Jenny stand mit einem Cocktailglas in der Hand ein paar Schritte von mir entfernt und unterhielt sich mit Fabian und Silke. Lachend warf sie ihren Kopf zurück, trank einen Schluck ihres grünlichen Getränks und ließ ihren Blick über ihre Gäste schweifen. Mit ihrem Petticoat-Kleid und dem wippenden Pferdeschwanz wirkte sie, wie einem Foto aus den Fünfzigerjahren entstiegen. Sie wirkte entspannt, doch an der Art, wie sie an ihrem Ring drehte, erkannte ich, dass meine große Schwester nervös war. Wieder einmal fragte ich mich, warum sie ihren dreißigsten Geburtstag in diesem großen Rahmen feiern wollte, wenn sie sich die ganze Zeit nur Gedanken über die Party machte? Konnte sie diesen ganzen Rummel überhaupt genießen? Ständig flitze sie von rechts nach links, überwachte die Cocktailbar, den Aufbau des Büffets und die Laune ihrer Gäste. Erneut wanderten ihre Augen über die bereits Anwesenden, blieb hängen und wurde groß, dann breitete sich ein echtes Lächeln über ihrem Gesicht aus. Ich folgte ihrem Blick und hatte das Gefühl, zu erstarren. An der Terrassentür, die Arme weit ausgebreitet um Jenny, die auf ihn zu lief, aufzufangen, stand Kim.
Die Welt hatte aufgehört sich zu bewegen, alles verschwand, mein Blick war nur noch auf Kim fixiert. Seine braunen Haare waren kürzer, vom Sommer in den Spitzen leicht ausgebleicht, seine blauen, täuschend sanft wirkenden Augen waren auf Jenny gerichtet, sein geschwungener Mund lächelte dieses unvergleichliche Lächeln, das mir mein Herz und meine Seele gestohlen hatte. Breite Schultern, die muskulöse Brust, die durch das enge blaue T-Shirt betont statt versteckt wurde, führten zu schmalen Hüften und seinen graden, wunderschönen Beinen, die in engen hellen Shorts steckten.
Alles perfekt, alles wunderschön und selbst nach zehn Jahren noch furchtbar schmerzhaft für mich.
Seine Arme schlossen sich um Jennys schlanke Gestalt, er küsste sie sanft auf beide Wangen und sagte etwas zu ihr, das sie zum Lachen brachte. Während er sie lächelnd betrachtete, dann hob er den Blick und sah sich um. Bevor ich mir wünschen konnte im Nichts zu verschwinden, trafen sich unsere Augen. Erinnerungen und mit ihnen ein Meer an Gefühlen überschwemmten mich wie eine Tsunamiwelle. Ich hatte das Gefühl von Jennys Dachterrasse gespült zu werden.
„Paul? Alles okay?“ Eine Hand legte sich auf meinen Arm und holte mich zurück in das Hier und Jetzt. Blinzelnd wendete ich mich Marius zu, der neben mir stand. „Du bist ganz blass geworden…“ Sein besorgter Blick huschte über mein Gesicht. Ich wendete den Kopf, sah dass Kim sich von Jenny löste, zu mir herüberkam – und floh.
„Mir ist schlecht“, sagte ich zu Marius, drückte ihm mein Glas in die Hand und rannte fast durch die Gäste in Haus. Weit weg von ihm, von meinem Schmerz, meinen Erinnerungen… Keuchend schloss ich die Badezimmertür hinter mir und lehnte den Kopf dagegen. Warum hatte sie ihn eingeladen? Ausgerechnet Kim?
Ich konnte vielleicht vor Kim fliehen, doch nicht vor meinen Bildern im Kopf und dem Schmerz, der nach zehn Jahren immer noch in mir tobte. Eigentlich hatte ich gedacht, ich hätte es überwunden, verdrängt und es würde nichts mehr davon existierten, wie man sich irren kann!
Kim. Er hatte mein verliebtes Herz genommen, es aus meiner Brust gerissen und der Meute zum Fraß vorgeworfen. Ich sollte ihn hassen, doch ich konnte es damals nicht, auch heute noch nicht.
Im Spiegel begegnete ich meinem Blick. Die grünen Augen waren noch das auffälligste an meinem Gesicht. Die verwaschenen blonden Haare, die helle Haut und der ganze Rest waren bestenfalls Durchschnitt, nichts auf das jemand normalerweise einen zweiten Blick verschwendete. Schon immer war ich der unauffällige Typ, den die anderen mitschleppten, damit er sie später nach Hause fahren konnte.
Damit ich überhaupt Kontakt bekam, musste Jenny mich auf Drängen unserer besorgten Mutter von Zeit zu Zeit mitnehmen.
Die Augen schließend sah ich diesen Tag im August wieder vor mir. Ich war vor wenigen Wochen 18 geworden und hatte damit einen gewissen Nutzen für Jenny. Es war heiß und sie wollte sich mit ihren Freunden zum Grillen treffen. Großmütig durfte ich mit, wenn ich fahren würde. Ich sagte zu. Allein, weil die Augen meiner Mutter so besorgt auf mir hingen. Immer machte sie sich Sorgen, ich hätte zu wenige Freunde, würde zu wenig ausgehen, immer nur zu Hause herumhängen. So würde ich nie eine Freundin finden. Ich traute mich nicht ihr zu sagen, dass ich Mädchen nicht besonders aufregend fand.
Am Baggersee sah ich Kim zum ersten Mal. Es war wie ein elektrischer Schlag. Er stand mit nassen Haaren am Ufer, Wassertropfen liefen über die gebräunte Haut seiner muskulösen Brust. Seine blauen Augen sahen sanft und freundlich aus, als Jenny mich vorstellte und sich unsere Blicke trafen. Ich errötete unter seinem Blick und doch konnte ich nicht wegsehen. Erst ein harter Rippenstoß von Jenny ließ mich den Kopf abwenden. Genervt verdrehte sie die Augen und zischte mir etwas zu, was ich lieber nicht verstehen wollte.
Den ganzen Abend spürte ich immer wieder seine Blicke auf mir, begegneten sich unsere Augen. Lag Interesse in seinem Blick? Ich konnte es nicht glauben, auch wenn ich es mir wünschte.
Obwohl ich schon länger wusste, dass ich auf Männer stand, hatte ich bisher noch keine Erfahrungen gesammelt. In der Kleinstadt, in der wir lebten, war es nicht normal, schwul zu sein und mir fehlte der Mut es öffentlich zu machen. Bisher hatte ich nur mit einem Mitschüler ein bisschen geknutscht, da wir jedoch von seiner Mutter gestört worden waren, waren wir nicht weiter gekommen.
Ziemlich unbefriedigend in einem Alter, in dem die Hormone eigentlich nur eins wollen. Meine Gedanken kreisten eigentlich auch nur um dieses eine – und ich wusste, von diesem Abend an würden sie dabei nur noch um Kim kreisen. Wie wäre es wohl, diesen verlockenden Mund zu küssen? Über die samtige Haut zu streicheln? Die Brustwarzen waren als deutliche dunkle Kreise zu erkennen. Den ganzen Abend kämpfte ich mit einer Erektion bzw. damit, sie keinen sehen zu lassen.
Ein Lagerfeuer brannte und die meisten waren schon ziemlich hinüber, als Kim plötzlich neben mir auftauchte. Er setzte sich neben mich, so nahe, dass sich unsere Beine berührten.
„Ganz schön langweilig, wenn man nichts trinken darf“, sagte er. Seine Stimme hatte immer einen leicht rauen Klang, der mir eine Gänsehaut bescherte.
„Es geht“, sagte ich und versuchte mich auf die Flammen vor mir zu konzentrieren.
„Lass uns ein Stück Spazieren gehen“, sagte er, nachdem wir eine Weile schweigend nebeneinander gesessen hatten und dem albernen Geschwätz der anderen zugehört hatten. Bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte er meine Hand ergriffen und mich hochgezogen.
Er behielt meine Hand einfach in seiner und ging am Ufer lang. In mir herrschte völlige Verwirrung. Es fühlte sich so unglaublich gut an seine Hand in meiner zu spüren. Was wollte er von mir, ausgerechnet von mir? War er schwul?
Mein Herz trommelte in meiner Brust, während ich mich nicht traute etwas zu sagen, vor Angst ihn zu verscheuchen. Als wir die anderen nicht mehr sehen konnten, blieb er stehen und sah mich an. „Du hast wunderschöne Augen“, flüsterte er und küsste mich. Das Kribbeln auf meinen Lippen breitete sich rasend in meinen Körper aus, potenzierte sich und ließ mich schaudern. Seine Arme legten sich um mich und seine Zunge bat um Einlass. Ich öffnete meinen Mund, mein Herz und meine Seele in diesem Moment. Der Kuss schien eine Ewigkeit zu dauern, wurde nur unterbrochen, damit Kim uns die T-Shirts auszog. Seine warmen Hände brannten auf meiner Haut, entfachten ein Feuer, das mich in seinen Mund keuchen ließ. Als er seine Hand auf meine Erektion legte, war es vorbei, ich konnte mich nicht zurückhalten. Ich kam – und hatte das Gefühl vor Scham im Boden versinken zu müssen.
