Die Pinzette zitterte in seiner Hand. Es war schon lange her, dass er die Miniaturen und Platinen selbst hergestellt hatte. Mittlerweile hatte er wichtigeres zu tun. Und sehr viel fähigere Leute, die das Fingerspitzengefühl und die Ruhe aufbringen konnten, unter dem Mikroskop zu löten. Die Dielen über ihm knarrten. Für einen kurzen unsäglichen Moment zuckte er zusammen. Er wusste, dass niemand mit ihm im Ferienhaus war. Das Holz war alt und in der Frühlingssonne arbeitete es. So wie in jedem anderen Gebäude auch. Eigentlich war er an das Knacken und murren des kleinen Hauses gewöhnt. Trotzdem hatte die winzige Ablenkung genügt und er war abgerutscht. Eine tiefe Schramme zog sich quer über das kleine Plättchen. Bereits irreparabel destabilisiert kippelte das hintere Ende, das nicht in der Pinzette klemmte nach unten. Resigniert lehnte er sich auf seinem Arbeitsstuhl nach hinten und ließ die filigranen Werkzeuge fallen. Gerne hätte er mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Es musste doch einen einfacheren Weg geben! Er saß nun bereits seit einer Woche vor seinen Geräten und er war kaum merklich schneller geworden. Pro Tag konnte er nur ungefähr vier Einheiten fertigstellen. Und mindestens zwei weitere landeten in der Tonne. Vielleicht konnte er die mühselige Arbeit in ein billig Lohn Land auslagern. Aber nein. Das war nur ein vager Wunschgedanke. Das Risiko war zu groß. Nicht nur der potenziellen Fehler wegen. Man könnte die Technologie schließlich auch kopieren. Nur weil man den armen Leuten wenig bezahlte, machte sie das schließlich nicht dumm. Außerdem war es schließlich das, was er selbst gerade tat. Wobei er entschieden hatte es nicht kopieren zu nennen. Eher nachbauen. Oder vervielfältigen. Verbessern! Immerhin hatte er auch ein paar Detail in der Programmierung... Nun ja... angepasst. Ein zufriedenes Lächeln breitete sich bei dem Gedanken auf seinen Lippen aus. Und es war so einfach gewesen. Vielleicht war es mit den Platinen ja genauso einfach.
Am nächsten Tag, um kurz nach acht, zog er seine Karte durch den Riegelmechanismus der Tür. Es dauerte einen Moment, während die Sensoren die Karte abtasteten, dann ertönte eine Reihe kurzer Pip-Töne. Mit einem Summen sprang die Tür aus dem Riegel und schwang langsam, von einem Arm gezogen, nach innen auf. Kurz blickte er sich über die Schulter, dann ging er hindurch und den langen kalt weißen Gang hinunter. Die Wände waren vom Boden ab bis fast unter die Decke gefliest und seine Anzugschuhe klangen unnatürliche laut auf dem harten Boden. Flink huschten seine Augen über die Beschriftungen an der Tür. Ursprünglich hatte er gedacht er könnte die Platinen einfach stehlen. Aber dann war ihm aufgefallen, dass er einfach einen offiziellen Antrag für ein Projekt stellen konnte. Schließlich hatte er die Leitung der Teams. Und nichts konnte ihn besser schützen, als einfach die Wahrheit zu sagen. Zumindest einen Teil davon. Am Ende des Gangs blieb er schließlich vor einer Tür stehen. Er klopfte zweimal kurz mir den Knöchel an die Tür, bevor er die Klinke herunterdrückte. Im Labor war nur eine Person. Sandra. Sie war eine kleine Frau mit athletisch Figur und streng zusammengebundenen Haaren. Hätte er sie nicht vor über fünfzehn Jahren selbst eingestellt, hätte er sie selbst noch für eine Studentin gehalten. Sie seufzte schwer, als sie sich umdrehte. Vermutlich hielt sie ihn für einen Praktikanten und hatte vor ihm die Leviten zu lesen. Etwas in der Form wie, ‚man muss nicht anklopfen, wenn man überhaupt nicht vorhat auf das Herein zu warten‘. Doch als sie auf sah wurden ihre Augen kurz groß und ein überraschtes oh lag auf ihren Lippen. »Hallo Sandra.«, sagte er und konnte nicht vermeiden, dass ein ehrliches Lachen über seine Züge glitt. Er hatte schon lange nicht mehr gelächelt. Es fühlte sich seltsam an.
»Nicholas. Was verschlägt dich den hier runter in den öden Keller?«, fragte sie verwundert und stand auf. »Was ist passiert? Geht‘s dir gut?«
Einen Moment lang überlegte er auf den Smalltalk mit ihr ein zu steigen. Er mochte sie, hatte er schon immer. Aber er hatte nicht viel Zeit. Außerdem machte ihn die Angelegenheit nervös. Also winkte er nichts sagen ab. »Im Moment ist es etwas schwierig zu Hause. Mit der Scheidung und allem. Aber das wird schon wieder, nicht?« Für einen Moment zuckte er niedergeschlagen die Schultern. Es würde nicht wieder werden. Nichts. Aber man musste eben weiter machen. Er schüttelte das klamme Gefühl ab und sah lächeln in ihr mitleidiges Gesicht. »Ein neues Projekt wurde vom Vorstand bewilligt. Wir brauchen einen ganzen Haufen Mikrochips. Eine Steuerzelle und fünf bis neun Untersysteme.«
Professionell wie Sandra war bohrte sie nicht weiter nach. Sie lächelte und schob die Hände in die Taschen ihres Laborkittels. »Welches Format? Hast du das Formular schon ausgefüllt?«
Geschäftig ging sie hinüber zum Computer und öffnete ein Programm.
»Natürlich.«, sagte er und reichte ihr das Papier mit dem offiziellen Antrag, für ein Projekt, das gar nicht existierte. Er hatte den Antrag gestern Abend zügig abgetippt. Wenn die Platinen über ein Projekt liefen wurden sie schlicht unter der Projektnummer ausgebucht. Er musste dann nur das Projekt leise ein paar Wochen füttern und leerlaufen lassen. Dann würde niemand Verdacht schöpfen. Und schließlich würde er es einfach einstampfen.
»Die ganz kleinen? Ist das wirklich nötig?«
Verkniffen nickte er.
»Brauchen Sie ein Bewegungsprogramm oder ist das in der späteren Programmierung schon inbegriffen?«
Einen Moment verstand er nicht was sie ihn fragte. Er brauchte Rohlinge. Das Programm würde er dann schon selbst rüber spielen. Alles, was er aus dem Original extrahiert hatte. Sowie seine Anpassungen.
»Die Platinen sind für Nanobots. Allerdings statisch. Sobald sie ihre Position erreicht haben verankern sie sich.« Er schüttelte kurz den Kopf. »Ich darf eigentlich noch gar nichts darüber verraten.«
»Schon gut. Schon gut.« Sie hob verständnisvoll die Hände. »Keine Bewegungsform vorprogrammiert. Großes Speicher Volumen. Geschützte Kommunikation. Hm. Aber c10? Nachdem Georgs Projekt abgelehnt wurde haben wir die kleinen Platinen alle aussortiert. Die waren auch wirklich ein bisschen zu filigran.« Mit flinken Fingern klickte sie sich durch das Programm. Es schien das Lager zu verwalten und die einzelnen Mikrochips und Platinen mit laufenden Projekten zu verbinden. »Wie schnell brauchst du die denn?«, fragte sie, ohne vom Bildschirm aufzusehen.
»Es ist nicht dringend. Aber es wäre gut, wenn das Projekt ohne Verzögerung weiterlaufen kann. Also bis Ende der Woche wäre ein Traum.«
Sandra grinste breit. Dann sah sie wieder zurück zum Bildschirm. »In der Größe könnte ich dir aktuell nur die Spin- elektrischen anbieten. Da hätten wir einen ganzen Satz da. Etwa fünftausend Rohlinge.«
Als er nicht reagierte sah sie wieder auf. Sein Fragender Blick brachte sie wieder zum Grinsen. Er war alt geworden. Es war eine Tatsache, die ihm in diesem Moment direkt ins Gesicht schrie. Der Schreibtisch hatte ihn alt gemacht.
»Spin- elektrisch?«, fragte Sandra höflich. Er nickte. »Keine Sorge, die sind noch ziemlich neu. Eine Art Hochleistungsspeicher im absoluten Miniaturformat. Funktioniert mit Magnetelektronik. Wenn das für dich passt, reserviere ich dir die Hälfte. Dann kann man sie spätestens heute Mittag an die Programmierer geben.«
Er nickte langsam. Warum nicht. Mehr Speicherplatz würde schließlich definitiv nicht schaden.
Am 12. Dezember wurde der Fall der Caroline Hansen offiziell an das Landeskriminalamt übergeben. Auch steigende Fallzahlen lassen bisher, trotz eindeutigem Muster, keine Ursache, für ihren, sowie die weiteren Tode erkennen. Das Auftreten ähnlicher Fälle über ganz Deutschland verteilt, sowie Veränderungen von Verhalten, Charakter und Persönlichkeit der betreffenden Personen, dem Tod vorausgehend, erheben deutlichen Verdacht auf bewusstseinserweiternde Mittel.
Durch das am 08. April von Georg Deis unrechtmäßig eingespeiste Video, ist nun davon auszugehen, dass es sich weniger um eine Droge handelt, sondern um ein, am Körper angebrachtes, technisches System. Durch äußere Reize oder eine Fehlreaktion im Inneren, scheint sich das System von den Andockstellen, im Inneren der Person zu lösen und über Blut aus geschwemmt zu werden. Dies deckt sich mit den Erkenntnissen der Autopsie. In allen Fällen wurde der Tod begleitet durch starke Krampfanfälle, Nasenbluten und teilweise Erbrechen. Im Rahmen der inneren Sektion fällt eine Beschädigung des Gehirngewebes auf. Kleine Schnitte sowie teilweise Hitzeeinwirkungen, sind in allen Fällen zu beobachten.
Die Schwerpunkte der weiteren Ermittlung sind:
»Und? Bist du bereit?«
Blaugrauer Nebel quoll irgendwo rechts vor uns aus der Erde und verschleierte die Sicht. Tom stand unruhig neben mir. Wir kannten uns noch nicht lange. Nur ein paar Tage um genau zu sein. Doch in der kurzen Zeit hatten wir bereits eine Menge Mist erlebt. Inklusive dem kompletten Vertrauensverlust meinerseits. Ja. Ich weiß. Ich bin ein furchtbarer Mensch. Und ich schämte mich auch dafür. Trotzdem stand Tom weiterhin an meiner Seite. Als wäre nie etwas passiert.
Ich sah zur Seite und mein Blick blieb an seinen Haaren hängen. Der Rauch quoll bereits zwischen den dunklen fransigen Strähnen hindurch. Und dann endlich roch ich es.
»Ich glaube für ein nein ist es mittlerweile wirklich zu spät.«, sagte ich mit erstickter Stimme.
Die Luft schmeckte faul. Angestrengt versuchte ich so wenig wie möglich davon einzuatmen, doch es war schwierig. Auch Tom neben mir begann leicht zu keuchen. Eine trockene warme Hand streifte meinen Arm und schloss sich vorsichtig um meine Hand.
»Dann nichts wie los.«
Ich sah wie er mit dem Ärmel sein Gesicht bedeckte und tat es ihm gleich. Dann, mit einem letzten flachen Atemzug, traten wir in die unwirtliche Wolke hinein.
Es war nicht dunkel, doch sehen konnte man trotzdem nichts. Überall war nur der dichte Nebel und der faulige schwere Geruch, der sich wie Staub in der Lunge absetzte. Die Luft wurde wärmer und schmeckte bitter. Dick wie Teer klebte sie in meinen Atemwegen und meine Zunge war trocken und geschwollen an meinen Gaumen gedrückt.
Wir gaben uns größte Mühe nicht vom Weg abzukommen. Doch man konnte nichts sehen. Und der Nebel schien keine Richtung zu haben. Durch. Einfach nur durch, wo auch immer es uns hinführen würde.
Erneut atmete ich vorsichtig ein. Doch es wurde immer schlimmer. Die Luft war zum Schneiden dick und schien überhaupt keinen Sauerstoff mehr zu enthalten. Ich fühlte mich wie eingeschnürt und der Drang endlich tief einzuatmen brachte mich beinahe um den Verstand.
Plötzlich prallte ich gegen Tom. Abrupt war er stehen geblieben und tastete etwas vor sich ab. Ohne meine Hand loszulassen strich er über einen unsichtbaren Gegenstand. Etwas schabte und knackte, doch das Licht und die Luft veränderten sich nicht. Er dirigierte meine Hand zur Seit und folgsam hielt ich mich an seinem Pullover fest.
Mit Schwung wurde ich nach vorne gezogen, als er sich mit der Schulter gegen den Gegenstand stemmte. Wieder knackte es und diesmal folgte ein Quietschen aus alten Scharnieren. Er stemmte sich weiter dagegen und schließlich verschwand der Widerstand. Mit zu viel Schwung stolperten wir weiter. Aus der Wolke heraus in einen dunklen, hohen Raum. Doch die Luft war klar und Schemen, Konturen und Schatten wurden wieder sichtbar.
Ich hatte seinen Pullover losgelassen, als ich ihn plötzlich keuchen hörte.
»Heilige Mutter Gottes!« Seine Stimme hallte hohl durch die riesige Halle und ein schwaches Echo waberte uns entgegen.
»Du kannst wirklich nicht richtig fluchen.«, lachte ich und hielt mir schnell den Mund zu. Doch es war schon raus. So schnell ich mich in der Dunkelheit wagte, schloss ich zu ihm auf. Ein ewig breiter Graben erstreckte sich vor uns. Und so wie die Kiesel knirschten und kullerten, wäre er wohl beinahe hineingestolpert. Ich starrte nach unten. In unendlicher Tiefe wartete jedoch keine Dunkelheit, sondern Licht. Ein klarer hellblauer Schein strahlte uns entgegen und ich bildete mir ein, kleine grüne Flecken zu sehen. Als würde man von weit oben auf die Welt oder ein kleines Stück Land hinunterblicken.
Vorsichtig, um ihn nicht zu erschrecken legte ich meine Hände an seine Taille und zog ihn langsam von der Kante weg. Es reizte mich selbst hinunter in das seltsame Loch zu starren, doch ich zwang mich einen Schritt zurück zu treten.
Wenn wir dort hinunterfielen, wären wir nicht einfach nur tot, wir wären platt. Ein Fleischsack voller Knochenfragmente. Im wahren Leben würde man vermutlich während des Sturzes bereits das Bewusstsein verlieren und von seinem Elend glücklicherweise überhaupt nichts mehr mitbekommen. Hier allerdings war das anders. Wir konnten zwar nicht sterben, doch dass was uns danach erwartete, bis wir erwachten wäre die Hölle. Es hatte mir gereicht eine Nacht lang den Tod durch eine Schussverletzung in allen seinen Einzelheiten wieder und wieder zu durchleben. Einen Sturz aus dieser Höhe würde ich mir daher lieber ersparen. Das er normalerweise mit dem Tod endete war vermutlich Gnade.
Langsam ließ ich Toms dickes schwarzes Sweatshirt los und zwang meine Finger in eine weniger verkrampfte Haltung. Zögerlich sah ich mich um. Ich hatte zwar gehofft, dass die seltsame giftige Nebelwand ein Übergang, wohin auch immer, war. Doch damit hatte ich nicht gerechnet. Es war wieder einmal nicht wirklich abstrakt genug. Aber wer wusste schon wie weit der Weg in das Unterbewusstsein eines schlafenden Menschen war.
Mit in den Nacken gelegten Kopf nahm ich die Umgebung in mich auf. riesige hohe Holzwände umgaben uns. Und obwohl es ein geschlossener Raum war, wirkte er unendlich groß. Verschachtelte Verzierungen überzogen die Wände und hölzerne Rahmen, Gesimse und Absätze zogen sich über die Flächen. Das Holz leuchtete mit einem dunklen, weichen Glanz. Doch nach einer Decke suchte ich vergeblich. Die Wände endeten, doch darüber war nichts. Dunkelheit vielleicht oder Stein. Doch was es auch war, ich konnte es nicht wahrnehmen.
Auf der anderen Seite des Schachtes war ein schmaler Felsvorsprung und dahinter eine weitere Tür. Sie war aus dem gleichen Holz wie die Wand hinter uns und ähnliche Verzierungen schmückten die beiden hohen Flügel. Knirschend ging ich am Rand der Klippe entlang. Wenn auf der anderen Seite eine Tür war, musste man schließlich irgendwie hinübergelangen können. Kleine Kiesel sprangen klickend von meinen Schuhen und tanzten über den Boden. Einzelne stürzten hinab ins Ungewisse.
»Maeve.« Toms Stimme hallte leise durch den hohen Raum und ein waberndes Echo sprang von den Wänden zurück. Ich blieb stehen und drehte mich um.
Tom war mir wenige Schritte gefolgt, bevor er stehen geblieben war. Jetzt stand er wieder waghalsig dicht am Abgrund.
»Geh lieber nicht so dicht an den Rand.«, sagte ich und ging eilig, aber vorsichtig, zu ihm zurück. Er bewegte sich nicht von der Stelle. Erst als ich bei ihm ankam und eine Hand auf seine Schultern legte, blickte er wieder auf. Ich versuchte ihn weiter in den Raum hinein zu ziehen, doch er griff nach meiner Hand, um mich aufzuhalten.
»Schau mal.«, mit dem Finger deutete er vor sich in die Tiefe. Zögerlich trat ich wieder einen Schritt näher an den Abgrund. Er würde mich nicht hinunterstoßen. Das war nur Tom. Ich konnte ihm vertrauen. Ich atmete tief durch und stellte mich neben ihn. Dann folgte ich mit dem Blick seiner ausgestreckten Hand. Ein kleines Stück unterhalb der losen rauen Kante des Bodens hing ein Balken in der Luft. Zumindest sah es so aus. Die lose Erde zog sich gut zwanzig Meter in die Tiefe, bevor das Podest endete und nur noch Luft und Licht und ferner Boden übrig war. Ganz dicht an dieser Wand aus Erde und Gestein schwebte ein Holzbalken. Ich konnte nicht sehen woran er befestigt war. Er schien lose in der Luft zu hängen. Von der Ebene auf der wir standen, war es vermutlich nicht einmal ein Meter. Ein Katzensprung, so zu sagen. Und als ahnte ich nicht schon jetzt worauf es hinauslaufen würde, entdeckte ich in dem Moment den zweiten Balken.
Wie eine sehr lose Hängebrücke spannte sich ein Weg über den Abgrund. Holzbalken von der Breite eines Schwebebalkens reihten sich parallel zu einander durch die Luft. Das war schon machbar. Der Abstand zwischen den Objekten bereitete mir allerdings etwas Sorgen. Ein Schweißtropfen rollte über meine Stirn und tropfte auf meine Nase. Ich sah in Toms abwartendes Gesicht. Er schien begeistert, dass er den Weg entdeckt hatte. Aber nicht minder besorgt über dessen Zustand. Doch wir mussten nicht darüber diskutieren. Die Entscheidung war bereits gefallen, als wir entschieden hatten den fauligen Nebel zu betreten.
»Ganz schön heikel was wir hier machen.«, sagte ich und blies mir die Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Ich frage mich ob das Unterbewusstsein nicht doch ein Ort ist der lieber unberührt bleiben sollte...«
Tom lächelte und drückte meine Hand. »Genau deshalb gibt es nur diesen Weg, glaube ich.« Er zeigt zurück auf die Tür durch die wir gekommen waren. »Das sind Schutzvorrichtungen. Barrieren, damit man hier nicht einfach hineinspazieren kann. Der faule Nebel hält die meisten Leute fort, schließlich bekommt man dort keine Luft mehr. Das hier scheint für die ganz hartnäckigen zu sein.«
Ich atmete geräuschvoll aus. Mein Herz hatte wieder begonnen wie ein Kolibri zu flattern. »Wir sind also die Hartnäckigen?«
Seine Zähne blitzten als er breiter lächelte. Doch das Unbehagen stand ihm, wie mir, deutlich ins Gesicht geschrieben.
»Wir sind das Sondereinsatzkommando. Nichts kann uns aufhalten.«
Ich lachte verzweifelt. Aber er hatte recht. Wir hatten eine Mission. Und da ich gestern unsere Zeit bereits erfolgreich - und sinnlos - vergeudet hatte, sollte ich mich heute durch nichts aufhalten lassen.
Bevor ich also weiter darüber nachdenken konnte, ließ ich Toms Hand los und sprang von dem Absatz auf dem ich stand. Ein erschrockener Schrei entfuhr ihm.
