Ein süßer klebriger Geruch stieg mir in die Nase. Es war das erste dass ich wahrnahm noch bevor ich die Augen öffnen konnte.
Es war oft so, in dieser Traumwelt. Man wurde herunter geladen, oder rauf. Und während ein Teil bereits bereitgestellt war, hing der Rest noch in der Warteschleife fest.
Ich fühlte warmen Wind, der meine Haare kräuselte und Gräser oder kleine Pflanzen, die sich an meinen Fesseln unter den Saum meiner Hose reckten.
Die Luft knisterte und der Geruch veränderte sich ganz langsam. Zwischen die Süße mischte sich ein kühler Hauch, wie eine frische Brise. Es roch... sauber. Ich lächelte verwirrt, während mein Körper immer schwerer wurde, bis ich schließlich vollständig in den Traum der fremden Person hochgeladen war.
Dass mir das jede Nacht passierte war die Schuld einer kleinen Kapsel. Einer Droge, wie die Polizei dachte. Aber es war ein bisschen anders. Die Kapsel enthielt ein kleines System, Nanobots, die mit dem Blutkreislauf ins Gehirn gelangen und sich dort an die verschiedenen Areale anheften. Werden sie aktiviert leiten sie die Daten, die sie von dem entsprechenden Areal erhalten, an ein Kernsystem weiter. Dieses sendet die Daten dann gesammelt an alle anderen Systeme. Gleichzeitig empfängt es die Daten der anderen Systeme, sodass wir im Schlaf am Traum einer anderen Person teilnehmen können.
Ziemlich cool. Das hatte ich auch gedacht. Mittlerweile allerdings hauptsächlich gefährlich.
Die Systeme wurden durch eine Verschlüsselung geblockt, sodass man nur noch als Figur in einem Traum teilnehmen konnte, die eigene Identität, das Aussehen, Gesicht, sogar das Geschlecht blieb verborgen. Und die Person, die den Traum bereit stellte, musste die Nacht in den meisten Fällen mit dem Leben bezahlen.
Etwas kleines bohrte sich in meine Rippen und eine Spitze, wie von einem dünnen Zweig stach mir in den Fußrücken. Reflexartig riss ich die Augen auf und legte die Hand an die schmerzende Stelle an meinem Brustkorb. Doch es war nicht mein Körper den ich dabei berührte. Es war auch nicht der Körper der Figur, die ich heute Nacht spielte. Direkt vor mir, quasi halbwegs in mich hinein geschmolzen, stand ein junges Mädchen. Ihre blonden Locken waren zu einer wilden Frisur hochgesteckt, doch an den Rändern spitzen lange dunkelbraune Haare hervor. In glatten Strähnen mischten sie sich unter die Locken und vielen ihr in den Nacken und in die Stirn. Fast so, als hätte sie eine Perücke auf und hätte ihr eigenes Haar dazwischen geflochten. Ihre nackten Schulterblätter lehnten gegen meinen Brustkorb und ihr Ellenbogen stach zwischen meine Rippen. Sie wirkte weggetreten, benommen. So als wäre ihr Körper schon da, nur ihr Bewusstsein noch nicht. Ein leeres Gefäß, das man bereit gestellt hatte. Meine Hand lag auf ihrer Taille. Kühler, dünner Stoff formte sich zu kleinen Falten, wenn ich die Finger bewegte. Der schmale Pfennigabsatz ihrer zierlichen silbernen Sandalen drückte sich schmerzhaft in meinen Fuß. Ganz vorsichtig, um sie in ihrem zerbrechlichen Dämmerzustand nicht zu verletzen lehnte ich sie weiter in meinen linken Arm und zog meinen rechten Fuß unter der Sandale hervor.
Der klare saubere Geruch stammte von ihr. Es war ihre Haut, die zart rosa, weich und kühl gegen meinen Körper drückte. Warmer Wind bewegte das grell pinke Kleid, dass sich schmal um ihre Taille schmiegte, bevor es in drei ausladenden Lagen bis knapp über ihre Knie fiel. Sie sah aus wie ein Bonbon.
Natürlich war mir klar, dass nichts davon echt war. Nicht die Kleidung oder die Frisur. Nicht der Körper oder die Person. Nicht einmal das Gesicht, dass ich noch nicht gesehen hatte. Aber einem Teil von mir war das egal.
