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Oliver

„Nun spring doch endlich“, brüllte sein Vater und sah wütend gestikulierend zu ihm hoch. Oliver konnte nicht. Er starrte auf die Wasserfläche weit unter ihm und konnte nicht springen. Hinter ihm murrten die wartenden Kinder, egal jedoch, wie sehr er es wollte, er konnte nicht.

„Komm“, sagte auf einmal eine Stimme neben ihm und jemand nahm seine Hand. „Wir springen zusammen.“ Oliver hob seinen Blick von dem glitzernden Blau und sah in zwei Augen fast der selben Farbe. Neben ihm stand der blonde Junge, den er während des ganzen Sommers täglich bei seinen Sprüngen vom 10-Meter-Brett bewundert hatte. Er war einer von denen, die sich alles trauten und die von allen bewundert wurden. „Vertrau mir, es passiert dir nichts.“ Ein Lächeln und er wäre ihm überallhin gefolgt.

Der Flug dauerte nur Sekunden und schon tauchten sie in das Wasser. Erst hier ließ der Junge ihn los, wartete bis er prustend auftauchte, und schwamm neben ihm an den Beckenrand.

„Du bist ein solcher Feigling. Ich habe dir genau erklärt, dass dir nichts passieren kann, aber du bist nicht einmal in der Lage von dem 7,5-Meter-Brett zu springen.“ Kochend vor Wut empfing ihn sein Vater.

„Danke“, flüsterte er leise, das Gebrüll ignorierend, zu dem Jungen, der irritiert zu seinem Vater hochsah.

„Kein Problem, jederzeit wieder“, antwortete er mit einem breiten Lächeln. „Und mach dir keine Gedanken, es hat nichts mit Mut zu tun, von da oben herunter zu springen.“ Das Wasser perlte von seinem trotz seiner Jugend schon ausgeprägten Brust, während er sich am Beckenrand hochstemmte. Ohne Olivers Vater zu beachten, ging er zurück zum Springturm.

„Wir gehen“, knurrte sein Vater, als er über die Leiter aus dem Wasser gestiegen war. Bevor er seinem Vater folgte, drehte er sich um und sah nach oben. Das 10-Meter-Brett. Sein Vater wollte, dass er bis zum Ende der Sommerferien dort hinuntersprang. Niemals. Auch von dem verdammten 7,5-Meter-Brett würde er nicht noch einmal springen.

Der Junge tauchte oben auf. Seine blonden Haare schienen in der Sonne zu leuchten. Ohne zu zögern, trat er an den Rand des Brettes, stieß sich ab und drehte sich zweimal elegant, ehe er vollkommen gerade in das Wasser tauchte.

„Ol-i-ver!“, schrie sein Vater und er riss sich von dem Anblick des Jungen los, der gerade wieder auftauchte. Hatte er ihn angesehen? Für einen Moment raste sein Herz bei dem Gedanken. Nein! Das konnte nicht sein. Schnell folgte er seinem Vater.

Auch wenn er in den restlichen zwei Wochen, die er bei seinem Vater verbrachte, nicht mehr mit dem Jungen sprach, konnte er sich zumindest einbilden, dass dieser ab und zu seine Blicke erwiderte. Dabei war ihm klar, dass der Junge aller Wahrscheinlichkeit nicht, wie er selber, auf Jungs stand und wenn, wäre er bestimmt nicht das Objekt seiner Begierde. Oliver seufzte, er war klein und völlig unscheinbar. Es gab nichts, was jemanden auf ihn aufmerksam machen würde. Und schon gar nicht einen gut aussehenden Jungen wie Chris.

Chris. Zufällig hatte er seinen Namen am vorletzten Tag gehört. Ein schöner Name, der perfekt zu dem Jungen passte.

„Du musst endlich ein Mann werden, Oliver“, sagte sein Vater gerade zu ihm. „Reiß dich mal zusammen und benimm dich nicht wie ein Mädchen. Mein Gott, du bist fünfzehn, nicht fünf.“ Sie standen am Bahnhof, der Zug war gerade eingerollt. Sein Vater nahm seine Hand, eine Umarmung wäre für ihn undenkbar gewesen. „Allein schon dieser schwule Händedruck“, sagte er kopfschüttelnd. Wenn du wüsstest, dachte Oliver, doch er würde wohl nie den Mut haben, ihm das zu sagen. Mit einem letzten „Tschüs“ stieg er in den Zug und fuhr nach Hause.