„He, alles okay“, flüsterte Kim, als ich mich abwenden wollte. „Ich nehme es als Kompliment.“ Seine Hände streichelten mich weiter, wir sanken (anders kann ich es nicht nennen) in das Gras. Er zog mich aus, streichelte mich, eroberte meinen Körper mit seinem Mund, erfüllte alle Vorstellungen, die ich von Sex hatte. Ermutigt fing ich an, ihn ebenfalls zu streicheln, seinen Körper zu erkunden. Es dauerte nicht lange, da hatte ich das Gefühl mich wieder nicht beherrschen zu können, er zog mich dicht an seinen Körper und umschloss unsere beiden Erektionen mit seiner Hand, rieb sie zusammen.
Ich konnte nur stöhnen und wimmern vor Lust, mich an ihn klammern und diese unvergleichlichen Gefühle genießen, die dieser Orgasmus in mir auslöste. Noch nie hatte ich etwas vergleichbares gespürt. Unser Sperma klebte zwischen uns, doch das war Kim egal, er zog mich in seinen Arm und küsste mich. Ich fühlte mich wie im Himmel.
„Paul?“ Marius stand vor der Tür, holte mich zurück. Ich starrte in meine aufgerissenen Augen. „Alles in Ordnung bei dir?“
„Ja, schon okay, ich bin gleich wieder da“, antwortete ich und ließ mich auf den Klodeckel sinken.
„Kann ich etwas für dich tun?“ – „Nein, danke.“
Marius war Jennys Freund, sie kannten sich seit dem Kindergarten und waren doch erst seit zwei Jahren ein Paar. Damals war er auch dabei gewesen. Ob er sich noch daran erinnerte?
Kim war nicht schwul. Seine Freunde wussten nicht, dass er auch auf Männer stand. Das erfuhr ich, als wir uns im See ein wenig gesäubert hatten und bevor wir zurück zu den anderen gingen. Er wollte nicht, dass die anderen etwas erfuhren, und bat mich, es niemanden zu erzählen. Sein Vater würde ihm die Unterstützung streichen, wenn er es erfahren würde und ohne dieses Geld könne er sein Studium nicht beenden. Danach…
Meine schüchterne Frage, ob es das jetzt gewesen sei, beantwortete er mit einem heftigen Kuss. „Nein, Baby, wenn du willst, sehen wir uns wieder.“
Wir sahen uns wieder, trafen uns bei ihm, zwei- bis viermal die Woche. Er zeigte mir, wie schön Sex war. Wir erforschten uns und die Möglichkeiten, die sich uns boten. Es war der Himmel auf Erden, getrübt nur durch die Tatsache, dass wir uns immer heimlich trafen und keiner von uns wissen durfte. Doch ich tröstete mich mit der Zukunft. Kim wäre bald fertig mit seinem Studium und dann…
Wir schliefen miteinander, verbrachten ein ganzes Wochenende in seinem Bett und er flüsterte mir seine Liebe ins Ohr. Ich war unsagbar glücklich. Bis zu jenem furchtbaren Wochenende…
Mein Vater feierte seinen fünfzigsten Geburtstag. Eine riesen Feier mit Freunden, Verwandten, Bekannten, Arbeitskollegen, Sportkameraden und so weiter, einfach jeden, den er kannte, hatte er eingeladen.
Da Kim an Wochenenden selten Zeit hatte, hatte ich ihm nicht von diesem Tag erzählen müssen. Ich verpasste ja kein Treffen mit ihm.
Ab 19:00 Uhr füllt sich unser Garten. In einer Ecke drehte sich das Spanferkel auf dem Grill, in der nächsten spielte eine kleine Kapelle leise Musik. Es gab Zelte, Stehtische und verteilte Bierzeltgarnituren. Die meisten Menschen, die durch den Garten liefen, kannte ich nicht.
Ich stand zufällig in der Nähe meiner Eltern, als Lutz Holzmann mit seiner Frau ankam. Sie hatten Sarah im Schlepptau, ihre achtzehnjährige Tochter, mit der ich viel Zeit im Sandkasten verbracht hatte. Endlich ein nettes Gesicht, dachte ich und drehte mich um. Neben Sarah stand Kim. Während ich noch versuchte, eine Erklärung dafür zu finden, sagte Lutz zu meinem Vater: „Ich hoffe, es ist dir recht, dass Sarah ihren Verlobten Kim Sander mitgebracht hat.“
Er hat mich nicht gesehen, begrüßt freundlich meinen Vater, gibt meiner Mutter die Hand und legt im Weggehen die Hand auf Sarahs Rücken.
Flucht war der einzige Gedanke, zu dem mein verwirrtes Hirn in diesem Moment in der Lage ist. Schnell drehe ich mich um, ging in Richtung der Terrassentür.
„Paul“, rief mich Sarahs Stimme. Ich blieb stehen, wusste nicht genau wieso, und drehte mich um. Meine Augen begegneten Kim, sein Mund öffnete sich, doch kein Ton kam heraus. Sarah trat vor und schloss mich in die Arme. „Paul, wir haben uns ewig nicht gesehen“, sagte sie lachend, wendete sich zu Kim und zog ihn näher. „Das ist Kim, wir sind seit sechs Monaten verlobt und wollen bald heiraten.“ Jetzt drehte sie sich zu Kim um. „Das ist Paul. Wir kennen uns schon seit dem Sandkasten.“
Es gelang ihm, seine Gesichtszüge zu normalisieren, und er reichte mir die Hand. Ich starrte darauf, starrte ihn an und hatte das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen. Seit drei Monaten hatte ich ein Verhältnis mit ihm, liebte ich ihn, schwor er mir seine Liebe – und nun reichte er mir die Hand wie einem Fremden.
„Wann wolltest du es mir sagen?“, fand eine Frage den Weg aus meinem Kopf. Kim zuckte zusammen, sah mich bittend an. Was wollte er von mir? Dass ich mitspielte? Dass ich ihm die Hand gab?
„Wann wolltest du es mir sagen?“, wiederholte ich meine Frage.
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, sagte er und sein Blick wurde eisig. Eine eisige Schicht seines blauen Blicks legte sich um mein Herz.
„Doch, das weißt du ganz genau. Willst du, dass ich es ausführe?“ Mein Blut rauschte klopfend durch mein Kopf.
„Willst du wegen nichts die Feier deines Vaters stören? Einen albernen Aufstand wegen etwas völlig belanglosem veranstalten? Willst du dich unbedingt lächerlich machen?“
Wegen nichts? Sein Blick hatte mein Herz eingefroren und bei seinen Worten zerbrach es mit einem leisen Klirren. Die Leute um uns herum starren uns an, flüstern und tuscheln. Sarah versuchte das dritte oder vierte Mal zu erfahren, was hier vorging. Jenny stand neben ihr und versuchte sie abzulenken.
Habe ich noch nein gesagt? Habe ich irgendetwas gesagt? Ich weiß es nicht. Alles zerbrach in diesem einen Moment. Jenny war es, die meinen Arm nahm, mich ins Haus und die Treppe hoch in mein Zimmer zerrte. Diesen Tag habe ich es nicht mehr verlassen. – Es war trotz meines peinlichen Auftrittes wohl eine schöne und gelungene Feier.
Und jetzt hatte sie ihn eingeladen. Fast genau zehn Jahre später und Scheiße, es tat noch immer weh. Er hatte in den folgenden Tagen versucht mit mir zu reden, zu erklären. Doch ich habe es ignoriert. Ich war nur noch Schmerz. ‚Du bist nichts. Ein belangloses Nichts.‘ Diese Worte waren hängen geblieben und es hat lange gedauert, bis ich den Mut hatte, mich wieder jemandem zu öffnen. So richtig hat es nie geklappt, denn tief in mir drin, liebte ich immer noch Kim. Jenen Kim, den ich drei Monate lang erlebt hatte, der mir geschworen hatte, mich zu lieben, der versprochen hatte, dass wir eine Zukunft hätten. Und Angst hatte ich immer vor jenem Kim, dessen eisiger Blick mir das Herz zerbrach und diesen endlosen Schmerz zurückließ.
„Paul?“ Die raue Stimme würde ich immer wieder erkennen. Ich sah in den Spiegel. Scheiße, ich bin fast dreißig Jahre alt. Ein erwachsener Mann, kein halbwüchsiger Junge mehr. Tief holte ich Luft und öffnete die Tür. Kim stand da und sah mich an. „Alles okay?“, fragte er und für eine Sekunde wollte ich zuschlagen.