Irgendwas an diesem Mensch fühlte sich einfach so vertraut an.
Mein Daumen tanzte über den glatten kühlen Stoff, während mir ein weiterer Geruch in die Nase stieg. Wieder süß, aber nicht so klebrig. Eher warm und voll, wie eine Handvoll Beeren. Ein Bonbon mit Waldbeergeschmack. Ich grinste. Vermutlich schmeckte sie genau so.
Plötzlich spürte ich wie sich ihr Brustkorb weitete. So als würde sie zum ersten mal tief einatmen. Der Stoff raschelte. Doch da war noch ein anderes Geräusch.
Ich löste den Blick von ihren nackten Schultern und starrte nach vorne. Und dann ganz plötzlich wurde mir klar wo ich war. Mein Herz, das gerade noch so fröhlich gesummt hatte, rutschte mir in die Hose. Warmer Wind und klebriger Geruch. Sandiger Boden mit kleinen Gräsern, Büschen und Pflanzen. Etwa hundert Meter vor mir erhob sich ein riesiger Wald. Bäume deren Größe jedes Haus in den Schatten stellte. Riesige grüne Farne. Bunte Blüten mit ausladenden Blättern und großen klebrigen Stempeln. Dazwischen entdeckte ich ein Augenpaar. Krokodil- artige Exenaugen starrten aus der Ferne auf uns herab. Entdeckt und Festgenagelt. Genau so starrte er mich an. Vor uns stand ein riesiger Dinosaurier. Naja, eine riesige Hollywood mäßige Dinosaurier-lüge. Mit polterndem Herzen scannte ich seinen Körper, seine Statur ab. Obwohl er zwischen den Bäumen winzig aussah, war auch er weit größer als ein Zweifamilienhaus. Überhohes Stockmaß, Zweibeiner, klauenartig gebogene Vorderextremitäten, riesiges scharfes Gebiss. Auch wenn ich nicht wusste was das war, war doch klar, dass es kein Pflanzenfresser sein konnte. Allerdings, immerhin, war es kein T-Rex. Nicht weil der hier uns weniger fressen wollte. Aber immerhin bediente der Traum nicht jedes haltlose Dino- Klischee. Das pinke Kleid raschelte im Wind. Das Mädchen zuckte kurz und begann dann leise etwas zu murmeln. Ohne einen weiteren Moment darüber nachzudenken drückte ich ihr die Hand auf den Mund, zog sie fester gegen mich und drehte mich mit ihr um. Die grobe Rinde des Baumes in meinem Rücken bröselte herab und ich schob uns blitzschnell in den Schatten einer kleinen Baumgruppe. Lehnte mich mit dem Rücken gegen den starken Stamm und drückte die Arme fest um den fremden Körper. „Nicht erschrecken“, sagte ich leise. Obwohl ich nicht sicher war, ob ich es zu ihr sagte oder eigentlich zu mir.
Denn, egal wie viele Geschichten ich meinem Bruder auch über Dinos erzählte, ob sie nun Farben sehen konnten wusste ich nicht. Aber dem Stier ist die rote Farbe des Tuches schließlich auch egal. Ihn stört nur die hektische Bewegung.
Das Mädchen, dessen Arme ich fest nach unten gepresst hatte, begann sich vehement gegen meinen Klammergriff zu wehren. Ich konnte es ihr nicht verdenken, immerhin war sie in einem gefangenen Körper aufgewacht. Trotzdem. Ihre hektischen Bewegungen ließen das pinke Kleid tanzen wie ein Bonbonpapier im Wind. „Jetzt halt doch Mal ruhig! Sei still!“
Ich spürte ihr Fluchen an meiner Hand. Untermalt von den dumpfen Vibrationen, die die Schritte der Exe in Wellen durch den Boden schickte. Wenn sie sich nicht bald beruhigte, hatten wir demnächst Besuch von einem ledrigen Kopf in der Größe einer Familiencouch.
