„Soll ich dir etwas mitbringen?“
„Hm... Bring mir doch bitte eine Flasche Cola mit, Kate“, antwortete mir Mila.
Ich nickte und verließ das Zimmer. Ich ging die Treppen herunter, an etlichen Zimmern vorbei. Dann verließ ich das Waisenhaus durch die riesige Eingangstür.
Ja, ich wohnte in einem Waisenhaus. Meine Eltern und mein Bruder sind, als ich fünf Jahre alt war, bei einem Autounfall gestorben. Meine Tante konnte mich nicht aufnehmen, und meine Großeltern waren schon gestorben. Also kam ich im Alter von fünf Jahren in ein Waisenhaus. Ich fand es hier niemals so schön wie Zuhause, damals, aber ich mochte es hier. Die Schwestern waren sehr nett und freundlich, die Kinder waren auch sehr nett, doch ich war nur mit Mila gut befreundet. Mit ihr teilte ich schon seit Ewigkeiten ein Zimmer, und wir kannten uns sehr gut. Ich fand heraus, dass sie keine Ahnung hatte, wer ihre Familie war, sie wurde mit 5 Monaten vor die Tür des Waisenhauses gelegt. Sehr traurig.
Mila und ich waren die ältesten Kinder in diesem Waisenhaus mit unseren 16 Jahren. Voriges Jahr war ein Junge im Alter von 19 ausgezogen, Ben. Ich mochte ihn, aber der Kontakt brach leider ab, als er wegzog. Ansonsten kam ich gut mit den anderen hier klar, aber ich unternahm nichts mit ihnen. Ich war eher ein Mensch, der für sich alleine lebte.
Ich ging die Straße herunter. Das Waisenhaus stand mitten in der Großstadt, sodass man überall hinkommen konnte. Ich schlug meinen Weg zu einem Edeka ein. Ich wollte für Mila und mich Süßigkeiten holen, Kaugummis und für die Schwestern holte ich noch ein paar Packungen Milch. Ich unterstützte sie gerne und ging öfter mit ihnen zusammen oder auch für sie einkaufen. Ich packte alles ein und ging bezahlen. Ich bekam, wie jedes andere Kind im Waisenhaus auch, pro Monat fünfzig Euro. Essen und soetwas bezahlten natürlich die Schwestern, ebenso wie Schulsachen. Doch Kleidung und anderes mussten wir uns selbst kaufen (also ab 12 Jahren). Die jüngeren Kinder gingen dann zusammen mit den Schwestern shoppen. Ich sparte mein Geld schon ein wenig, wofür, wusste ich noch nicht. Führerschein machen hatte ich eh nicht vor, ich hatte ein Bahn- und Busticket, mit dem ich überall hinkam. Warscheinlich sparte ich für eine Wohnung später, oder zumindest für die Miete in einer WG.
Ich verließ den Laden wieder. Ich schaute auf die Uhr. Es war Samstag und wir hatten erst halb sechs. Also beschloss ich, noch eine Runde durch den Park zu gehen. Auf dem Weg dorthin beobachtete ich die Menschen. Viele gingen ebenfalls spazieren, trugen Einkaufstaschen durch die Gegend und saßen in Cafés oder eher draußen an den Cafétischen. Es war ja auch sehr warm, die Sonne schien schon den ganzen Tag. Ich holte ein Haargummi heraus und band mir meine langen hellbraunen Haare zu einem Zopf. Zu den brauen Haaren hatte ich klare, blaue Augen. Meine Figur war relativ klein, 1,65m, und ziemlich schlank. Ich trug heute eine helle Hotpans, und dazu ein lila Top, das locker über meinem weißen Sport-BH hing.Im Park angekommen setzte ich mich auf eine Bank und lehnte mich zurück. Die Sonne knallte mir ins Gesicht und ich blieb erst einmal eine Weile sitzen. Ich sah Kinder, die auf der Wieso Fußball und Anderes spielten, Leute, die spazieren gingen und Besitzer mit ihren Hunden, die Gassi gingen. Ich musste lächeln. Es war schön zu sehen, wie die Menschen glücklich und zufrieden waren. Ich drehte meinen Kopf und entdeckte eine Familie, die auf einer Picknickdecke saß und gemeinsam aß und Spiele spielte. Mein Lächeln wurde traurig. Ich wünschte, meine Familie wäre noch am Leben. Ich könnte mit ihnen ebenfalls picknicken gehen, Ausflüge machen und mit ihnen Spaß haben. Mit meinem Bruder könnte ich jeden Tag etwas unternehmen, er wäre jetzt 18 Jahre alt. Eine Träne kullerte über meine Wange, doch ich wischte sie schnell weg. Es brachte doch auch nichts, meine Familie war tot und ich hatte niemand anderen mehr. Außer halt das Waisenhaus, und die netten Schwestern. Und Mila. Sonst nichts und niemanden. Manchmal wünschte ich mir sogar, bei meiner Familie im Himmel zu sein. Das würde ich eines Tages auch sein, wenn ich mein Leben gelebt hatte, hatten mir die Schwestern gesagt, als ich es ihnen in meinen jungen Jahren erzählt hatte. Sie hatten mir jedes Mal gesagt, es würde nichts bringen, früher zu ihnen zu wollen, sie sagten, meine Eltern würden wollen, dass ich mein Leben lebte. Also anders gesagt: Es würde nichts bringen, mich selbst umzubringen. Das hatte ich aber auch nicht vor, ich hatte ja noch Mila, und sie würde ich nicht einfach so verlassen, ich war auch ihre einzige Freundin.
Gegen sieben Uhr machte ich mich auf den Heimweg. Als ich aufschloss, um hineinzugehen, kam mir Schwester Angela entgegen. Sie war um die 35 Jahre alt, genauso wie die anderen.
„Oh, hallo Kate!“, sagte sie lächelnd.
„Hallo, Angela! Ich habe hier die Milch“, sagte ich und reichte ihr den Karton mit Milch.
„Oh, Kate, du bist die beste! Danke“, sprach sie und drückte mich leicht. „Es gibt gleich essen, geh du ruhig zu Schwester Hannah und Tanja, die bereiten gerade den Tisch vor. Ich bin in einer Stunde wieder da. Guten Hunger!“
„Danke!“, erwiderte ich und ging in Richtung mein Zimmer. Dort stellte ich die Sachen ab und ging hinunter in den Essensraum. Mila half auch gerade mit beim Decken und ich schloss mich ihr an. Nach zehn Minuten gab es Essen und die restlichen 18 Kinder kamen herein, darunter 4 bis 14 Jährige.
Während des Essens erzählten die kleinen sechsjährigen Mädchen: „Wir haben heute eine Wasserschlacht im Garten gemacht! Das war soooo toll! Und das Plantschbeckenwasser war total warm, weil es die ganze Zeit in der Sonne stand!“ Ich grinste. „Das ist ja schön.“
„Hast du alles besorgt?“, fragte Mila mich.
„Klar“, antwortete ich. „Hast du die Filme?“ Wir hatten nämlich an diesem Abend vor, einen Filmeabend zu machen.
„Na logo“, grinste sie. Wir hatten vor einem halben Jahr einen Fernseher in unser Zimmer, oder eher in unsere kleine Wohnung bekommen. Einen DVD-Player hatten wir uns selbst dazugekauft, von unserem gemeinsamen Ersparten.
An diesem Abend schauten wir bis tief in die Nacht herein Actionfilme und Liebeskomödien. Es machte viel Spaß und um drei Uhr gingen wir schlafen.
Am Montag war wieder Schule. Ich mochte die Schule nicht, genauso wie alle anderen, weil es so langweilig war. Ich war ganz gut in der Schule, mein Zeugnisdurchschnitt lag nie unter 2,5.
Montag und Dienstag vergingen. Am Mittwoch kam ich unerfreulicherweise in ein Gespräch mit Kevin. Er war einer der Asi-Jungs, die im Ghetto herumhangen und alles über die Stadt wussten.
„Hey, Kate“, raunte er mir im Unterricht zu.
Ich drehte genervt den Kopf zu ihm.
„Ich habe mitbekommen, dass die Gang aus der Stadt Rache an deinem Waisenhaus nehmen will.“ Ich erstarrte. Was labert der da?
„Wie bitte? Warum das denn?“
„Na, letztens gab es doch so eine Spendenaktion für euer Waisenhaus. Zuerst sollte diese Spende an die Straßenleute gehen, doch es wurde abgestimmt, dass sie an euer Waisenhaus gehen sollte. Das hat die Gangs verärgert. Sie wollen Rache“, flüsterte er.
„Willst du mich verarschen? Das ist Unsinn“, meinte ich verärgert zurück und richtete mich wieder nach vorne. Klar, es gab diese Abstimmung, wonach die Spende an unser Waisenhaus ging, aber das war ja totaler Müll was er erzählte. Als würden die Rache nehmen wollen. Kevin wollte sich doch nur wichtig machen, wie sonst auch immer.
„Das ist das, was ich gehört habe“, flüsterte er zurück, doch ich beachtete ihn nicht mehr. Blödarsch.
Eigentlich wollte ich Mila davon erzählen, aber ich dachte mir, dass das unnötig sei. Kevin erzählte oft irgendeinen Scheiß. Also vergaß ich es.
Am Freitag Abend stand mein Abendspaziergang an. Den unternahm ich jeden Freitag Abend, aber niemand wusste davon, außer Mila. Ich schlich mich immer um acht Uhr Abends heraus, um durch die ganze Stadt zu laufen. Klar, es war schon irgendwie gefährlich, aber ich konnte schnell rennen, falls es brenzlig wurde. Mir ist aber noch nie etwas passiert. Ich nutzte diesen Abend immer, um nachzudenken. Ich schlenderte durch die Straßen und schaute mir die Läden an. Ich kaufte mir einen Döner und setzte mich an den Straßenrand.
Ich liebte es, einfach so herumzugammeln, so als Straßenteenager. Ich meine, wenn mich das Waisenhaus nicht aufgenommen hätte, was hätte ich dann gemacht? Okay, ich war fünf, aber angenommen, ich wäre 14 gewesen... Warscheinlich wäre ich auf der Straße aufgewachsen...
Als es zehn Uhr wurde, ging ich in den Park. Es wurde langsam frisch und ich zog mir meine Jacke an. Die Laternen beleuchteten die grünen Wiesen und die Wege. Ich schlenderte durch den Wald und atmete die frische Luft ein. Es war einfach so schön hier, und so schön still. Um diese Uhrzeit war niemand mehr unterwegs, also begegnete ich niemandem. Irgendwann um Mitternacht ließ ich mich erschöpft auf eine Bank fallen. Ich winkelte die Beine an und starrte in die Luft.
Wenn ich wirklich auf der Straße aufgewachsen wäre, dann würde ich anders aussehen. Hätte andere Klamotten an, hätte kaum Geld, wäre in einer Straßengang. Und Straßengangs waren nicht gut. Sie bestahlen Leute, lieferten sich Kämpfe mit anderen Gangs, wenn sie in ihr eigenes Territorium kamen. In der Zeitung standen viele Anzeigen über Jugendliche, die zusammengeschlagen in Gassen gefunden wurden. Jedes Mal, wenn ich sowas las, dachte ich mir, dass ich genauso hätte enden können...
Vogelgezwitscher weckete mich. Ich blinzelte und sah in die strahlende Sonne. Erschrocken setzte ich mich auf. Verdammt! Ich war wohl hier auf der Bank eingeschlafen. Oh, man, wie dumm kann man eigentlich sein. Hoffentluch hatte das keine Schwester mitbekommen. Ich schaute mich um und sah, dass einige Leute belustigt zu mir schauen. Beschämt sah ich weg. Wie so ein Straßenpenner hatte ich hier geschlafen. Ich stand auf und sah auf mein Handy. Halb zwölf schon! Mist... Doch ich hatte auch keine Nachrichten von Mila. Komisch, sonst rief sie mich immer an, wenn ich nicht kam... Ich stand auf und machte mich langsam auf den Weg zum Waisenheim. Man lief so ungefähr fünfzehn bis zwanzig Minuten. Auf dem Weg registrierte ich viele murmelnde Menschen, und Sätze wie: „Oh, Gott, bitte nicht!“, „Die armen!“, „Weiß man schon das Motiv?“. Es war wohl irgendetwas passiert. Hoffentlich nichts allzu Schlimmes.