„Danke, alles wunderbar“, antwortete ich und ging an ihm vorbei.
„Paul, ich würde gern mit dir reden“, hörte ich ihn hinter mir sagen.
„Es gibt nichts mehr zu sagen“, erwiderte ich und sah ihn an. „Es ist zehn Jahre her, was sollte es heute noch zu reden geben?“
„Ich würde gern…“
„Nein! Ich will es nicht hören und nicht darüber reden. Es ist Geschichte und sollte nicht mehr erwähnt werden.“ Ich hoffte, dass mein Gesicht so entschlossen aussah, wie die Worte klangen, dann drehte ich mich um und ging auf die Terrasse. An der Tür drehe ich mich noch einmal um. „Es ist egal, was du zu sagen hast, es spielte heute keine Rolle mehr.“ Ich musste es nur noch schaffen, mich selber davon zu überzeugen.
„Warum hast du ihn eingeladen?“ Ich hatte Jenny in der Küche gefunden.
„Ich dachte, ihr solltet miteinander sprechen“, antwortete sie, vermied es aber, mich anzusehen.
„Warum?“
„Kim ist mit Marius Bruder zusammen“, sagte sie intensiv damit beschäftigt Gläser ineinander zu stapeln.
Musste ich darüber nachdenken, warum mir das wehtat? Nein, ich wollte nur fort. Alles in mir tobte, Erinnerungen, Schmerzen und diese uneingestandene Sehnsucht. Ich sah aus dem Fenster, sah Kim neben dem hübschen blonden Jungen stehen. Frank war sieben Jahre jünger als Marius, erst Mitte zwanzig. Jetzt kann er dazu stehen, dachte ich müde.
„Du wirst mir verzeihen, wenn ich jetzt gehe“, sagte ich zu Jenny.
„Paul, sei nicht albern. Das ist zehn Jahre her…“
„Wenn du mir wenigstens die Möglichkeit gegeben hättest mich zu wappnen“, erwiderte ich und drehte mich um. Wie sollte sie verstehen, was ich selber nicht verstand? Ich nahm die Treppe durch das schicke in Schwarz und Edelstahl gehaltene Treppenhaus. Die ersten Stufen lief ich fast, dann wurde ich mit jeder Stufe langsamer, mit jeder einzelnen tauchte eine Erinnerung auf. Kims kleine Wohnung, seine Wohnküche, das kleine Schlafzimmer, in das gerade einmal ein Französisches Bett und ein Schrank passten. Das Bett quietschte bei bestimmten Belastungen immer… Und an der kleinen Küchenzeile haben wir uns kurz vom Verhungern Spaghetti mit Tomatensoße gekocht, Kim hatte Adriano Celentano angestellt und wir… hatten zuletzt Tomatensoße überall, Kim küsste sie von meiner Nase. „Ich liebe dich, Paul.“ Ernst und ehrlich hatte er ausgesehen. Ich konnte seinen folgenden Kuss fast auf meinen Lippen fühlen. – Wie lange hatte ich nicht mehr daran gedacht? Alles hatte ich verdrängt, die Liebe und den Verrat. Schwer ließ ich mich auf eine Stufe fallen und lehnte den Kopf gegen die Wand. In diesem Haus gab es nur Büros, einzig Jennys Dachgeschosswohnung wurde vermietet. Es würde so schnell keiner hier vorbei gehen.
„Nach meinem Studium ist alles egal, Baby, dann hat das Versteckspiel ein Ende.“ Wir hatten in seiner winzigen Badewanne gesessen, ich vor ihm, da wir nur so zusammen darin liegen konnten. Seine Arme um meine Brust. „Du machst dein Abi und wir gehen fort.“
Konnte man so verlogen sein? Hatte er nicht gewusst, dass ich auch ohne jede dieser Lügen bei ihm geblieben wäre? Ich liebte ihn, wäre für seine Liebe durch jede Hölle gegangen…
Ich war durch die Hölle gegangen! – Und hatte Kims Liebe doch nicht bekommen. Ich schloss die Augen und versuchte eine Erinnerung zu finden, die nichts mit Kim zu tun hatte. In den letzten zehn Jahren hatte ich studiert, ich hatte einen Job als Förderschullehrer und eine nette kleine Altbauwohnung. Zuhause erwartete Louis, mein schwarzer Kater, mich. Wie viele Beziehungen hatte ich in diesen zehn Jahren? Fünf? Mit Tom war ich zum Ende des Studiums fast ein Jahr zusammen. Na ja, eigentlich waren wir eine Wohngemeinschaft mit Gelegenheitssex. Mit Hagen habe ich es ganze drei Wochen ausgehalten. Mit Sebastian knapp vier Monate und die waren echt anstrengend. Manuel war zu untreu, das habe ich nur zwei Monate und fünf Tage ausgehalten. Mit Björn war der Sex gut, doch außerhalb des Bettes haben wir uns nur gestritten. – Und mit keinem war der Sex so unglaublich wie mit Kim. – Ich habe auch keinem erlaubt, mein Herz zu berühren. – Es gibt ja auch gar nichts zu berühren, da ich die Splitter nie wieder zusammengesetzt habe. Keinem der fünf habe ich erlaubt, die Splitter zu berühren, sie wieder zu vereinigen und aufzutauen. Mit Björn war genau das das Problem. Er war verliebt in mich und wollte mich ganz, wollte mein Herz. Ha, ich habe keins mehr.
Müdigkeit überfiel mich. Ich fühlte mich wie nach einem Marathonlauf, ausgelaugt und leer. Dieser verdammte Scheißkerl suchte sich den Bruder des Freundes meiner Schwester, um glücklich zu sein. Jetzt kann er sich bekennen, kann es allen sagen und seine Liebe zeigen. Irgendwo in meiner Brust war ein Loch und es schmerzte, es schmerzte so sehr wie vor zehn Jahren, als es gerissen wurde. Das war albern und dumm, doch ich konnte es nicht ändern.
Ich spürte die Feuchtigkeit auf meiner Wange und ignorierte sie. Ich wollte den Scheißkerl noch immer! Alles in mir sehnte sich nach ihm, nach seiner Berührung, seinen zärtlichen Händen, seinen liebevollen Worten…
Doch die flüsterte er jetzt dem goldgelockten Engelchen zu, den er fickt. Der Gedanke war das Messer, das in dem Loch umgedreht wurde.
„Wenn ich gewusst hätte, dass es dich so aufregt, wäre ich heute nicht gekommen.“
Zusammenzuckend schreckte ich hoch, mein Herz schlug viel zu schnell. Offensichtlich musste ich eingeschlafen sein.
„Ich wollte die Chance, die Jenny mir bot, mit dir zu reden einfach wahrnehmen.“
Mein Kopf registrierte, dass Kim hinter mir sitzen musste. Schnell warf ich einen Blick über meine Schulter. Zwei Treppen höher saß er und sah zu mir herunter. Gut, so konnte er mein Gesicht nicht sehen, das von den Tränen bestimmt unschön gerötet war.
„Vergiss es“, antwortete ich und versuchte den heiseren Unterton in meiner Stimme zu unterdrücken. „Lass mich einfach in Ruhe, Kim. Es gibt nichts mehr zu sagen. Es ist zehn Jahre her und wenn Jenny mir gesagt hätte, dass ich dich heute treffe, dann wäre ich vorbereitet gewesen. Es hat mich einfach nur ein wenig überrascht.“ Die Untertreibung des Jahres.
„Ich würde dir aber gerne einiges erklären“, beharrte er hinter mir. „Paul, bitte.“ Seine Hand legte sich auf meine Schulter. Warm spürte ich sie durch mein T-Shirt.
„Nicht heute“, antwortete ich und stand auf, hielt mich an der Wand fest, weil mein Kreislauf nicht so schnell mitkam. Langsam begann ich den Abstieg.
„Paul, es ist mir wichtig.“ Seine Stimme klang bittend. Wut stieg in mir auf. Ich drehte mich um. „Es ist mir ziemlich egal, was für dich wichtig ist. Vor zehn Jahren wäre es für mich wichtig gewesen, heute ist es mir gleichgültig.“
Gelogen und sicher kann er das in meinem Gesicht sehen, weswegen ich mich schnellstens umdrehte und weiterging.
„Paul…“ – „Himmel, hör endlich auf, mich zu nerven! Geh zu deinem – Freund und lass mich in Frieden!“ Es wollte mir nicht über die Lippen. Irgendwo in meinem Inneren protestierte eine Stimme, dass das alles nicht fair sei. Ich ging schneller, noch ungefähr drei Stockwerke, dann war ich aus diesem furchtbaren Haus raus.
Mit einem Mal spürte ich, wie ich die Stufe nicht richtig traf, mit der Sohle über die Kante rutschte und den Halt verlor. Meine Hände wirbelten durch die Luft und versuchten das Geländer zu fassen, sich irgendwo festzuhalten. Es gelang mir nicht, den Sturz aufzufangen, und der Aufprall war hart und schmerzhaft. Für einen Moment blieb mir die Luft weg. Scheiße, Scheiße, Scheiße! Tränen schossen in meine Augen und mir war schlecht.
„Paul?“ Trappelnde Schritte von oben und ich versuchte aufzustehen, doch der Schmerz war zu allumfassend, ließ mich kaum atmen, hektisch tastete ich nach dem Geländer und hielt mich daran fest. Einatmen… ausatmen… einatmen… ausatmen…
„Was ist passiert?“ Kim tauchte vor mir auf, sah mir besorgt ins Gesicht. Wenn ich den Mund hätte aufmachen könnte, ohne vor Schmerz zu stöhnen, hätte ich ihm gesagt, dass er sich verpissen, seinen kleinen goldgelockten Engel ficken und mich in Ruhe lassen soll, doch im Moment war das nicht möglich. Ein angedeutetes Kopfschütteln war alles, was ich hinbekam.
Er setzte sich neben mich, berührte mich und ich spüre das Kribbeln trotz des Schmerzes, erinnerte mich, wie es war, von ihm berührt, geküsst zu werden. Immer war da dieses Kribbeln gewesen. Ich musste den Schmerz kanalisieren, ihn zu der Wut machen, die ich jetzt brauchte, gegen Kim brauchte. Zornig schreie ich ihn an: „Nimm deine verdammten Finger weg. Was willst du Arschloch eigentlich von mir? Geh deinen kleinen goldgelockten Engel ficken. Und wenn das Marius‘ Bruder ist, dann spielt das auch keine Rolle. Du fickst doch schon immer, wen du Lust hast. Geh und versuch ihm nicht das Herz auszureißen, du – du gottverdammtes Arschloch.“ Ich zog mich an diesem blöden Geländer hoch, stieg langsam die nächste beschissene Stufe hinab. Am Treppenabsatz drehte ich mich um. Kim saß auf der Stufe und sah mich mit diesen sanften, jetzt traurig blickenden, blauen Augen an.
„Warum musstest du Penner von Liebe sprechen? Warum musstest du mir Hoffnungen auf eine Zukunft machen, die es nie für uns gab? Ich habe dich geliebt – und viel schlimmer: ich habe dir vertraut, völlig und bedingungslos. – Verpiss dich und komm mir nie wieder zu nah.“ Ich spürte die Tränen, die wieder über meine Wange liefen, humpelte weiter und hoffte, dass mein Steißbein nicht gebrochen, sondern nur geprellt war. Dem Schmerz nach, war es pulverisiert.
„Darf ich darauf antworten?“ – „Nein! Es spielt keine Rolle mehr – und jetzt geh, bitte“, sagte ich und überwand die nächste Stufe. Wie ich so ins Auto und nach Hause kommen sollte, wusste ich nicht.
„Scheiße, Paul, das kann sich doch keiner mit ansehen. Von mir aus schrei mich an, beleidige mich oder schweig, aber lass dir von mir helfen.“ Mit wenigen Schritten war er bei mir und legte seinen Arm um meine Taille, stützte mich. Schon damals war er stark gewesen, er konnte mich festhalten während wir… Böse Gedanken! Sie waren auch mur sehr oberflächlich, da der Schmerz inzwischen gedankenbetäubend war. Beim nächsten Schritt konnte ich einen Schmerzlaut nicht unterdrücken.
„Ich fahr dich jetzt ins Krankenhaus. – Nein, versuch erst gar nicht, etwas dazu zu sagen.“
Okay, also schwieg ich und litt. Es tat wirklich verdammt weh!
Im Krankenhaus machte Kim richtig Wirbel, ich ließ ihn, verharrte dumpf in dem Schmerz. Irgendwann führe er mich in ein Behandlungszimmer und ein junger Arzt kam herein. Was, wo, wann? Kurze Untersuchung. Erst als ich die Hosen runterlassen musste, wurde mir kurzfristig bewusst, dass Kim mit ihm Zimmer war. Röntgen. Ab zur richtigen Abteilung und wieder warten. Eine junge Frau machte die Aufnahmen und schickte uns wieder runter zu dem Arzt, Dr. Tyler. – Ob er Amerikaner war?
Ein Blick auf die Bilder, ein paar schmerzstillende Spritzen in empfindliche Stelle und ein Rezept für Tabletten. Wenn morgen die Schmerzen noch so stark sind, sollte ich zum Hausarzt gehen und mich krankschreiben lassen. Ich nickte, verabschiedete mich höflich und ließ mich von Kim nach Hause fahren. Während der Fahrt vermied ich, ihn anzusehen, schloss die Augen und stellte mich müde.
Kim fuhr noch zur Apotheke und holte im Notdienst die Tabletten. Schweigend fuhr er mich nach Hause.
Der Schmerz war etwas stumpfer geworden, als Kim mir vor meiner Wohnung half aus dem Wagen zu steigen. Ohne auf mich zu achten, legte er wieder seinen Arm um mich und stützte mich. Ich ließ ihn gewähren, solange er nicht wieder mit mir reden wollte.
Stufe für Stufe quälten wir uns in die zweite Etage, ich spürte den Schweiß meinen Rücken hinunterlaufen. Hoffentlich würde ich mit diesem Rücken liegen und schlafen können.
Nach ein paar vergeblichen Versuchen fand ich endlich meinen Schlüssel und schloss auf. Kim schob mich einfach in meine Wohnung und folgte mir. Die sommerliche Wärme der letzten Tage hing im Flur. Er stand nur einen Schritt vor mir und sah mich an. Mein Herz schlug viel zu laut.
„Ich habe nicht dich angelogen, Paul. Ich habe Sarah angelogen“, sagte er leise. „Ich hätte schon längst die Verlobung auflösen müssen, mich von ihr trennen müssen, aber… ich war zu feige.“
Sei still, sollte ich sagen, doch ich war müde und erschöpft. Der Tag kam mir jetzt vor wie eine ganze Woche.
„Es war genauso feige, dir nicht von ihr zu erzählen. Ich… ich hatte Angst, weil ich es nicht über mich brachte, es zu beenden. Sarah war wie ein kleines Mädchen, sie war so glücklich und immer wenn ich es sagen wollte, war nicht der richtige Moment.“
„Es war doch auch ganz nett für dich, du konntest von einem Bett ins nächste steigen“, sagte ich und schob mich an ihm vorbei. Es war verlogen.
„Ich habe nicht mit ihr geschlafen! Bitte, Paul, das musst du mir glauben. Das hätte ich nach dir gar nicht mehr gekonnt.“ Seine Hand hielt mich fest. „Ihr ging es nie darum. Sie wollte nur diese scheinbar perfekte Geschichte.“ Zärtlich strich er durch mein Gesicht. „Mit dir war es… Ich habe dich geliebt, Paul. Nicht ein Wort war gelogen. Ich wollte mit dir fortgehen.“
Konnte das wahr sein? Und machte das die Geschichte nicht noch viel schlimmer? Noch absurder?
„Und weil du mich drei Tage nicht erreichen konntest, hast du es aufgegeben?“, frage ich.
„Hätte ich nicht, wenn Tim nicht zu mir gekommen wäre.“
„Tim?“ Tim war ein Freund von Jenny. Eine Zeit lang hatte ich gedacht, er stünde auf mich, doch er hat nie einen Schritt unternommen.
„Ja, er hat mir den Brief von dir gegeben und gesagt, dass es mehr nicht zu sagen gäbe. Du wolltest mich nie wiedersehen. – Aus seinen Worten schloss ich, dass er dich trösten würde.“
„Tim? – Ich habe nie Tim zu dir geschickt. Warum auch, er war ein Freund von Jenny. Und einen Brief habe ich dir auch nie geschrieben.“ Das alles überforderte mich.
„Das hat Jenny auch gesagt und mich zu ihrer Geburtstagsparty eingeladen. Sie sagte, dass es einiges zu klären gäbe.“
„Aber du bist mit dem kleinen Goldengel zusammen.“ Keine Frage, eine Feststellung.
„Ja, aber…“
„Schluss, geh jetzt bitte“, sagte ich müde. „Und danke für deine Hilfe.“
„Gibst du mir noch einmal eine Chance mit dir zu sprechen?“, fragte er mit einem traurigen Blick.
„Frag mich morgen.“
Als er gegangen war, legte ich mich vorsichtig bäuchlings auf mein Bett. Schlecht. Seitwärts ging einigermaßen und ich ließ mich von der Müdigkeit überrollen, wollte nicht mehr an Kims Worte und die Konsequenzen daraus denken.
Die Türklingel riss mich aus einem Traum, einem Alptraum von Kim und Goldlöckchen. Immer noch lag ich in meinen Shorts und T-Shirt auf meinem Bett. Als ich mich umdrehen wollte, entfuhr mir ein Schmerzensschrei, ich hatte die Prellung meines Steißbeins völlig vergessen. Vorsichtig rutschte ich vom Bett und ging zur Tür. Wie spät war es? Ich öffnete die Tür und versuchte einen Blick auf die Küchenuhr zu erhaschen. Konnte es schon nach 11:00 Uhr sein? Zeit, aufzustehen.
Kim kam die letzten Treppenstufen hoch. Super, der hatte mir heute Morgen gefehlt. Er hatte eine Plastiktüte in der Hand und sah mich schuldbewusst an. Diese wunderschönen, blauen Augen, immer noch hatten sie diesen jungenhaft unschuldigen Ausdruck.
„Du hast noch geschlafen? – Ich wollte dich nicht wecken“, sagte er und sah mich aufrichtig zerknirscht an.
Mir fiel mein Traum von ihm und Goldlöckchen ein. Nicht gerade dazu geeignet meine Laune zu steigern, ich schüttelte den Kopf. „So lange schlafe ich normalerweise gar nicht“, sagte ich und sah ihn fragend an. Kim hob die Tüte hoch. „Der Doc hatte dir noch einen Sitzring aufgeschrieben…“ Er zog einen roten Plastikring heraus.
„Na super“, sagte ich und nahm ihn lächelnd aus seiner Hand.
„Darf ich herein kommen, Paul?“ Kim sah mich bittend an. Zu müde um nein zu sagen, nickte ich und trat zur Seite.
„Wenn du mir Zeit lässt für eine Dusche“, sagte ich und er lächelte. Oh, Mann, wie habe ich dieses Lächeln geliebt. Habe? – Nein, nicht darüber nachdenken.
Zum Glück war meine Dusche ebenerdig, ich weiß nicht, ob ich sonst mein Bein hochgenug bekommen hätte, um einzusteigen. Das Stehen war erträglich und das heiße Wasser angenehm. Meine Gedanken wanderten unweigerlich zu Kim, der nebenan saß. Wie oft hatten wir uns unter seiner Dusche geliebt? Ich erinnerte mich an meine Beine um seine Hüften geschlungen, seine Hände hielten mich und wir… Kein guter Gedanke, sofort strömte mein Blut gnadenlos in meinen Unterleib. Sex mit einem Partner war verdammt lange her. Und das nebenan war Kim. Meine Hand wanderte hinunter und ich begann mich zu streicheln. Es würde nicht lange dauern, die Gedanken an Kim waren viel zu präsent. Die Erinnerung war viel zu intensiv. Mit einer Hand stützte ich mich an der Wand ab und biss auf meine Unterlippe, um nicht zu laut zu werden. Offensichtlich waren zehn Jahre manchmal nichts.
Tablette nehmen, Zähne putzen, Rasieren, danach fühlte ich mich wieder wie ein Mensch. Kim saß im Wohnzimmer und las in der Zeitung von Vortag, die noch auf dem Tisch lag. Aufmerksam musterte mich sein Blick von oben bis unten, ließ mich erröten. Hatte er etwas gehört?
„Hat dein Goldlöcken dich gehen lassen?“ Wie gut, dass das nicht eifersüchtig klang.
„Er heißt…“
„Egal, vergiss es! Spielt keine Rolle. – Willst du einen Kaffee?“ Kim nickte und ich ging in die Küche. „Kaffee, Espresso oder Latte Macchiato?“, rief ich.
„Einfach Kaffee“, antwortete Kim von der Tür aus. Vor einiger Zeit hatte ich mir einen Kaffeeautomaten geleistet. Einen Kapselautomaten. Nicht so einen teuren Vollautomaten. Ich konnte spüren, wie er mich beobachtete, meine Nackenhaare stellten sich auf. Was sah er und – viel interessanter – was dachte er darüber?
„Hast du schon gefrühstückt?“, fragte ich ihn und zauberte damit ein Lächeln auf sein Gesicht.
„Es ist fast 12:00 Uhr, wenn ich noch nicht gefrühstückt hätte, wäre ich schon verhungert.“
„Es stört dich hoffentlich nicht, wenn ich was esse.“
In der Küche habe ich einen hohen Klapptisch mit den passenden hohen Hockern. Heute nicht so geeignet für mich. Vor dem Sitzen graute es mir sowieso etwas. Ich nahm also mein Müsli mit in das Wohnzimmer. Hinsetzen war echt – ohne Worte. Trotz des Schmerzmittels hätte ich schreien können. – Tat ich natürlich nicht, sondern biss nur die Zähne aufeinander. Auf diesem Ring sitzen war auch Mist und Kims unterdrücktes Grinsen machte es nicht besser.
„Du wolltest noch etwas mit mir besprechen“, sagte ich und sah ihn erwartungsvoll an. Kim räusperte sich, dann zog er einen Zettel aus der Tasche und reichte ihn mir wortlos. Langsam faltete ich das dreimal geknickte Papier, das deutliche Gebrauchsspuren aufwies, auseinander.
‚Kim,
ich ertrage deinen Verrat nicht. Zwei Tage lang habe ich darüber nachgedacht, versucht, zu verstehen, und dabei mir ist klar geworden, dass wir nicht zu einander gehören, wahrscheinlich, nie zu einander gehörten.
Es gibt nichts, was du sagen oder tun kannst, um diesen Vertrauensbruch ungeschehen zu machen. Ich habe gedacht, dass ich dich kenne und liebe, doch du hast alles zerstört. Jedes Vertrauen, das ich ihn dich und eine gemeinsame Zukunft hatte, genauso wie mein Gefühl von Liebe zu dir.
Vom ersten Moment an hast du mich belogen und betrogen. Jedes meiner Gefühle für dich beruhte auf einer Lüge. Auf deiner Lüge. Ich kenne den Mann nicht, der du bist und ich möchte ihn auch gar nicht kennenlernen, da dein Verrat über jedem Wort und jeder Geste schweben würde.
Bitte, respektiere wenigsten meinen Wunsch und nimm keinen Kontakt mit mir auf. Mein Herz hast du gebrochen, bitte, trampel nicht noch darauf herum.
Paul‘
Ich starrte auf die Handschrift, die nicht meine war, und versuchte herauszufinden, was der Grund für diesen Brief gewesen sein mochte.
„Der ist nicht von mir!“, sagte ich und sah Kim an. „Ich hätte dir das niemals geschrieben. Zum Anfang war ich so sauer und wollte dich nie wiedersehen, doch irgendwann überwog die Sehnsucht und ich hätte dich unbedingt sehen wollen. Hätte eine Erklärung von dir hören wollen.“
Kim sagte nichts, sah mich nur an. Wenn es nicht Goldlöckchen geben würde, würde ich meine Hand ausstrecken und ihn berühren. Doch niemals würde ich einem anderen antun, was man mir angetan hatte. Immerhin war ihre Beziehung so eng, dass Jenny sich genötigt sah, für eine Versöhnung zwischen Kim und mir zu sorgen. Das würde sie sicher nicht tun, wenn Goldlöckchen nicht häufiger mit Kim bei ihr und Marius auftauchen würde.
„Ich wollte uns nie in eine solche Situation bringen. Die Geschichte mit Sarah lief schon lange und als wir uns verlobt hatten, dachte ich auch, es wäre richtig. Dann sah ich dich an diesem Abend am See. Ich verliebte mich sofort in dich. Ich musste dich haben und zum Glück sahst du das genauso. Vom ersten Moment an nahm ich mir vor, die Geschichte mit Sarah zu beenden. Jedes Mal verpasste ich den richtigen Zeitpunkt. Dann kam diese Einladung, ich wollte nicht mitgehen, doch Lutz überredete mich. Im Nachhinein weiß ich nicht mehr, warum ich es gemacht habe.“ Kim trank einen Schluck Kaffee. „Doch, ich weiß es, ich war feige und schwach. Ich wollte niemandem wehtun und es allen recht machen. Sarah, meinen Eltern, insbesondere meinem homophoben Vater, Sarahs Eltern, die immer so nett waren… Nur den beiden einzigen Menschen, die es brauchten: dich und mich, denen versuchte ich es nicht recht zu machen. – Und das komische daran ist, dass ich jeden damit mehr verletzt habe, als wenn ich einfach die Wahrheit gesagt hätte.“ Ein trauriges, ironisches Lächeln lag auf seinen Lippen.
„Warum hast du mich behandelt wie den letzten Arsch? Du kannst dir nicht vorstellen, wie weh das getan hat.“ Ich konnte mich nur zu gut erinnern. „Wenn du in dem Moment zu mir, zu uns gestanden hättest… aber mich als nichts und belanglos bezeichnet…“
„Ich war so überrascht, so erschrocken und hatte Angst. Es war dumm und idiotisch. Irgendwie hatte ich gehofft, du würdest mir helfen, doch das war noch viel dümmer. Ich brauchte mir doch nur überlegen, was ich gesagt hätte, wenn die Situation andersherum gewesen wäre. – Noch an dem Abend habe ich mich von Sarah getrennt.“ Kim starrte auf die Tischplatte vor sich. Wie anders hätte unser Leben aussehen können…
Und jetzt war alles zu spät, Kim hatte einen Freund. Die Welle Schmerz, die mich bei diesem Gedanken erfasste, war unerträglich.
„Es wäre jetzt nett, wenn du gehst“, sagte ich und vermied Kims Blick. Seinen Augen konnte ich noch nie widerstehen.
„Paul,…“, versuchte er es, doch ich schüttelte den Kopf.
„Ich bin müde. Kommt wahrscheinlich von den Schmerzmitteln. Du brauchst die Tür nur hinter dir zuziehen.“ Ich stemmte mich hoch und ging ins Bad, bevor er noch etwas sagen konnte. Mit dem Kopf an die Tür gelehnt hörte ich zu, wie er ging, dann ließ ich den Tränen freien Lauf.
Kim hatte mich gewollt und ich ihn! Wir hätten trotz allem vielleicht eine Chance gehabt, wenn sich nicht so ein Idiot eingemischt hätte. Wenn nicht alles gegen uns gelaufen wäre.
Und heute? Ich würde ihm jederzeit eine zweite Chance geben, wenn er nicht Goldlöckchen hätte. Niemals würde ich einem anderen einfach den Freund ausspannen. Und es war immerhin etwas ernstes. – Aber er mag dich doch immer noch, schrie eine kleine Ecke meines Herzens. Nein, reine Einbildung, vielleicht auch nur die Erinnerungen, die hochkommen. Meine kommen auf jeden Fall wieder hoch. Irgendeiner in dem großen Weltengefüge musste etwas gegen mich haben.
Der Brief lag noch auf dem Tisch. Natürlich kannte ich die Schrift, die engen steilen Buchstaben, doch warum sollte Jenny diesen Brief geschrieben haben?
Mühsam suchte ich mir eine bequeme – oder erträgliche – Position auf dem Sofa und rief Jenny an. Nur die Mailbox ging dran. Ich versuchte es wieder, Jenny ging immer an ihr Handy, also würde ich hartnäckig bleiben. Irgendwann würde sie nachgeben.
„Was willst du?“ – „Ahnst du das nicht? Du wolltest immerhin, dass ich mit Kim spreche.“ Nach dem ich einen Moment schweigend gewartet hatte, fuhr ich fort: „Wir haben gesprochen und sind dabei auf einen Brief gestoßen, den angeblich ich geschrieben habe. – Jenny, warum?“
„Ich dachte damals, es sei das Beste für dich. – Du warst zu down und er war hauptsächlich hetero. Ich dachte, dieser Arsch bricht dir das Herz.“
„Du hast mir das Herz gebrochen, Jenny. Und jetzt tust du es zum zweiten Mal. Warum konntest du mich nicht vorwarnen, damit ich mir eine Strategie einfallen lassen konnte und nicht plötzlich vor dem Mann stehe, der mir immer noch so viel bedeutet? Und darauf vorbereitet war, dass er jetzt mit Goldlöckchen zusammen ist.
„Goldlöckchen? Du meinst Marius‘ Bruder…?“
„Ich weiß, wie er heißt: Frank. Immerhin kenne ich Marius auch schon länger. Doch das ist völlig unerheblich, wichtig dabei ist nur, dass er Kims Freund ist. Sie sind zusammen und gehören es vielleicht sogar. – Doch mir bricht es ein zweites Mal das Herz, da ich nicht einmal jetzt eine Chance auf den Mann habe, den ich liebe. – Und sag bitte nicht, dass es nicht deine Schuld ist. – Ach, vergiss es.“ Ich wollte auf einmal nicht mehr mit ihr sprechen. „Wir sprechen uns.“ Und bevor sie etwas antworten konnte, hatte ich aufgelegt. Das Telefon klingelte, doch ich ignorierte Jenny.
Geschlagene vierundzwanzig Stunden ignorierte ich Telefon und Tür. Klingeln und Klopfen. Zum Glück waren noch Sommerferien und ich musste nicht in die Schule. Darum musste ich mich auch nicht krankschreiben lassen. Wenn ich ihnen genügend Zeit gäbe, würden sie mich vielleicht alle wieder in Ruhe lassen. Vielleicht sollte ich am nächsten Wochenende einfach wegfahren. Eine Woche weg wäre auch eine Alternative. – Wenn ich bis dahin wieder fahren könnte…
Obwohl ich Kopfhörer auf hatte, hörte ich, dass Donnern gegen die Tür. 22:00 Uhr. Ich nahm die In-Ears heraus, wieder schlug jemand mit der Faust gegen meine Tür. Jenny war das nicht, da war ich mir sicher.
„Mach die verdammte Tür auf, du Penner!“, schrie eine Stimme, die ich überhaupt nicht zuordnen konnte. Langsam ging ich zur Tür. Leider gab es keins dieser praktischen kleinen Gucklöcher, durch die man Besucher kontrollieren konnte.
Wieder donnerte es gegen die Tür. „Ist er bei dir, du hinterhältiger kleiner Wichser? Lässt du dich von ihm ficken?“
Wenn ich raten müsste, stand Frank vor meiner Tür und vermutete aus irgendeinem Grund Kim hier. Die Tür aufmachen und ihm sagen, dass ich keine Ahnung hatte, wovon er redete, war wohl keine Option. Ich fühlte mich nicht in der Lage, mich körperlich mit ihm auseinanderzusetzen.
Der nächste Schlag erfolgte mit der flachen Hand, war dumpfer als die anderen. Mein Handy vibrierte auf der Kommode. Unbekannte Nummer. Dieselbe, die schon häufiger angerufen hatte. Ich vermutete Kim. Kurzentschlossen nahm ich das Gespräch an.
„Ja.“
„Paul?“, fragte mich Kim erstaunt.
„Du gottverdammtes Arschloch, öffne die Tür!“, schrie es vor meiner Tür.
„Was geht hier vor?“, fragte ich.
„Oh Gott, ist das Frank?“
„Keine Ahnung, ich habe die Tür nicht geöffnet. – Was will er von mir?“
„Lass die Tür zu, ich komme.“
„Wenn du es vor der Polizei schaffst. Ich befürchte Frau Schmidt-Mahler wird dort schon angerufen haben.“
„Bin gleich da.“
Nachdem ich das Handy wieder auf die Kommode gelegt hatte, ging ich zur Tür. Wieder schlug die Hand gegen die Tür, schwächer, erschöpfter. „Mach die Tür auf“, sagte Frank mit tiefer Verzweiflung in der Stimme und ich öffnete die Tür.
Blonde betont strubblig gestylte Haare, blaue, gerade leicht gerötete, große Augen, eine niedliche Stupsnase und ein weicher Mund; weiche, zarte, helle Haut, dazu eine schlanke Gestalt, nicht besonders groß. Perfekt. Makellos. Konkurrenzlos. – Was wollte er von mir?
„Was willst du?“, blaffte ich ihn an. „Dein Freund ist nicht hier! Warum sollte er das auch sein?“
„Weil er…“, Frank schluckte und sah mich an, „dich will, nicht mich.“
Wir starrten uns an, dann zog ich ihn in die Wohnung und schloss die Tür.
„Was für ein Blödsinn redest du? Kim und ich, das ist zehn Jahre her“, sagte ich entschieden.
„Das spielt für ihn keine Rolle. Er hat mit mir Schluss gemacht wegen dir.“ Das letzte Wort spie er aus und betrachtete mich abfällig von oben bis unten. „Wobei ich nicht sehen kann, was er an dir sieht.“
Ich ignorierte diese Beleidigung. Er hatte ja recht, ich war bestenfalls Durchschnitt, keine wandelnde Sahneschnitte wie er. Dazu war ich ungefähr fünf Jahre älter. Normalerweise wirklich keine Konkurrenz für ihn.
„Was sieht er in dir?“, fragte Frank und trat einen Schritt näher. Seine Aggression war deutlich zu spüren.
„Das ist nur eine Erinnerung. Etwas, dass es früher zwischen uns gab“, erwiderte ich mit einem Schulterzucken.
„Was für Erinnerungen kann er mit dir schon teilen, dass sie besser sind als ich?“ Unter mangelndem Selbstbewusstsein litt er auf jeden Fall nicht.
„Liebe“, sagte ich und starrte ihm in die blauen Augen. Die Farbe war anders als Kims sanftes, unschuldiges Blau, sie war eisig.
Er lachte. „Liebe? Zwischen dir und Kim? Kaum vorstellbar.“
Ganz langsam weckte er Aggression in mir. Was bildete sich dieser Affe ein? Kam in meine Wohnung und beleidigte mich.
„Wenn es für dich auch kaum vorstellbar ist, hat es doch gereicht, dass Kim dich abserviert“, entfuhr es mir. Sein Lachen erstarb.
„Das kann nur eine vorübergehende Verwirrung gewesen sein“, sagte er. „Wenn du glaubst, dass Kim bei dir bleibt, dann bist du ein Idiot.“
Es klingelte und ich drückte den Summer, öffnete die Tür. „Das ist Kim. Vielleicht könnt ihr das Thema zusammen klären“, sagte ich und deutete auf die Tür. Meine Wohnung war dafür bestimmt nicht der geeignete Ort. – Zumal ich ja eigentlich nichts mit zu tun hatte. Doch Frank blieb stehen und starrte mich an. Nicht lange und Kim erschien in der Tür, sah von Frank zu mir. Er trat zu mir und sah mir in die Augen.
„Alles in Ordnung?“, fragte er besorgt. Ich nickte.
„Ist das wirklich der Kerl, für den du mit mir Schluss gemacht hast? Sag mir bitte, dass das nicht wahr ist“, sagte Frank und Kim fuhr zu ihm herum.
„Doch genau für ihn“, antwortete Kim und mein Herz schlug etwas schneller in meiner Brust. Wenn Frank das sagte, konnte ich es mit einem Schulterzucken abtun, doch wenn Kim das sagte…
„Was ist an diesem Kerl? Er ist so unscheinbar und nichtssagend.“ Deutlich war der verletzte Stolz in Franks Stimme zu hören.
„Unscheinbar und nichtssagend? Frank, du bist blind. Paul ist eine Menge, aber nicht unscheinbar und nichtssagend. – Er ist…“ Kim schwieg, sah mich an und wendete sich wieder Frank zu. „Vielleicht kannst du es auch nicht sehen, weil du ihn nicht liebst, aber für mich ist er alles, was ich will, was ich brauche.“
Jetzt befürchtete ich für einen Moment, mein Herz würde einfach stehenbleiben. Meinte er das ernst? Wahrscheinlich starrte ich ihn in diesem Moment ziemlich dümmlich an.
„Das kann nicht sein, Kim, bitte. Und was war zwischen uns?“, fragte Frank jetzt mit purer Verzweiflung in der Stimme.
„Ich habe nie gesagt, dass ich dich liebe. Die Zeit mit dir war schön, aber alles zwischen uns war oberflächlich, ohne Tiefgang. Wir haben uns nie um Gefühle des anderen geschert. Wir hatten eine gute Laune Beziehung. Wenn wir uns sahen, ging es uns gut und wir haben etwas unternommen. Ging es mir nicht gut, habe ich dich erst gar nicht gesehen – und du hast nicht einmal gefragt, wieso ich nicht konnte oder abgesagt habe. – Umgekehrt genauso.“ Kim zuckte mit den Schultern. „Das war okay, doch das ist nichts für die Ewigkeit. Paul und ich, das war damals schon etwas anderes und wenn ich es nicht zerstört hätte, wäre es etwas großes geworden.“
„Hör auf! Das ist ja zum Kotzen. Tiefgang! Scheiße, bleib doch bei deinem kleinen, unscheinbaren Penner!“ Frank stieß sich von der Tür ab und stakste an Kim vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. „Und dich wollte ich halten…“ Theatralisch schlug er die Tür hinter sich zu.
Stille breitete sich in meinem Flur aus. Ich starrte auf Kims Rücken und versuchte, das Gehörte einzusortieren. War ihm das alles ernst gewesen?
„Es tut mir leid, dass Frank dich belästigt hat“, sagte Kim leise und drehte sich zu mir um. „Aber wenigstens bin ich so in deine Wohnung gekommen.“ Seine Hand legte sich unter mein Kinn und zwang mich, ihm in die Augen zu sehen. Da war es, dieses Blau, so warm und sanft. Obwohl es auch hell war, wirkte es so anders, jung und unschuldig. – Dabei war Kim drei Jahre älter als ich.
„Er hat dir doch nichts getan, oder?“ Sein Blick suchte mich kurz ab und ich schüttelte nur den Kopf, immer noch nicht in der Lage etwas zu sagen. Heillose Verwirrung beherrschte mein Denken. Liebte er mich immer noch? Konnte das wirklich sein? Oder war er nur so entschieden gewesen, um Frank abzuweisen?
Bevor meine Gedanken sich für eine Frage oder Aussage entscheiden konnten, legte Kim seine Lippen auf meine. 100.000 Volt jagten durch meinen Körper, ließen sämtliche Kraft aus mir weichen und nur Kims Arme, die sich um mich legten, hielten mich auf den Beinen. Ich schlang meine Arme um seinen Hals, hielt mich fast verzweifelt an ihm fest. Seine Zunge eroberte mich, zog sich zurück und ließ mich folgen. Erst ein stechender Schmerz, als Kim mich zu fest an sein Becken zog, holte mich wieder in das Hier und Jetzt. Er spürte mein Zusammenzucken und ließ sofort locker, ohne mich loszulassen.
„Wie konnte ich nur zehn Jahre, ohne das leben?“, flüsterte er rau in mein Ohr. „Wie konnte ich glauben, dich nicht mehr zu lieben?“ Er saugte leicht an meinem Hals, direkt unter meinem Ohr und ich stöhnte auf. Ich dachte an unsere erste Begegnung, wenn er mir jetzt zwischen die Beine greifen würde, würde ich genauso schnell kommen, wie beim ersten Mal.
„Kim“, flüsterte ich und wusste nicht einmal, was ich sagen wollte.
„Hm“, schnurrte er leise und schob seine Hände unter mein T-Shirt. Sanft streichelte er über meine Haut, eine Hand legte sich warm und fest auf meinen Rücken, eine wanderte auf meine Brust. Fingerspitzen strichen über meine Brustwarzen. Sein Mund legte sich auf meinen, atmete die Laute, die ich von mir gab.
„Baby, was liebe ich diese Töne, davon bekomme ich nie genug“, hauchte er gegen meine Lippen, während seine Hand sich tiefer unter den Bund meiner Shorts schob. Ich war im Begriff mich aufzulösen, zwischen seinen Worten, seinen Küssen, seinen Händen und ihren Berührungen zu vergehen. Paralysiert konnte ich mich nicht bewegen, mich nur seinen Berührungen hingeben. Er umfasste mich und ich klammerte mich fester an ihn. „Kim, ich…“, versuchte ich zu formulieren, doch er ließ mir keine Chance, pumpte mich zielstrebig und nach nur drei, vier Bewegungen konnte ich mich nur noch mehr an ihm festhalten und mich stöhnend, wimmernd und stammelnd dem Orgasmus ergeben, der mich über die Klippe spülte. Wenn Kim mich nicht gehalten hätte, wäre ich einfach zusammengebrochen.
„Weiß du, wie sehr ich das liebe?“ Sein Mund küsste mich und ich brauchte noch, um wieder bei mir zu sein. Das hatte er auch früher mit mir gemacht, mich gnadenlos kommen lassen und mich hinterher sanft und unendlich lange zu lieben.
Als wir uns bewegten, merkte ich mein angeschlagenes Steißbein wieder und zuckte leicht zusammen. Besorgt sah Kim mich an. „Eigentlich wollte ich dich jetzt ins Bett entführen…“, sagte er fragend.
„Ich weiß nicht, was heute alles möglich ist“, antwortete ich, sah ihn an und konnte kaum glauben, dass er tatsächlich da war.
„Ich werde ganz sanft und vorsichtig sein“, flüsterte er und sah sich um. „Wo ist dein Schlafzimmer?“
„Du bist verrückt“, sagte ich und deutete auf die Tür.
„Ja, nach dir“, antwortete er mit einem Lächeln und schob mich zum Schlafzimmer. „Und ich habe zehn vergeudete Jahre nachzuholen“, fügte er hinzu.
Sein Herz schlug gleichmäßig unter meinem Ohr. Beruhigend und einschläfernd. Wir hatten zwar nicht miteinander geschlafen, lagen jetzt aber trotzdem befriedigt und zufrieden nebeneinander. Es gab so viele Möglichkeiten…
Meine Finger streichelten sanft seine Brust, er legte seine Hand darauf, hob sie an und küsste sanft meine Finger, ehe er sie wieder auf seine Brust legte.
„Immer wieder wollte ich den Brief ignorieren, dich anrufen, von dir selber hören, dass du mich nicht mehr willst, doch ich war zu feige. Ich wusste ja, was ich getan hatte und ich zweifelte an deiner Liebe. Was, wenn du wirklich aufgehört hattest, mich zu lieben?“ Kims Stimme war leise, während seine Hand meinen Rücken streichelte. „Ich hatte mich wie ein Arschloch verhalten, hatte dich verletzt, was ich nie wollte. Immer hatte ich das Bedürfnis, dich zu schützen, dich zu beschützen, und ausgerechnet ich verpasse dir eine Breitseite. Jenny rief mich an und sagte mir, sie wolle mich nie wiedersehen, ich sei das größte Arschloch der Weltgeschichte. Also zog ich mich letztlich zurück und konzentrierte mich auf mein Studium.“
Was sollte ich dazu sagen? Ich kuschelte mich enger in Kims Arm.
„Ich schaffte es irgendwann, dich aus meinem Kopf zu verdrängen. Fing an, wieder mit anderen Männern auszugehen, doch es fehlte immer etwas. Ich konnte und wollte es nicht benennen, doch keine dieser Begegnungen oder Beziehungen war vollständig. – Genau wie die mit Frank. Es war okay, wir haben uns die Zeit miteinander vertrieben, doch waren nie wirklich zusammen. Wir teilten nie unser Leben, nur unser Bett.“ Ich wollte das nicht wirklich hören, wusste aber, dass es für Kim wichtig war, darüber zu sprechen. Sanft drehte ich meine Hand so, dass sich unsere Finger ineinander verschlingen konnten.
„Dich dort oben auf Jennys Terrasse stehen zu sehen, war wie ein Schlag in die Magenkuhle. Alles war wieder da. Ich erinnerte mich an alles, fühlte alles, und wusste, dass alles andere nichts dagegen war.“ Vorsichtig rollte er sich über mich, sah mir in die Augen. „Ich liebe dich, Paul, und wenn du es mir erlaubst, werde ich es den Rest meines Lebens tun.“
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„Was hältst du von Italien? Venedig oder Florenz?“, fragt Kim und reißt mich aus meiner Vorbereitung für die kommende Woche. Ich hebe den Blick von meinen Notizen und bewundere kurz die Aussicht, die sich mir bietet. Kim liegt neben mir bäuchlings auf dem Bett, meine Augen folgen den langen Beinen, gleiten über die wunderbar gerundeten Hügel seines Hintern weiter über die muskulöse Rückenpartie zu seinem Gesicht, das mich wissend über seine Schulter ansieht. Mit den Schultern zuckend erkläre ich: „Wenn ich nicht gucken soll, solltest du dich nicht nackt neben mich legen.“
„Wie wäre es, wenn du endlich aufhörst nur zu gucken und auf die Aussicht reagierst? Was meinst du, worauf ich schon geschlagene zehn Minuten warte?“, frage Kim mit hochgezogenen Augenbrauen. „Oder lässt dich mein Anblick inzwischen kalt?“
Mit einem Grinsen lege ich meine Aufzeichnungen zur Seite und knie mich zwischen seine Beine. Seit drei Monaten lebt Kim bei mir und sein Anblick lässt mich weder nackt noch angezogen kalt. Ich streiche über seine Fußsohlen, über seine Waden, die Kniekehlen und die Oberschenkel weiter nach oben. Kim streckt die Hände über den Kopf und gibt sich meinen Händen hin, die seine Pobacken massieren. Ich küsse mich seine Wirbelsäule hoch, während meine Hände an seinen Seiten entlangstreichen. Sanft beiße und küsse ich abwechselnd seinen Nacken, während ich mich auf seine Oberschenkel setze und meine Erektion zwischen seinen Pobacken reibe. Er stöhnt, hebt sein Becken. „Komm, Baby, ich will dich spüren“, stöhnt er heiser und jagt mir einen Schauer über den Rücken. Ich rutsche wieder zwischen seine Beine und krame das Massageöl aus der Schublade, widme mich seinen Pobacken, dem Tal dazwischen und der kleinen Rosette, die so wahnsinnig empfindlich ist. Kim zieht die Beine an, öffnet sich und ich dringe mit einem Finger vorsichtig in ihn ein, entlocke ihm ein tiefes, grollendes Stöhnen. Mit der anderen Hand umfasse ich seine Erektion und streichele sanft auf und ab, dringe dabei mit einem weiteren Finger in ihn ein. Vorsichtig bereite ich ihn vor, berühre immer wieder seine Prostata, bekomme jene leisen Töne, die zwischen heiserem Schreien und Stöhnen liegen und das Blut unweigerlich in meine schon stein harte Erektion treiben.
„Bitte, Baby, komm“, stöhnt er leise, während sich sein Körper immer dichter an mich heranschiebt. Noch einmal nehme ich Massageöl und verteilte es großzügig, dann schiebe ich mich langsam in ihn. Ich warte, bis er soweit ist, massiere seine Erektion bis er sich entspannt und beginnt sich zu bewegen. Dann legte ich beide Hände auf seine Hüften und stoße ihn tief. Suche und finde den richtigen Winkel und nehme ihn mit langen Stößen in Besitz. Kims Hände krallen sich in die Bettdecke und er versucht, seine Schreie durch Beißen in die Decke zu dämpfen. Leider haben wir Nachbarn und keine Lust noch einmal auf die Geräusche aus unserer Wohnung angesprochen zu werden. Ich liebe seine unbeherrschten Laute und habe darauf bestanden, dass wir uns schnellstmöglich nach etwas anderem, ohne direkte Nachbarschaft umsehen. Kim lässt sich gehen, er versucht gar nicht, etwas zurückzuhalten, er lässt seiner Lust freien Lauf und ich liebe das. Schon der Anblick seines sich unter mir windenden Körpers bringt mich fast zum Kommen. Ich erhöhe das Tempo und spüre, dass Kim gleich soweit ist. Seine Muskeln ziehen sich zusammen, in hektischen, steifen Bewegungen kommt er mir entgegen und kann nur noch dieses lang gezogene und recht laute Stöhnen von sich geben. Noch einmal erhöhe ich das Tempo und spüre, wie er sich fallen lässt, folge ihm, spüre die harten Muskelkontraktionen, die mir den letzten Rest geben und sinke auf seinen Rücken. Immer wieder, wenn ich mit ihm schlafe, fasziniert mich, dass er ohne zusätzliche Stimulation kommen kann.
„Ich liebe dich“, flüstere ich und rutsche neben ihn.
„Hm, ich dich auch“, nuschelt er und dreht sich zu mir um, zieht mich in seine Arme. „Ich glaube, wir müssen das Bett beziehen.“
„Später“, murmele ich an seiner Schulter, sauge den Duft seiner Haut ein, spüre, wie er eine Decke über uns zieht. Warm und geborgen, denke ich und lasse mich treiben, zu müde, um mehr zu denken.
„Venedig“, flüstert Kim in mein Ohr. „Ich denke, Venedig ist für Flitterwochen passender.“
Mein Kopf braucht ein paar Sekunden, um das letzte zu begreifen, immerhin ist das Blut gerade erst wieder in meinem Gehirn angekommen. Ruckartig setze ich mich auf und starre ihn an. Ein fettes Grinsen liegt auf seinem Gesicht.
„Eigentlich wollte ich es ja etwas klassischer machen, mit Antrag auf den Knien, aber ich halte es nicht mehr aus: Willst du mich heiraten?“
Mindestens dreimal öffne und schließe ich meinen Mund, ohne dass irgendetwas herauskommt. Kim will mich heiraten! Er will den Rest seines Lebens mit mir verbringen! Und er will, dass alle wissen, dass er das will!
Ohne die Augen von meinem Gesicht zu nehmen, kramt er eine kleine Schachtel unter seinem Kopfkissen hervor und ich habe das Gefühl, mein Herz sprengt gleich meine Brust. In dem Kästchen liegen zwei Edelstahlringe, breit, matt und wunderschön. Immer noch bin ich nicht in der Lage irgendetwas zu sagen, starre nur auf seine Hand, die einen der Ringe nimmt und über meinen Finger schiebt.
„Platzhalter, bis du ja sagst und wir zusammen welche aussuchen“, sagt er und sieht mich etwas unsicher an. Ich nehme den zweiten aus der Schachtel und schiebe ihn auf Kims Finger. „Ja“, sage ich und versuche nicht wie ein Schlosshund loszuheulen.
„Danke, Baby, ich hatte schon Angst, du lachst mich aus“, sagte Kim und zieht mich in die Arme. In seinen Augen glitzert es verdächtig. Ich schlinge meine Arme um ihn und verstecke meine Tränen an seinem Hals.
„Das ist die unglaublichste und schönste Frage, die du stellen konntest“, sage ich heiser und seine Arme umfassen mich fester.
„Es ist die schönste Antwort, die du mir geben konntest.“
Es hat zehn Jahre gedauert, um an diesem Ort anzukommen. Zehn Jahre um endlich dort zu sein, wo ich hingehöre. Bei dem Mann, zu dem ich gehöre. Ich hoffe, die zehn Jahre haben uns gelehrt, wie wichtig es ist, mit den Dingen, die man hat, sorgfältig und vorsichtig umzugehen, damit wir uns nie wieder verlieren.
ENDE
Texte: Gabriele Oscuro
Bildmaterialien: ebenso :)
Tag der Veröffentlichung: 11.05.2014
Alle Rechte vorbehalten
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Für alle Romantiker