Wieder bohrte sich ihr Ellenbogen in meine Rippen. Ruckartig und Schmerzhaft. Ich keuchte. Der Boden summte. Sie trat wild mit den Beinen um sich und ich zog die Arme fester um sie, damit sie endlich still hielt. Ihr Kopf kippte leicht nach hinten. Ich konnte die großen braunen Augen sehen. Vor Panik weit geöffnet. Stress Tränen hatten sich am Rand meiner Hand gesammelt und liefen seitlich daran herunter. Sie wusste ja nicht was mein Problem war. Oder warum es mir so wichtig war, sie in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken. Vermutlich hätte ich diplomatischer an die Sache heran gehen sollen. In dem Moment fuhr ein stechender Schmerz durch meine Finger.
„Scheiße, man!“, fluchend zuckte ich zusammen. Sie hatte mich gebissen! Ich war sicher, kleine rot blaue Male zierten meine Haut. Doch ich hatte keine Zeit nachzusehen. Das kleine Biest war stärker als sie aussah und ihr Gezappel zerrte nicht nur an meinen Nerven, sondern auch an meinen Muskeln.
Der Dino war unterdessen stehen geblieben. Er stieß ein unnatürliches Gluckern aus. Kleine Tröpfchen segelten durch die Zweige.
„Wenn du so weiter machst entdeckt er uns wirklich noch. Willst du gefressen werden!“ Ich zog die Hände erneut enger um ihre Körpermitte und verstärkte den Druck meiner Hand auf ihrem Mund. Wieder knickte ihr Kopf nach hinten. Meine Finger pochten. Vielleicht hatte sie das ja auch verdient. Leise Wut trickelte durch meine Adern. Ich lehnte mich zu ihr hinab. Lauschte auf das dumpfe Pochen der Dinosaurier Schritte bevor ich es wagte wieder zu sprechen.
„Okay, hör zu“, zischte ich leise. „Du hörst jetzt auf hier so einen Aufstand zu machen. Ich lasse dich los. Aber du darfst nicht schreien oder irgendwelche hektischen Bewegungen machen. Sind wir uns einig?“
Nur ungefähr zwei Prozent von mir glaubten daran, dass sie sich nicht bewegen würde, ganz egal was ich tat. Ich machte mich also auf einiges gefasst als sie stumm und mürrisch gegen meine Hand nickte. Zu meinem Glück war sie, trotz allem, nur ein dünner Zweig in einem rauschenden Bonbonpapier. Sie murmelte dumpfe Worte in meine Hand und ganz plötzlich wich jede Anspannung aus ihrem Körper. Wie am Anfang lehnte sie wieder ruhig und weich gegen meinen Körper. Mein Arm war noch immer fest um ihre Körpermitte geschlungen und ich spürte das Heben und Senken ihres Brustkorbs. Sie Atmete schwer. Eine hieße Träne kullerte an meinem Arm entlang und unter der weißen Manschette meines Hemdes hindurch in meinen Ärmel. Doch bevor ich Mitleid mit ihr haben konnte pochten meine Finger boshaft auf. Ich zog die Hand von ihrem Gesicht und betrachtete die kleinen rotblauen Male, die meine Finger zierten. Ganz vorsichtig lockerte ich meine Umklammerung, ließ sie jedoch nicht ganz los. Ein Teil von mir war sich sicher, dass sie sofort los rennen würde. Eigentlich sollte mir das recht sein. Was kümmerte es mich wenn sie von einem Dinosaurier gefressen wurde? Sterben würde sie daran in dieser Welt ja ohnehin nicht. Und es würde den Dino von mir ablenken. Ich könnte sie also problemlos als Köder benutzen und dann einfach meiner Wege ziehen. Davon schlendern. Den Tag und die Sonne genießen.
Was hielt mich davon ab? War es nur die Tatsache, dass ich nicht zusehen wollte wie der Dino einen Menschen verschlang? Mein kleines pinkes Bonbon? Mit einem Haps?
Vorsichtig zog ich meine Hand weiter zurück. Ich wartet darauf, dass die Anspannung in ihren Körper zurück kehrte. Wartete ab was sie tun würde. Was ich tun würde. Ich hatte mich noch immer nicht entschieden. Plötzlich ging ein Ruck durch ihren Körper. Ihre Muskeln spannten sich an. Ich spürte eine seltsam gähnende Leere bei dem Gedanken ihr nach zu sehen, obwohl sie noch immer direkt vor mir stand. Doch anstatt nach vorne zu rennen, wie ich erwartet hatte, drehte sie sich blitzschnell um.