Etwa fünf Minuten, bevor ich ankam, blieb ich stehen. Die Straße hier war vollgeparkt, Absperrungen waren zu sehen. Was war denn hier los? Ich drängte mich durch die Menschen, die eng zusammen standen und tuschelten. Sie hielten eine Zeitung in der Hand. Ich nahm mir vor, später mal in die Zeitung zu schauen. An einer roten Ampel blieb ich stehen. Ich schaute mich um und sah einen Zeitungsstand. Ich konnte die Titelseite erkennen.
Ein Schock.
War das nicht...? Ich hastete auf den Stand zu, nahm mir eine Zeitung und schaute auf das Titelblatt.
Nein.
Das konnte nicht passiert sein.
Die Schlagzeile lautete: Waisenhaus wurde terrorisiert! Das Bild zeigte die Überreste des zerstörten Waisenhauses. Wo ich lebte.
Fassungslos starrte ich das Bild an. Drum herum standen Krankenwagen. Man konnte erkennen, dass der Himmel schwarz war, was wohl hieß, das Bild wurde in der Nacht gemacht. Ich starrte das Bild noch ein paar Sekunden an und rannte dann los. Rannte zu meinem Zuhause. Als ich die Straße hochrannte, sah ich von Weitem die Absperrungen, Feuerwehrautos, Polizeiautos und Krankenwagen.
„NEIN!“, schrie ich und rannte so schnell ich konnte. An der Absperrung blieb ich stehen. Das konnte nicht wahr sein... Nein, das war ein böser Alptraum, nur ein Alptraum, redete ich mir ein, während ich die Ruinen des Waisenhauses betrachtete. Nichts stand mehr, alles war zerfallen und überall waren Brandstellen. Ich ging schweren Schrittes auf einen Polizisten zu, der sich gerade Notizen machte.
„W...Was ist hier passiert?“, fragte ich tonlos und schwer atmend.
Der Polizist betrachtete mich traurig. „Letzte Nacht um circa elf Uhr wurde dieses Waisenhaus in die Luft gesprengt. Verdächtige gibt es bisher nicht.“
Ich erstarrte. Das war nicht wahr. „Sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist.“
„Leider ist es das.“
Ich starrte in die Leere. Nach einigen Sekunden fragte ich heftig zitternd: „W-Was ist mit den Kindern? Und den Schwestern?“
Ich wollte die Antwort nicht wissen, aber ich musste es hören. „Bisher haben wir keine Überlebenden gefunden. Es waren wohl alle Bewohner daheim. Wir gehen davon aus, dass Keiner überlebt hat.“
Ich stolperte zurück. Schwester Angela... Schwester Hannah, Schwester Tanja, Mila... Die ganzen anderen Kinder mit denen ich mein Leben verbracht habe... Allesamt tot. In die Luft gespregt.
Ich konnte nichts mehr fühlen. Nichts mehr sehen. Nicht atmen. Das konnte nicht wahr sein. Mein Zuhause und alle, die mir wichtig waren... Zerstört. Meine Anziehsachen, mein ganzes Geld... Das Einzige, was ich jetzt noch hatte, waren die Sachen, die ich gerade anhatte, mein Handy und einen Zehn-Euro-Schein.
Ich sackte zusammen. Ich war geschockt. Das war alles, was ich hatte. Jetzt wurde mir das auch noch genommen. Die Tränen flossen. Ich nahm meine Umgebung nicht mehr wahr. Ich weiß nicht, wie lange ich dort saß, aber irgendwann spürte ich eine Hand an meiner Schulter, die mich rüttelte. „Wer sind Sie denn?“, hörte ich die Stimme des Polizisten. Doch sie klang sehr weit weg. Ich richtete mich wankend auf. Ich wollte ihm antworten, doch ich hielt inne. Ich wäre auch tot gewesen, wenn ich nicht verbotenerweise mitten in der Nacht unterwegs war. Sechszehnjährigen war es verboten, abends nach elf Uhr draußen zu sein. Wenn ich das jetzt erzählen würde, würde ich eine fette Strafe kriegen und möglicherweise im Jugendknast landen! Also ging ich nur langsam rückwärts und rannte. Rannte weg von diesem Ort. Meinem zerstörten Zuhause.
Ich wusste nicht, wohin ich lief. Irgendwann bekam ich keine Luft mehr und blieb in einer Gasse stehen. Tränen strömten über mein Gesicht.
„Wieso musst du mir alles nehmen, was mir wichtig ist?!“, brüllte ich gen Himmel. „Denkst du, ich habe noch nicht genug gelitten?! Willst du mich verarschen? Ich hasse dich! Ich hasse dich so sehr!“ Keine Ahnung, wen ich damit meinte. Gott vielleicht? Ich trat mit voller Wucht gegen eine Hauswand und brach dann heulend zusammen. Ich heulte stundenlang. Kein Mensch war in dieser Gasse und fand mich.
Das wars. Das wars mit meinem Leben. Was sollte ich jetzt tun? Ich war obdachlos. Ich hatte niemanden mehr. Niemanden. Kein Geld für ein Hotel oder Ähnliches. Keinen Platz zum Schlafen. Alles was ich besaß war die Kleidung die ich anhatte, mein Handy und zehn Euro.
Irgendwann stand ich auf. Es war ein klein wenig dunkler gerworden. Mir strömten die Tränen immernoch über mein Gesicht. Wo sollte ich hin? Mit langsamen, schweren Schritten bewegte ich, oder eher wankte ich vorwärts. Ich holte gerade schniefend mein Handy aus meiner Hosentasche, als ich heftig von hinten gepackt wurde. Meine Arme wurden festgehalten und ich spürte etwas kaltes scharfes an meiner Kehle. Von der Wucht, die mich packte, war mein Handy zu Boden gefallen. Ich betrachtete das zerstörte Handy am Boden. Na toll, das wars dann auch wohl mit dem Handy.
„Gib mir deine Kohle“, zischte mir eine tiefe Stimme ins Ohr. Ich spürte, wie das Kalte an meiner Wange enger an meine Kehle drückte. Gleichgültig merkte ich, dass es ein Messer war. Das war meine Erlösung. Ich schloss die Augen.
„Gib mir deine Kohle“, wiederholte die zischende, nun wütende Stimme.
„Ich hab nur zehn Euro, tut mir leid, mein Zuhause ist eben in die Luft geflogen“, gab ich tonlos zurück. Mein Hirn arbeitete nicht.
„Verarsch mich nicht!“, sagte die tiefe Stimme wütend.
„Na los, dann check mich durch! Ich hab nichts!“ Ich schniefte und musste husten.
Im nächsten Moment spürte ich zögerliche Hände, die in meine Hosentasche griffen. Wortlos schaute ich nach vorne, drehte mich nicht zu meinem Angreifer. Ich spürte, wie mir der Zehn-Euro-Schein aus der Tasche gezogen wurde.
„So, da hast du deine zehn Euro. Schneidest du mir jetzt bitte die Kehle durch?“
„Mach du ruhig deine Scherze. Wo hast du deine Kreditkarte?“, fragte mein Angreifer und drückte das Messer weiter in meine Kehle.
Die Tränen flossen weiter und weiter. Mit erstickter Stimme sagte ich: „In die Luft gesprengt.“
Der Typ musste wohl gemerkt haben, dass etwas nicht stimmte, denn jetzt trat er vor mich und hielt mir das Messer von vorne an die Kehle. Er war komplett schwarz gekleidet, trug eine schwarze Kappi. Ich musterte unter Tränen sein Gesicht. Er war ziemlich süß, und konnte nicht älter als 19 Jahre alt sein. Ich bemerkte, wie der Gesichtsausdruck des Angreifers von wütend zu verwundert wurde.
„In die Luft gesprengt?“, wiederholte er und schaute mich an.
Ich musste schniefen. Wütend wischte ich mir die Tränen weg. „Ja, alles weg. ALLES!“, schrie ich.
Er zögerte. „Mein Gott, jetzt drück doch endlich zu. Ich hab die Schnauze voll!“, schrie ich ihn an.
Total fassungslos sah er mich an, verringerte aber den Druck des Messers.
„Boah, muss man alles selbst machen?“, fragte ich genervt und wütend, riss ihm das Messer aus der Hand. Verblüfft sah er mich an.
„Was tust du da?“, fragte er. Er kam mir gar nicht mehr so böse vor. Mit seinen blonden Haaren und seinem weichen Gesicht. Er hatte auch schöne, dunkelblaue Augen.
„Sieht man doch“, sagte ich bitter und richtete das Messer in meine Richtung und drehte mich von ihm weg. Doch bevor ich irgendwie handeln konnte, spürte ich starke Arme um mich, die mich daran hinderten. Er nahm mir das Messer weg und hielt mich fest.
„Hör auf damit“, meinte er nun wieder wütend.
„Was willst du machen? Mein Leben ist zerstört! Ich habe kein Zuhause, kein Geld, keinen Ausweis, GAR NICHTS!“ Ich bekam einen Heulkrampf und meine Beine gaben nach. Doch der Blonde erhielt mich aufrecht.
„Hast du in dem Waisenhaus gewohnt?“
„Ja“, antwortete ich tonlos. „Und wenn du es in die Luft gejagt hast, dann bring ich dich eigenhändig um!“
Er lachte leise. „Ich war das nicht, das kannst du mir glauben.“
„Glück für dich“, erwiderte ich und schloss die Augen. Der Blonde drehte mich zu sich und ließ mich los, was eine sehr schlechte Idee war, da ich sofort zusammenklappte. Ich blieb am Boden liegen und atmete flach. Warum war der eigentlich noch hier?
Ich hörte, wie er sich neben mich kniete. „Was machst du jetzt?“
Ich zuckte leicht mit den Schultern. „Du musstest ja meinen Plan durchkreuzen, mir das Leben zu nehmen. Also sag du, was ich machen soll.“ Ich öffnete die Augen und schaute in seine blauen Augen, die mich besorgt musterten. Wenn die Situation nicht so scheisse für mich wäre, dann würde ich jetzt in meinem Innerem schreien, wie heiß er war.
Plötzlich wurde ich hochgehoben. Erschrocken atmete ich aus. „Was tust du?! Lass mich herunter!“
Er hatte mich auf seine Arme gehoben und lief nun los. „Du hast doch eh keine Ahnung, wohin du sollst. Dann nehm ich dich halt mit zu mir.“
„Gehts noch?! Eben wolltest du mich noch ausrauben, wenn nicht sogar umbringen!“
„Ich bringe keine Menschen um“, erwiderte er, und seine Stimme bereitete mir eine Gänsehaut.
„Und warum hast du mir ein Messer an die Kehle gehalten?“
„Ganz ehrlich?“
„Ja!“
„Ich hab Hunger und kein Geld dabei. Es ist nichts Neues für mich, jemanden auszurauben.“
Ich musste lachen, wenn auch tonlos. „Du hast Hunger und brauchst Geld? Das ist das Dämlichste, was ich jemals gehört habe.“
Ich sah, wie er auch grinsen musste. „Ja, schon irgendwie erbärmlich.“
„Also bist du kriminell?“
Er schmunzelte. „Stört dich das?“
„Normalerweise würde mich das warscheinlich stören. Ich meine, du entführst mich hier gerade. Aber mir geht im Moment sowieso alles am Arsch vorbei.“
„Ich entführe dich nicht“, sagte er und blieb plötzlich stehen. „Ich kann dich hier und jetzt herunterlassen. Aber so wie ich das verstanden habe, hast du kein Zuhause und keine Ahnung, wo du leben oder die Nacht verbringen sollst.“
Ich zögerte. Er hatte vollkommen Recht. Ein Unterschlupf wäre nicht schlecht. „Und was ist, wenn du mich vergewaltigen willst?“
„Seh ich so aus?“
„Ganz ehrlich: Ja, irgendwie schon.“
Verdutzt sah er mich an. „Ich vergewaltige niemanden und ich töte niemanden.“
„Aber du raubst Menschen aus.“
„Wenn ich Geld brauche, dann ja.“
„Schon mal überlegt, dir einen Job zu suchen?“
„Ich bin ein gesuchter Verbrecher“, meinte er schulterzuckend und ging weiter.
Hm. Ach, mir doch egal, ob er kriminell war oder nicht. Süß war er und er wollte mir helfen. Also, was solls?
„Bin ich nicht schwer?“, fragte ich.