Mit flatternder Strickjacke rauschte ich nach unten und landete mit einem schweren dumpfen Ton. Der Aufprall war so hart und abrupt, dass es mir die Wirbelsäule stauchte und ich keuchend in die Knie sackte. Prompt verlor ich das Gleichgewicht. Ich ruderte panisch mit den Armen und blieb schließlich still auf dem Balken hocken.
Seufzend ließ ich mich auf den Hintern fallen, sodass meine Beine rechts und links in der Luft baumelten. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich die Luft angehalten hatte.
»Heilige verdammte... arg!«
Erschrocken sah ich nach oben. Tom war kreidebleich und zog sich mit entrücktem Blick an den Haaren. »Hast du den Verstand verloren!«
Es war schon lange her, dass ich ihn zum letzten Mal so laut erlebt hatte. Fünf Tage, um genau zu sein. Bei dem Rabats, den er machte, rutschte mir das Herz in die Hose. Was wenn ich ihn aus Versehen hinuntergestoßen hätte! »Tut mir leid!« Mehr fiel mir im Moment nicht ein. »Geht es dir gut?«, rief ich hinter her und stemmte mich vorsichtig wieder hoch, sodass ich mich hinstellen und aufrichten konnte.
»Mir geht es gut. Aber ich glaube du hast den Verstand verloren!« Er lachte schnaubend auf. »Meine Güte Maeve! Du kannst doch nicht einfach so da runterspringen!« Wieder rieb er sich über das Gesicht und raufte sich die Haare. »Geht es dir gut?«
Ich blickte an mir hinunter. Meine Beine fühlten sich an wie Gummi. Doch der Boden unter meinen Füßen, wenn auch nur knapp zehn Zentimeter breit, war fest und sicher. Er kippelte nicht einmal, wie man es von solchen Geheimwegen eigentlich erwartete. Mein Blick glitt wieder nach oben und ich lächelte zittrig, als ich sein Gesicht erblickte und die noch immer tellergroß aufgerissenen Augen. Ich zuckte die Schultern. »Mir geht‘s gut.«
Er stöhnte und ließ sich in die Hocke sinken. Entnervt rieb er sich über die Augen. Nach einem kurzen Moment sah er mich schließlich wieder an. »Du bist unmöglich!«
Wenn er gekonnt hätte, hätte er mich vermutlich geschüttelt, aber ich stand zu weit entfernt. Letztendlich richtete er sich wieder auf und versetzte sich zurück in einen ernst objektiven Zustand... »Soll ich zu dir runterspringen, oder willst du schon einmal auf den nächsten Balken klettern?«
Ich warf einen unsicheren Blick auf den nächsten Balken. Er schwebte etwa in Brusthöhe, ein gutes Stück vor mir. Es wäre nicht einfach dorthin zu gelangen. Zumindest nicht für mich. Wenn er allerdings zu mir auf den Balken sprang, könnte das einen von uns aus dem Gleichgewicht bringen. Allerdings könnten wir uns auch jeweils selbst aus dem Gleichgewicht bringen, da war es wohl besser, wenn eventuell noch jemand anderes nach der eigenen Hand greifen konnte. Ich trat an den äußersten Rand meines Holzbalkens. »Spring du erst mal zu mir.«, sagte ich.
Tom nickte. Anders als ich versuchte er die Lage des Balkens vorher genauer ab zu schätzen, anstatt einfach ziellos nach unten zu springen. Schließlich setzte er sich auf die Kante des Vorsprungs auf dem wir vorher gestanden hatten und ließ sich langsam nach unten ab. Da er gefühlte zwei Meter groß war, erreichten seine Fußspitzen bereits den Balken, noch bevor er oben losgelassen hatte. Vorsichtig drückte er sich von der Wand ab. Mit einem winzigen Schwanken kam er vor mir zum Stehen. Seine Augen waren dunkel und die Brauen zu einer ernsten Grimasse zusammengezogen.
»Wenn der Balken hier ein bisschen breiter wäre, würde ich dir jetzt die Leviten lesen.«, sagte er mit Grabesmiene. Ich konnte nichts tun als beschämt den Mund zu verziehen. Erschrocken zuckte ich zusammen, als er mir mit den Knöcheln einmal leicht auf den Kopf klopfte. »Mach das bloß nie wieder.«, sagte er tadelnd.
Ich nickte. Musste mir aber dennoch ein Lachen verkneifen. Stoßhaft atmete er aus und drehte sich dann vorsichtig nach vorne.
Noch immer waren seine Augenbrauen fest zusammengezogen, während er überlegte, wie er mich Zwerg auf den nächsten Balken bringen könnte. »Ich glaube deine einzige Chance ist zu springen.«, sagte er schließlich trocken. Ich schluckte. Jep. Springen, das war auch der Schluss auf den ich gekommen war.
»Ich würde dir diesmal den Vortritt lassen.«, ich grinste unsicher. »Vielleicht kannst du mir helfen, wenn du schon drüben bist...«
Er nickte. Obwohl er sicherlich mit den Händen an den nächsten Balken gekommen wäre holte er Schwung und sprang mit einem Satz hinüber. Keuchend klammerte er sich an dem Balken fest, als ihm der Aufprall die Luft aus den Lungen presste. Es dauerte einen Moment, doch dann begann er zu strampeln und kämpfte sich mit verbissenem Blick auf das klobige Stück Holz hinauf.
Es machte mir nicht gerade Mut...
All smiles, I know what it takes to fool this town
I‘ll do it ‚til the sun goes down and all through the night time
Oh yeah
Oh yeah, I‘ll tell you what you wanna hear
Leave my sunglasses on while I shed a tear
It‘s never the right time
Yeah, yeah
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit und es sah furchtbar schmerzhaft aus. Doch schließlich hatte er es geschafft. Er lag bäuchlings auf dem schmalen Brett und klammerte sich schwer atmend fest.
»Ich muss sagen, ich bin ehrlich froh, dass das Unterbewusstsein dermaßen gut geschützt ist.«, sagte er und legte den Kopf ebenfalls ab. Ich konnte nur leidend das Gesicht verziehen. »Wenn es denn tatsächliche das Unterbewusstsein ist, dass all das hier veranstaltet...«
Ich blickte an ihm vorbei auf die Strecke die noch vor uns lag. Es wunderte mich wirklich, wie so viele Träumer hatten sterben können. Schließlich hatte Tom gerade einmal den zweiten Balken erreicht, und ich stand noch ganz am Anfang. Wie sollten wir es auf die andere Seite schaffen? Wir waren schon jetzt komplett am Ende und hatten noch nicht einmal ein Viertel des Weges zurückgelegt.
»Also wenn am anderen Ende nicht irgendwo der Träumer zu finden ist, wäre das wirklich unfair.«
Tom stöhnte. Letztendlich stemmte er sich hoch und sah mich auffordernd an.
»Glaubst du nicht, dass es eine andere Möglichkeit gibt?«, fragte ich hoffnungslos und dachte an die vielen Möglichkeiten, die wir hatten, wenn ich die Realität im Traum nur ein wenig beugen würde. Doch mir war bewusst, dass ich so dicht an unserem Ziel nicht mehr herum zaubern durfte. In der aktuellen Lage, konnten wir wirklichen keinen ungebetenen Besuch gebrauchen. Noch dazu, wenn dieser versuchte, uns mit einer Schrotflinte in die ewigen Jagdgründe zu schicken. Und leider war genau das die Folge, die meine Tricks bisher noch jedes Mal nach sich gezogen hatte. So effektiv, dass ich eine klar zu lesende Fährte hinterließ, selbst wenn ich nichts tat, außer zu atmen. Tom seufzte. »Es ist nicht für die breiten Massen gedacht. Aber das wussten wir ja.«
Ja, das wussten wir. Ich war mir allerdings trotzdem zu einhundert Prozent sicher, dass ich gnadenlos an dem Holzstück vorbei segeln würde... Tom schien mir die Gedanken am Gesicht ab zu lesen. Er setzte eine sichere Miene auf. »Komm. Es kann dir nichts passieren.«
Haha. Wenn er wüsste. Nach Freitagnacht hatte ich vor, nie wieder zu sterben. Außer das eine Mal, dass unumgänglich war, natürlich. Aber nie wieder hier im Traum, wo man das Unglück wieder und wieder erleben musste, bis die Nacht zu Ende war.
Ich wischte mir erneut den Schweiß aus der Stirn und zog, einer spontanen Eingebung folgend, die dünne weite Strickjacke aus, die lose über meine Schultern hing und mich ganz sicher beim Sprung irgendwie behindern würde. Rücksichtslos ließ ich sie einfach über dem Abgrund fallen. Mit einem dramatischen Aufwallen taumelte sie in die Tiefe. Eine Weile sah ich ihr nach, wie der helle gelbe Fleck immer kleiner wurde und schließlich verschwand. Mir wurde regelrecht schlecht dabei. Schließlich blickte ich auf und musste feststellen, dass Tom mit ebenso blassem Gesicht hinunter starrte.
Unsicher klopfte ich meine Hände trocken. Bereiter als jetzt, würde ich nicht mehr werden. Ich atmete ein letztes Mal stoßhaft aus, sodass auch Tom bemerkte, dass ich springen würde. Er sah auf und ich ging sprung- bereit in die Hocke.
Mit einem Satz rauschte ich gegen das Holz. Der harte Widerstand und die Wucht pressten meine Lunge zusammen. Vor Schmerz hätte ich beinahe wieder losgelassen, doch plötzlich drückte etwas Warmes gegen meine Handgelenke. Tom stützte sich mit vollem Gewicht auf meine Unterarme, während ich keuchend versuchte Luft zu bekommen. Er lächelte begeistert, als hätte ich gerade eine olympische Sensation vollbracht. Ich hätte gelacht. Ehrlich. Wenn ich nur ein bisschen mehr Luft und ein bisschen weniger lähmende Todesangst hätte.
Eine Weile baumelte ich einfach über dem Abgrund. Doch schließlich beruhigten sich meine Gedanken.
»Okay, Maeve. Nimm jetzt ein bisschen Schwung, sodass du mit der Ferse auf den Balken kommst.«
Wie gesagt, ich hätte gelacht. Doch wie immer schien Tom jede Gefühlsregung in mir lesen zu können. Ich konnte beinahe fühlen, wie er versuchte mir die Angst auszureden. »Es wird nichts passieren. Ich halte dich.«, sagte er und sah mir mit festem Blick in die Augen.
»Ja.«, sagte ich keuchen. Wieder konnte ich nur ausatmen, während meine Knie vom Zittern langsam taub wurden. »Und wenn wir runterfallen, brechen wir uns für den Rest der Nacht ja auch nur immer wieder alle Knochen...« Verzweifelt holte ich mit einem Bein aus. Manchmal fragte ich mich wirklich wie ich in die Situationen kam, in denen ich letztendlich war.
»Hä.«, machte Tom und sah mich verwirrt an. Doch sein Griff um meine Arme lockerte sich kein bisschen. Das war ja schon einmal etwas.
»Vergiss es.«, presste ich hervor. Mittlerweile pendelte ich wie eine Standuhr hin und her. Wirklich viel Hoffnung hatte ich noch immer nicht. Dennoch holte ich erneut Schwung. Und pendelte wieder zur anderen Seite. Dieser blöde Körper! So ganz ohne verbleibende Energie war dieser Zellanzug verdammt schwer. Langsam wurde ich auf mich selbst wütend. Die Enttäuschung hatte ich bereits restlos aufgebraucht. Mit letzter Verzweiflung holte ich aus und stieß - oh Wunder - mit dem Fuß gegen etwas Festes. Ich wagte einen weiteren Versuch und schließlich krachte meine Ferse auf das Holz. Mit einem Schrei der Entzückung, der sich eher als tierisches Keuchen äußerte, quälte ich mich nach oben. Zitternd wie ein Kaninchen lag ich auf dem Bauch und umarmte den verdammten Balken.
»So schaffen wir das nie.«, keuchte ich. »Zumindest nicht, bevor jemand stirbt oder aufwacht.«
Tröstend klopfte er mir auf den Rücken. »Hast du schon mal davon gehört, dass Menschen ganz unmögliche Dinge geschafft haben, nur weil sie Angst hatten und ihr Körper sie deshalb mit jeder Menge Adrenalin versorgte?«
Ich lachte trocken auf. »Ja, habe ich. Aber hast du schon davon gehört, dass man wirklich nur schwer gehen kann, wenn einem die Knie schlottern?«
Zittrig drückte ich mich nach oben, sodass wir einander gegenübersaßen, doch ich wagte es kaum mich zu bewegen. Das Holz war viel zu schmal als dass ich mich sicher fühlen könnte und meine Beine baumelten frei über dem Abgrund. Meine Fingernägel schabten über die Vertiefungen im Holz, während ich weiter nach Halt suchte.
»Wir schaffen das schon. Wenn mich nicht alles täuscht, steigen die Balken von hier ab nur noch langsam an.«
Ich sah in die Richtung in die wir gehen wollten und folgte mit dem Blick der leichten Steigung.
Nachdem der erste Balken unterhalb der Kante angebracht war, musste man sich Stück für Stück nach oben kämpfen, um die höher liegende anderen Seite zu erreichen. Doch er hatte Recht. Währen der Schritt von Balken eins zu Balken zwei fast eine Körperlänge nach oben ging, schienen die weiteren Balken nur noch um Zentimeter anzusteigen.
»Was passiert auf der anderen Seite? Von der Höhe aus schaffen wir es doch gar nicht auf die Plattform.« Ich versuchte mich weiter zu konzentrieren, damit das Zittern nachließ und ich mich wieder beruhigen konnte. Das war wie Mathe. Wenn man sich so sehr auf etwas konzentrieren musste, vergaß man einfach, was man gerade eben noch gefühlt hatte. Zumindest hatte mir das bisher immer geholfen. Statt meine Hausaufgaben zu machen zwang ich mich jetzt jedoch den Höhenunterschied des letzten Balkens und der Kante der Plattform abzuschätzen.
»Mach dir nicht zu viele Gedanken. Das sehen wir dann, wenn wir drüben sind. Andere haben das schließlich schon vor uns geschafft.«
Vorsichtig und nur ganz langsam stand Tom auf. Während er sein Körpergewicht ausbalancierte reichte er mir eine Hand. Mit seiner Hilfe ließ auch ich letztlich das sichere Holz los und wagte es, mich wieder aufrecht hin zu stellen.
»Glaubst du diese Schutzbarrieren sind jedes Mal gleich.«, fragte ich skeptisch.
Tom zog einen Mundwinkel zu einer verkniffenen Grimasse nach oben. »Eigentlich nicht.«
Ja. Ich auch nicht. »Glaubst du es ist schon jemand da. Beim Träumer?«
»Allerdings.«
Dann sollten wir uns lieber beeilen. Auch Tom wirkte bei diesem Gedanken etwas gehetzt. Er wand sich mir zu und ich wusste, dass er aus Gewohnheit meine Hand nehmen wollte, um gemeinsam weiter zu gehen. Doch dann schien ihm auf zu fallen, dass das in dieser Situation eher unpraktisch war. Auf halbem Wege ließ er die Hand wieder sinken. Kurz schüttelte er den Kopf. »Bist du bereit?«
Ich nickte. Es erschien mir entschlossener, als ich mich tatsächlich fühlte. Aber der Weg zurück wäre vermutlich nicht einfacher.
Wieder holte er Schwung und sprang auf den nächsten Balken. Es sah beinahe einfach aus. Er fing sich gekonnt ab und ging in die Knie, um das Gleichgewicht zu halten. Einen Moment verharrte er, dann richtete er sich wieder auf. Ich seufzte. Mir war bewusst, dass es bei mir nicht so glatt gehen würde, trotz der fehlenden Steigung.
Ergeben ging ich in die Knie und drückte mich ab. Wind rauschte in meinen Ohren und lose Haarsträhnen klebten an meinem Gesicht. Mit einem erneuten Keuchen klatschte ich auf das Holz. Meine Beine baumelten auf der einen Seite, während ich mit den Armen um das Holz herumgriff. »Ich hasse meine Leben.«, keuchte ich atemlos. Dass ich mir bisher noch keine Rippe gebrochen hatte war ein Wunder. Allerdings ein absehbarer Schaden, wenn ich weiterhin mit so viel Schwung auf meinem Brustkorb landete. Ich kämpfte mich nach oben, sodass ich wieder auf dem Balken saß. Obwohl es anstrengend war, musste ich zugeben, dass es nicht mehr so schlimm war, wie der Balken davor.
Sobald ich wieder aufrecht und halbwegs sicher stand, sprang Tom zum nächsten Balken. Leichtfüßig wie eine Wildkatze machte er es einem nicht gerade leicht, keinen Neid gegenüber seinen langen Beinen zu entwickeln.
Ich landete drei Mal auf den Beinen und vierzehn Mal auf dem Brustkorb. Beim fünfzehnten Mal entschied ich, niemals Footballer zu werden, während die schmerzhafte Atemlosigkeit durch den harten Aufprall langsam chronisch wurde. Bei meinem insgesamt neunzehnten Sprung, hatte ich ein relativ gutes Gefühl. Die kalte Luft schnitt über meine erhitzte Haut. Mit einem seltsamen Knirschen der Gummisohlen landete ich auf den Zehenspitzen und rutsche ab. Ich schlug auf die Knie und kippte nach hinten. Doch bevor ich auch nur einmal mit den Armen durch die Luft rudern konnte, drückte mich ein sanfter Stoß wieder in die richtige Richtung. Ich strauchelte erneut, was dazu führte, dass ich abermals auf meinen Brustkorb krachte und mich verzweifelt mit den Armen an das kantige Material klammerte. Ein unterdrücktes Lachen ließ mich aus meiner baumelnden Position nach oben schauen. Beschämt legte sich Tom eine Hand über den Mund. »Wenn es nicht so verdammt tief wäre, wäre es wirklich ein Genuss dir zu zusehen.«
»Ja, haha. Ich habe dich auch lieb.«
Ich quälte ein Bein nach oben, doch langsam ging mir wirklich die Kraft aus. Ich kam mir lächerlich unsportlich vor. Es war mir peinlich und ich schämte mich, dass ich nur so von Schritt zu Schritt stolperte. Allerdings konnte ich ihn verstehen. Wenn ich mir als Unbeteiligter von außen zusehen würde, müsste ich sicherlich auch lachen.
»Aaaw.«, machte Tom. Und zwei Hände packten mich unter den Achseln und zerrten mich nach oben auf den Balken. »Ich habe dich auch lieb.«
Er stellte mich ab wie ein Kleinkind und ich konnte ehrlich nicht sagen, ob er es ernst meinte, oder sich nur an meinem Sarkasmus beteiligte. Ich musste ihn angucken wie ein Uhu. Mit leicht geöffnetem Mund und großen Augen. Er lachte wieder und stieß ganz leicht mit seiner Stirn gegen meine.
Es war ein seltsamer Moment. Und es wäre mir auch peinlich gewesen, doch im Moment hatte ich in meinem Kopf einfach keinen Platz für noch mehr Emotionen. Zu viel Adrenalin und Angst vor einem Absturz.
»Hast du schon bemerkt, dass wir drüben sind?«, fragte Tom schließlich und zog seinen Kopf vorsichtig zurück. Ich wäre beinahe umgekippt. Was seine Mundwinkel erneut zum Zucken brachte. Ich riss meinen Blick los und starrte nach vorne auf die Erdwand. Einen großen Schritt vor uns war der letzte Balken. Nah genug, dass kein Sprung notwendig war. Er schwebte ganz dicht an der Wand, jedoch noch immer ein Stück unterhalb der Plattform. Tom machte einen großen Schritt und blieb mit einem Bein auf beiden Balken stehen, um mir auf die andere Seite zu helfen. Dann standen wir plötzlich sicher auf dem letzten Balken.
»Kommst du mit den Händen an die Kante?«, fragte Tom und ich folgte seinem Blick nach oben. Ich lehnte mich mit den Händen an die Erde und streckte mich nach oben. Doch ich konnte nicht über die Kante hinweg greifen, obwohl ich auf den Zehenspitzen stand. Resigniert ließ ich mich zurücksinken und schüttelte den Kopf.
»Okay. Wir haben zwei Möglichkeiten. Entweder ich gehe rauf und ziehe dich hoch, oder ich gebe dir hier unten Starthilfe und versuche dann selbst hoch zu klettern.«
Ich sah von ihm zu der Wand. Leider konnte ich nicht einschätzen wie schwer es war ohne Hilfe von hier aus nach oben zu klettern. Die Erde war nur locker geschichtet und würde den dicken Sohlen seiner DocMartens nicht viel Widerstand bieten, bevor die einzelnen Brocken heraus bröselten. Und ob ich von oben so eine großartige Hilfe war wagte ich zu bezweifeln. Allerdings war ich auch kein Fliegengewicht, dass man mal so einfach mit links nach oben ziehen konnte.
»Ich will nicht, dass du dir beim Versuch alleine nach oben zu klettern den Hals brichst. Aber ich kann mir auch nicht vorstellen, dass du mich da rauf ziehen kannst.«, sagte ich schließlich und blickte skeptisch von der Wand zu seinem Gesicht und hinunter in den taghellen Abgrund.
Bevor er irgendwie reagieren konnte lehnte ich mich schließlich gegen die Erde und beugte die Hände auf die Knie zu einer Räuberleiter. »Okay Armstrong.«, seufzte ich. »Ich schieße dich drauf.«
Tom lächelte amüsierte. Er legte beide Hände an meine Schultern und stellte vorsichtig den rechten Fuß in meine Hände.
»Auf drei.«
Er sah von meinem Gesicht nach oben und begann zu zählen. Bei drei stieß er sich mit dem linken Fuß ab und ich schob seinen rechten Fuß mit Schwung hinterher.
Ich blickte ihm nach. Er hatte die Kante locker erreicht und stützte sich auf den Unterarmen ab bevor er sich weiter nach vorne zog und ein Bein über die Kante schwang.
Einen kurzen Moment später tauchte sein Kopf wieder über der Kante auf. Mann Nummer eins war also erfolgreich angekommen. Ich lächelte. Mal sehen was mit Nummer zwei passieren würde.
Tom rutschte soweit vor an die Kante, dass er beide Arme nach unten strecken konnte.
»Du kannst dich doch so gar nicht mehr bewegen oder? Was wenn ich dich nach unten ziehe?«
Ich sah nach oben, wo er mittlerweile auf dem Bauch lag. Kurz ließ die Anspannung in seinen Muskeln nach. Dann verschwand sein Gesicht nochmal. Einen kleinen Augenblick später war er zurück. Kleine Steinchen rieselte nach unten, als er an der Kante in die Hocke ging. Dann streckte er wieder beide Hände nach unten.
Wenn das klappen sollte, bräuchten wir wirklich ein Wunder.
»Ich denke du musst ein bisschen springen, damit wir genug Schwung haben...«
Ich nickte ergeben. Springen war nach heute schließlich meine Spezialität. Zur Probe reichte ich meine Hände nach oben. Wir konnten einander sicher greifen. Jetzt musste das nur noch im Sprung genauso klappen.
Ich ging leicht in die Hocke und löste den Blick nicht von der Stelle an der seine Fingerspitzen waren. Dann drückte ich mich ab.
Es war nicht weit, bis sich unsere Hände berührten. Tom reagierte schnell und ließ sich mit meinem Schwung nach hinten kippen. Es knirschte laut und ein Stück Erde brach unter seinem Fuß ab. Gleichzeitig riss es mich nach oben. Ich landete auf dem Bauch. Viel weiter auf der Plattform, als ich erwartet hatte. Nur meine Beine von der Hüfte abwärts hingen noch im Ungewissen. Während ich Luft holte rappelte sich Tom bereits auf. Noch immer hielt er meine beiden Hände und zog mich vollständig nach oben.
Fertig mit der Welt drehte ich mich auf den Rücken und starrte schwer atmend an die nicht vorhandene Decke. Ich legte beide Hände auf meinen Bauch und hörte auf das rasche Klopfen meines Herzens.
»Danke Tom.«, seufzte ich schließlich, als ich mich wieder etwas beruhigt hatte.
Die Klärung des Falls um Caroline Hansen zieht sich weiterhin in die Länge. Nach mehreren Monaten intensiver Ermittlungen scheint noch immer keine Lösung in Sicht. Auf der Suche nach mehr Einsicht in die Hintergründe und die Funktion des Systems legt die Polizei den Fokus nun auf das Auffinden des abgetauchten Wissenschaftlers Georg Deis.
Wir hatten uns nur eine kurze Pause gegönnt. Jetzt standen wir wieder vor einer dieser großen schweren Holztüren. Der Gewohnheit wegen, und vermutlich zur seelisch moralischen Unterstützung, hatten wir erneut die Finger ineinander verschränkt.
Obwohl ich es schätzte, dass sich das Unterbewusstsein um die Sicherheit seines Menschen bemühte, hoffte ich doch inständig, dass nach dieser Tür keine weitere Barriere wartete. Für den Fall dass hinter der Tür der Träumer wartete, mussten wir damit rechnen, dass auch andere hier waren und man uns bemerken würde sobald wir die Tür öffneten. Da wir vor uns bisher allerdings niemanden gesehen hatten, war es nur schwer abschätzbar was tatsächlich auf uns wartete. Wenn der Träumer offen da lag, wäre ein Mord keine zeitaufwändige Angelegenheit. Allerdings hieße das, dass der Traum bereits endete. Denn wir waren beide sicher, dass eine der Gruppen den Eingang sehr viel schneller gefunden hatte, als wir. Womit sollten wir also rechnen?
Ein letztes Mal blickten wir einander an und nickten bestätigend. Wir würden jetzt durch die Tür gehen und heraus finden was da vor sich ging!
So leise wie möglich drückte ich die Klinke nach unten. Ich gab uns nur einen winzigen Spalt, um hindurch zu spähen und streckte vorsichtig den Kopf auf die andere Seite.
Vor mir öffnete sich ein langer hoher Gang. Der Boden war mit schwarzen und weißen Kacheln schachbrettartig gefliest und am Rand in Terrakottafarben abgesetzt. Zwei Reihen hoher beiger Säulen mit goldenen Verzierungen am oberen Ende und oberhalb des Sockels, stütze die hohe weiße Decke. Menschen sah ich weit und breit keine. Ich schob die Tür ein Stück weiter auf und winkte Tom hinter mir durch die schmale Öffnung. So leise wie möglich schlichen wir auf die andere Seite auf die erste Säule zu und lehnten uns hinter den kalten Stein.
Außer dem Quietschen unserer Gummisohlen war nichts zu hören. Es herrschte eine abwartende Stille. Als wären die Räume hinter den Türen mit Menschen gefüllt. Es fühlte sich an als hätten wir Unterricht und wären einfach nur zu spät zur Schule gekommen. Allerdings gab es an den Wänden keine Türen und der hohe Gang wirkte viel zu prunkvoll, als dass es sich dabei um einen Schulflur handeln konnte. Die blassgelb gestrichenen Wände wurden in regelmäßigen Abständen von bodentiefen Fenstern durchbrochen. Sie zogen sich über die linke Wand, bis sie etwa in der Mitte des Ganges abrupt endeten. Sonst waren die Wände kahl. Das helle Licht eines klaren Sommertags fiel herein und ließ das üppige Gold erstrahlen. Ohne meine versteckte Position aufzugeben, blickte ich durch das wimmerige transparente Glas. Auf der anderen Seite war trockener wüstenhafter Boden zu sehen und ein hoher Zaun aus Holzbrettern umgab das Grundstück. Über den spitzen Enden des Holzzaunes waren Baumwipfel zu sehen. Kühlender Wind blähte die Blätter und kleine rosarote Blüten wirbelten durch die Luft. Ich konnte ihn rauschen hören und der Geruch von Flieder füllte meine Nase. Schwere Früchte zogen die vollen Zweige nach unten und obwohl der Zaun die Sicht verdeckte, spürte ich das Kitzeln der Grashalme an meinen Fesseln. Ich wollte mich zurückziehen, doch das friedliche Gefühl, zog mich immer weiter in seinen Bann. Ich kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf.
Tom spähte leise um die Säule herum. Ich lehnte mich zur anderen Seite, um mir ebenfalls einen besseren Überblick zu verschaffen. Der Gang war breit und hell erleuchtet, obwohl außer den Fenstern, nirgendwo eine Lichtquelle zu sehen war. Keine Lampen oder verborgene Strahler. Ungefähr in der Mitte des Ganges, zirka fünfzig Meter von uns entfernt begann ein weicher roter Teppich. Er lag exakt in der Mitte zwischen den Säulen und erstreckte sich bis an das andere Ende des Saal- artigen Flurs. Ungefähr auf der Hälfte des Teppichs wurde der Gang von einem zweiten Flur gekreuzt. Weiches Licht fiel von links in den Raum. Abgesehen davon schien dieser Gebäudeteil keine Öffnungen zu haben. Keine Türen, keine Fenster, nichts. Auch nicht am anderen Ende. Es sah ganz danach aus als müssten wir den Gang hinunter und im hinteren Drittel auf den anderen Flur abbiegen.
»Glaubst du hier gibt es solche Azteken Fallen?«, flüsterte Tom, nachdem er sich zurück hinter die Säule gedreht hatte. Erneut ließ ich meinen Blick über die Wände und den Boden gleiten. Ich suchte nach Schächten und beweglichen Teilen, doch ich entdeckte nichts. Obwohl es unwahrscheinlich war, dass wir hier einfach so hindurch spazieren konnten, hatte ich nicht das Gefühl, dass Pfeile aus den Wänden geschossen wurden. Oder Stichflammen und schwingende Äxte aus dem Nichts auftauchen würden.
»Ich glaube nicht.«, sagte ich. Doch es klang mehr wie eine Frage.
»Gut. Dann lass uns zu der nächsten Säule schleichen.«
Wir sahen beide noch einmal vorsichtig den Gang hinunter. Als weiterhin nichts Auffälliges zu sehen war verließen wir unsere schattige Position und glitten durch die weiten Lichtkegel hinüber zur nächsten Säule.
Nichts passierte. Wieder konnte ich nur das Quietschen unserer Sohlen hören, während sich rechts von uns die breite des Ganges entfaltete. Es wirkte wie ein riesiger Ballsaal. Und eigentlich war es viel zu beeindruckend, um einfach nur heimlich und schnell hindurch zu huschen. Doch wir waren schließlich nicht für die Aussicht hier.
Misstrauisch sahen wir einander an. Es wirkte viel zu friedlich. Wir warteten einen weiteren Moment, doch es blieb weiterhin alles still. Ratlos zuckte ich die Schultern. Mit einem erneuten Blick um die Säule herum verließen wir auch unser zweites Versteck und huschten in den nächsten Schatten. Wieder blieb alles still. Es schien sich um einen reinen Verbindungsflur zu handeln. Keine Fallen, keine Hinterhalte. Als wir schließlich die vierte Säule erreichten, sahen wir uns nicht einmal mehr um. Wir eilten so schnell wie möglich von Schatten zu Schatten und drückten uns schließlich an der Ecke zum nächsten Flur an die Wand. Tom blickte vorsichtig um die Ecke und ich sah leise über seine Schulter hinweg. Der zweite Gang war ebenso leer. Keine Fenster, keine Menschen. Doch am Ende wartete eine dunkle Holztür. Sie füllte die gesamte Wand und schloss oben mit der Decke und unten mit den Fliesen ab. Ich drehte mich um und sah auf das andere Ende des kreuzenden Flurs. Er erstreckte sich als langes Rechteck mit blass gelben Wänden und weißen Fußleisten. Auch dort waren keine Fenster und keine Tür zu sehen. Der kreuzende Gang war vollkommen kahl. Es gab keine Säulen oder Möbel, die Schatten geworfen oder mögliche Verstecke geboten hätten. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meinem Magen aus. Irgendetwas stimmte hier nicht. Es war viel zu leer. Auch Tom wirkte angespannt. Doch noch immer war niemand zu sehen und der gesamte Raum war still. Es blieb uns also nichts anderes übrig, als schutzlos in den Gang hinein zu stolpern.
Mit einem vergewissernden Blick auf mich schob Tom sich schließlich um die Ecke. Wir gingen langsamer als vorher. Es ab kein Ziel auf das wir zuhalten konnten, also bewegten wir uns nur vorsichtig. Immer wieder einen Blick nach hinten werfend. Doch auch hier passierte rein gar nichts. Ohne Hindernisse erreichten wir die hohe Tür. Sie war aus warmem rötlichem Holz und Verzierungen setzten sich in Paneelen und Rahmen stufenartig ab. Je näher wir kamen, desto deutlicher drang das Murmeln von Stimmen dahinter hervor. Eine Armeslänge entfernt blieben wir schließlich stehen. Irritiert sahen wir einander an. Direkt vor der Tür wirkte sie mächtig, hoch und schwer. Wie konnten wir die Stimmen dahinter hören? Vorsichtig legte ich ein Ohr gegen das Holz, doch ich konnte nicht verstehen was geredet wurde. Tom sah mich abwartend an, doch ich konnte nur den Kopf schütteln. Wie sollten wir weiter vorgehen? Wenn wir hören konnten, dass auf der anderen Seite gesprochen wurde, würde man mit Sicherheit auch uns hören. Ich zog Tom wieder ein Stück zurück, bis das leise Murmeln verschwunden war.
»Was machen wir jetzt?«
Schließlich konnten wir nicht unbemerkt in den Raum hinein, wenn bereits Leute direkt dahinterstanden. Grübelnd blickte Tom zur Tür. Eigentlich hatten wir nicht mehr viel Zeit um uns Gedanken zu machen, oder vorsichtig zu sein. Es war bereits zu viel Zeit vergangen, und es war definitiv schon jemand hier. Wie lange also würde der Traum noch anhalten?
»Wir können versuchen die Tür ein Stück auf zu machen, um einen Überblick zu bekommen. Wenn sie allerdings einmal offen ist, könnten wir auch direkt rein gehen.«
Tom wirkte unentschlossen. Allerdings hatte ich selbst auch keine bessere Idee. Ich nickte. »Gut. Lass uns herausfinden in welche Richtung sich die Tür öffnet. Dann versuchen wir irgendwie einen Überblick zu bekommen und möglichst schnell und ungesehen hinein zu kommen.«
Tom nickte einverstanden.
Weniger vorsichtig als vorher gingen wir zurück den Gang hinunter. Auf dieser Seite der Tür war schließlich niemand weit und breit.
Ich warf einen schnellen Blick zu den Scharnieren hinauf, doch im Türrahmen waren keine zusehen. Die Tür wurde also von unserer Seite aus aufgedrückt. Keine Fluchttür. Das war schon einmal merkwürdig. Denn die andere Tür, durch die wir den Gang betreten hatten, ging nach außen auf.
Ich machte eine schiebende Bewegung, Tom nickte zustimmend. Leise gingen wir zur Mitte des Gangs. Mit einer Hand auf der Klinke bedeutete mir Tom mich mit dem Rücken an den anderen Flügel zu lehnen, damit ich von innen, im Falle des Falles nicht zu sehen wäre. Ich tat wie geheißen. Auch Tom drehte sich mit dem Rücken zur Tür und drückte die Klinke. So leise wie möglich schob er die Tür nach innen und bremste sie nach nur wenigen Zentimetern wieder ab. Angespannt verharrten wir einen Moment.
Die Stimmen waren lauter geworden, doch noch immer undeutlich. Nichts wies darauf hin, dass jemand die Bewegung der Tür bemerkt hatte. Ich drehte mich um, sodass ich durch den Türspalt sehen konnte. Ich weiß nicht was ich erwartet hatte. Direkt vor mir öffnete sich abermals ein großer Raum. Dicke Tapeten in dunklem Gelb bedeckten die Wände und Säulen aus schwarzem Stein stützten die weiße Decke. Sie standen auf Podesten aus rötlichem Stein und filigrane weiße Linien bedeckten ihre Oberfläche. In der Mitte des Raumes stand ein Bett. Es war unauffällig konstruiert und in keiner Weise mit der Pracht des Raumes oder des Ganges davor zu vergleichen. Ein schmaler Holzrahmen mit einer Matratze. Mit dem Kopfende war es an die Wand gerückt. Eine Person stand mit dem Rücken zu uns an der Seite des Bettes. Er hatte den Kopf eingezogen und lehnte sich leicht zur Seite, als fürchtete er sich vor etwas, das außerhalb meines Blickfeldes lag. Eine Stimme wurde lauter, doch das Echo des Raumes zerbrach die Worte. Die Einrichtung des Raumes war sonst spärlich. Direkt vor dem Eingang stand ein Kommode, mit erstaunlich großem Abstand zur Wand.
Ich zog den Kopf zurück und nickte Tom mit gehobenen Augenbrauen zu. Er nickte ebenfalls. Leise drückte er sich von der Tür ab und brachte sich in Position. Da er nicht wusste was ihn erwartete, musste er sich ausschließlich nach mir richten. Wieder spähte ich durch den Spalt. Eine weitere Person war an das Bett herangetreten. Doch obwohl er in unsere Richtung gedreht war, galt sein Blick nur dem Träumer. Licht glitzerte in seinen hellen Haaren und ein großer blauer Pullover hing locker über seinen Schultern. Das weiße Hemd darunter war geknickt und dreckig. Ein grauer Schatten zog sich quer über seine Brust. Ich wusste genau woher er den hatte. Doch sonst kam mir nichts an ihm bekannt vor. Ich wartete seine Bewegung ab, dann schob ich mich durch den schmalen Spalt der Tür und zog Tom mit mir eilig zu der linken Wand. Bevor jemandem die Bewegung aufgefallen war, waren wir bereits hinter dem filigranen Möbel in Deckung gegangen. Zitternd atmete ich aus. Ich konnte die Anspannung in Toms Gesicht sehen und auch seine Finger zitterten leicht. Es sah tatsächlich so aus, als wären wir hier beim Träumer gelandet.
Obwohl der Raum groß war, stand das Schränkchen tatsächlich weit genug im Raum, dass wir in alle Richtungen und Ecken sehen konnten. Während Tom sich umgedreht hatte und zwischen den dünnen Zweigen eines mittelalten Tulpenarrangements hindurch die Szene in der Mitte des Raums betrachtete, spähte ich unter dem Möbelstück hindurch und ließ meinen Blick durch den Raum wandern.
Es waren insgesamt fünf Personen anwesend, abgesehen von uns. Und so unwahrscheinlich es auch war, hatte keiner bisher mitbekommen, dass wir hier waren. Drüben bei dem Bett befanden sich vier Personen. Eine davon war der Träumer, der lang ausgestreckt auf dem Bett lag. Es gab weder Kissen noch Decke. Der junge Mann lag vollkommen ausgeliefert auf der Bahre.
Um ihn herum standen drei Personen. Die Beiden, die ich schon von der Tür aus gesehen hatte und eine dritte Person am Fußende. Äußerlich schien er ganz ruhig, doch seine Augen blitzten feurig und voller Wut. In einer schnellen Bewegung drehte er den Kopf in unsere Richtung. Das heißt zu der Person zu seiner linken.
Mir bleib beinahe das Herz stehen. Ich konnte mich gerade so noch zurückziehen, bevor mein Kopf gegen die Unterseite der Kommode schlug. Verzweifelt hielt ich mir den Mund zu, während kalte Schauer meinen Rücken hinunterrollten. Unerwartete Tränen füllten meine Augen.
Tom hatte meine Bewegung bemerkt und sah zu mir nach unten. Doch ich konnte mich nicht bewegen. Hilflose Zuckungen schüttelten mich. Mit besorgtem Blick lehnte er sich hinter die Kommode. Sein Blick war fragend. Natürlich, denn er konnte diesen Mann nicht kennen. Ich schüttelte nur verzweifelnd den Kopf und versuchte mich zu beruhigen. Langsam atmete ich ein. Es war nicht viel Zeit vergangen seit Montagnacht. Und dennoch. Die strengen Gesichtszüge, das akkurat frisiert Haar. Er sah genauso aus wie in der ersten Nacht. Und doch ganz anders. Es war der Zorn. Blinde Wut loderte in seinen Augen und sein eigentlich nicht hässliches Gesicht war zu einer grausamen Fratze verzerrt. Es war derselbe Mann. Toms warme Hand strich tröstend über meine Schulter. Wie hatte ich nur glauben können, dass Tom nicht echt war? Dass er dieser Mann sein könnte? Neue Schauer schüttelten mich. Diesmal aus Schuld. Ich konnte Tom beinahe nicht mehr ins Gesicht sehen. Doch ich musste mich zusammenreißen.
»Mach doch nicht so ein Drama!«
Laute Worte halten in dem hohen Raum wieder. Kälte legte sich über mich und eine Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen. Abrupt hörte ich auf zu zittern. Ich hatte keine Zeit für mein persönliches Drama. Nur fünf Meter weiter, war eine Person drauf und dran ihr Leben zu verlieren. Ich blickt in Toms Gesicht, in diese dunklen blauen Augen, die mich so hilflos ansahen. Ich versuchte ein Lächeln, doch es wollte mir nicht so recht gelingen. Schließlich kehrte etwas Farbe in seine Wangen zurück. Mit Widerstreben in den Augen, wand er sich wieder der Szene zu.
Der Mann am Fußende war zur Seite des Bettes getreten und drückte der Person neben sich einen Gegenstand in die Hand. Einen verdächtig langen und schmalen Gegenstand, der im Licht immer wieder aufblitzte. Er beugte sich dicht zu ihm und schien leise und eindringlich auf ihn einzureden. Erst als die andere Person auswich und ein Schwall blonder Haare aus dem Kragen seines Pullovers quoll, erkannte ich, dass es ein Mädchen war. Eine Tatsache die außer Tom in diesem Raum wohl jedem entgangen war.
»Nein.«, schrie sie und drückte den Mann mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte von sich. Das Messer, dass er ihr in die Hand gedrückt hatte fiel schleppend zu Boden. Tränen strömten über ihr Gedicht.
»Wir müssen etwas tun.«, zischte Tom der gebückt über mir stand. Doch ich konnte nur wie gelähmt zusehen. Und überhaupt, was sollten wir tun? Der Traum wäre erst zu Ende, wenn wir selbst oder der Träumer aufwachte. Oder wenn der Träumer starb. Wenn wir uns einmischten konnte das noch eine Ewigkeit dauern und brächte uns nur noch weiter in Schwierigkeiten. Ich griff nach seinem Arm, um ihn zurück zu halten und sah ihn mit festem Blick an. »Wir können nichts tun.«
Es war ein seltsames Gefühl diesen Satz laut auszusprechen. Wir waren zwar hier. Doch wir waren absolut hilflos und vollkommen nutzlos.
»Vielleicht können wir ihm ein bisschen Zeit verschaffen, wenn wir uns zeigen.« Tom wirkte wirklich verzweifelt. »Oder wir sind schnell genug beim Bett um ihn zu wecken.«
Ich musste schlucken. Bisher konnte nur der Träumer sterben. Worauf wartete ich also? Ich warf einen erneuten Blick zu der Szene. Der Mann hatte das Messer vom Boden aufgehoben. Obwohl er wusste, dass er den beiden, die um das Bett standen nicht mit dem Tod drohen konnte, hatte er das scharfe Metall an den Hals des Anderen gelegt. »Ob heute der Träumer stirbt oder dein Freund hier, ist mir egal. So oder so bist du daran schuld.«
Die Stimme war so eisig kalt, dass mir das Blut in den Adern gefror.
Entschlossen sah ich Tom an und rappelte mich auf. Mit zauberhaftem Glitzern tauchte ein zweites Messer auf. Und so sehr sie dabei auch zitterte, das Mädchen griff danach. Mit panischem Blick hob sie das Messer in die Luft. Und verharrte.
Mehr Zeit würden wir nicht bekommen. Ohne uns abzusprechen stürzten Tom und ich hinter der Kommode hervor. Es kostete uns fünf Schritte bis wir das Bett erreichten. Schreiend sprangen wir zwischen den Träumer und das Mädchen und vor den Mann mit den feurigen Augen. Ich weiß nicht ob er mich erkannte, doch es kostete mich alles unter seinem Blick nicht zu Staub zu zerfallen.
»Nicht.«, rief Tom und sah das Mädchen eindringlich an. Währenddessen drehte ich mich um und schlug das Messer aus ihrer vor Schreck erstarrten Hand.
»Du musst ihn nicht töten damit die Nacht endet!«
Ich weiß nicht was passiert war, doch der Mann, der nun hinter mir stand brach in schallendes Gelächter aus. Ein Klang wie Metall auf Metall. Scharrend, kalt und schmerzhaft. Wir alle drehten uns entgeistert um.
»Ihr glaubt doch nicht, dass man den Träumer einfach so wecken kann.«
Wieder lachte er. Er bekam kaum noch Luft zwischen den einzelnen Worten. Langsam verlor er den Griff um den Nacken des Jungen, den er als Druckmittel verwenden wollte und das Messer glitt aus seiner Hand. Eine hellrote Linie zog sich über dessen Hals, während das Lachen des Mannes seinen gesamten Körper erzittern ließ. Ich bekam eine Gänsehaut und das Mädchen neben mir trat einen Schritt zurück. Bevor sie länger nachdenken konnte drehte sie sich um und rannte auf die Tür zu. Es krachte laut als sie dagegen prallte. Verzweifelt zerrte sie an der Klinke, doch die Tür war verschlossen. Hilflos schluchzend sank sie auf den Boden. Wir alle starrten verzweifelt auf das Holz. Bis die Nacht zu Ende war, waren wir hier gefangen.
Es war still geworden, denn der Mann lachte nicht mehr. Mit kalten Augen starrte er auf das elendige Häufchen, zu dem das Mädchen zusammengesunken war, dann ließ er den Blick über uns schweifen.
»Einer von euch wird morgen sterben.«
Ich glaubte ihm jedes Wort. Er hatte die Tür verriegelt. Er hatte das Mädchen gezwungen nach dem Messer zu greifen. Er hatte den Jungen bedroht. Und er hatte uns alle hier eingesperrt.
Ich wusste nicht wie, doch er alleine bestimmte über diese Welt.
»Der Traum des Träumers ist ein Rätsel des Unterbewusstseins. Nur wer das Rätsel löst, kann auch den Träumer wecken. Jetzt sag mir wer hier schläft und ihr alle könnt ohne Schaden erwachen.«
Ich starrte ihn mit großen Augen an. Wer schläft hier?
Wer schläft über den Wolken? Was wussten wir? Hohe Räume. Große Hallen. Prunk. Aber nicht genug. Wer schlief hier?
Ich wagte es nicht in Toms Gesicht zu sehen. Ich war wie erfroren.
»Tik Tak.«, sagte der Mann und ein wölfisches Grinsen breitete sich über seinem Gesicht aus. Wer schlief hier! Ich hatte das Gefühl, Eis flösse durch meinen Körper. Plötzlich knirschte es laut und krachend flog die Tür gegen die Wand. Der laute Knall übertönte den Schrei des Mädchens, das nun nicht mehr vor der Tür kauerte, sondern von dem schweren Holz zur Seite geschleudert wurde. Mit schnellen Schritten rauschten fünf Personen in den Raum. Fünf sehr bekannte Personen. Scheiße.
Noch immer zwang ich mich, mich nicht zu Tom umzudrehen und betete, dass der Junge endlich aufwachte. Das Lachen glitt aus dem Gesicht des Mannes und das zornige Feuer in seinen Augen flackerte wieder auf. »Warum seid ihr hier? Ihr habt einen ganz deutlichen Auftrag. Keine Ausnahmen!« Bei den letzten Worten brach seine Stimme. Er konnte die Ruhe nur schlecht heucheln. Ohne große Umschweife stieß das Mädchen mit den kurzen blonden Haaren den großen Jungen auf die Knie. »Der hier hat uns hergebracht.«, spuckte sie und trat ihm in die Kniekehlen.
Der Mann kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Selbst Misstrauen sah furchtbar böse bei ihm aus. Dass die fünf Jugendlichen, die uns seit meiner zweiten Nacht hier auf den Fersen waren, hier auftauchten, brachte uns in eine herrlich beschissene Lage.
Der Junge mit dem Hirntumor versuchte sich aufzurichten, doch das Mädchen stemmte sich energisch gegen jede seiner Bewegungen.
»Aber sie ist hier!«, schrie er schließlich. »Direkt neben Ihnen.«
Kalte Schauer rollten über meinen Rücken. Es folgte ein Moment der Stille. Wir alle schienen gleichermaßen eingefroren. Ich konnte nicht nach Toms Hand greifen und es würde uns auch nicht helfen jetzt zu verschwinden. Das metallische Scheppern des einrastenden Gewehrlaufs ließ uns alle aus der Starre erwachen.
»Willst du sagen diese beiden Hupfdohlen hier, sollen für das ganze Chaos verantwortlich sein!« Der Mann unterbrach sich. Zu sehr schüttelte ihn die Wut und Schweiß tropfte von seiner Nase. Ein Ausdruck von purem Hass hatte die Kontrolle über seine Gesichtszüge gewonnen.
»Nein. Nur die dünne in den Cargo Hosen.«
Es war wie beim Bergsteigen, wenn man stundenlang durch die Wolken stapft und nichts sieht. Und dann plötzlich hat man es geschafft. Man bricht durch die Wolkendecke und über einem ist der blassblaue Himmel, kühler Wind und ein Watte- weiches Meer aus Wolken. Stille. Ich fühlte gar nichts, als sich plötzlich alle Blicke auf mich richteten. Ich fühlte nichts. Ich war blind und taub.
In dem Moment fiel mein Blick auf die fünfte Person im Raum. Dicht bei den Säulen und so unscheinbar versteckt, als wäre er Teil davon. Nein. Er war ein Teil davon. Ein stiller Beobachter, deshalb hatte ihn auch niemand bemerkt. Er war heute Nacht eine Säule in der Höhle des Löwen.
»Erschieße sie!«, schrie der Mann. Seine Stimme überschlug sich beinahe. »Erschieße sie jetzt und alles ist vorbei!«
Mein Herz stolperte. Sollte das mein Ende sein?
Und dann ging alles plötzlich sehr schnell. Ich konnte die Wärme von Toms Hand fühlen, als er mich hinter sich schieben wollte. Doch ich war unbeweglich erstarrt. Dann sah ich das Glitzern des Metalls, als der Junge, der vor Sekunden noch mit eben diesem Messer bedroht wurde selbst nach der Waffe griff. Nur flüchtig streifte sein Blick meine Augen. Ohne zu zögern holte er aus und stach dem Träumer das Messer in die Brust.
Alle Stimmen schrien. Der Mann rasend. Tom und ich vor Schreck.
Man kann nicht sagen »Immerhin ist er friedlich gestorben“. Denn im letzten Moment, als das Messer seine Brust berührte konnte ich sehen wie der Träumer seine Augen öffnete.
Ich hörte das Rauschen bevor ich die Veränderung sah. Für einen Moment war die Welt wie eingefroren. Der Junge mit entschlossenem Blick über das Bett gebeugt. Der Mann mit vor Wut rasendem Blick. Die Gruppe aus fünf Personen. Einer kauernd, eine mit Gewehr im Anschlag. Ein kleiner Junge mit weit aufgerissenen Augen und zwei unbeteiligt gelangweilte, deren Augen vor Schock geweitet waren. Und hinter alle dem ein Junge. Ein stiller Beobachter. Philipp.
Dann begann die Szene zu Bröckeln. Das Bild, dass vor meinen Augen eingefroren war zerbrach wie Porzellan in tausend Scherben, bevor die Farbe herausfloss und sich die transparenten Splitter unter das fallende Glas mischten.
Erst dann erwachte ich zu neuem Leben. Ich taumelte durch die Luft. Wind riss an meiner Kleidung und an meinen Haaren. Und endlich erwachte ich wieder. Mit jeder Runde, die ich um mich selbst kreiste sah ich ein Gesicht und eine ausgestreckte Hand. Und endlich konnte ich ihn erkennen. Tom. Ich streckte meine Hand aus um ihn zu greifen, doch er fiel zu schnell. Glassplitter schnitten in meine Haut und unter ihm konnte ich den Boden sehen. Ein schwarzes Nichts auf dem die Scherben tanzten. Doch bevor ich seine Hand erreichte, endete der Fall. Auf einmal blieb alles stehen und dann, als würde jemand den Film zurückspulen, zog es uns wieder nach oben. Erst langsam, dann immer schneller. Die Menschen, die Scherben und alles was übrig war.
Plötzlich war alles schwarz.
»Herr Deis ist einer unserer langjährigsten und bisher vertrauenswürdigsten Mitarbeiter gewesen.« Das Wissenschaftsprojekt an dem er zuletzt gearbeitet habe, sei ein Forschungsprojekt der Firmen Berend und Barns in Deutschland, sowie Partnerunternehmen in Amerika, Frankreich und Japan gewesen. Das Projekt war noch lange nicht abgeschlossen und die Betaphase, aufgrund massiver Schwachstellen um zwei Jahre verschoben.
Trotz der bestehenden Risiken des Produkts habe niemand mit so drastischen Reaktionen gerechnet. »Wir sind bestürzt, dass Herr Deis die Technologie auf eigene Faust veröffentlicht hat. Damit wurden nicht nur die Firmen und der wissenschaftliche Fortschritt bedeutend in Mitleidenschaft gezogen. Wir, die Firma Berend und Barns, sowie unsere Partner von den Unternehmen Garcon Industrie und Princewell Technologies entschuldigen uns für das Leid, dass wir über die Familien gebracht haben. Nichts kann das jemals wieder gut machen.«
Mit einem Ruck erwachte ich und saß aufrecht in meinem Bett. Doch ich hatte kaum Zeit mir über irgendetwas Gedanken zu machen. Ich schlug die Decke zur Seite und rannte so schnell ich konnte ins Bad. Es war noch mitten in der Nacht und furchtbar dunkel. Ich riss die weiße Badezimmertür auf, die mit lautem Krachen gegen die Wand prallte. Zum Glück war niemand da, den ich hätte aufwecken können. Im aller letzten Moment landete ich auf dem kleinen flauschigen Badvorleger und erbrach mich in die Kloschüssel.
Mit zittrigen Händen strich ich mir die Haare aus dem Gesicht. Kalter Schweiß perlte über meine Stirn und heiße Tränen rannen über mein Gesicht.
Der Träumer war tot. Meinetwegen. Ich hatte das Messer zwar nicht gehalten, doch es hätte trotzdem genauso gut meine Hand sein können, die den letzten Hieb ausführte. Ich war offiziell zum Mörder aufgestiegen.
Meine rechte Hand zitterte. Gedankenverloren blickte ich auf das außer Kontrolle geratenen Körperteil. Mittlerweile hatte sich die Bewegung soweit hochgeschaukelt, dass meine Hand langsam und ausladend wippte. Der Stift zwischen meinen Fingern konnte nichts weiter tun als gleichmäßig mit zu taumeln. Ich nahm das Handgelenk von der Tischplatte. Abrupt stoppte die Bewegung. Die Erlebnisse der Nacht überforderten mich noch immer. Und zwar alle, nicht nur die der letzten Nacht. Ohne es zu bemerken hatte ich mich an dieses Gefühl der Unsicherheit gewöhnt. Weil ich mich immer so gefühlt hatte. Es war nur eben noch nie tatsächlich etwas passiert. Erst jetzt. Und nur durch Tom hatte ich bemerkt, dass man Vertrauen konnte. Beziehungsweise sollte. Angst ist anstrengend. Doch immerhin hatten sich seit Freitagnacht meine Panikattacken wieder beruhigt. Wegen ihm. Und obwohl ich wusste, dass ich ihm vertrauen könnte, fiel es mir doch unglaublich schwer. Und gleichzeitig fühlte ich mich schuldig, weil er bedingungslos hinter mir stand und ich ihn einfach verraten hatte. Seufzend schüttelte ich den Kopf. Irgendwie musste ich das hinbekommen mit dem Fallenlassen. Ich blickte nach unten, wo schon wieder das aufgeschlagene Skizzenbuch lag. Dünne graue Linien und Bögen verteilten sich über die Seite. Geistig rückte ich ein Stück ab, sodass die Linien in einander fließen konnten, um Formen oder Schatten zu bilden. Blinzelnd blickte ich in das Gesicht. Leider hatte ich es nicht geschafft das Gesicht neutral zu zeichnen. Die Augenbrauen bogen sich in der Mitte leicht nach oben, während die Augen vor Angst geweitet waren. Doch das Mädchen an sich, wenn auch vereinfacht, war erkennbar.
Ich klappte die Rückseite über das letzte Blatt und drehte das Buch um. Langsam blätterte ich durch die Seiten.
Nachdem ich die zwanzig Seiten vor zwei Tagen schließlich vollgezeichnet hatte, hatte ich begonnen auch die Rückseiten des dicken Papiers zu verwenden. Mittlerweile starrte von fast jeder Seite ein Gesicht. Eigentlich, und ich will mich nicht loben, war ich überrascht wie ähnlich die Zeichnungen der Realität kamen. Trotzdem fragte ich mich oft, ob ich die Gesichter nur erkannte, weil ich mich an die Personen erinnerte und nicht, weil sie gut gezeichnet waren. Aber eigentlich spielte es ja überhaupt keine Rolle.
Ich blätterte auf die nächste Seite. Ungefähr in der Mitte des Buches blickte mir ein bekanntes Gesicht entgegen. Noch so eine ungeklärte Frage. Mit einem Finger fuhr ich über die kurz geschorenen Haare. Philipp hatte zwar gesagt, dass er überlegte sich einer der Gruppen an zu schließen, allerdings hatte ich gedacht, dass er es nach unserem Gespräch in seinem Auto nicht mehr vorhatte. Warum also war er in diesem seltsamen Saal gewesen? Und warum hatte ihn außer mir, niemand bemerkt?
Wieder verharrte ich einen Moment. Die letzten Tage war ich einfach nicht bei der Sache. Erst als das Wippen meiner Hand unangenehm wurde erwachte ich aus meiner Starre. Ich legte den Stift zurück in mein Federmäppchen und drückte das Buch zu. Mit dem Schreibtischstuhl rollte ich eine Runde durch mein Zimmer und sammelte in einer kleinen Umdrehung Geldbeutel und Handy ein. Während ich die Treppe hinunter stieg scrollte ich in meinem Chatverlauf nach Philipps Nachricht.
Obwohl wir seit mittlerweile acht Jahren auf die gleiche Schule gingen hatten wir erst seit letztem Jahr gemeinsame Kurse. Mit einander zu tun hatten wir allerdings bisher auch noch nie. Die kleine Freundschaft, die entstanden war, existierte in dieser Form erst seit zwei Wochen. Philipp hatte Narkolepsie. Und obwohl seine Diagnose bereits zwei Jahre zurück lag, waren die meisten Lehrer noch immer unsicher. Verständlicherweise. Unsere Zusammenkunft hatten wir also einem seiner Anfälle zu verdanken, bei dem ich als letzte im Klassenzimmer geblieben war um darauf zu warten, dass er wieder aufwachte. Normalerweise dauerten die Schlafattacken dieser Krankheit nicht sehr lange, doch bei Philipp hielten sie manchmal dennoch über zehn Minuten an. Diese Veränderung der Krankheit war, seiner Meinung nach, durch das System entstanden, dass ihn, wie auch mich und all die anderen jede Nacht in den Traum einer Schlafenden Person hochlud. Spaßig.
Seit letzter Woche hatten wir mehr Kontakt. Er hatte sich vehement dagegen gewehrt, dass ich mich zurückziehen wollte, nachdem ich eine Kataplexie ausgelöst hatte. Weshalb ich jetzt am Fuße der Treppe stand und in meine Stiefel stieg. Ich scrollte noch immer durch die Nachrichten während ich Schlüssel und Geldbeutel in die Taschen meines Mantels fallen ließ und mit klinkernden Schnallen an den Schuhen durch den Flur wanderte. Kurz legte ich das Telefon aus der Hand um meinen Mantel an zu ziehen und schloss die Metallschließen um meine Füße. Dann verließ ich das Haus.
Meine Mom hatte heute Bereitschaftsdienst und war bereits vor einer Stunde zu einem Notfall in dir Klinik gerufen worden. Was bei ihr bedeutete, dass sie einfach den restlichen Tag im Krankenhaus verbrachte. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich vor ihr wieder zu Hause war, war also relativ groß.
Als ich die Tür hinter mir ins Schloss zog stolperte ich endlich über die Nachricht die ich suchte. Freitagabend hatte mich Philipp eingeladen, ihn zu Max‘ Leichtathletikturnier zu begleiten. Was ich lachend abgelehnt hatte. Im Moment allerdings, erschien es mir als sinnvolle Ablenkung. Außerdem könnte ich dort Philipp eventuell einen ganzen Haufen blöder Fragen über seinen Aufenthaltsort letzte Nacht stellen.
Obwohl es seltsam war dort aufzutauchen, weil ich eigentlich niemanden wirklich kannte der teilnahm, zwang ich mich eilig weiter zu gehen. Mit Max hatte ich in den letzten acht Jahren nicht unbedingt mehr zu tun gehabt als mit Philipp. Aber die beiden waren beste Freunde, weshalb Max‘ Gesicht mittlerweile relativ bekannt und weitaus weniger furchteinflößend war, als das der meisten anderen in meiner Stufe.
Laut der Nachricht die Phillip mir gestern als Erinnerung geschickt
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Bildmaterialien: Anne Klisch
Cover: Anne Klisch
Tag der Veröffentlichung: 14.05.2023
ISBN: 978-3-7554-4231-8
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Belletristik, Science Fiction, Jugendroman, Drogen, Träume, Luzides Träumen, Schule, Vertrauen, Freundschaft, Abenteuer, Verfolgung