 

„Nun sein doch nicht so ein Feigling, Oliver“, sagte Marion und stieß ihn in die Seite. „Alle fahren.“ Zu sechst standen sie vor der Achterbahn, die gerade rauschend und mit dem johlenden Geschrei der Insassen an ihnen vorbeifuhr, ehe sie in rasender Fahrt in den dreifachen Looping schoß. Oliver sah nach oben, dort wo die Bahn von höchsten Punkt fast senkrecht in die Tiefe fiel und schüttelte den Kopf. „Niemals.“

„Komm schon“, sagte jetzt auch Fabian und für einen Moment wurde er schwach, da er auf den großen, dunkelhaarigen Jungen stand. Wie würde es jedoch aussehen, wenn er sich schreiend und brüllend, völlig hysterisch an Fabian festklammern würde?

„Nein, ich hasse Achterbahnen.“

„Mann, du bist echt ´ne Memme“, kommentierte Sandra mit einem abwertenden Blick auf ihn. „Los, lasst die Spaßbremse hier.“ Und sie zog Marion mit zum Kassenhäuschen.

An das Gitter gelehnt betrachtete er seine Freunde, die blödelnd in der langen Schlange standen. Er war gerade neunzehn geworden und hatte in diesem Semester sein Studium aufgenommen. Eigentlich hatte er Mediendesign studieren wollen, doch auf Drängen seines Vaters war es Informatik geworden. Wie er zu fünf Freunden gekommen war, war für ihn immer noch ein Wunder, das er Marion, die in seiner WG wohnte und sich von Anfang an um ihn gekümmert hatte, verdankte. Wie lange sie ihn nach heute allerdings noch mitnehmen würden, war fraglich.

„Ich kenn dich“, sagte eine Stimme vor ihm und Oliver löste den Blick von seinen Freunden und sah in blaue Augen, die ihn interessiert ansehen. „Es ist zwar schon eine Weile her, aber wir haben uns vor vier Jahren schon einmal getroffen.“

Olivers Herz setzte einen Schlag lang aus, als er Chris erkannte, dann raste es in seiner Brust los und er nickte.

„Du warst nur in den Sommerferien da“, stellte Chris fest. „Schade, ich hatte gehofft, du würdest nach den Ferien auf unsere Schule gehen.“

„Ich habe nur meinen Vater besucht“, stotterte er und konnte nicht glauben, was er gehört hatte. Chris hatte gehofft?

„Im nächsten Sommer warst du jedoch nicht da.“

„Mein Vater war fortgezogen“, sagte Oliver.

„Und jetzt wohnst du hier?“

Oliver nickte, kam sich dämlich vor und schluckte.

„Studierst du hier?“, fragte er weiter.

„Chris?“, rief eine Stimme und er drehte sich um. Weiter hinten standen zwei junge Männer und sahen fragend herüber.

„Geht schon vor, ich komme nach“, rief er und sie hoben die Hände, schlenderten Arm in Arm weiter. Arm in Arm? Oliver schluckte. Ganz schön mutig hier auf dem Schützenfest.

„Und? Studierst du hier?“, fragte Chris ihn und lächelte. Dieses Lächeln, von dem er wochen-, monatelang geträumt hatte.

„Ja, Informatik.“ Himmel, wo war seine Fähigkeit ganze Sätze zu sprechen? Verschwunden in diesen himmelblauen Augen.

 

„He, du hast echt was verpasst“, sagte Fabian lachend und legte den Arm um seine Schulter. Oliver zuckte zusammen. Bisher hatte Fabian ihn noch nie angefasst. Schnell hob er den Kopf und sah den merkwürdigen Blick, mit dem Fabian Chris ansah, der kühl und abwartend erwidert wurde.

„Ja, wenn du nicht so ein Feigling wärst, hättest du richtig Spaß haben können“, kommentierte Sandra. „Wer ist den dein hübscher Freund?“

„Das ist Chris. Wir…“, er stockte.

„Wir kennen uns schon ziemlich lange“, sagte Chris und nickte den anderen lächelnd zu. „Zufällig sah ich Oliver hier stehen und da wir uns lange nicht mehr gesehen haben…“

„Komm doch einfach mit“, flötete Sandra. „Wir wollen noch ein bisschen Spaß haben.“

„Warum nicht? Ich habe eh nichts Besseres vor“, antwortete Chris und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.