Er musste lachen. „Du und schwer? Du bist nicht mal einen Meter und siebzig und schlank. Was soll daran schwer sein?“
„Keine Ahnung“, gähnte ich. Eine Weile war es still. „Woher weiß ich, ob ich dir vertrauen kann?“
„Das kannst du nicht“, gab er zurück. „Aber ich schwöre dir, ich tue dir nichts.“
„Das reicht mir erstmal“, meinte ich. „Ist ja auch egal wenn du mich umbringen willst. Ansonsten tu ich es selbst.“ Mittlerweile schaffte ich es, den Schmerz auszublenden. Da war nur noch diese Leere. Ich lehnte meinen Kopf an seinen Hals und schloss die Augen. Er roch ziemlich gut.
„Wieso hilfst du mir?“, fragte ich und wusste nicht, warum ich mir dabei so sicher war.
Ich bemerkte, dass er überlegte. „Weil du Hilfe brauchst“, antwortete er dann. „Und weil du sonst auf der Straße landest, und das ist kein guter Ort für ein Mädchen wie dich. Oder generell für irgendjemanden.“
Ich seufzte. „Ich bedank mich dann wann anders bei dir“, gähnte ich.
Ich merkte, wie er in sich hinein lachte. Mehr bekam ich nicht mit, weil ich in einen tiefen Schlaf fiel. Warscheinlich war ich deswegen so komisch und überhaupt nicht am Boden zerstört. Weil ich so müde war. Das kam dann wohl alles am nächsten Tag...
Müde wachte ich auf. Als ich die Augen aufschlug, erschrak ich. Das war doch nicht meine Decke. Ich setzte mich verwirrt auf und schaute mich um. Wo war ich? Ich befand mich in einem großen Bett, welches an der Wand in einem hellem Zimmer stand. Es schien helles Licht durch ein riesiges Fenster, dessen Vorhänge nur halb zugezogen waren. Ansonsten befanden sich in diesem Raum nur ein heller Schrank und ein Nachttisch neben dem Bett.
Langsam holte mich die Wahrheit wieder ein... Entsetzt ließ ich mich wieder fallen und versuchte die Tränen zu unterdrücken, doch ich schaffte es nicht. Ich weinte stumm vor mich hin, mehrere Stunden lang, wie es sich anfühlte. Irgendwann spürte ich nur noch diese Leere wie am vorigen Abend. Was sollte ich jetzt aus meinem Leben machen? Kein Geld, kein Zuhause, keine Freunde, gar nichts. Und was machte ich hier?! Der blonde Junge vom vorigen Abend fiel mir wieder ein. Warum zum Teufel war ich mit ihm gegangen?! Das war total gefährlich. Meine Alarmglocken im Hirn waren wohl im Energiesparmodus...
Mühsam setzte ich mich auf. Was sollte ich tun? Das Beste war, abzuhauen. Nachher war dieser Kriminelle doch ein Vergewaltiger oder Mörder oder so. Ich stand also leise auf und schlich zur Tür. Erleichtert bemerkte ich, dass sie nicht abgeschlossen war. Langsam öffnete ich sie und schaute in einen weißen Flur, an dessen Wänden einige Gemälde hingen. Mit leisen Schritten tapste ich vorwärts und schaute mich um. Zu meiner Rechten befand sich eine geöffnete Tür, die scheinbar in die Küche führte. Ich ging den Flur in die andere Richtung weiter entlang. Ich lief an zwei Türen vorbei. Nach ein paar Abbiegungen und mehreren Türen bog ich um eine Ecke, und geradeaus nach vorne befand sich eine Tür, die eine Wohnungstür sein konnte. Ich schlich zu dieser Tür und registrierte, dass sich ein Spicker daran befand. Dann war das wohl die Wohnungstür. Ich wollte die Klinke herunterdrücken, doch die Tür war verschlossen. „Mist“, murmelte ich und beschloss, mich nach einem Schlüssel umzuschauen. Als ich mich umdrehte erschrak ich und atmete hörbar aus. Zwei Meter entfernt von mir stand ein schwarzhaariger Junge, der vielleicht einen halben Kopf größer war als ich. Er starrte mich belustigt aus seinen grünen Augen an.
Scheiße! Wer zum Teufel war das? Er sah nicht bedrohlich aus, doch trotzdem bekam ich Panik und wich zurück. Was sollte ich machen, wenn er näher kam? Ich war zwar ziemlich stark für ein Mädchen, aber gut in Selbstverteidigung...? Ja, müsste eigentlich klappen. Ein Tritt in die Kronjuwelen würde möglicherweise genug Zeit verschaffen, um wegzurennen.
Doch er kam nicht näher. Er hob nur skeptisch die Brauen und fragte: „Wohin des Weges?“
Ich konnte nicht antworten, nur ängstlich zurückstarren. Ja, genau, gute Frage. Wohin wollte ich eigentlich? Daran hatte ich gar nicht gedacht. Ich hatte nur den Gedanken im Kopf, von hier wegzukommen.
„Wolltest du hier einfach abhauen? Ohne dich zu bedanken?“
„Lass mich einfach gehen, ich hab dir nichts getan“, stieß ich ängstlich hervor. Warum war ich eigentlich ängstlich? Sollte er mich doch umbringen, mich hielt doch sowieso nichts am Leben. Mein ängstlicher Ausdruck wurde zu Gleichgültigkeit. „Oder auch nicht. Mir egal“, meinte ich und ließ mich lustlos zu Boden sinken. Ich vergrub das Gesicht in den Händen und versuchte, die Tränen zu verhindern. Warum konnte mich denn niemand endlich umbringen? Endlich von der Qual erlösen. Ich hatte alles verloren, was ich hatte. Also, was hielt mich? Diese Frage stellte ich mir jetzt bestimmt schon zum tausendsten Mal. Ich spürte meine Glieder nicht mehr, konnte mich nicht bewegen. Nach ein paar Sekunden war mein Bewusstsein weg...
Durch ein leichtes Rütteln wurde ich wach. Ich spürte etwas weiches unter mir. Als ich die Augen aufschlug, merkte ich, dass ich auf einem Sofa lag. Der Blonde vom vorigen Abend saß neben mir. Erschrocken zuckte ich heftig zusammen und wich von ihm weg. Er schaute mich ebenso erschrocken an, doch sein Ausdruck wechselte zu Verwunderung. Ich schaute mich um und stellte fest, dass wir uns im Wohnzimmer befanden. Ein paar Meter entfernt stand ein Flachbildfernseher, der gerade angeschalten war. Dort lief leise Fußball. Ein Essenstisch war ebenfalls zu sehen und eine Reihe an Regalen und Schränken. Niemand anderes befand sich in diesem Raum.
„Ich tu dir nichts“, meinte der Blonde und musterte mich eingehend. Ich schaute an mir herunter. Was zum Teufel hatte ich da an? Ich trug eine graue Jogginghose und ein schwarzes T-Shirt, das mir viel zu groß war. Diese Sachen waren definitiv nicht meine, und ich war mir sicher, dass das Shirt eines von seinen war.
„Was habe ich da an?“, fragte ich.
Er zuckte die Schultern. „Ein paar neue Klamotten... Auf dem Rückweg hat es geregnet, und deine Sachen waren nass...“ Doch plötzlich kam mir eine neue Frage in den Sinn. „Wie bin ich da herein gekommen?“ Ich wurde wütend.
Er blinzelte mich an. „Deine Sachen waren nass... Wolltest du etwa krank werden?“
Mit offenem Mund starrte ich ihn an. Er hatte mich UMGEZOGEN! Also hatte er mich halbnackt gesehen. In BH und Unterhose. Die Röte stieg mir ins Gesicht und ich schaute verärgert zur Seite. „Dazu hattest du kein Recht.“
Er lachte. „Schämst du dich? Dazu hast du keinen Grund. Du hast einen tollen Körper.“ Wütend schaute ich ihn an und wollte nach ihm treten, doch er wich meinem Bein geschickt aus.
„Jetzt stell dich nicht so an“, sagte er genervt. Ich wollte erneut ausholen, doch er hielt mein Bein fest. Wütend entriss ich ihm mein Bein.
„Ich bin übrigens Denny“, lenkte er ab.
„Schön für dich“, sagte ich immer noch verärgert. Eine Weile war es still. Dann fiel mir eine Frage ein. „Wer wohnt noch hier?“
„Meine beiden Freunde“, antwortete Denny. „Dean und Sean.“
„Welcher von beiden ist der Schwarzhaarige?“
„Dean.“
„Aha.“ Na ganz toll, ich war hier also mit drei Jungs alleine.
„Hast du Hunger?“, fragte er mich nun.
„Nö“, antwortete ich wahrheitsgetreu. Ich hatte keinen Hunger. Ich hatte vor Allem keine Lust, irgendetwas zu essen.
„Du musst aber irgendetwas essen“, meinte er stirnrunzelnd.
„Mir doch egal.“ Ich schaute aus dem Fenster. Es wurde langsam dunkel. Denny folgte meinem Blick.
„Du hast seit fast 24 Stunden nichts gegessen.“
Ich antwortete nicht. Das war mir durchaus bewusst. „Kann ich vielleicht duschen gehen?“
„Klar“, meinte er und stand auf. Ich folgte ihm, wenn auch ein wenig wankend, zum Badezimmer. Er brachte mir frische Sachen. Missmutig schaute ich auf die Anziehsachen. „Ich hab leider keine anderen Sachen. Die sind schon von Dean, weil er der Kleinste von uns ist.“ Er hielt mir die schwarze Shorts, die Boxershorts und das rote T-Shirt hin. Ich nahm sie entgegen und schlug ihm die Türe vor der Nase zu. Ich drehte mich zum Spiegel und betrachtete mich. Meine Haare sahen schlimm aus, und ich war ziemlich blass. Ich hatte einen leicht verstörten Blick aufgesetzt.
Lustlos duschte ich mich und zog mir dann die frischen Sachen an. Ich fand einen Föhn und föhnte mir die Haare. Dann trat ich aus dem Bad. Mir war irgendwie extrem schwindelig und ich hatte totale Kopfschmerzen. Ich stützte mich an der Wand ab und lehnte mich dagegen. Plötzlich hörte ich, wie eine Tür aufging und ein mir bisher fremder Junge kam in mein Blickfeld. Das war wohl Sean. Er hatte dunkelbraune Haare und dazu sehr dunkle Augen, sah aus wie schwarz (oder war es doch sehr dunkles braun?). Er war ungefähr so groß wie Denny und schaute mich nun besorgt an. Süß sah er auch noch aus.
„Alles klar?“, fragte er. Ich nickte nur als Antwort. Dann richtete ich mich wieder auf und lief in Richtung Wohnzimmer (zumindest dachte ich das). Ich spürte eine Hand an meinem Arm. „Rechts entlang“, sagte Sean. Ich zuckte unter der Berührung zusammen. „Entschuldigung...“, murmelte er. Ich wollte eigentlich sagen, dass es schon okay war, aber es kam nichts aus meinem Mund. Ich stolperte durch die Wohnzimmertür und fiel genau in Deans Arme. Ich schloss die Augen und nun wurde wieder alles schwarz...
Mühsam öffnete ich die Augen. Ich spürte einen leichten Schmerz an meiner Wange.„Hast du mich grad geschlagen, du Arsch?“, fragte ich Denny, der mich ansah und gerade dabei war, noch einmal auszuholen um mir noch eine zu scheuern. Ich hörte ein Kichern.
„Du musst dringend etwas essen“, antwortete er stattdessen. Ich setzte mich auf. Dean hielt mir einen Teller mit einem Sandwich hin. Ich schüttelte nur den Kopf.
„Ich hab keinen Hunger“, murmelte ich.
„Willst du dauernd umkippen?“, entgegnete er. „Komm schon, nur dieses Sandwich.“
Wortlos nahm ich den Teller entgegen und schaute das Sandwich angeekelt an. Der Gedanke daran, etwas zu essen, ekelte mich irgendwie an. Doch ich biss hinein und registrierte erleichterte Gesichter. Als ich fertig war mit essen, schaute ich auf.„Müsst ihr mich so angaffen?“, fragte ich ausdruckslos.
Sean grinste, sah zu Denny und Dean und schubste sie. „Echt mal, starrt die Kleine nicht so an.“
„Ich hab das 'die Kleine' jetzt mal überhört“, murmelte ich.
„Du bist aber schon ziemlich klein. Du bist doch niemals älter als vierzehn“, erwiderte er grinsend.
„Ich bin sechszehn, du Idiot.“
„Echt jetzt?“, fragte Denny.
„Man, nur weil ich so klein bin...“, meinte ich verärgert. „Wie groß bist du denn?“
„Ein Meter 85“, sagte Sean stolz.
„Wow, ich wusste gar nicht, dass man Scheiße so hoch stapeln kann.“
Denny und Dean brachen in Lachen aus. Sean sah wütend aus, doch das war mir egal.
„Mit wem haben wir denn das Vergnügen?“, fragte Denny dann, als er sich wieder eingekriegt hatte.
Ich überlegte. „Mit dem Weihnachtsmann. Sieht man das nicht?“
Sie mussten grinsen. „Dafür, dass du so schlecht gelaunt bist, reißt du gute Witze“, meinte Denny. Ich schaute ihn böse an. „Danke, dass du mich daran erinnerst.“
Er schaute betroffen, doch ich wandte das Gesicht zu den anderen. „Ich heiße Kate.“
Sie murmelten ebenfalls ihren Namen.
Ich schaute mich um. Die Schwindelkeit war wie verflogen. Was sollte ich nun tun?
„Tja und jetzt?“, fragte ich laut.
„Wie, und jetzt?“
„Was soll ich jetzt machen? Ich kann hier ja nicht ewig bleiben“, meinte ich schulterzuckend.
„Wieso nicht?“, fragte Sean.
Ich schaute ihn an. „Weil ich euch nicht kenne. Und ich möchte hier nicht unerwünscht sein. Außerdem ist das eine vier-Zimmer-Wohnung.“
„Du kannst uns doch kennen lernen“, meinte Dean.
„Außerdem bist du nicht unerwünscht“, sagte Sean.
„Und was die Zimmer angeht – Wir haben auch eine Couch zum pennen“, ergänzte Denny. „Mir macht es nichts aus, dort zu schlafen.“
Ich schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht annehmen. Du brauchst dein Zimmer.“
„Nicht unbedingt. Ich teile es mir auch von mir aus“, erwiderte Denny. Wow, das kam jetzt unerwartet.
Ich zögerte. Mit ihm in einem Bett pennen? Nun gut, das Bett war groß... Aber trotzdem. „Nein, das kann ich nicht annehmen.“
„Und was willst du dann machen?“, fragte Sean.
„Weiß ich nicht...“
„Kümmert sich nicht eigentlich das Jugendamt darum?“
„Die wissen nicht, dass ich noch lebe...“ Shit, warum hatte ich das gesagt? „Ist eh nicht wichtig“, ergänzte ich schnell.
„Warte, was?“, fragte Denny verwirrt.
Ich schüttelte nur den Kopf. Ich wollte da nicht drüber reden. Ich hatte Angst, ich würde in Tränen ausbrechen. Denny betrachtete mich kurz, ließ mich dann aber damit in Ruhe.
„Erst einmal bleibst du bei uns“, meinte er schließlich. Ich nickte nur. Was blieb mir für eine Wahl?
„Seid ihr auch kriminell?“, fragte ich an Sean und Dean gewandt.
Diese beiden starrten Denny an. Dieser zuckte die Schultern. „Wie hast du sie noch mal gefunden?“, fragte Sean und kniff die Augen zusammen.
Denny wollte schon etwas losstammeln, also erzählte ich: „Er wollte mich überfallen. Aber ich hatte leider kaum Geld dabei. Und er meinte dann, dass er nur Geld wollte, weil er Hunger hatte.“ Ich musste kurz grinsen, was aber direkt wieder verging.
Sean und Dean schauten wütend zu Denny. „Ja, sorry Leute, machen wir doch sonst auch so! Was kann ich dafür, dass gerade ihr Leben zerstört wurde?“
Da haben wir es wieder. Die Erinnerungen holten mich ein. Verkrampft versuchte ich, nicht an das zerstörte Waisenhaus zu denken. Ich winkelte die Knie an und machte mich klein. Ein Reflex, das machte ich auch immer, wenn ich an meine verstorbene Familie dachte.
„Dann kannst du sie doch nicht mitbringen! Sie weiß, dass wir kriminell sind.“
„Na und? Wir tun ihr doch nichts. Außerdem lag es ja an ihr, sie hätte nicht mitkommen brauchen, und sie wusste, dass ich kriminell bin!“
„Schau sie dir doch an, Denny! Sie kann doch nicht klar denken und solche Entscheidungen fällen.“
Jetzt war es an mir, wütend zu werden. „Entschuldige mal, Sean, ich mag vielleicht ziemlich verkorkst und kaputt sein, aber das heißt nicht, dass ich nicht weiß, was gut für mich ist.“
„Du wolltest dich umbringen“, warf Denny ein. Sean und Dean zogen scharf die Luft ein.
„Und ich würde es immer noch jeder Zeit tun. Also versteckt am besten eure Messer oder so... Und macht die Fenster undicht“, erwiderte ich kalt. Der Gedanke an Selbstmord machte sich wieder in mir breit.
„Versprich uns, dass du dich nicht umbringen wirst.“
„Warum denn nicht? Mich hält nichts, und für euch bin ich nur ein Klotz am Bein.“
„Nein, bist du nicht“, beteuerte Denny und warf Sean einen bösen Blick zu. „Was Sean meint, ist, dass es für dich wohl kein guter Umgang ist, wenn du mit Kriminellen zusammenwohnst.“
„Das geht mir sowasvon am Arsch vorbei, ob ihr kriminell seid oder nicht. Warscheinlich werd' ichs auch, immerhin hab ich nichts mehr, kein Geld.“ Ich überlegte. Vielleicht sollte ich auch mal eine Bank ausrauben oder so.
„Vergiss es“, meinte Dean. „Du bekommst Geld von uns, und zur Not gehen wir etwas holen. Du wirst nicht kriminell.“
„Glaubst du, ich bin zu jung dafür?“
„Das auch. Aber wenn es sich vermeiden lässt, dann muss man nicht so sein.“
„Und warum seid ihr es dann?“, fragte ich.
Sie sahen sich an. „Wir sind schon mit elf auf die Straße gekommen und haben uns kennen gelernt. Wie will man alleine an Geld oder sonstiges kommen?“
„Auch wieder wahr“, murmelte ich. „Dann raub ich eben keine Bank aus.“
„Richtige Einstellung“, meinte Sean grinsend. Eine Weile war es still.
„Sag mal, wo gehst du zur Schule?“, fragte Denny.
„Ach, scheiß doch auf Schule“, meinte ich uninteressiert.
„Schule ist wichtig“, erwiderte er.
„Ach ja, weil du ja auch zu einer gegangen bist.“
Er schaute wütend. „Ich wäre ja gerne, aber ich hatte nicht die Chance dazu. Du hast sie aber.“
„Dann wissen aber alle, dass ich noch lebe...“
„Kannst du bitte mal erzählen, was so schlimm daran ist?“, meinte Sean genervt.
„Weil ich eigentlich tot sein müsste!“, rief ich. „Ich bin nur nicht gestorben, weil ich unerlaubterweise die Nacht nicht da war...“
„Du warst die Nacht nicht da?“, fragte Dean grinsend. „Also so hätte ich dich nicht eingeschätzt.“
„Was? Oh man, nein, doch nicht so... Warum musst du da pervers denken? Ich war einfach unterwegs, weil ich mich herausgeschlichen hatte und bin aus Versehen eingepennt. Und da das verboten ist, komm ich warscheinlich in den Knast oder so, keine Ahnung.“
„Du kommst doch nicht in den Knast“, meinte Denny.
„Woher willst du das wissen?“
„Ich bin nicht dumm, Kate“, meinte er. „Es ist zwar verboten, aber eine Strafe bekommst du deswegen nicht.“
„Doch, denke ich schon... War ja nicht das erste mal. Das Jugendamt hat mich schon einmal erwischt“, murmelte ich.
„Was?“
„Ich mach das ja nicht zum ersten Mal. Ich bin öfter abends weg. Und mir ist mal einer vom Jugendamt begegnet und ich hab Ärger bekommen. Die haben aber gesagt, dass sie nichts den Schwestern erzählen, wenn ich versprach, das nicht noch einmal zu tun. Die sagten, das würde Konsequenten geben. Ich will nicht wissen, was das heißt.“
„Und du hast beschlossen, dich dem Jugendamt zu widersetzen?“, fragte Dean.
„Pff, warum nicht? Ich kann mein Leben nicht so verbringen, immer Zuhause oder eher im Waisenhaus sein zu müssen.“ Und jetzt war es so. Ich musste nicht im Waisenhaus sein. Ich konnte es nicht. Mein Zuhause war zerstört.
Ich schluckte und schaute zu Boden. Jetzt bloß nich weinen, Kate!
Es war kurz still, dann fragte Sean: „Hast du noch Hunger?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Möchtest du schlafen gehen?“
Ich nickte nur. Ich kämpfte immer noch mit den Tränen. Also stand ich auf und ging in Richtung Dennys Zimmer. „Nacht“, murmelte ich beim Hinausgehen.
Ich eilte in Dennys Zimmer, schloss die Türe und warf mich aufs Bett. Dann ließ ich den Tränen freien Lauf. Ich weinte um Mila, meine beste und einzige Freundin. Um die anderen freundlichen Kinder, und um die netten Schwestern, die wie Mütter für mich waren. Sie alle waren meine Ersatzfamilie gewesen. Und sie alle sind tot. Ich schluchzte vor mich hin, während die Tränen nicht aufhörten zu fließen.
Ich lag mehrere Stunden nur da und weinte. Am Rande bekam ich mit, wie die Tür leise geöffnet wurde und jemand eintrat. Dieser Jemand schloss die Türe hinter sich. Ich wischte mir die Tränen weg. Auch wenn ich allen Grund zum Heulen hatte, war es mir peinlich. Ich drehte mich auf die Seite, in Richtung Wand und spürte, wie sich die Person auf der anderen Hälfte des Bettes niederließ.
„Hey“, sagte eine leise Stimme und ich erkannte Dennys darin. Als Antwort konnte ich nur schniefen. Er legte sich hin und ich spürte, dass er mich betrachtete. Also drehte ich mich um. Er verzog das Gesicht.
„Ich weiß, ich seh schlimm aus, wenn ich heule“, flüsterte ich kraftlos und schloss die Augen.
„Das war nicht der Grund, warum ich mein Gesicht verzogen habe“, gab er leise zurück und ich spürte, wie er mir die Haare zurückstrich. Ich rührte mich nicht, sondern fiel ganz langsam in einen unruhigen Schlaf. Doch ich bekam noch mit, wie er mich an sich zog, fest umarmte und mich nicht mehr losließ. Ich genoss seine Nähe und schlief ein.
Am nächsten Morgen wachte ich früh auf. Mein Kopf lag auf etwas festem und ich blinzelte schläfrig. Ich lag an Denny gekuschelt, und mein Kopf lag an seiner Brust. Denny selbst schlief friedlich, und ich betrachtete sein Gesicht. Er sah so unschuldig und süß aus, dass ich lächeln musste. Ich legte meinen Kopf wieder an seine Brust und die Augen fielen mir sofort wieder zu...
Einige Stunden später wachte ich erneut auf und blinzelte verwirrt. Ich lag immer noch an Denny gekuschelt, und nun war es mir unangenehm. Ich setzte mich rasch auf und rückte von ihm ab. Ich streckte mich erschöpft. Plötzlich kamen erneut die Erinnerungen und ich spürte schlagartig wieder diese Leere. Ich musste mich wohl daran gewöhnen, mit dieser Leere zu leben. Plötzlich bewegte Denny sich neben mir
und setzte sich ebenfalls auf. Ich schaute ihn nicht an, sondern blickte ausdruckslos in die Luft. Denny bemerkte das und räusperte sich. Ich warf ihm kurz einen Blick zu und schaute dann wieder weg. Auf einmal legte er seine Hand auf meine Schulter.
„Morgen“, sagte er leise. Ich erwiderte nichts. Es war mir unangenehm, die Nacht an ihn gekuschelt verbracht zu haben. Ich kannte ihn doch kaum. Aufgebracht ließ ich mich zurücksinken und schloss die Augen. Eine Weile waren wir beide still, bis Denny die Stille brach.
„Hast du Hunger?“, fragte er zögernd.
„Nein“, antwortete ich wahrheitsgetreu. Dann richtete ich mich auf. „Ich geh mal duschen“, nuschelte ich und stand auf.
„Warte“, meinte Denny. Er stand ebenfalls auf und holte ein Handtuch und ein paar neue Sachen heraus. Natürlich waren es wieder eine Jogginhose und ein kleines T-Shirt, das mir möglicherweise passen könnte. Ich nahm es wortlos entgegen und stapfte schnell zum Badezimmer. Unter der Dusche liefen mir wie so oft die Tränen. Als ich mich anzog und im Spiegel betrachtete, konnte man sehen, dass ich die Nacht geheult hatte, meine Augen waren angeschwollen. Seufzend föhnte ich mir die Haare und ging dann wieder in Dennys Zimmer. Ich setzte mich aufs Bett. Die Stille ließ mich wieder nachdenken und darauf hatte ich keine Lust, deswegen stand ich auf und lief ins Wohnzimmer. Dort saßen Dean, Sean und Denny am Tisch und aßen Brötchen. Ich ging zur Couch und ließ mich sinken.
„Morgen“, begrüßte Dean mich.
„Moin“, gab ich zurück. Ich hörte Sean zu Denny flüstern: „Warst du echt so schlecht?“ Die Erkenntnis, dass sie gedacht haben, wir würden mehr als nur schlafen, ließ mich wütend werden, doch ich tat so, als hätte ich nichts gehört.
„Boah, Sean, ich knall dir gleich eine“, flüsterte Denny zurück.
„Ich auch“, sagte ich dann doch hörbar, weil ich es nicht zurückhalten konnte. Ohne ihn anzusehen, wusste ich, dass Sean grinste.
„Also Kate...“, fing Dean an und ich drehte mich zu ihm. „Du brauchst ein paar Anziehsachen.“ Überrascht zog ich die Brauen hoch. „Und da ich mich bereit erklärt habe, mit dir welche kaufen zu gehen...“
„Von wegen, er hat beim Schnick-Schnack-Schnuck verloren“, murmelte Denny dazwischen.
„... sollten wir vielleicht bald aufbrechen“, ließ Dean sich nicht beirren.
„Ich kann auch alleine was kaufen gehen“, meinte ich. Ich unterdrückte ein Grinsen. Sie hatten Schnick-Schnack-Schnuck darum gespielt, wer mit mir shoppen gehen muss. Krass.
„Vergiss es“, entgegnete Denny. „Wer weiß, was du vorhast, und sicher ist es für dich auch nicht.“
„Was soll ich denn vorhaben? Ich hab versprochen, dass ich mich nicht gleich umbringen werde.“ Auch wenn ich das Versprechen nicht ernst gemeint hatte.
Als hätte Denny meine Gedanken gelesen, sagte er: „Genau. Also gehst du nicht alleine. Außerdem, wenn jemand merkt, dass nicht alle aus dem Waisenhaus tot sind...“ Dean gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf.
„Was?“, fragte ich verwirrt.
„Egal“, sagte Dean schnell und starrte Denny wütend an. Aufgebracht stand ich auf. „Ich habe ein Recht darauf zu wissen, ob mich jemand umbringen will oder nicht!“
Die drei schauten sich an. Dann meinte Sean: „Ach, die Gang, die das Waisenhaus in die Luft gejagt hat... Die sollten nicht wissen, dass du noch lebst.“
„Die kennen mich doch gar nicht“, meinte ich stirnrunzelnd.
„Oh, doch. Die kannten jedes Gesicht, dass dort lebte. Und deines kennen sie auch.“
„Woher wisst ihr das so genau?“
„Wir kommen auch von der Straße, schon vergessen?“, erinnerte Denny mich.
Plötzlich fiel mir was ein... Hatte Kevin nicht etwas davon erzählt, dass eine Gang der Stadt Rache am Waisenhaus nehmen wollte? Ich ballte die Hände zu Fäusten.
„Was ist los?“, fragte Sean verwundert.
„Dieses Arsch von Kevin hatte mir ein paar Tage bevor... es passiert ist gesagt, dass eine Gang der Stadt Rache am Waisenhaus nehmen will. Wenn es deren Schuld war...“, presste ich hervor. Ich hatte das drängende Bedürfnis, auf irgendetwas einzuschlagen. „Ich prügel den Arsch windelweich!“, rief ich kochend vor Wut aus und wollte es sofort in die Tat umsetzen. Ich wusste ja, dass ich ihn in der Schule finden konnte. Ich stapfte eiligen Schrittes zur Wohnungstür, doch die Tür war verschlossen. Wütend rannte ich zurück ins Wohnzimmer und baute mich soweit es ging vor Denny auf. „Wenn du jetzt nicht sofort die Tür aufschließt, dann landest du im Krankenhaus!“, schrie ich ihn an. Entsetzt schaute er mich an, während Dean schon aufgestanden war und beruhigend nach mir greifen wollte, doch ich schlug ihn heftig weg. Ich war außer mir. Wenn Kevin das alles gewusst hatte, dann steckte er bestimmt mittendrin! Er hatte mein Zuhause vollends zerstört! Das ließ ich nicht auf mir sitzen!
Denny stand auf und legte seine Hände auf meine Schultern. „Jetzt beruhige dich!“
Ich schüttelte ihn wütend ab, drehte mich auf dem Absatz um und rannte in Dennys Zimmer. Ich wollte das nicht mehr ertragen! Ich konnte es nicht mehr ertragen. Dieser Schmerz, er zerfraß mich von innen. Ich ging eilig zum Fenster und öffnete es. Es war riesig groß, dadurch passte ich locker. Doch als ich am Hochklettern war, packten mich zwei starke Arme von hinten und zogen mich zurück. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen, während mir die Tränen über das Gesicht strömten.
„Jetzt beruhige dich!“, stieß Dean hervor. Doch ich hörte nicht auf, bis Denny in mein Sichtfeld trat, mich an sich riss und zu Boden warf. Er setzte sich leicht auf meine Beine und drückte meine Arme neben meinem Kopf zu Boden. Irgendwann gab ich es auf und erschlaffte. Denny wartete noch eine Minute um sicher zu gehen, dann ließ er mich los und stand auf. Er zog mich hoch, sodass ich wieder stand. Ich öffnete die Augen nicht.
„Man, sie ist ziemlich stark“, hörte ich Dean sagen. Ich wankte und fiel wieder zu Boden. Ich schlug mit dem Kopf hart auf. Die Tränen strömten über mein Gesicht. Ich wollte nicht mehr. Konnte nicht mehr. Warum ließen sie mich nicht einfach in Ruhe?Ich spürte, wie ich wieder hochgezogen wurde und an jemandes Brust gedrückt wurde. Es war definitiv Denny, den ich am Geruch erkannte. Ich spürte seine Hand, die vorsichtig über meinen Kopf strich. Meine Beine gaben nach, doch Denny hielt mich aufrecht. Er zog mich mit sich und irgendwann spürte ich wieder etwas Weiches unter mir. Sanfte Hände strichen mir die Haare aus dem Gesicht.
„Was sollen wir nur tun?“, fragte Dean leise. Ohne Zweifel wusste ich, dass alle drei mich beobachteten. Doch ich war zu erschöpft, um die Augen zu öffnen.
„Ich weiß es nicht“, gab Sean flüsternd zurück. Ich atmete einmal tief ein und wieder aus, bevor ich die Augen öffnete. Sie schauten mich alle drei traurig an.
„Wie wäre es, wenn ihr mich einfach mal nicht aufhaltet, wenn ich mich umbringen will!“, sagte ich laut, doch meine Stimme brach.
„Ich sag ja, sie hält sich nicht an ihr Versprechen“, murmelte Denny, der neben mir saß. Ich setzte mich ebenfalls auf. Mein Kopf tat weh. Mir fiel auf, dass Denny mir ein Kühlakku an meinen Kopf hielt. Ich nahm ihm das Akku aus der Hand und drückte es mir selbst gegen den Kopf. Dennys Arm verweilte auf der Lehne hinter meinem Rücken.
„Tja, ich werde Kevin trotzdem umbringen, davon könnt ihr mich nicht abhalten.“
„Ist Kevin dein Freund?“, fragte Sean.
„Halt die Klappe, Sean“, erwiderte ich. „Es ist nur ein Typ aus meiner Klasse, der bald im Krankenhaus liegen wird.“
„Das glaub ich dir sofort“, meinte Dean. „Du hast ziemlich harte Schläge drauf.“
Ich sah ihn an. „Tut mir leid“, murmelte ich. „Ich wollte dich nicht verletzen.“
„Ach, ich komm damit klar“, entgegnete er. Seine Arme waren an einigen Stellen rot von meinen Schlägen und Tritten, seine Beine sahen ebenfalls so aus. Das Einzige, was ich rausbringen konnte, war ein „Ups.“
Dean grinste. „Mach dir keinen Kopf.“
Denny schaute sich ebenfalls Deans Arme und Beine an. „Wow, ich bin beeindruckt.“
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Ich war schon immer stark gewesen, auch wenn man mir nichts ansah.
„Wie geht’s dem Kopf?“, fragte Denny.
„Ach, scheiss auf den Kopf, hab nur ein bisschen Kopfschmerzen.“ Als Beweis reichte ich ihm das Kühlakku zurück. Meine Laune war ein bisschen besser. „Also, gehen wir shoppen oder was?“, fragte ich.
Dean grinste. „Na klar!“
Am Nachmittag waren wir zurück von der Shopping-Tour. Es war an sich ganz lustig gewesen und es lenkte mich von meinen Gedanken ab. Ich hatte einige Sachen neu, ein paar Hosen, T-Shirts, Tops... Bei der Unterwäsche hab ich Dean gesagt, er solle draußen warten. Also sowas würde ich niemals mit einem Jungen kaufen.
Nun saßen wir zu viert gelangweilt im Wohnzimmer.
„Danke, übrigens“, sagte ich. „Für die Sachen... Und auch, dass ich hier sein kann.“
Zurück kamen nur Kopfnicker und Lächler. Ich lag quer auf der Couch, hatte endlich wieder Mädchensachen an (also Shorts und T-Shirt). Bisher hatte es super geklappt, die Erinnerungen zu verdrängen, doch jetzt kamen sie wieder und ich spürte wieder diese Leere. Verärgert hämmerte ich mir mit der Hand auf das Herz, um hoffentlich diese Leere zu vertreiben, doch natürlich klappte das nicht.
„Was macht ihr eigentlich so den ganzen Tag?“, fragte ich und schaute zu den Jungs. Denny saß am Boden und durchwühlte irgendwelche Daten; Dean saß am Esstisch und kritzelte in einen Rätselblock; und Sean saß neben ihm und starrte Löcher in die Luft.
Sean schaute nun auf. „Äh... Das ist eine gute Frage. Ab und zu Freunde treffen, unterwegs irgendetwas machen...“
„Und wieso macht ihr jetzt nichts?“ Sie schauten sich an. Mir reichte das und ich sagte: „Ihr könnt mich auch ruhig alleine lassen, ich brauch keine Aufpasser.“
Sie schauten sich erneut an, dann sagte Denny: „Nein, ist schon okay.“
„Nein, ist es nicht. Ich will eure Zeit nicht beanspruchen.“
„Tust du nicht“, pflichtete Dean mir bei.
„Ich kann noch ewig weiter plappern“, meinte ich. „Ihr könnt ruhig gehen, wirklich.“ Ich runzelte die Stirn. „Oder habt ihr etwa Angst, ich will mich wieder umbringen?“
Sie schauten mich nicht an. „Achso, damit wäre die Frage ja beantwortet... Nun gut, so abwegig ist das ja nicht... Ich will aber trotzdem nicht, dass ihr hier nur herumgammelt.“
Denny packte die Unterlagen ein und schaute mich an. „Also hörmal... Wir brauchten mindestens zwei Personen, um dich vom Springen abzuhalten. Wenn du das noch einmal vorhast... Das geht nicht.“
Ich verzog das Gesicht. „Sorry.“
Er schüttelte nur den Kopf, stand auf und ging in ein Nebenzimmer. Sean stand ebenfalls auf und setzte sich zu mir auf die Couch. Ich wurde schläfrig und schloss die Augen. Doch bevor ich einschlief, setzte ich mich auf.„Ich geh mich ein bisschen ausruhen“, meinte ich schläfrig und ging in Dennys Zimmer. Dort ließ ich mich in sein Bett sinken. Doch sosehr ich es versuchte, ich konnte nicht einschlafen. Ich stand wieder auf und ging zum Fenster und öffnete es. Die kühle Luft blies mir entgegen und ich stützte mich auf dem Rand auf. Ich ließ den Blick schweifen.
Hinter mir öffnete sich die Zimmertür, doch ich schaute nicht nach hinten. Plötzlich spürte ich zwei starke Arme, die mich von hinten umschlangen. Verwirrt drehte ich den Kopf halb. Denny zog mich vom Fenster weg und ließ mich nicht los. Einige Zeit standen wir so da, bis mir dämmerte, was hier los war.
„Ich wollte nicht springen“, sagte ich entrüstet.
„Sicher?“, fragte er leise an meinem Ohr.
„Im Moment hatte ich nur an frische Luft gedacht“, sagte ich kühl. Aus irgendeinem Grund nervte es mich, dass er das dachte. Er ließ mich los und drehte mich um.
„Tu nich so, als wäre es total absurd, so zu denken.“
Wütend schaute ich ihn an. „Ich denke auch nicht jede freie Minute an Suizid.“
„Kannst du nicht einfach versprechen, dass du es nicht tun wirst?“ Ich schüttelte den Kopf. „Wieso nicht? Du bist nicht allein, du hast uns, und wir passen auf dich auf.“
Ich schaute ihn an. „Als ich klein war, ist meine Familie gestorben, und vor ein paar Tagen sind diejenigen, die seit dem meine Familie waren, auch gestorben. Nichts für Ungut, aber ich kenne euch erst seit ein paar Tagen. Mich hält immer noch nichts. Außer der Gedanke, Kevin umzubringen...“
„Hör auf, solchen Müll zu reden. Dieser Kevin muss es doch nicht gewesen sein.“
„Er wusste aber Bescheid!“
„Und er hat dich gewarnt, aber du hast nicht auf ihn gehört!“
Ich blitzte ihn an. „Also ist alles meine Schuld?“
„Nein, so habe ich das nicht gemeint!“, sagte er schnell. Doch es leuchtete mir ein. Natürlich... Wenn ich Kevin geglaubt hätte, dann hätte ich vielleicht die Schwestern oder irgendwen vorwarnen können, und sie hätten es irgendwie aufhalten können.
Plötzlich wurde mir schwindelig. Denny hatte total recht. Es war meine Schuld. Ich sank zu Boden. Er hatte sowasvon recht. Sie waren alle wegen mir tot. Ich schlug die Hände vor die Augen. Die Tränen kamen wieder und flossen wie Wasserfälle.
„Nein, Kate! Es ist nicht deine Schuld!“ Denny kniete sich hilflos neben mich.
„Doch, ist es! Ich hätte auf Kevin hören sollen, er wollte mir nur helfen! Und sie sind alle tot. TOT, Denny! Wegen mir“, rief ich tränenerstick. Ich nahm die Hände von den Augen und schaute zum geöffnetem Fenster. Blitzschnell sprang ich auf, doch bevor ich darauf zustürzen konnte, fing Denny mich ab und hielt mich im Arm. Ich wollte mich losreißen, doch er hielt mich zu stark fest. Also heulte ich ihm sein T-Shirt voll, während er mich einfach nur festhielt. Plötzlich öffnete sich wieder die Zimmertür und Sean und Dean stürzten herein. Verdutzt blieben sie stehen, als sie uns sahen. Denny warf ihnen einen scharfen Blick zu, bevor sie etwas sagen konnten. Ich drehte das Gesicht wieder an Dennys Brust und schniefte vor mich hin. Wir bewegten uns langsam zum Bett, und Denny legte mich ins Bett hinein. Ich drehte mich sofort auf den Bauch und schluchzte weiter ins Kissen. Denny legte eine Decke über mich und sagte leise: „Schlaf.“ Ich drehte mich zu ihm und sagte kraftlos: „Lass mich bitte nicht allein.“ Eigentlich wollte ich nicht wie ein kleines Kind wirken, aber ich wollte jetzt auf keinen Fall alleine sein, warum auch immer. Er schaute mich kurz an.
„Geh du“, sagte Sean plötzlich. „Mach deinen Schreibkram, ich bleibe.“ Denny nickte ihm zu und verließ den Raum, zusammen mit Dean. Sean setzte sich auf den Bettrand und schaute mich an. „Ich hoffe, ich bin auch okay“, sagte er mit einem leichten Grinsen. Ich lächelte ein bisschen und nickte stumm. Hauptsache irgendwer. Ich drehte mich zu ihm auf die Seite und betrachtete ihn.
„Wie kommt es eigentlich, dass ihr alle so muskulös seid?“, fragte ich leise. Er lachte leise in sich hinein. „Training“, antwortete er dann. Er lehnte sich an die Wand und legte die Beine hoch. Gedankenverloren strich er mir eine Strähne aus dem Gesicht und ich schloss die Augen. Ich spürte noch Seans ruhigen Blick auf mir, bevor ich langsam wegnickte...
Am nächsten Tag wachte ich auf, geweckt von der Sonne, die in das Zimmer schien. Es war wohl schon ziemlich spät. Dennoch hatte ich keine Lust, aufzustehen, ich musste an die Ereignisse vom vorigen Tag denken.
Gedankenverloren setzte ich mich auf und ließ den Blick schweifen. Neben dem Bett befand sich ein Nachttisch. Von Neugier geweckt legte ich mich flach aufs Bett, um an den Nachttisch heranzukommen. Der Nachttisch besaß zwei Schubladen und ein offenes Fach. In dem offenem Fach befand sich nicht weiter als irgendein Heftchen für ein Handy oder sowas. Also öffnete ich die obere der beiden Schubladen. Darin befanden sich ein einzelner Schlüssel (ich fragte mich, wozu der gut war), ein kleines weißes Handtuch und irgendwelche Zettel, die mich nicht interessierten. Ich machte die Schublade wieder zu und öffnete die untere Schublade - und konnte meinen Augen nicht trauen.
Dort, zusammen mit einem Brillenetui und einem Tuch, lag eine schwarze Pistole. Und zwar keine Spielzeugwaffe, sondern eine waschechte. Was zum Teufel machte so ein Ding in Dennys Nachttisch?! Zögernd beobachtete ich die Waffe, bis ich nicht anders konnte als sie herauszunehmen und von der Nähe zu betrachten. Überrascht stellte ich fest, dass sie geladen war. Wieso war hier eine geladene Waffe?! Klar, sie war gesichert, aber trotzdem! Plötzlich kam mir ein erschreckender Gedanke. Wurde mit dieser Pistole schon ein Mensch erschossen? Erschrocken und überaus entsetzt schmiss ich die Waffe von mir aufs Bett. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ich eine Mordwaffe in den Händen hielt. Meine Hände zitterten und ich atmete tief ein. Es brauchte ein paar Sekunden, bis ich wieder ruhig war.
Mit einem Mal öffnete sich die Türe und Sean stand in der Tür. Er lächelte, machte den Mund auf und wollte etwas sagen, doch er war zu verdutzt, als er meinen Gesichtsausdruck sah, in dem pures Entsetzen lag. Sein Blick fiel auf die Pistole, die auf dem Bett lag und sein Blick wurde verwirrt.
„Was machst du da?“, fragte er mich verwundert. Ich antwortete nicht, konnte ihn nur anschauen.
„Warum ist hier eine Pistole in Dennys Nachttisch, geladen?“ Das war das einzige, was mir einfiel zu fragen. Sean suchte nach einer Antwort, überlegte es sich dann aber doch anders und rief aus dem Zimmer heraus: „Denny, komm mal bitte.“
Ich hörte, wie sich jemand bewegte und im nächsten Moment stand Denny in der Tür. Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer, doch ich achtete nicht darauf, denn danach folgte Entsetzen und Enttäuschung. Mein Vetrauen zu Denny lag plötzlich blank. Denny schaute mich verwirrt an, und ich wies einfach nur zu der auf dem Bett liegenden Waffe. Er schaute dorthin, und ließ den Blick dann wieder zu mir schweifen. „Äh...“ Ich schaute ihn wütend an. Als wäre ihm ein Licht aufgegangen, sagte er schnell: „Es ist nicht das, wonach es aussieht, ehrlich.“
„Wonach sieht es denn aus?“
„Du denkst jetzt bestimmt, dass die für dich gedacht war, aber ich schwöre dir, das stimmt nicht. Ich hatte niemals vor, dir irendetwas anzutun, du kannst mir wirklich trauen!“
Jetzt war es an mir, verdutzt zu sein. „Daran hab ich gar nicht gedacht“, gestand ich ehrlich. „Ich frage mich nur, ob du mit dieser Waffe schon jemanden umgebracht hast.“
Erleichtert sah er mich an. „Das hast du dich gefragt? Das ist doch vollkommen unwichtig, du hättest mal zuerst an dich denken sollen.“
„Es ist mir scheissegal ob ich an mich hätte denken sollen, ich geh mir am Arsch vorbei. Hast du damit jemanden umgebracht?“ Ich war wütend.
„Das ist doch vollkommen unwichtig!“, meinte er. Auf einmal konnte ich ihn nicht länger ansehen. Er war ein Mörder.
„Kate, ich habe dir von Anfang an gesagt, dass ich kein Mörder bin!“, sagte er jetzt verärgert, als hätte er meine Gedanken gelesen.
„Und warum hast du die Frage nicht beantwortet?“
„Ich habe niemanden damit umgebracht. Ich habe noch nie jemanden getötet, glaub mir. Ich bin nur nicht stolz was ich damit mal gemacht habe.“ Ich schaute ihn an um zu gucken, ob er log, doch er erwiderte den Blick standhaft und ernst. Ich wollte nicht wissen, was er damit gemacht hatte, deswegen fragte ich stattdessen: „Und warum ist die in deinem Nachtschrank?“
„Zur Sicherheit. Falls jemand hier einbricht oder so. Ich fühle mich sicherer, wenn ich weiß, dass ich etwas zur Verteidigung habe.“
„Aber du würdest nicht schiessen, oder?“
„Nein, aber das muss der Angreifer ja nicht wissen.“ Er runzelte die Stirn. „Also du fändest es erschreckend wenn ich Leute umbringe, aber ausrauben ist okay? Und hast du mal überlegt, dass man nicht nur mit Pistolen umbringt, sondern auch mit Messern?“
„Ehrlich gesagt nicht. Für mich ist ein Messer ein Küchengerat, eine Pistole dagegen Mittel zum Töten. Und da klingeln bei mir die Alarmglocken.“
„Heißt das, du willst dich nicht mehr umbringen?“, fragte er zögernd.
Das ließ mich innehalten. Ich wollte eigentlich „Doch“ sagen, aber eine Stimme tief in meinem Inneren sagte mir, dass ich das eigentlich nicht wollte. So schlimm war es hier bei den Jungs nicht, im Gegenteil - Sie kümmerten sich um mich, sie sorgten sich und sie brachten mich manchmal auf andere Gedanken. Und Denny war so lieb zu mir... Schnell verwarf ich den Gedanken... Also wieso sollte ich mich umbringen? Okay, mein Leben wurde zerstört, meine einzige Familie war tot, meine beste Freundin dazu und mein Zuhause war zerstört. Das war eigentlich Grund genug. Doch irgendetwas hielt mich ab.
Dennys Bewegung holte mich wieder in die Gegenwart. Er ging zum Bett, nahm die Waffe und verstaute sie wieder in der Schublade. Ich beschloss, die Frage unbeantwortet zu lassen. Wenn ich meine Meinung ändern wollte, dann wusste ich ja, wo die Pistole war, sagte ich mir.
Die Tage verstrichen. Tagsüber schaffte ich es, mich abzulenken, wobei Dean, Sean und Denny dabei eine große Hilfe waren. Die drei Jungs alberten oft herum und mobbten sich gegenseitig, sodass ich öfters grinsen musste. Einige Sprüche merkte ich mir; ich mochte es selbst gerne, mich mit anderen ein klein wenig zu trietzen. Als Sean Denny eines abends als 'dummes Brotkind' beschimpfte, konnte ich nicht mehr und brach in Lachen aus. Es fühlte sich so herrlich an, mal wieder lachen zu können und meine Sorgen zu vergessen. Dean stimmte in mein Lachen mit ein, und nach einigem Zögern fingen auch Denny und Sean an zu lachen. Ich hielt mir den Bauch vor lachen und konnte nicht aufhören zu grinsen. Plötzlich kamen mir meine Sorgen nicht mehr so unerträglich vor. Tagsüber dachte ich kaum dran. Dafür plagten mich aber nachts Alpträume, die mich vom schlafen abhielten.
Samstag Morgen nahm ich zum ersten Mal eine Zeitung in die Hand. Ich hatte mich die ganze Woche nicht getraut hineinzuschauen, aus Angst, dort würde etwas über das Waisenhaus stehen.
Ich überflog das Deckblatt und blieb kurz am Datum hängen. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich seit zwei Tagen schon siebzehn Jahre alt war. Mein Geburtstag interessierte mich auch herzlich wenig, Grund zum feiern hatte ich nicht, weshalb ich auch nichts zu den Jungs sagte. Also blätterte ich in der Zeitung herum und tat so, als wäre nichts geschehen. Am Ende schaute ich nach dem Wetter.
„Hey, Jungs, wie wäre es, mal zum See schwimmen zu gehen? Heute soll es 30 Grad werden“, warf ich in die Runde. Ich wollte unbedingt mal wieder baden gehen, früher war ich oft mit Mila schwimmen. Ein Glück, dass ich mir auch einen Bikini bei der Shopping-Tour gekauft hatte.
„Oh ja, geile Idee!“ Sean war sofort Feuer und Flamme.
„Aber lasst uns an eine Stelle gehen, wo nicht so viele Leute sind...“
„Klar, wir können uns immerhin auch nicht überall zeigen. Obwohl uns eh nie jemand erkennt“, meinte Denny.
Nach dem Frühstück zog ich also meinen schwarz-roten Bikini unter eine Hotpans und ein Top, und wir machten uns zu dritt auf den Weg zum See. Ich warf einen Blick auf die drei Jungs und blieb an Denny hängen. Wie er wohl unter seinem Shirt aussah...? Wieso fragte ich mich das eigentlich?! Ich schüttelte den Kopf über mich selbst. Als wir am See angekommen waren, lotste ich die drei in Richtung eines Pfades. Der Badesee war ziemlich groß, und Mila und ich hatten mal eine wundervolle Stelle gefunden, wo man ungestört baden konnte. An dieser Stelle war sonst niemand, man musste vom Pfad abweichen, um dorthin zu gelangen.
„Wohin gehen wir?“, fragte Dean verwirrt. Ich antwortete nicht, sondern ging weiter, bis wir an einer Lichtung ankamen. Oben waren die Bäume ein wenig geöffnet, sodass Sonnenlicht durch das Blätterwerk schien. Ich stellte meine Tasche ab und ließ den Blick schweifen. Ich konnte mich noch gut an den Tag erinnern, an dem Mila und ich diese wunderschöne Stelle entdeckt hatten. Uns war langweilig gewesen an diesem sonnigen Tag vor zwei Jahren, und wir liefen kreuz und quer durch den Wald. Wir liebten beide schon immer Abenteuer, kicherten immer, wenn wir daran dachten, dass wir uns eventuell verlaufen hatten. Doch irgendwann kamen wir an dieser Lichtung an und direkt in der ersten Sekunde hatte dieser Ort unsere Liebe gewonnen. Wir sind herumgesprungen und sind auf den Baum geklettert, der am Wasser stand. Da anscheinend niemand sonst von dem Ort wusste, machten wir ihn zu unserem geheimen Platz. Als wir das nächste Mal zurückkehren wollten, brauchten wir ewig lange, um diesen Platz wieder zu finden. Doch von Zeit zu Zeit wurde es immer leichter, und nun kannte ich den Weg auswendig.
Es schmerzte, an dieses Erlebnis mit Mila zurückzudenken. Noch vor knapp einer Woche hatte ich sie noch gesehen, gesund und lebendig. Und jetzt würde ich sie nie wieder sehen. Doch ein kleiner Funken in mir hoffte, dass sie ebenfalls nicht zum Zeitpunkt der Explosion dagewesen war. Es war aber sehr schwierig, sich an diesen Funken zu hängen, daher vergaß ich das schnell wieder.
Ich drehte mich zu den Jungs um, die sich neugierig umschauten. Wortlos bedeutete ich, dass wir angekommen waren und ließ die Tasche fallen. Man konnte die Vögel zwitschern hören. Ich zog meine Sachen aus und stellte mich neben den Baum, am Ufer des Sees. Mir kamen wieder die Erinnerungen an Mila in den Sinn, wie sie tot wie eine Leiche auf dem Wasser geschwommen ist, während ich sie vom Baum aus betrachtet hatte. Sie hatten viel Zeit an diesem wundervollen Ort verbracht. Jetzt bloß nicht weinen, Kate, ermahnte ich mich selbst. Ich hatte genug geheult in den letzten Tagen. Ich war immerhin ziemlich taff, zumindest normalerweise. Aus diesem Grund sollte das Heulen ein Ende haben. Mehr Zeit zum drüber nachdenken hatte ich nicht, da ich plötzlich den Boden unter den Füßen verlor und in die Luft gehoben wurde. Ich schrie entsetzt auf, und binnen Sekunden befand ich mich im kalten, aber angenehmen Wasser. Als ich wieder auftauchte, sah ich in das breit grinsende Gesicht von Denny, der mich anscheinend einfach so ins Wasser geschmissen hatte. Ich grinse ebenfalls und sagte: „Das bekommst du zurück!“ Und ich schmiss mich unerwartet auf ihn drauf und drückte ihn unter Wasser. Doch ich hatte mich zu früh gefreut, denn plötzlich hing ich in der Luft auf Dennys Schultern; er hatte sich im Wasser aufgerichtet und nun baumelte ich ungefähr einen Meter über dem Wasser in der Luft.
„Lass mich runter, du Bratwurst“, sagte ich lachend und hämmerte auf seinen Rücken. „Wie du meinst“, sagte er und ich konnte das Grinsen in seiner Stimme hören. Er machte ein paar lange Schritte nach vorne, bis er bis zur Taille im Wasser stand. Dann hob er mich von seinen Schultern und warf mich kopfüber ins Wasser. Ich konnte vorher noch schnell die Luft anhalten, bevor ich ins Wasser platschte. Als ich auftauchte, bemerkte ich, dass ich nicht mehr stehen konnte und strampelte im Wasser vor mich hin. Denny stand lachend drei Meter von mir entfernt, immernoch das Wasser bis zur Taille. Zum ersten Mal warf ich einen Blick auf seine muskulöse Brust und musste hart schlucken. Oh mein Gott, war er heiß. Ich konnte es nicht sehen, aber ich war mir sicher, dass er einen Sixpack hatte. Als hätte er bemerkt, dass ich auf seine Brust starrte, schaute er an sich herunter und grinste mir dann frech ins Gesicht. Ich wurde rot und schaute etwas beschämt weg. Dann kam mir eine Idee und ich tauchte unter. Hoffentlich klappte es. Ich tauschte vorwärts, die Hände ausgestreckt, bis ich wie erwartet zwei Beine in die Hände bekam. Wie erwartet verlor er seinen Halt und ich merkte, wie er zurück ins Wasser platschte. Schnell tauchte ich auf und setzte mich auf seinen flachen Bauch, in der Erwartung, dass ich ihn somit unter Wasser halten konnte. Dummerweise ging das in die Hose, denn er richtete sich wieder auf und ich rutschte von seinem Bauch. Als wir beide wieder auftauchten, lachten wir. Plötzlich kamen Dean und Sean von hinten angesprungen und stürzten sich auf Denny. Irgendwann entwickelte es sich dazu, dass Dean und ich gegen Denny und Sean kämpften. „Die zwei Kleinen wollen die Welt erobern“, höhnte Denny, worauf er von mir sofort eine Ladung Wasser in den vor Lachen offenen Mund bekam, bevor Dean sich auf ihn stürzen konnte. Ich versuchte derweil, Sean davon abzuhalten, Denny zu helfen. Da ich aber ziemlich klein und leicht war, war ich kein großes Hindernis. Doch ich ließ nicht locker und krallte mich an seinem großen Rücken fest (der aber nicht ganz so groß und muskulös war wie der von Denny, wie ich erfreut feststellte).
Der Kampf endete damit, dass Dean und ich gewannen, weil ich am Ende auf Seans Schultern stand und Dean es irgendwie geschafft hatte, sich auf Dennys Kopf zu pflanzen. Lachend verließen wir das Wasser und trockneten uns ab. Dean und Sean mussten noch etwas erledigen, weshalb sie schon gingen, während Denny und ich noch eine Weile hier blieben. Ich kletterte auf den obersten Ast des Baumes, wo ich immer saß, und Denny machte es sich auf dem Ast gemütlich, wo Mila sonst immer saß. Eine Weile war es still, bis ich sagte: „Das ist der Lieblingsplatz von meiner besten Freundin und mir.“ Er konnte darauf nur schweigen. Er wusste, dass meine beste Freundin tot war. Ich schaute mich um. Irgendwie hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden, doch ich konnte zwischen den Bäumen nichts erkennen. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. „Diesen Ort haben wir mal entdeckt, als wir uns im Wald verlaufen hatten. Ich glaube, niemand anderes kennt diesen Ort...“ Kurz schwieg ich. „Es fühlt sich komisch an, wieder hier zu sein.“
„Ich kann das verstehen“, gab er mitfühlend zurück. Ich schaute ihn nicht an. Aus irgendeinem Grund war es mir unangenehm, mit ihm alleine zu sein.
„Sollen wir mal wieder zurück?“, fragte er nach einer Weile. Froh darüber, dass er es angesprochen hatte, stimmte ich zu. Ich packte mein Handtuch in die Tasche. Als wir die Lichtung verließen, schaute ich mich unsicher um. Es kam mir immer noch so vor, als würde uns irgendwer beobachten. Warscheinlich war ich jetzt schon paranoid.
„Was ist?“, fragte Denny stirnrunzelnd. Ich zuckte nur mit den Schultern und ging weiter. Nach ein paar Minuten erreichten wir wieder den Pfad. Es raschelte im Gebüsch neben uns. Erschrocken sprang ich zur Seite und schaute mich um, doch dort war niemand. Warscheinlich bloß ein Vogel... Ich spürte Dennys verwirrten Blick auf mir, doch er sagte nichts und ich schaute ihn nicht an. Als es nach fünf Minuten wieder im Gebüsch raschelte, hielt ich es nicht mehr aus und sprang zwischen die Bäume, wo das Geräusch herkam. Im Dunkeln konnte ich eine Gestalt ausmachen, also zögerte ich nicht lange, griff nach einem Arm und zerrte ihn auf den Pfad.
„Was zum...“, machte Denny, eilte mir zur Hilfe und hielt die Person fest. Die Person schaute mir geradewegs ins Gesicht, voller Pein. Mit einem Satz sprang ich zurück.
„Du...?“ Kevin schaute mich unschuldig an.
„Du kennst ihn?“, fragte Denny verwirrt. Ich nickte zur Antwort, machte einen Schritt nach vorne, holte kräftig mit der Hand aus und gab ihm eine saftige Backpfeife. Kevin schrie kurz auf. „Wofür war das?“, fragte er wütend, während seine Wange rot glühte.
„Tu nicht so, als wüsstest du nicht, warum“, fuhr ich ihn wütend an.
„Kate, was...?“ Denny schien sichtlich entsetzt.
„Das Ding da“ ich deutete auf Kevin, „ist Kevin.“ Zuerst schien er ratlos, doch dann fiel es ihm wohl wieder ein und er schaute mich mitfühlend, aber auch wachsam an. Kevin schnaubte wütend. Ich blitzte ihn an und hob drohend die Hand. „Willst du noch eine?!“ Doch Denny drehte ihn von mir weg, immer noch Kevins Arme an seinem Rücken festhaltend. Er sah mich warnend an. Ich ließ die Hand sinken und schaute ihn an.
„Er ist schuld, dass mein Leben zerstört ist.“ Ich sagte es nicht wütend, sondern ausdruckslos.
„Was redest du da?“ Kevin drehte den Kopf und schaute mich an.
„Du weißt genau, wovon ich spreche. Du hast mir erzählt, dass es ein paar Leute gibt, die Rache an meinem Waisenhaus nehmen wollten. Und jetzt erzähl mir nicht, dass du daran nicht beteiligt warst!“
„Bist du verrückt? Wenn ich daran beteiligt wäre, dann hätte ich dir doch nichts gesagt!“ Shit, da hatte er Recht.
„Weißt du, wer es war?“, fragte Denny kurz angebunden.
„Wer bist du eigentlich?“, fragte Kevin frech. Denny drückte seine Arme fester, sodass Kevin aufkeuchte.
„Geht dich nichts an, beantworte meine Frage!“
„Nein man, ich hab keine Ahnung! Mein Cousin hatte mir davon erzählt, der hatte es von einer der Gangs aufgeschnappt, aber die waren auch nicht beteiligt!“ Er klang ernst und ehrlich, sodass ich ihm glaubte.
„Und was zum Teufel machst du hier? Spionierst du uns etwa nach?“
Schuldbewusst schaute er auf den Boden. „Ich dachte, du wärst tot. Doch dann hab ich dich gesehen, und hab mir gedacht, ich spinne. Also wollte ich sicher gehen. Wie kommt's, dass du noch lebst?“
Ich konnte nicht antworten, also tat Denny es für mich: „Sie war an dem Zeitpunkt nicht Zuhause.“
„Wer bist du, ihr Bodyguard?“, fragte Kevin gehässig. Er hatte definitiv etwas gegen Denny. Denny ließ ihn los. „Wenn es sein muss, dann ja.“
Kevin rieb sich die Arme und schaute mich an. „Ist er dein Freund?“
„Er ist ein Freund, aber was interessiert dich das?“ Er zuckte nur die Schultern. Als wäre es ihm eingefallen, fragte er: „Warum kommst du nicht in die Schule, und wieso lässt du dich nirgends blicken?“
„Das kann dir egal sein, wichtig ist, dass du niemandem von mir erzählst. Die sollen glauben, dass ich tot bin.“
„Wieso?!“
„Erzähl es niemandem“, drohte Denny. „Das schuldest du ihr.“
Kevin schaute mir ins Gesicht. „Von mir aus“, murrte er dann. „Kann ich gehen?“
„Niemand hat dich hierher gebeten“, erinnerte Denny ihn kalt. Mit einem letzten Blick auf mich ging Kevin schnellen Schrittes davon. Ich schaute ihm nachdenklich nach. Ich hatte ihn zu Unrecht geschlagen. Naja, obwohl... Er hatte mir immerhin nachspioniert.
„Sag mal, steht der Kerl auf dich?“, fragte Denny und warf mir einen eigenartigen Seitenblick zu, während wir nach Hause gingen.
„Wie kommst du darauf?“, fragte ich errötend und hoffte, er sah das nicht.
„Weil er sich ziemlich dafür interessiert hat, was du machst und vor allem mit wem.“ Ich warf ihm einen Blick zu. War er etwa eifersüchtig? Natürlich nicht. Wieso sollte er auch? Dennoch hatte ich plötzlich Schmetterlinge im Bauch.
„Ich mag den Typen nicht und ich bin mir sicher, das beruht auf Gegenseitigkeit“, sagte ich dann schulterzuckend.
„Glaubst du, er hält ein, was er versprochen hat?“, wechselte Denny das Thema.
„Hoffentlich“, murmelte ich und verfiel in Schweigen. Was sollte ich tun, wenn Kevin mich verpetzen würde, und plötzlich die Polizei nach mir suchen würde? Das wäre echt kacke.
Meine Gedanken wanderten zu Mila und die Trauer erfasste mich. Und sie ließ mich auch nicht wieder los, den ganzen Abend war ich schlecht gelaunt und traurig, stets den Tränen nahe. Denny konnte ich auch nicht ansehen. Ich konnte mich doch jetzt nicht in diesen Kerl verlieben! Liebeskummet war das letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte. Schweren Schrittes ging ich früh ins Bett, konnte aber nicht einschlafen. In Gedanken quälten mich die Erinnerungen an das zerstörte Waisenhaus mehr denn je, und ich bekam Kopfschmerzen. Wie zum Teufel konnte ich diese beschissenen Gedanken loswerden?
Irgendwann war ich eingeschlafen, doch wurde danach von Alpträumen geweckt. Denny neben mir schlief friedlich. Entschlossen stand ich leise auf und ging in die Küche. Ich brauchte Ablenkung. Leise öffnete ich den Kühlschrank und schaute mich um. Ich nahm mir eine Wiener Wurst und stopfte mir sie in den Mund. Und dann sichtete ich das, was ich jetzt brauchte. Eine Flasche Wodka stand in der Tür. Zögernd überlegte ich, ob das eine gute Idee war. Doch als mir wieder die Bilder des zerstörten Hauses einfielen, zögerte ich nicht weiter, griff nach dem Wodka und machte den Kühlschrank wieder zu. Morgen musste ich damit klarkommen, jetzt war es mir egal. Ich ging leise ins Wohnzimmer, schloss die Tür und betrat den Balkon. Dann öffnete ich die Flasche Wodka und trank drei große Schlucke, setzte mich auf den Boden. Es schmeckte widerlich, aber von Zeit zu Zeit wurde es immer erträglicher. Nach der halben Flasche wurde mit leicht schwummrig, und meine Gedanken lösten sich. Mir fielen die drei Jungs ein und wieder das 'dumme Brotkind' ein, und ich giggelte vor mich hin. Oh man, ich glaub ich war voll besoffen. Und über diesen Gedanken musste ich ebenfalls lachen. Die kühle Nachtluft blies mir um die Ohren, und langsam fror ich. Schwankend stand ich auf und ging wieder herein. Die Uhr sagte mir, dass zwei Stunden vergangen sind. Ich ließ mich auf die Couch sinken und trank noch einen großen Schluck. Am Rande bemerkte ich, wie die Wohnzimmertür aufging und jemand eintrat. Schwindelig schaute ich auf, und schaute in das Gesicht von Denny. Ich wollte „Moin“ sagen, doch es kam ein kleiner Rülpser heraus, worauf ich in leises Kichern ausbrach. Denny kam näher und schaute auf die Wodka-Flasche.
„Du hast getrunken?“, fragte er flüsternd, man konnte aber die Wut in seiner Stimme hören.
„Nur 'n bisschen“, nuschelte ich und grinste.
„Du bist völlig besoffen“, gab er zurück und schaute mich tadelnd an. Dann riss er mir die Wodka-Flasche aus der Hand und betrachtete sie. „Du hast zwei Drittel getrunken.“
„U-hups“, machte ich kichernd. Ich fand das alles urkomisch. Denny packte mich an den Händen und zog mich hoch. „Du gehst dir jetzt die Zähne putzen und dann gehst du ins Bett, los, komm.“ Er bewegte mich ins Badezimmer, wo er mir die Zahnbürste mit Zahnpasta in die Hand drückte. „Los“, forderte er mich auf und widerwillig putzte ich mir die Zähne. Denny brachte in der Zeit die Wodkaflasche zurück in den Kühlschrank. Als er zurückkam, saß ich auf dem Klodeckel und schaute zu ihm hoch. Oha, im besoffenen Zustand fand ich ihn ja noch heißer. Miau. Mit glänzenden Augen zog er mich nun hoch und hielt mich fest. Ich stand so nahe bei ihm, dass ich seinen Atem spüren konnte. Ohne groß darüber nachzudenken, legte ich meine Lippen auf seine. Ich hatte ihn überrumpelt, das war klar. Jedoch erwiderte er den Kuss kurz, bis er sich von mir löste und ins Schlafzimmer zog. Benommen von dem Kuss ließ ich mich mitziehen. Hatte ich ihn gerade tatsächlich geküsst? Es hatte sich so unglaublich angefühlt.
„Du weißt nicht, was du tust, Kate. Du wirst das morgen bereuen“, sagte Denny leise, doch ich war mir sicher, dass er kurz gegrinst hatte. Mein Hirn schrie die ganze Zeit „Boah Kate du bist im Arsch“ aber ich überhörte das. Die Müdigkeit holte mich ein und plötzlich lag ich im Bett, zugedeckt. Ich schloss sofort die Augen und war im nächsten Moment weg.
Ich wachte schläfrig auf und bemerkte heftige Kopfschmerzen. Sofort holten mich die Erinnerungen vom vorigen Abend ein. Ich hatte mir eine Wodkaflasche geholt und gesoffen?! Ach du kacke... Ich erinnerte mich weiter daran, wie Denny mich ins Bett brachte und... Entsetzt setzte ich mich auf. Hatte ich ihn wirklich geküsst?! Mist! Was dachte er jetzt von mir? Denkt er sich jetzt, ich wäre voll in ihn verknallt? „Ach du scheisse“, stieß ich hervor und schlug die Hände vor die Augen.
„Das kannst du laut sagen“, ertönte eine Stimme an der Tür. Ich nahm die Hände von den Augen und erblickte Denny, der im Türrahmen lehnte. Ich rieb mir die Schläfen.
„Was hab ich mir nur gedacht?!“, fragte ich mich entsetzt. Ich hatte nie zuvor Alkohol getrunken und eigentlich hatte ich das auch nie vorgehabt.
„Das frag ich mich auch“, meinte Denny und setzte sich neben mich.
„Ich konnte meine Gedanken nicht loswerden, ich musste immer an mein zerstörtes Zuhause denken.... Und an Mila... Ich hab Ablenkung gebraucht.“ Ich runzelte die Stirn und massierte sie mir.
„An was erinnerst du dich sonst noch?“, fragte er zögernd.
Ich warf ihm einen Blick zu. „An ein paar dumme Taten.“
Er lachte. „Also erinnerst du dich noch daran, dass du mich geküsst hast.“
Ich schlug wieder die Hände vor die Augen. „Oh man...“
„Ich sagte ja, du wirst es bereuen“, hörte ich ihn sagen. Plötzlich kam mir etwas in den Hinterkopf. Ich wusste noch genau, dass er den Kuss zuerst erwidert hatte. Was sollte das denn bitte bedeuten? Warscheinlich wollte er mich nicht abweisen, dachte ich mir.
„Ich war total besoffen“, stöhnte ich, immer noch die Hände vorm Gesicht.
Eine Weile war es still. „Und was lernen wir daraus?“, fragte er dann. „Sich besaufen ist keine Lösung.“
„Hör auf damit“, sagte ich aufgebracht und ließ die Hände sinken.
„Womit?“
„So zu tun, als wärst du mein Vater... Oder mein großer Bruder“, fuhr ich ihn an. Er schien darüber nachzudenken. „Im dem Fall muss ich es aber.“
„Nein, musst du nicht“, korrigierte ich ihn. „Ich weiß ich hab Mist gebaut, aber ich brauchte den Alkohol. Du weißt nicht, wie es ist, wenn du dauernd an deine tote Familie denken musst.“ Wütend stand ich auf. Irgendwie verletzte es mich, dass er wie ein Familienmitglied über mich dachte.
„Ich bin nun mal drei Jahre älter als du, und wenn du dich betrinkst...“
„Zwei“, korrigierte ich automatisch.
„Ich bin neunzehn.“
„Und ich siebzehn“, blitzte ich ihn an.
Er stutzte. „Seit wann?“
„Seit ein paar Tagen“, gab ich bissig zurück.
„Warum hast du nichts gesagt?“
„Ich habe keinen Grund zum feiern“, meinte ich. „Und ich will nicht beschenkt werden.“
„Das hättest du uns sagen können. Aber gratulieren kann man doch.“
Ich zuckte mit dem Schultern. „Wie auch immer. Du bist nicht mein Vater.“
Er stand ebenfalls auf. „Tut mir leid. Ich sehe dich keinesfalls als meine Tochter. Auch nicht als kleine Schwester. Aber dich in diesem Zustand zu sehen... Lass mich wenigstens auf dich aufpassen.“
Ich blieb am Fenster stehen und schaute hinaus.
„Freunde passen aufeinander auf“, fügte er hinzu. Widerwillig musste ich lächeln. Das heißt, er sah mich nicht als Familienmitglied, sondern als Freundin. Aber warum war mir das so wichtig?
Ich drehte mich nun zu ihm um und lächelte. Und gegen meinen Willen hatte ich wieder Schmetterlinge im Bauch. Ach man... Ich glaub, ich hab mich echt in den verliebt. MIST!
„Ich muss noch ein bisschen Bürokram machen“, meinte er und wollte sich umdrehen. Doch er kam noch einmal auf mich zu. Plötzlich beugte er sich zu mir herunter und gab mir einen sanften Kuss auf die Wange. „Happy Birthday nachträglich“, sagte er leise. Ich errötete und musste lächeln. Er grinste süß und verließ dann den Raum. Meine Wange glühte dort, wo seine Lippen meine Haut berührt hatten. Schwach ließ ich mich auf das Bett sinken. Na toll, dachte ich mir, jetzt konnte ich es nicht mehr leugnen. Ich hatte mich in den gut aussehenden Denny verliebt. Ganz große Klasse. Und jetzt? Warum sollte er mich denn mögen? Ich war geistig verkrüppelt und total kaputt, innerlich zerbrochen. Und ich hatte kein richtiges Leben. Oder zumindest keins gehabt, denn langsam gewöhnte ich mich an mein jetziges Leben bei Denny und seinen Freunden. Und ich musste zugeben... Es gefiel mir. Und bei diesem Gedanken stohl sich ein Lächeln in mein Gesicht.
Tag der Veröffentlichung: 28.07.2014
Alle Rechte vorbehalten