Ich dachte nicht, ich reagierte nur. Bevor sie irgendetwas sagen oder sich anders entscheiden konnte legte ich meinen Arm wieder um ihre Taille. Ich legte einen Finger auf meine Lippen und hielt sie an Ort und Stelle fest.
Ihr Kinn stieß gegen mein Brust und ihr rechter Arm war zwischen uns eingeklemmt. Vielleicht würde ihr linker Arm ein Problem werden...
„Was soll der Scheiß!“, zischte sie, als sie ihr Gleichgewicht wieder gefunden hatte. Mit der freien Hand versuchte sie Abstand zwischen uns zu schaffen. Doch es gelang ihr nicht so recht. Erst jetzt sah ich zum ersten mal ihr Gesicht. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, als sie von ihrer Hand aufsah und mich mürrisch anstarrte. Sie entdeckte meine Geste. Etwas zuckte über ihr Gesicht, aber sie würde wohl nicht Schweigen. Ich selbst, vorerst, vermutlich schon. Obwohl mich niemand einschnürte, bekam ich gerade keine Luft mehr.
Das Mädchen hatte einen herzförmigen Haaransatz. Darunter sanft geschwungene Augenbrauen. Riesige Augen, was nicht allein an ihrer Panik liegen konnte. Zumal sie im Moment eher mürrisch zusammengekniffen waren. Die bernsteinfarbene Iris glitzerte unter langen dunklen Wimpern. Eine gerade Nase und dunkle Lippen. Ihre Haut hatte einen ganz blassen olivfarbenen Unterton und ihre Haare, die eigentümlich zwischen die blonden Locken geflochten waren, waren eine wilde Mischung aus dunklen Brauntönen, Kastanienrot und goldenen Sprenkeln. Sie sah ganz normal aus und gleichzeitig irgendwie gar nicht.
Wieder spürte ich das Pochen der Schritte unter meinen Füßen. Doch ich konnte die Richtung nicht mehr abschätzen. Vorsichtig lehnte ich mich um den Baum herum und spähte zurück auf die freie Fläche. Alles lag ruhig. Der Dino war nicht mehr zu sehen. Seine schweren Schritte waren unhörbar. Nur das Pochen vibrierte durch den Boden. Richtungslos. Ich hätte gerne geflucht. Doch ich konnte nicht. Unser Geflüster war sicherlich laut genug gewesen.
Ich schob das Mädchen ein Stück von mir weg und zog sie dann an der Hand tiefer zwischen die Bäume.
Sie war überraschend still und ruhig, nachdem sie sich zuvor so wild gewehrt hatte. Sie sträubte sich nicht einmal gegen die Hand, mit der ich ihr Handgelenk umklammert hielt.
„Was geht hier eigentlich ab?“, hörte ich ihre leise Stimme hinter mir.
Wie gesagt, ich hätte sie einfach stehen lassen können. Aber sie fühlte sich so fremdartig vertraut an. Und vielleicht tat ich es auch nicht, weil ich nicht alleine sterben wollte...
Plötzlich spürte ich ihre Hand auf meinem Rücken, als wäre sie gestolpert und eine Reihe saftiger Flüche wehte über meinen Kopf hinweg. Selbst die geflüsterten Worte klangen ohrenbetäubend laut in der mahnenden Stille. Die Schritte des Dinos stoppten. Ich fühlte wie mir das Herz in die Hose rutschte. Ruckartig drehte ich mich zu ihr um.
„Ich dachte du hättest das jetzt langsam kapiert!“, fuhr ich sie zischend an. „Wegen deinem blöden pinken Kleid ist er doch erst auf uns aufmerksam geworden!“
Ich war nicht sicher warum ich so wütend war. Sie wusste schließlich nicht einmal wovor wir weg liefen. Aber ich hatte recht. Wie lange hatten wir da so gestanden? Ein hübscher Snack. Schön mit wehenden Fahnen verpackt, damit man uns auch ja nicht übersehen konnte.
Sie war blass im Gesicht und plötzlich sah sie furchtbar ängstlich aus. Irgendwie verloren. Doch sie fing sich schnell wieder. Das hübsche Gesicht verzog sich zu einer grimmigen Grimasse. „Ach ja?“, zischte sie. „Ich hab mir diese Aufmachung doch nicht ausgesucht!“
Womit sie recht hatte. Eine Tatsache die so in meinem Kopf aber gerade keinen Platz hatte. Sie war ein Verdammtes Fähnchen im Wind. Eine Signalfackel. Das einzige was fehlte um noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen wäre Lärm. Wobei sie das ja auch ganz problemlos hinbekam.
„Und wer überhaupt?“, fügte sie hinzu, wobei sie energisch die Hände in die Luft warf und sich damit schließlich aus meiner Umklammerung befreite.
„Die scheiß Dinosaurier, okay!“
Meine Sprache war für heute offiziell dahin. Normalerweise brauchte es sehr viel und sehr langanhaltende Maßnahmen um mich dermaßen zur Weißglut zu bringen. Aber bitte, sie hatte dafür gerade einmal eine viertel Stunde gebraucht. Andererseits hatte ihr dabei vermutlich auch das prähistorische Untier geholfen. Das konnte ich allerdings nur schlecht anschreien. Im Gegensatz zu ihr würde der Dino mich nämlich einfach kalt machen. Und irgendwo musste die angestaute Energie schließlich hin. „Und das Pink von deinem Kleid ist so ziemlich die unpraktischste Farbe, die man sich für einen prähistorischen Urwald aussuchen kann.“
Sie wurde nicht blass oder fing an zu Zittern. Sie stand einfach da. Die Augenbrauen schoben sich leicht nach oben. Der Mund klappte nur minimal auf. Ich wartete darauf, dass sie mich auslachte. Doch sie stand einfach nur da. Ein gutes Stück über ihr schob sich eine Nase durch die Äste. Dichter Nebel blies aus den Nüstern. Ich spürte wie die Farbe aus meinem Gesicht wich. Das Monster stand tatsächlich nur etwas mehr als vier Meter von uns entfernt. Er hätte nur einen einzigen Schritt gebraucht und wir beide wären Matsch. Doch er drückte nicht weiter durch die Äste, vielleicht konnte er den Baum vor sich tatsächlich nicht fällen. Ich hätte es ihm zugetraut.
Das Mädchen vor mir verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich leicht zurück. Fast so als hätte sie ihr Selbstvertrauen gefunden ohne den Dino Kopf hinter dem Baum zu bemerken. Faszinierend wie selektiv die Wahrnehmung doch sein konnte.
„Dir ist hoffentlich bewusst, dass das Riechorgan eines solchen Urtiers deutlich besser entwickelt ist, als seine Sehfähigkeit. Bevor er mein scheiß Kleid entdecken konnte, hätte er dich doch schon längst gerochen!“
Wow. Ich war beeindruckt. Dino Fakten bekam man nur ganz selten ins Gesicht geschleudert. Und nach einem tiefen Atemzug musste ich ihr leider auch dieses Mal zustimmen. Ich roch als hätte ich eine Parfümerie ausgeraubt. Ich streifte sie mit einem prüfenden Blick. Irgendwas war anders an ihr. Mal abgesehen davon dass ihr Sätze tatsächlich Inhalt hatten. Irgendetwas stimmte hier nicht. Irgendetwas war anders. Sie war anders. Das Gluckern des Dinos unterbrach meine Gedanken. Obwohl mir der Baum vor ihm erstaunlich stabil erschien, war mir etwas Abstand dann doch noch lieber. Ich griff wieder nach ihrem Arm und zog sie mit mir zwischen den Zweigen hindurch weiter weg von dem Dino und seinen hübschen Zähnen. Immer darauf bedacht möglichst kräftige Bäume zwischen uns zu bringen.
„Korrekt“, begann ich, während ich ihr einen Zweig zur Seite hielt. „Aber dagegen kann ich nichts machen. Du hingegen könntest dein Kleid immer noch ausziehen.“ Es war unfair. Schließlich waren die Dinge bereits im Rollen gewesen noch bevor sie aufgewacht war. Doch ich konnte das Grinsen nicht verbergen, das mir bei dem Gedanke über das Gesicht huschte. Das Bonbon ohne sein Papier. Der grimmige Ausdruck kehrte in ihr Gesicht zurück und sie blieb wie angewurzelt stehen. Sie sah hübsch aus wenn sie wütend war. Die Hände zu Fäusten geballt starrte sie mich an. Und Dann passierte es. Ganz langsam blätterte die Farbe von ihrem Kleid ab. Ganz so als wäre es ein rostiges Geländer. Das Pink bröselte heraus und übrig blieb ein dunkles matschiges Grün. Es schnürt mir die Kehle zu. Ein zufriedenes überlegenes Grinsen huschte über ihre Züge. Das war das erste Mal dass ich tatsächlich bereute, dass ich sie nicht stehen gelassen hatte. Denn das hier war zwar ein Traum, aber egal wie oft und wie sehr ich es in den letzten zwei Jahren auch ausprobiert hatte, man konnte seine Form, sein Aussehen niemals verändern. Nicht in der Realität. Und auch hier nicht. Ein Baum, zirka zehn Meter hinter ihrer linken Schulter begann zu schwanken. Aber ich war nicht sicher wer hier gefährlicher war, der Dino, oder sie.
Ich versuchte mich zu sammeln. Das Monster oder das Mädchen?
Oder war das die falsche Frage?
Der Dino oder das Monster?
Meine Gedanken rasten während ich beobachtete wie das klauenartige Bein, wie in Zeitlupe, die Pflanzen unter sich zermalmte. Ich schluckte. Ohne eine weitere Sekunde zu verschwenden griff ich wieder nach ihrem Arm. Ich hatte mich für das Mädchen entschieden. Das Mädchen im Monster. Denn ich wollte eher ungern gefressen werden. Und egal was sie war oder tat, es würde mir sicherlich einen angenehmeren Tod bescheren. Vorsichtig zog ich sie zu mir und schob sie hinter mich. Jetzt musste ich nur noch mein Gehirn leer machen. Leer und still und kalt. Und dann brauchten wir eine Lösung für das erste Problem. Den Dinosaurier.
„Hast du einen Plan?“
Ihre Stimme war ganz leise. So leise, dass ich nicht sicher war, ob ich sie tatsächlich gehört hatte. Sie klang ängstlich und weich. Wie die Stimme einer normalen Person. Aber das hier war ein Traum. Und sie war nicht echt. Sie war nur ein weiterer Trick der uns alle langsam verrückt machen sollte. Eine Variable in diesen außer Kontrolle geratenen Träumen. Sie war kein Mensch. Keine Rolle. Sie war eine Requisite. Fremdgesteuert. Deshalb war sie so schön. Und deshalb kannte sie Dino Fakten. Weil mein Unterbewusstsein ohne meine Erlaubnis Informationen über mich preisgab. Was dazu führte dass das System genau wusste was mich beeindruckte und aus der Bahn warf. Sie war nicht echt. Vermutlich sah sie für jeden hier anders aus. Perfekt. So musste es sein. Oder nicht?
Und da man das System nicht brechen konnte, spielte ich mit. So wie jede Nacht.
Also, hatte ich einen Plan?
„Wenn wir Glück haben, ist das hier näher an unsere Zeit angelehnt, als an die tatsächliche Unterkreide. Dann könnte hier demnächst mal ein Jeep vorbei fahren“, sagte ich. Nicht weil ich das wirklich dachte, sondern eher weil ich es hoffte. Und selbst dann wäre der Dino vermutlich immer noch schneller. Aber er wäre zumindest abgelenkt.
Wir warteten eine Ewigkeit. Still und schweigend. Ich spürte ihren Atem hinter mir. Flach, und leicht zitternd. Genau wie wir bewegte sich der Dino keinen Millimeter.
„Kannst du sein zweites Bein sehen? Dort“, fragte ich und nickte leicht nach rechts, wo der Dino mit einem Bein ohne es zu Belasten sein Gewicht ausbalancierte. Ich hörte das leise Rascheln ihrer Kleidung. Kratzige Haare streifte mich als sie nickte, so als wäre es eine Perücke. Verwirrung begann Rädchen in meinem Kopf in Bewegung zu setzen, doch ich hatte jetzt keine Zeit mir darüber Gedanken zu machen.
„Okay“, ich schüttelte den Kopf um meine Gedanken frei zu machen. „Ein Stück dahinter kann man auch seine Schwanzspitze sehen. Sie ist leicht nach oben geboren.“
Wieder spürte ich ihr kratziges Nicken. Und versuchte nicht darüber nachzudenken. „Wenn ich davon ausgehe, dass sein Schwerpunkt ein Stück vor den Beinen liegt, würde ich ihn grob auf dreizehn Meter schätzen. Ohne den Kopf zu sehen ist das allerdings schwierig einzuordnen. Die klauenartigen Beine... ich würde sagen, es ist ein Fleischfresser. Ich meine vielleicht reagiere ich jetzt auch über, aber mir fällt dazu nur die Gruppe der Carcharodontosauridae ein.“
Ich wusste selbst nicht warum ich das erzählte. In dem Moment in dem ich entschieden hatte nicht nachzudenken hatte ich wohl auch alles andere auf Autopilot gestellt. Und jetzt ratterte ich tatsächlich alle Dinofakten herunter die mein Kopf zur Verfügung stellte. Gratulation Tom das war also das Wissen dass sich in sieben Jahre gute Nacht Geschichten vorlesen so angesammelt hatte.
„Okay. Und wie hilft uns das weiter?“
Ich versuchte die Scham über mein Nerd- und Strebertum herunter zu schlucken. Jetzt hatte ich schon angefangen. Und mein Unterbewusstsein hatte mich in diesem Punkt ja ohnehin schon verraten.
„Die Carcharodontosauridae gab es hauptsächlich in Gondwana, aber mittlerweile hat man fast überall auf der Welt Fossilien gefunden, die ihnen zu zu ordnen sind. Aber es ist eigentlich auch egal, wo auf der Erde wir gerade sind. Sie sind körperlich die größten Fleischfresser gewesen.“
Ich dachte über meine eigenen Worte nach. Das alles hier machte überhaupt keinen Sinn. Nicht nur Festtageskleidung im Urwald. Oder überhaupt Menschen bei den Dinosauriern. Das alles war vollkommen skurril. Aber es war ein Traum oder nicht? Hier konnte alles passieren. Wenn es sich aber am Wissen und am Unterbewusstsein der Schlafenden, insbesondere des Träumers orientierte, warum nutze es dann nicht die Fakten in meinem Kopf?
Und wenn es daran lag, dass das hier nicht mein Traum war, warum hatte ich dann diesen seltsamen Roboter hinter mir?
„Ich verstehe nicht warum wir so einem hier begegnen. Kleine Dinosaurier waren viel häufiger!“
Das war alles was mein Gehirn, in seinem nun doch vollständig verwirrten Zustand noch zusammen brachte. Die Gedankenmühle war nun aktiv. Zweifel wurden mit Fakten und Meinungen bunt gemischt. Vor lauter Trubel hätte ich beinahe ihre geflüsterten Worte überhört. „Es ist ein Traum. Es passieren immer die Extreme. Weiter.“
Diese Reaktion hätte mein Unterbewusstsein in einem solchen Zustand niemals produziert.
Ich zwang mich wieder aus meinem Kopf aufzutauchen. Vielleicht war ich hier doch nicht allein. Vielleicht war das hinter mir ein ganz schräger Zufall in der Rolle einer sehr hübschen fremden realen Person. Ich schluckte. „Ähm. Okay.“
Was hatte sie gerade gesagt? Sie war nicht genervt. Sie wirkte ruhig und konzentriert. Weiter. Fast so als suchte sie in meinen Worten eine Information die uns weiterhelfen würde. Ich hätte mir gerne die Haare aus der Stirn gestrichen die klebrig und schweißnass auf meiner Haut klebten. Doch ich wagte es nicht mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Genau wie der Dino begnügte ich mich mit abwarten und beobachten.
„Es gab sie seit der Unterkreide. Ich weiß nicht. Sie waren sogar größer als der Tyrannosaurus Rex. Aber leichter. Demnach also auch schneller und wendiger. Vermutlich.“
„Okay. Was schlägst du jetzt vor?“, fragte sie. So als glaubte sie, dass ganz am Ende meiner unendlichen tragisch peinlichen Aufzählung tatsächlich ein Plan schlummerte. Tatsächlich hatte ich, überraschenderweise, keinen.
„Naja, wenn er ist, was ich denke dass er ist, hat er uns ohnehin längst entdeckt. Ob wir hier also warten oder weglaufen macht keinen Unterschied mehr.“
Das war resigniert aber bodenlos ehrlich. Wir konnten uns hier die Beine in den Bauch stehen oder wir konnten laufen und sterben. Aber dann war es immerhin vorbei. Und da es ein Traum war, wäre es ja nicht tot, sondern einfach nur das ