung wich augenblicklich, er zog die Beine weiter an. Ein zweiter Finger und kurz darauf ein dritter sollten für die nötige sanfte Dehnung sorgen. Zum Glück hatte er kein übermäßig dickes oder langes Glied. Normal und damit schon eine Herausforderung für einen so kleinen Eingang. Tom stöhnte und wand sich unter seinen Zärtlichkeiten. „Bitte, Jos“, flehte er immer wieder. Er musste sich kurz von Tom lösen, um das Kondom überzustreifen und entsprechend mit Gel zu versehen. Dann schob er Toms Beine weit auseinander und begann in ihn einzudringen. Es war unangenehm, fremd und er wusste, sah es auch in Toms Gesicht, dass er ihn am liebsten wegschieben würde. Sich von diesem Druck befreien wollte, der immer größer wurde. Doch er sagte nichts, sah ihn aus seinen blauen Augen nur unverwandt an. Jos beugte sich runter, küsste ihn, schob sich ganz in ihn, verharrte. Dann umschloss seine Hand wieder Toms Glied, das schlaff geworden war, streichelte ihn härter, während sein Mund ihn immer fordernder küsste. Tom kam ihm entgegen, erwiderte seinen Kuss ungestüm. Als sein Glied wieder hart und erigiert in seiner Hand lag, fing er an, sich langsam zu bewegen, auch wenn es ihm schwerfiel. Er versuchte Reibung auf Toms Prostata zu bringen. Tom begann zu keuchen, nahm den Rhythmus seiner Bewegungen auf, antwortete ihm und schlang wimmernd die Arme um seinen Nacken. Die Enge in der er sich bewegte, der Anblick, die Töne, die Tom von sich gab, trieben ihn höher und er spürte, dass er sich nicht mehr lange beherrschen könnte. „Komm, Baby“, flüsterte er und die Reaktion kam umgehend. Tom stöhnte seinen Namen, warf den Kopf zurück und pumpte sein Sperma zwischen ihre Körper. Die Kontraktionen seines Körpers ließen Jos folgen, er spürte die Welle, die ihn mitriss, alles andere nebensächlich machte und verschwinden ließ in diesem unglaublichen Gefühl.

Es dauerte einen Moment, bis er wieder zu Atem kam. Vorsichtig zog er sich zurück und entsorgte das Kondom, ehe er sich neben Tom rollte, der immer noch die Augen geschlossen hatte.

„Alles in Ordnung?“, fragte er leise, küsste ihn auf die verschwitzte Stirn.

„In Ordnung? Nein, es ist alles wunderbar, fantastisch und mein Kopf ist leer und findet keine Adjektive mehr.“ Seine Arme schlangen sich um Jos. „Danke. Das war unglaublich.“

„Ich habe zu danken“, antwortete Jos leise lachend. „Du bist unglaublich. Ich brauche dich eigentlich nur anzusehen, wenn du kommst, das ist so geil.“

Tom errötete und schnaubte leise. „Spinner.“

 

Der Donnerstag wurde ein voller Erfolg. Es waren ungefähr 20 Schülerinnen und Schüler, die um 20:00 Uhr in der Sporthalle auftauchten. Gemeinsam erarbeiteten Sie sich das Programm der eineinhalb Stunden und alle waren begeistert und sich einig, sich am nächsten Donnerstag wieder zu treffen.

Jos und Tom kamen mit Becky als letzte aus der Sporthalle. Becky schloss die Tür ab, drehte sich zu den beiden um. „Das war großartig, danke“, sagte sie und winkte ihnen zu. Jos legte den Arm um Toms Schultern und gemeinsam gingen sie zum Auto. Als sie um die Ecke kamen, sahen sie die sieben Gestalten am Golf lehnen. Sie blieben stehen und sahen auf die Sieben, die sich von dem Golf lösten und auf sie zukamen.

„Unsere beiden Schwuchteln“, sagte Sören und baute sich einen Schritt vor ihnen auf. „Wir dachten, wir treffen euch mal ohne eure Loser-Freunde, hinter denen ihr euch versteckt.“

Jos spürte Toms Zittern, schob sich einen Schritt vor den Jüngeren. „Was wollt ihr?“

„Euch nicht mehr sehen. Ihr seid pervers, abartig. Dreckige Schweine!“, sagte André mit einem angeekelten Ausdruck im Gesicht.

Jos erwiderte nichts, sah ihm nur in die Augen.

„Na, was nun, ihr beiden Turteltäubchen?“ Die sieben verteilten sich um sie herum. „Wollt ihr jetzt mit Wattebäuschchen werfen?“ Er trat noch einen Schritt näher und stieß Jos mit dem Finger vor die Brust. „Wie treibt ihr beide das miteinander? Steckst du deinen Schwanz in dein blondes Flittchen?“ Wieder wollte er Jos vor die Brust stoßen, doch der reagierte schneller und schlug seine Hand weg.

„Verschwindet, lasst uns in Ruhe“, sagte Jos, schob sich ganz vor Tom. Sein Herz raste und er wusste, dass sie nicht ohne Blessuren aus der Sache kämen. Der nächste Schlag kam von der Seite und Jos reagierte schnell, er würde sich nicht ohne Gegenwehr verprügeln lassen, vor allem würde er versuchen, so viel wie möglich von Tom abzuhalten.

Doch das war schwer, den die sieben drangen jetzt alle auf sie ein, stießen, traten und schlugen nach ihnen.

„Schluss jetzt!“, dröhnte eine tiefe, befehlsgewohnte Stimme mit russischem Akzent. Alle drehten sich um, dort standen drei dunkelgekleidete Männer mit der Gestalt von Bodybuildern. Der Älteste hatte weiße, kurz geschnittene Haare und trat einen Schritt näher. Er legte Sören die Hand auf die Schulter, der gerade seine Hand erhoben hatte, um Jos zu schlagen. Er überragte den großen Jungen um einen ganzen Kopf. „Ich würde das nicht tun“, sagte der Weißhaarige mit ruhiger, fast sanfter Stimme, dann sah er Jos an. „Alles okay, Josua?“

„Alexej. Was tust du hier?“ Jos rieb sich die Seite, nahm Toms Hand und zog ihn aus der Gruppe heraus.

„Ich wusste, dass du dich in Schwierigkeiten bringen würdest“, sagte Alexej mit einem Lächeln. „Alles okay mit dir und deinem Freund?“

Jos drehte sich zu Tom um. Er hatte einen Schlag an die Schläfe abbekommen und einen Kratzer an der linken Wange, doch auf Jos‘ Blick nickte er mit einem schiefen Lächeln. „Ja, alles okay“, sagte Jos.

„Bring die beiden in meinen Wagen, Boris“, sagte Alexej zu einem der beiden anderen Männer. „Ich komme gleich nach.“

Tom wollte etwas sagen, doch Jos zog ihn hinter sich her. „Er wird ihnen nichts tun. – Bestenfalls wird er ihnen sagen, was ihnen geschieht, wenn sie sich uns noch einmal nähern.“

„Will ich wissen, was das ist?“ – „Willst du, dass sie dich noch einmal berühren?“ – Tom schüttelte den Kopf. Jos legte den Arm wieder um ihn. „Das werden sie garantiert nicht mehr tun.“

Boris dirigierte sie zu einem großen, dunklen Wagen, BMW vermutete Jos, konnte es aber nicht genau sagen. Autos interessierten ihn nur so weit, dass sie ihn von A nach B bringen mussten. Kurz nachdem sie im Wagen saßen, öffnete sich die Tür und Alexej schob sich auf hinein.

„Ich denke, die Jungs werden jetzt ihre Finger noch euch lassen“, sagte er mit einem heiseren Lachen, dann wandte er sich Tom zu und reichte ihm seine große Hand. „Ich bin Alexej Charachow.“ – „Tom Klemens“, antwortete Tom und sah auf die kräftige Hand. Das ganze Auto schien geschrumpft zu sein, seit Alexej sich hineingesetzt hatte. Die eisgrauen Augen sahen ihn prüfend an. „Du kannst Alexej zu mir sagen.“ Tom nickte, wusste nicht, was er sagen sollte. Zum Glück wandte sich Alexej jetzt an Jos.

„Du siehst gut aus, Josua“, sagte er mit seinem rauen russischen Akzent. „Es wurde auch Zeit. – Wie geht es Sophie?“

„Nicht gut. Tanzen war ihr Leben und nun ist sie nicht bereit sich ein neues aufzubauen.“ Jos sah an Alexej vorbei. „Sie wird nie wieder richtig laufen können, nie wieder tanzen können, dass macht sie fertig.“

Alexej nickte nachdenklich. „Wo wohnt ihr? Ich fahre euch nach Hause.“

„Mein Wagen“, sagte Josua und zeigte raus.

„Der Golf?“, fragte Alexej und Josua nickte. „Die Reifen sind alle zerstochen.“

„Verdammt! Diese Arschlöcher!“

„Sie werden es nie wieder tun“, sagte Alexej und grinste.

„Was machst du eigentlich hier? Und ausgerechnet heute?“, fragte Josua, ignorierte Toms leicht besorgten Blick.

„Ich bin geschäftlich hier. Und die beiden Jungs, Boris und Jannik, passen schon die ganze Zeit auf dich auf. Eigentlich wollte ich dich besuchen, deinen Freund kennenlernen. Dass sich das heute zufällig passte, ist ein Wink des Schicksals.“ Alexej lachte und es dröhnte durch das Auto. „Gibt Jannik deinen Autoschlüssel, er kümmert sich um die Reifen.“ Das Seitenfenster fuhr herunter und der zweite Mann trat an das offene Fenster. Josua reichte ihm seine Autoschlüssel.

„Dann lass uns zu euch fahren“, sagte Alexej und Boris fuhr los.

 

***

 

Alexej Charachow war ein beeindruckender Mann und er wollte den an einen Bären erinnernden Mann bestimmt nicht zum Feind haben. Tom lag neben Jos, der noch ruhig schlief und dachte an den gestrigen Abend. Es war spät geworden, erst nach 2:00 Uhr waren sie im Bett gewesen und in zehn Minuten würde der Wecker sie wieder aus selbigem schmeißen. Sophie und Alexej hatten Wodka zu ihrem Wasser getrunken, er und Jos lieber nicht. Bald hatten die beiden Erinnerungen über Sergej und Jekaterina ausgetauscht, Jos hatte die meiste Zeit wie er selbst geschwiegen. Heute Abend hatte Alexej sie alle zum Essen eingeladen und sie hatten nichts anderes machen können, als zusagen. Wollte er noch einen Abend mit den Erinnerungen an den toten Sergej verbringen? Hören, wie perfekt die beiden Männer harmoniert hatten? Er wusste, dass Jos diese Gespräche nicht wollte, dass er versucht hatte, andere Themen anzuschneiden, doch unweigerlich waren Alexej und Sophie immer wieder bei Sergej gelandet. Sergej, der gut aussehende Tänzer, der so wunderbar mit Jos, dem Tänzer zusammengepasst hatte. Selbst wenn er wusste, dass es nicht so perfekt war, wie die beiden es darstellten, kam er sich etwas überflüssig dabei vor. Er konnte nicht tanzen, er hatte kein glitzerndes aufregendes Theaterleben geführt, viele Städte und Länder gesehen. Die großen Bühnen dieser Welt. Sein Blick auf die Welt war der eines Touristen gewesen. Seine Erfahrungen mit dem Ballett, dem Theater gleich null. Noch so einen Abend wollte er eigentlich nicht.

„Worüber denkst du nach?“, fragte Jos ihn und er drehte sich um, sah in die grau-blauen Augen.

„Ehrlich?“ – Jos nickte. – „Ich weiß nicht, ob ich noch so einen Abend wie gestern hinbekomme. – Ich weiß, ich darf nicht eifersüchtig sein auf Sergej, auf die Zeit, die ihr hattet, die weit vor unserer Zeit lag, aber…“

„Aber du magst nichts mehr über ihn hören. Keine Erinnerungen, keine Anekdoten. Ich kann das verstehen, Tom.“ Jos rutschte heran. „Glaub mir, ich will diese Geschichten auch nicht mehr hören. Es war bestimmt nicht alles so rosig, wie Sophie es jetzt sieht. – Nur heute Abend noch, dann ist Alexej aus unserem Leben verschwunden.“

„Ich mag ihn ja. Genauso wie Sophie. Doch beide zusammen im Wirbel der Erinnerungen – das ist etwas deprimierend für mich. – Ich bin in nichts so perfekt wie Sergej.“ Er wusste, dass das jammernd klang, konnte aber nichts dagegen tun.

„Du bist für mich perfekt. Ich will dich gar nicht anders haben. Gott sei Dank, tanzt du nicht, hast du gar nichts mit dem Ballett zu tun. Du bist anders und damit genau das, was ich brauche. – Ich liebe dich, Tom Klemens.“

„Ich liebe dich auch, Josua Rosenbaum“, antwortete Tom. Sie lachten beide und Jos zog ihn in einen langen Kuss.

 

Weihnachten war im Hause Klemens immer eine ernste und betont familiäre Angelegenheit. Tannenbaum in Gold, klassische Weihnachtsmusik, eine Weihnachtsgans, die natürlich nicht seine Mutter zubereitet hatte und nach dem Essen ein Abarbeiten der Geschenke. Am ersten Feiertag kamen dann die Verwandten, beide Omas, dazu ein Opa, all die Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen. Es gab viel zu Essen, noch mehr zu trinken und letztlich ganz viel Streit. Tom hatten diese Tage nie viel bedeutet. Hatte er jemals an einen Weihnachtsmann geglaubt? Wahrscheinlich nicht. Weihnachtsmänner hatten im Hause Klemens genauso wenig Zutritt, wie christliche Gedanken. Wenn das Christkind als Handarbeit aus dem Erzgebirge in der Wiege lag, dann musste das reichen.

„Nicht träumen. Reich mir mal die Lichterkette.“ Jos‘ Worte rissen ihn aus den Gedanken. Er sah hoch zu seinem Freund (es fühlte sich immer noch ungewohnt an, dies zu denken) und sich dann suchend um.

„Auf dem Sofa. Woran denkst du?“ Jos lachte und Tom nahm die lange Kette mit den unzähligen kleinen Lichtern aus der Verpackung.

„Ich habe nur darüber nachgedacht, wie Weihnachten bisher war.“

„Und?“ – „Schrecklich!“ – „Gut, dann kann es ja nur besser werden.“ – „Es ist schon deshalb besser, weil ich es mit dir feiere.“

Jos hörte auf die Kette auf dem deckenhohen Tannenbaum zu verteilen und sah ihn an. „Es wird ein schönes Weihnachtsfest!“

„Woher weißt du das? Tradition bei euch?“

„Nein, eigentlich feiern wir kein Weihnachtsfest. Sophie stand immer auf der Bühne, danach wurde der Tag mit dem Ensemble verbracht. Verschiedene Menschen, verschiedene Religionen, verschiedenen Sitten. – Meine Großeltern sind strenggläubig, sie würden niemals Weihnachten feiern.“ Jos verteilte die restlichen Lichter und kletterte von der Leiter. „Ich weiß nicht wieso, doch dieses Jahr will ich es kitschig. Weihnachtsbaum, Weihnachtsmusik, Kartoffelsalat mit Würstchen. Auf die Geschenke kann ich verzichten, da die Menschen da sind, die mir am meisten bedeuten.“

„Hm, warte mal. Deine Mutter und Lisa…?“

„Genau. – Spinner.“ Jos nahm ihn in den Arm. „Du hast den wichtigsten vergessen: dich.“ Sie küssten sich.

„So wird dieser Weihnachtsbaum niemals fertig, Jungs.“ Lisa stand in der Tür und sah ihnen grinsend zu.

„Es ist noch nicht einmal Mittag. - Apropos, wie sieht es mit einer kleinen Stärkung für uns aus?“ fragte Jos sie, ohne Tom aus seinen Armen zu lassen.

„Ich bin nur für das Essen heute Abend zuständig.“ Und schon verschwand sie wieder.

„Los, lass uns die Kugeln an den Baum bringen.“ Sie hatten bunte, glänzende Kugeln und verteilten diese am gesamten Baum. Anschließend stritten sie über die Frage Lametta ja oder nein. Sophie entschied letztlich gegen Lametta und für eine Sternenkette, die sie dreimal um den ganzen Baum legen konnten.

 

Unter dem kritischen Blick von Sophie aßen sie ihre Würstchen zu ihrem Kartoffelsalat. Der Raum wurde nur von dem Weihnachtsbaum und unzähligen Kerzen beleuchtet. Kitschige amerikanische Weihnachtsmusik lief im Hintergrund. Sophie erzählte von ihren Weihnachtsfeiern an den verschiedenen Bühnen, von Weihnachtsvorstellungen, von anderen Tänzern, Garderobenfrauen und lustigen Maskenbildnern. – Zum Glück vermied sie es, sie von Sergej zu erzählen.

Nach dem Essen räumten Josua und Tom den Tisch ab, bereiteten Früchtepunsch zu. Während der Punsch im Topf heiß wurde, legte Josua seine Arme von hinten um Tom, küsste sanft seinen Nacken.

„Perfekte Weihnachten, perfektes Geschenk: du bist hier“, sagte er.

„Du meinst, ich brauche dir gar nichts zu schenken? – Hättest du das nicht früher sagen können?“, erwidert Tom und versucht sich gegen Josuas Hände zu wehren, die ihn kitzeln.

„Eigentlich hast du recht, es hätte gereicht, wenn du dir eine dicke rote Schleife um den Bauch gebunden hättest.“ Er drückte den anderen fest an sich. „Obwohl, das kannst du nachher immer noch tun. Natürlich ohne den störenden Rest Kleidung.“

„Spinner“, sagte Tom lachend. Würde Jos sich über sein Geschenk freuen? Lange hatte er nachgedacht. Sicher war er sich, dass es nichts mit Tanzen zu tun haben durfte. Persönlich sollte es sein und ausdrücken, was er für den anderen empfand. Völlig unsicher hatte er sich für einen Ring entschieden. Jos trug keinen Schmuck, außer des kleinen Rings in der linken Augenbraue, und er wusste nicht, wie er zu dem breiten matten Edelstahlring sagen würde. Der Ring war ganz schlicht, doch er hatte ihn von innen gravieren lassen. Was, wenn Jos es albern und blöd fand?

Nachdenklich betrachtete er Jos, der das Geschirr in den Geschirrspüler räumte. Immer noch konnte er nicht genug von ihm bekommen, wollte seine Hände in den dunklen Haaren vergraben, ihn berühren, küssen, mit ihm schlafen, war er glücklich, wenn Jos ihn anlächelte.

„Träum nicht“, sagte Jos und nahm seine Hand. „Komm, es wird Zeit für die Geschenke.“ Sofort klopfte sein Herz, was, wenn Jos das Geschenk albern und doof fand? Wenn er sich nicht darüber freuen würde?

Lisa und Sophie saßen auf dem Sofa und unterhielten sich angeregt. „Schluss mit Reden“, sagte Josua, als sie ins Zimmer traten und beide schreckten hoch. Lächelnd sah er sie an. „Bescherung.“

„Josua Rosenbaum, irgendetwas muss ich falsch gemacht haben“, sagte Sophie lächelnd. „Weihnachten wie im amerikanischen Fernsehen.“

„Nein, dann würde es erst morgenfrüh die Geschenke geben“, antwortete Jos und setzte sich neben sie. „Wir haben diese Tage auf so viele Arten in so vielen Ländern verbracht, warum nicht einmal ganz ruhig und in wenig kitschig?“ Er küsst sie auf die Wange. „Ich habe sogar ein Geschenk für dich.“

„Das ist ja wohl das Mindeste, wenn du mich schon zu diesem Weihnachtsfest verdammst“, antwortete sie.

Tom betrachtete die beiden, obwohl Sophie immer wieder darüber lästerte, sah er, dass es ihr durchaus gefiel.

 

Unter dem Weihnachtsbaum lag ein Haufen Geschenke. Toms Magen zog sich nervös zusammen. In den letzten Jahren war es ihm egal gewesen, was seine Eltern von seinen Geschenken gehalten hatten. Sie hatten ihn genauso gleichgültig beschenkt. Masse und Preis bestimmten den Wert. Jos kniete sich daneben und nahm das erste Geschenk, es war ein längliches, weiches Päckchen. „Lisa“, las er vor und reichte das Geschenk weiter. Sie nahm es und befühlte es vorsichtig, legte es vor sich auf den Tisch. Jos nahm das nächste und las wieder das Schild. „Sophie.“ Dann bekam er sein erstes Päckchen. So ging es weiter, bis drei Haufen auf dem Tisch und einer vor Jos auf dem Boden lag.

Sophie sah von einem zum anderen. „Wollen wir uns jetzt zusehen oder packt jeder einfach aus?“

Tom war sich nicht sicher, wollte er, dass ihm alle zusahen oder nicht. Einerseits wollte er Jos‘ Gesicht sehen, anderseits fürchtete er sich davor, wenn es ihm nicht gefiel und alle es sahen.

„Nach einander“, sagte Lisa. „Sonst werden die Geschenke überhaupt nicht gewürdigt. – Immer ein Geschenk, dann ist der Nächste dran. – Jos, du fängst an.“

Jos betrachtete die Geschenke vor sich, nahm das größte und packte es langsam aus. Er zelebrierte das Auspacken, löste jeden Tesafilmstreifen, schlug das Papier sorgfältig zur Seite. Eine schwarze Strickjacke von Sophie. Sofort streifte Jos seinen Pullover über den Kopf und zog die Jacke an. Körpernah umschloss sie seine Figur, wurde mit einem silbernen Reißverschluss geschlossen und stand ihm wirklich gut. Mit einem Kuss bedankte er sich bei seiner Mutter.

Anschließend war Lisa dran, die als erstes einen zarten, mit einem eigenwilligen Druck in rötlichen Tönen versehenen Schal von Jos auspackte. Tom konnte sehen, wie gerührt sie war, als sie sich mit einer Umarmung bedankte.

Dann war er selber dran und betrachtete die Geschenke vor sich. Nach einem kurzen Zögern nahm er ein ähnliches Päckchen wie Jos es ausgepackt hatte. Er war nicht ganz so sorgfältig und zum Vorschein kam die gleiche Strickjacke in einem Blauton. Schnell zog er sie an.

„Ich wusste es, sie passt hervorragend zu deinen Augen“, sagte Sophie begeistert und er konnte nicht anders, als sie stürmisch umarmen.

Sophie packte das kleinste Geschenk vor sich aus. Ungeduldig zerriss sie das Papier. Eine Kette, ein schwarzes Band mit einem silbernen Anhänger. Einer gedrehten Spirale, in deren Mitte sich eine dunkelgrüne, mit schwarzen Schlieren durchzogene Kugel befand. Es war von Lisa und Sophie wusste offensichtlich nicht, was sie sagen sollte. Sanft drückte Lisa ihre Hand. Tom und Jos tauschten einen Blick, lächelten sich an.

Es ging weiter, Jos packte das Geschenk von Lisa aus, eine schwarze, grob gestrickte Mütze. Lisa das Geschenk von Tom, ein Buch. Tom das Geschenk von Lisa, ein Paar Strickhandschuhe. Sophie das Geschenk von Jos, eine neue Uhr. Ihre letzte war bei dem Unfall kaputt gegangen und seit dem weigerte sie sich eine neue zu kaufen, zu tragen. Sie sah Jos an, als ob sie etwas sagen wollte, doch er kam ihr zuvor: „Es wird Zeit, dass die Zeit auch für dich weitergeht.“ Liebevoll nahm er sie in den Arm und Tom konnte sehen, dass sie Tränen in ihren Augenwinkeln hatte.

Sie hatten verabredet, für jeden ein Geschenk von jedem. Für Jos blieb also nur noch sein Geschenk und Tom spürte einen Knoten im Magen. Er hatte das Kästchen in ein größeres Päckchen gelegt und mit zwei Paar völlig alberner Socken abgedeckt. Jetzt fragte er sich gerade, ob das so eine gute Idee gewesen war. Wieder packte Jos das Geschenk langsam und sorgfältig aus. Am liebsten wäre er jetzt fortgelaufen. Mit einem Knoten im Magen beobachtete er Jos, der den Deckel des Kästchens hochhob. Mit einem irritierten Blick hob er das erste Paar giftgrüner Socken heraus, sagte aber nichts, sondern legte es neben das Kästchen. Das zweite Paar war geringelt und Jos hob die Augenbrauen, sah ihn kurz an und Tom war kurz davor wirklich zu fliehen, die spöttischen Worte von Lisa und Sophie über die Socken hörte er nicht, er sah nur Jos an, der das Kästchen aus dem Päckchen nahm, ihn wieder ansah. Er konnte den Blick nicht deuten, alles kreiselte in seinem Inneren, Jos würde es hassen, fände es doof, albern und…

Das Kästchen wurde aufgeklappt. Jos schwieg, betrachtete den Ring und Tom hatte das Bedürfnis etwas zu sagen, seine Wahl zu entschuldigen. Fast hätte er es Jos aus den Händen gerissen, doch er betrachtete still, wie Jos den Ring heraus nahm und über seinen Ringfinger schob. Er passte, dachte Tom und sah nur auf die schlanken Finger. Mit einem Mal kniete Jos vor ihm, hob sein Gesicht, sodass er ihn ansehen musste. Strahlende grau-blaue Augen sahen ihn an. „Du bist verrückt“, sagte Jos und küsste ihn. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, da ein Danke viel zu klein ist.“ – „Er gefällt dir?“, fragte Tom noch immer etwas unsicher.

„Ob er mir gefällt? Er ist wunderschön!“ Wieder küsste er ihn. „Das ist das beste Geschenk, dass ich jemals bekommen habe.“ Röte überzog Toms Gesicht und er drückte sich an Jos. Ein Stein fiel ihm vom Herzen, Jos gefiel sein Geschenk!

Lisa packte ihr Geschenk von Sophie aus, ein Paar eigenwilliger, großer Ohrringe aus mattem Silber. Ungläubig betrachtete sie die Ohrringe einen Moment, dann probierte sie sie mit einem aufgeregten Lächeln aus. Spontan fiel sie Sophie um Hals und küsste sie schnell auf die Wange. Beide Frauen erröteten.

Sein letztes Geschenk war etwa so groß wie ein DIN A4 Blatt und mit weicher Oberfläche. Er packte es langsam aus, machte es Jos nach und öffnete jeden Klebestreifen sorgfältig. Eingeschlagen in dem schwarzen Papier voller bunter Weihnachtskugeln lag ein schlicht schwarzes Shirt mit Knopfleiste. Als Tom es hochnahm, sah er, dass dazwischen ein Bilderrahmen lag. Ungläubig sah er auf die Zeichnung darin. Eine Bleistiftzeichnung. Sein eigenes Gesicht im Profil auf der linken Seite, rechts oben eine Darstellung, auf der er angelehnt mit einem Buch auf dem Schoß und hochgestellten Beinen saß, darunter eine Zeichnung, die nur seinen freien Oberkörper und sein lächelndes Gesicht zeigte, die Haare lagen wild verstrubbelt um sein Gesicht. Rechts unten standen er und Jos sich Arm in Arm gegenüber und wandten dem Betrachter ihre Gesichter zu. Schon ein paar Mal hatte er Jos zeichnen sehen und war beeindruckt gewesen, doch das hier war perfekt. Wunderschön.

„So gut sehe ich gar nicht aus“, flüsterte er und sah Jos an, der sich zu ihm beugte und ihn küsste.

„Nein, du siehst viel besser aus, doch leider kann ich nicht besser zeichnen“, erwiderte Jos.

„Spinner“, sagte Tom in ihren nächsten Kuss.

 

***

 

Zuletzt packte Sophie das Geschenk von Tom aus, der ihr einen dunkelgrün-bläulichen Schal geschenkt hatte. Eine Zeit lang saßen sie einfach zufrieden zusammen. Josua zog den Ring von seinem Finger und betrachtete ihn, dabei fiel sein Blick auf die Gravur in seinem Inneren. „Danke, dass du mich gefunden hast. ILD Tom“

Der Ring war breit genug, damit die Gravur zweizeilig herum laufen konnte. Er fühlte sich sprachlos, sah Tom an, der leicht errötete.

„Ich liebe dich passte nicht mehr ausgeschrieben hinein“, sagte er leise und sah auf seine Hände. Josua legte seine Hand unter Toms Kinn, hob seinen Blick.

„Das ist eindeutig das schönste Geschenk, das ich jemals bekommen habe. Etwas Vergleichbares, das mir so viel bedeutet, hat mir noch nie jemand geschenkt. Du bist das Unglaublichste, das mir je geschenkt wurde.“ Seine Hand fuhr durch Toms Haar und zog seinen Kopf heran. „Was ich für dich empfinde, können Worte nur unzureichend beschreiben.“ Und er küsste ihn ausgiebig.

„Schluss jetzt mit dem Herumknutschen!“, sagte Sophie und widerwillig lösten sie sich voneinander. „Was steht als nächstes auf deinem Perfekte-Weihnachten-Zettel?“

„Ich weiß nicht, vielleicht ein Spaziergang, um sich die netten Weihnachtsbeleuchtungen der anderen Häuser anzusehen“, schlug Josua vor.

„Ein bisschen frische Luft wäre wirklich nicht schlecht“, sagte Lisa und streckte sich. „Anschließend können wir etwas spielen.“

„Spielen? Seid ihr alle durchgedreht?“, fragte Sophie und rollte mit den Augen.

„Spielen klingt gut. Vielleicht eine Runde Kniffel“, sagte Josua und ignorierte ihre Worte.

 

***

 

Weiße Weihnachten gab es zwar nicht, aber eisig kalte. Dick eingemummelt gingen sie durch die Straßen. Viele Menschen waren nicht unterwegs. Durch die Fenster konnten sie teilweise die geschmückten Räume, glänzenden Weihnachtsbäume und das fröhliche Beisammensein anderer Menschen betrachten.

„Der ist ja mickrig.“ oder „Das ist auch eine gute Idee.“ sowie „Nein, wie kitschig!“ waren ihre Kommentare. Es gab auch Häuser ohne Dekoration, in deren Fenster Lichter brannten. Wohnungen, die nach normalem Alltag aussahen, nicht nach Heiligabend. Bei anderen liefen Kinder aufgeregt tobend durch die Stube, hielten sich die Eltern in den Armen. Bei manchen lief der Fernseher.

Lisa schob Sophie in ihrem Rollstuhl, während Josua und Tom Arm in Arm durch die Straßen gingen. Seit der Begegnung mit Alexej hielten sich André, Florian und die anderen von ihnen fern. Zwar tuschelten sie, machten ihre Sprüche und gaben sich cool, doch das Gefühl der Bedrohung war gewichen. In der Schule hielten sie trotzdem Abstand, ohne Händchen halten oder küssen. Doch außerhalb, wenn sie in die Stadt fuhren oder spazieren gingen, so wie an diesem Abend, da gingen sie Arm in Arm und küssten sich, ignorierten die empörten Blicke und die Kommentare einiger Passanten.

„Lasst uns nach Hause gehen, inzwischen bin ich durchgefroren“, sagte Lisa endlich und langsam schlenderten sie zurück.

Bis Mitternacht spielten sie Mensch ärgere dich nicht, Kniffel und MauMau, dann gingen Sophie und Lisa, die im zweiten Gästezimmer schlief, zu Bett. Tom und Josua blieben noch etwas sitzen, alle Kerzen gelöscht, erhellte nur noch der Tannenbaum das Wohnzimmer. Josua legte sich hin, den Kopf auf Toms Schoss. Sanft begann der andere an seinen Haaren zu zupfen.

„Genauso habe ich es mir vorgestellt“, sagte Josua. „Nein, eigentlich war es besser, als ich es mir vorgestellt habe. – Allein schon wegen deines Geschenkes.“ Er sah Tom von unten an. „Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll.“

„Gar nichts“, flüsterte Tom und küsste ihn. „Ich bin froh, bei dir sein zu dürfen.“

„Hör auf.“ Josua verstrubbelte seine Haare. „Ich bin froh, dich hier zu haben. Und jetzt lass uns überlegen, wie wir die nächsten beiden Tage verbringen.“

 

Sylvester verbrachten sie mit dem Club der Loser. Sie feierten bei Lena, ihre Eltern hatten ihr den Partykeller überlassen und waren selber zu Freunden gefahren. Tom stand am Buffet, zu dem jeder etwas beigesteuert hatte. Diese Feier unterschied sich von den Silvesterfeten der letzten Jahre. Nicht äußerlich weder das Essen, noch die Getränke oder die Musik. Aber die Menschen. Lena, die mit Becky tanzte, ebenso wie Mattis, Pierre und Vico. Jan, Luca und Luisa standen mit Josua zusammen und redeten. Keiner lästerte über den anderen, es gab kein Getuschel oder Imponiergehabe. Alle akzeptierten ihre Beziehung.

„Hast du Lust zu tanzen?“ Mimi und Christine waren neben ihm aufgetaucht. Ohne darüber nachzudenken nickte er und ließ sich von den beiden auf die Tanzfläche ziehen. Sein Blick begegnete Josuas, der ihm zulächelte.

Letztes Jahr war er mit Rabea zusammen gewesen, hatte zu viel getrunken und sich am frühen Morgen übergeben. An etwas anderes erinnerte er sich nicht mehr.

Ohne Hemmungen tanzten sie wild und etwas albern, rempelten Becky und Lena an, die sich sofort revanchierten. Bald tanzten sie Arm in Arm im Kreis, sagen die Texte laut und schräg mit, bis sie nicht mehr konnten und sich lachend und keuchend trennten.

Tom stützte lachend die Hände auf die Oberschenkel. Zwei Hände legten sich auf seine Taille. „Tanzt du auch mit mir?“ Er streckte sich, lehnte sich nach hinten gegen Josua.

„Ja“, sagte er und drehte sich in Josuas Armen, legte die Arme um seinen Nacken.

Das Lichte wurde gedimmt. Josua verschränkte seine Hände hinter seinem Rücken zog ihn sich heran. Brian Adams begann zu singen und während die rauchige Stimme ‘Every Thing I do I do for you‘ sang, fing Josua an, sie beide im Takt zu wiegen. Nur wenige Zentimeter trennten sie, ihre Augen verhakten sich, Toms Hände wühlten zärtlich in Josuas Haar und die Welt um sie herum verschwand. Die Zentimeter wurden zu Millimetern, wurden zu Nichts.

Das Knallen der Sektflaschen holte sie zurück. Lachend reichte Lena jedem ein Sektglas, der große Fernseher lief, zeigte ihnen tonlos die Zeit, die letzten Sekunden, die alle laut mitzählten.

„Fünf, vier, drei, zwei, eins… Prost Neujahr!“

Tom kam nur dazu, Josua kurz zu küssen, schon wurde er von dem nächsten umarmt und auf die Wangen geküsst. Die ersten zogen sich schon die Jacken an um entweder selber zu knallen oder das Spektakel der anderen zu betrachten. Endlich stand er wieder vor Josua.

„Was wünschst du dir für das neue Jahr?“, fragte Josua und zog ihn in die Arme.

„Ich dachte, man nimmt sich etwas vor, nicht, dass man sich etwas wünscht“, entgegnete er.

„Ich wünsch mir lieber etwas“, sagte Jos. Draußen krachten die Böller, sirrten die Raketen in den Himmel und johlten die Betrachter zu jedem Funkenregen.

„Was wünschst du dir?“

„Ein gutes Jahr mit dir.“

„Das klingt nach einem guten Wunsch.“ Er zog Josua zu sich und küsste ihn. „Ein Wunsch, dem ich mich anschließen kann.“

„Sehr gut. Dann verzichten wir dieses Jahr auf so unrealistische Wünsche wie den Weltfrieden und wünschen uns ein gutes Jahr miteinander“, flüsterte Josua in ihren Kuss.

„Spinner.“

 

Ende

Impressum

Texte: Gabiele Oscuro
Bildmaterialien: alles meins ;D
Tag der Veröffentlichung: 02.06.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die an die Liebe glauben.

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