 

Während Sandra Chris völlig in Beschlag nahm, blieb Fabian ungewöhnlicherweise in Olivers Nähe. So sehr er sich das zum Beginn des Abends gewünscht hatte, so sehr wünschte er sich jetzt, neben Chris zu gehen, mit ihm zu sprechen. Nach wenigen Metern und einem Bier, blieben sie vor dem nächsten Karussell stehen. In wilden, wogenden Bewegungen wurden die in ihren Einzelsitzen gehaltenen Fahrgäste herumgeschleudert. Oliver hob sich der Magen schon beim Zuschauen.

„Für dich ist das wohl wieder nichts, Olli“, sagte Sandra höhnisch. „Viel zu schnell und zu wild für den Kleinen.“

„Ich gehe auch nicht in diese Dinger“, sagte Chris und lächelte ihn an. „Da wird mir höchstens schlecht drin. Aber dann haben wir solange Zeit uns zu unterhalten.“ Und ohne die Reaktion der anderen abzuwarten, zog er Oliver an einen nahe gelegenen Bierstand, die Blicke von Sandra und Fabian ignorierend.

„Das ist nicht wahr, oder?“, fragte Oliver ihn, während er die anderen beobachtete, die sich an der Schlange anstellten.

„Nein, aber egal. Ich will meine Zeit nicht mit deinen Freunden, sondern mit dir verbringen.“ Wieder schenkte er ihm ein strahlendes Lächeln und Oliver musste schlucken. „Du studierst also Informatik? Klingt in meinen Ohren nicht so spannend.“

Und bevor Oliver wusste, was er tat, erzählte er Chris, dass er eigentlich gar nicht Informatik, sondern viel lieber Mediendesign hatte studiert wollen, aber sein Vater ihn quasi mit der Geldpeitsche dazu gezwungen hatte.

Nachdenklich sah Chris ihn an und er spürte, wie das Blut in sein Gesicht kroch. „Hast du schon einmal darüber nachgedacht, nicht zu tun, was dein Vater von dir verlangt?“

„Ja, aber ich…“ Er senkte den Blick, sah auf seine Schuhspitzen. „Immerhin finanziert er das Studium.“

„Also mein Vater hat mir alles gestrichen, nachdem ich ihm gesagt habe, dass ich schwul bin, trotzdem studiere ich Schauspiel.“

 

„He, was steht ihr hier so trübsinnig rum, lasst uns weitergehen“, sagte auf einmal Fabian neben ihm und legte Oliver erneut den Arm um die Schulter. „Ich brauche dringend etwas zu essen und ein Stückchen weiter unten gibt es die besten Döner des Platzes.“

Heute Morgen hätte er sich über diese Geste gefreut, jetzt, unter Chris‘ spöttischem Blick, fühlte sie sich nicht gut an.

„Ja, lasst uns gehen“, schloss sich Sandra an und hakte sich wie selbstverständlich bei Chris ein. Sanft löste er ihren Arm. „Ich würde mich gern weiter mit dir unterhalten“, sagte er und trat einen Schritt auf Oliver zu. „Doch hier ist es mir zu laut. Wollen wir woanders hingehen?“

Seine Kehle wurde trocken. Alleine mit Chris? Was würden die anderen sagen? Würden sie ihn in Zukunft noch einmal mitnehmen? Immerhin waren sie die ersten Freunde, die er hatte.

„Du musst nicht, wenn du nicht willst“, sagte Chris.

„Doch“, sagte er schnell, warf Marion einen Blick zu, sie lächelte ihn an.

„Wir sehen uns später. Viel Spaß“, sagte sie und winkte ihnen zu, während sie die anderen weiterzog. Fabian warf ihm und dann Chris einen ziemlich genervten Blick zu.

„Hm, ich glaube, der steht auf dich“, sagte Chris und lächelt ihn an. „Kann ich gut verstehen.“ Oliver wurde heiß unter dem Blick. „Und jetzt gehen wir irgendwo ihn, wo wir uns in Ruhe unterhalten können.“

 

Oliver hatte an eine Kneipe, einen Biergarten oder Ähnliches gedacht, aber nicht an Chris‘ Wohnung. Eine kleine, dank der Temperaturen völlig überhitzte Dachgeschosswohnung. Es gab eine winzige Küche, ein Duschbad, ein Schlafzimmer, in das gerade einmal die quadratisch Matratze und eine Kommode hinein passten und das Wohn- und Arbeitszimmer. Von diesem führte eine Tür auf eine Dachterrasse, die man dem Rest der Wohnung nicht zugetraut hätte.

„Setzt dich. Magst du etwas trinken? Bier, Wasser, Cola?“ Chris dirigierte ihn auf die Doppelliege, die fast den gesamten Platz auf der Terrasse einnahm. Daneben standen ein stabiler Sonnenschirm und ein kleiner Tisch.

„Cola“, sagte Oliver und setzte sich. Sie befanden sich hochgenug, um über einige Dächer zu blicken, während keiner sie sehen konnte. Es ging ein kühlender Wind und Oliver entspannte sich etwas.

„Rutsch ein Stück“, sagte Chris, drückte ihm ein Glas in die Hand und schob sich neben ihn. „Für diese Aussicht leiste ich mir diese nicht gerade günstige Wohnung. Dafür arbeite ich zweimal die Woche im Supermarkt und zwei Abende im Easy, einer Kneipe, nicht weit von hier.“ Auf einen Ellenbogen aufgestützt sah er Oliver an. „Erzähl mir etwas von dir.“

„Da gibt es nicht viel zu erzählen, das meiste weißt du schon“, murmelte er und trank einen Schluck der eisigen Cola.

„Ich weiß, was du widerwillig Informatik studierst, dass du Höhe nicht magst, genauso wenig wie schnelle Fahrgeschäfte und dass du eine gute Freundin hast. Die andere würde ich eher unter Bekannte abhaken, wobei dieser Fabian auf dich steht. Zumindest würde er dich gerne abschleppen.“

Oliver wurde wieder rot, wich Chris‘ Blick aus. „Das glaube ich nicht. Ich weiß ja nicht einmal sicher, ob er auf Männer steht.“

„Du aber“, stellte Chris fest. Oliver nickte nur. „Gut.“ Er beugte sich vor. „Vor vier Jahren war ich mir nicht sicher und dein Vater hat dich wie ein Schießhund beaufsichtigt. Dabei wollte ich schon damals das tun.“ Sein Mund senkte sich und er küsste Oliver.

Wie oft hatte er sich seinen ersten Kuss vorgestellt, davon geträumt, wie es sein würde. Die zarte, fragende Berührung ließ seinen Mund kribbeln, nach mehr verlangen. Der Druck, der Kuss verstärkte sich. Es war anders, besser, als er es sich erträumt hatte.

Es war kein Stromschlag, der durch seinen Körper jagte, nur ein summendes Rauschen, das von diesen Lippen ausging und sein Blut in Bewegung setzte. Es ließ ihn nach mehr verlangen, löste nie gekannten Hunger in ihm aus und sein Arm legte sich wie von selbst um Chris. Als Chris‘ Zunge darum bat, öffnete er seinen Mund, empfing sie etwas ungeschickt tastend. Ließ sich verwickeln und begann einen Tanz, der aus Umschlingen und Erforschen bestand. Trotz Nasenatmung verlangte sie beide nach Luft und lösten sich schwer atmend.

Oliver spürte, dass sich sein Blut an einem Ort versammelt hatte und dieser sich gerade unschicklich an Chris presste. Doch als er zurückzucken wollte, legte dieser eine Hand auf seinen unteren Rücken und zog ihn wieder heran.

„Das ist unglaublich“, flüsterte Chris und hauchte sachte Küsse auf seine Stirn, seinen Haaransatz. „Du machst mich schwach.“ Und zur Unterstreichung bewegte er seinen Unterleib an Olivers. „Wenn ich dir zu schnell oder ungeduldig bin, sag es.“

„Ich… ich habe noch nie…“ Wieder errötete er.

„Du warst noch nie mit einem Mann zusammen?“

„Ich habe noch nie einen Mann geküsst“, sagte Oliver.

„Das war dein erster Kuss?“ Chris beugte sich wieder über ihn. „Dann müssen wir deine Kenntnis ein wenig vertiefen.“ Wieder küsste er ihn und Oliver konnte sich nur ausliefern, sich diesem Mann und den Gefühlen, die er auslöste hingeben.

Eine Hand schob sich unter sein T-Shirt, streichelte seine nackte Haut, löste kleine Flächenbrände aus, wo sie entlang kam. Gerne hätte er Chris berührt, doch die Gefühle, die dieser in ihm auslöste, ließen ihm keine Chance. Er keuchte in seinen Mund, krallte sich in Chris‘ Hemd.

Wenig später lag er nackt auf dieser Terrasse, wurde von Chris‘ Mund erobert, verwöhnt, in Sphären geführt, die er sich nicht einmal hatte vorstellen können. Er kam in dem Mund des anderen, ohne die geringste Chance diese zu verhindern. Dieser Orgasmus war nicht, überhaupt nicht, ganz und gar nicht, mit seinen bisherigen handgemachten Orgasmen zu vergleichen. Sie verdienten nicht einmal den selben Namen. Er lag in Chris‘ Arm und versuchte irgendwie wieder auf die Erde zurückzukehren – oder es nicht zu tun.

„Wow, du bist wunderschön“, flüsterte Chris in sein Ohr. „Ich glaube, davon kann ich nicht genug bekommen.“

In den Armen des anderen liegend versuchte Oliver passende Worte zu formulieren, überhaupt etwas zu sagen, das nicht dumm klang.

„Oliver, würdest du mich streicheln?“, fragte Chris und es klang unsicher.

Er drehte sich um, sah in die Augen, deren Farbe er nur noch raten konnte, da die Sonne dabei war hinter den Häuserdächern unterzugehen. „Ja“, hauchte er und begann, Chris‘ Hemd aufzuknöpfen. Schüchtern begann er die nackte Haut zu küssen, zu streicheln. Aus dem schweren Atmen wurde leises Stöhnen und steigerte sich zu lang gezogenen wimmernden Tönen, als er seine Hand um Chris‘ Erektion legte. Es war das erste Mal, dass er das bei einem anderen Mann tat und er war sich nicht sicher, ob er es richtig machte. Unsicher sah er in das schöne Gesicht, die Augen halb geschlossen betrachtete ihn Chris, den Mund leicht geöffnet, die Lippen feucht glänzend. Oliver konnte seine Augen nicht mehr abwenden, bis er Chris an den Rand und darüber hinaus geführt hatte. Niemals hatte er etwas aufregenderes gesehen oder getan.

Mit einem Taschentuch reinigte Chris seinen Bauch, dann zog er Oliver in seinen Arm. „Dann bist du ein Naturtalent.“

Eine Zeit lang lagen sie schweigend nebeneinander. Chris streichelte sanft über seinen Rücken und er zeichnete kleine Kreise auf Chris‘ Bauch.

„Darf ich dich etwas fragen?“ Oliver hob den Kopf und sah Chris an, der die Lider halb öffnete.

„Sicher.“

„Was bedeutet das hier? Also… ich meine… wie geht es jetzt weiter?“, stotterte er. Leises Lachen bewegte den Brustkorb.

„Es geht so weiter, wie wir das wollen. – Oder willst du wissen, ob das hier eine einmalige Sache für mich war?“ Jetzt öffneten sich die Augen ganz, sahen ihn prüfend an.

„Ich weiß nicht, ich habe keine Erfahrung und du… du bist so… so unglaublich, so gut aussehend und kannst bestimmt jeden…“

Weiter kam er nicht, da Chris sich über ihn rollte. „Hör sofort auf. Selbst, wenn ich jeden bekommen könnte, wollte ich nicht jeden, sondern dich. Schon vor vier Jahren, als du auf diesem blöden Sprungturm standest und mit dir gekämpft hast, habe ich mein Herz an dich verloren. Du bist so unglaublich – und was es noch besser macht, du weißt es nicht.“ Ein kurzer Kuss auf seine Nase. „Deine braunen Locken, deine einzelnen Sommersprossen, dein Mund, deine braunen Augen, die die Farbe von süßem Kakao haben, alles das macht dich unwiderstehlich. – Dein Freund Fabian beißt sich gerade in den Hintern, weil er dich nicht schon längst abgegriffen hat.“ Ein heiseres Lachen. „Und wenn es nach mir geht, wird er niemals genau wissen, was ihm entgangen ist.“

„Heißt das, wir sind jetzt zusammen?“, fragte Oliver immer noch völlig überfahren.

„Ja, wenn du das willst.“ Chris küsste ihn. „Wenn du das willst, sind wir ab heute zusammen.“

 

Oliver konnte es kaum glauben. Das Leben war schön! Er hatte einen Freund – und zwar nicht irgendeinen Freund, sondern einen gut aussehenden und attraktiven Freund. Mit Schmetterlingen im Bauch stand er am verabredeten Treffpunkt und wartete auf Chris. Endlich sah er ihn und ein, für Außenstehende bestimmt ziemlich debil aussehendes, Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Er hob die Hand, Chris sah ihn, lief die letzten Schritte, schlang seine Arme um ihn und hob ihn hoch. „Endlich!“ Er küsste ihn und stellte ihn wieder auf den Boden.

Ein wenig unsicher sah Oliver sich um, doch die meisten Menschen in ihrer Nähe schienen es gar nicht registriert zu haben. Eine ältere Frau, deren Blick er begegnete, lächelte und drehte sich weg.

„Los, Frieda und Zecke erwarten uns am Kino.“ Chris legte seinen Arm um seine Schulter und zog ihn mit. Immer noch unsicher legte er seinen Arm um Chris‘ Hüfte. Was würde sein Vater dazu sagen? Er konnte sich nicht vorstellen, was passieren würde, wenn er ihm die Wahrheit sagen würde. Doch noch war das alles sehr weit weg und er brauchte nicht darüber nachzudenken, sondern nur Chris Nähe zu genießen.

 

Was würde sein Vater dazu sagen, wenn er das Studienfach ändern würde? Der Gedanke allein bereitete ihm Magenschmerzen und er dankte Gott, dass sein Vater hunderte von Kilometern weit weg wohnte.

Endlose Diskussionen mit Chris und seine eigene Abneigung gegen Informatik hatten dazu geführt, dass er sich für das kommende Semester für den Studiengang Mediendesign einschreiben würde. – Zumindest würde er es versuchen, deshalb hatten sie heute seine Bewerbungsmappe abgegeben.

Was würde Chris sagen, wenn er wüsste, dass er seinem Vater weder von ihm, noch von dem Studienwechsel erzählt hatte? – Entgegen seiner Behauptung.

Bei diesem Gedanken wurde ihm ganz schlecht. Irgendwie musste er die Angelegenheit mit seinem Vater regeln, bevor Chris etwas mitbekommen würde.

 

„Oliver, Klara möchte dich unbedingt kennenlernen, darum kommen wir dich nächstes Wochenende besuchen. Du holst uns am Freitag um 16:10 Uhr vom Zug ab.“ Die Nachricht auf seiner Mailbox brachte sein Herz fast zum Stillstand. Zum Glück war er alleine. Wie sollte er das Chris erklären? Wie sollte er alles seinem Vater erklären?

Schweiß brach ihm aus, die Panik schnürte ihm die Kehle zu. Sein Vater dachte, er studiere immer noch Informatik und wohnte in einer neuen Wohngemeinschaft.

Chris dachte, sein Vater wüsste über alles Bescheid und hätte sich mehr oder weniger mit den Gegebenheiten arrangiert.

Was konnte er jetzt tun? Wie sollte er das erklären? Was würde Chris sagen? Würde er ihn verlassen, weil er ihn getäuscht, belogen hatte? Und sein Vater?

Voller Panik schnappte Oliver sich seine Jacke und lief aus der Wohnung. Zwei Stunden rannte er durch die Straßen, versuchte einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Je länger er jedoch darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass sich alle von ihm betrogen, belogen fühlen und ihn hassen mussten. Chris würde ihn verlassen. Sein Vater würde ihn verstoßen. Am nächsten Wochenende würde er alles verlieren – oder er musste weiter lügen. Doch wie?

 

„Marion? Ich brauche jemanden zum Reden“, sagte Oliver und spürte die Tränen.

„Komm her, ich brüte über so eine dämliche Semesterarbeit. Lenk mich ruhig ab“, sagte sie mit ihrer fröhlichen Stimme.

Fünf Minuten später stand er vor ihrer Tür.

„Oh Gott, Oliver, was ist passiert?“ Sie nahm ihn in den Arm und zog ihn in ihr Zimmer, verfrachtete ihn den großen Sessel und setzte sich vor ihn. „Jetzt erzähl.“

Er erzählte ihr alles. Von seiner Lüge gegenüber seinem Vater und – inzwischen für ihn die schlimmere Lüge – die gegenüber Chris. „Sag mir, was ich tun soll. Wenn ich auf mich höre, sitze ich heute Abend in einem Zug nach Barcelona und komme nie wieder“, schloss er schließlich.

„Olli, ich denke, du kennst die Antworten selber.“ Ernst sah sie ihn an. „Du hast zwei Möglichkeiten. Entweder sprichst du heute noch mit Chris und erklärst ihm alles, was dann aber auch bedeutet, dass du mit deinem Vater sprechen musst. – Oder du versuchst beide weiter zu belügen und dich ohne Auseinandersetzung hinter diesen Lügen zu verstecken.“ Marion nahm seine Hand in ihre. „Die entscheidende Frage ist: Bist du ein Mann oder eine Maus? – Willst du zu deiner Liebe – und deinem Berufswunsch stehen oder willst du dich weiter verleugnen und verstecken? Bist du bereit, für dich und Chris zu kämpfen, oder gibst du ohne Kampf auf? Wenn Chris nicht durch dich, sondern durch einen dummen Zufall alles herausfindet, dann ist er unter Garantie weg. – Egal, wie sehr er dich liebt.“

Genau das befürchtete Oliver. Niemals würde Chris mit einer Lüge leben, sich – oder sie beide – jemals hinter einer Lüge verstecken. Wenn er weiter lügen würde, würde Chris es irgendwann erfahren und ihn verlassen. – Aber würde er das nicht auch, wenn er ihm jetzt davon erzählen würde?

„Mann oder Maus, Oliver, entscheide dich.“ Marion lächelte. „Glaub mir, vielleicht wird dein Vater es nicht verstehen, vielleicht wird er dich verstoßen oder dir die Unterstützung streichen, doch alles besser, als Chris zu verlieren. – Oder?“

 

„Wo warst du? Willst du mich in den Wahn treiben? Vor Sorgen umbringen?“ Trotz der harschen Worte nahm Chris ihn in den Arm und drückte ihn fest an sich. „Mach das nie wieder mit mir.“ Erst jetzt wurde Oliver bewusst, dass er sein Handy nicht mit hatte und Chris nicht gewusst hatte, wo er war.

„Ich muss mit dir reden, dringend. Ich… ich habe Mist gebaut“, flüsterte er und schlang die Arme fester um Chris. „Bitte verzeih mir.“

Chris war nicht wütend, sondern enttäuscht – und das war fast noch schwerer für Oliver zu ertragen. Als sie jedoch später zusammen im Bett lagen, war Oliver froh, ihm alles gebeichtet zu haben.

„Tu mir einen Gefallen, Baby, belüg mich nie wieder. Es tut weh, wenn du mir nicht vertraust“, flüsterte Chris in sein Haar, schmiegte sich an ihn. „Ich bin immer an deiner Seite, ich werde dich immer unterstützen, wenn du mir die Chance dazu gibst. – Ich liebe dich.“

„Du… liebst mich?“, fragte Oliver ungläubig nach.

„Ja. Ja! Mit Haut und Haaren“, sagte Chris und rollte sich über ihn. „Körperlich, was ich dir jetzt beweise, und mit jedem Millimeter meines Herzens.“

 

Chris hatte ihn zum Bahnhof begleitet. Am liebsten hätte er sich beim Eintreffen des Zuges in ein Mauseloch verkrochen, doch die warme Hand seines Freundes auf dem Rücken gab ihm die nötige Stärke. Immer noch hatte er das Gefühl, sein Vater könne ihn mit nur einem Blick in die Maus verwandeln, die er damals dort oben auf dem Sprungturm gewesen war. Gebannt von der Angst vor seinem Vater, vor den Worten, die dieser sprach und die ihn bis ins Mark verletzen konnten. Heute jedoch gab es jemanden an seiner Seite, jemand der zu ihm stand und ihn auffing, jemand für den es sich lohnte ein Mann zu sein.

 

Ende

Impressum

Texte: Copyright © Gabriele Oscuro, 2014
Tag der Veröffentlichung: 05.02.2014

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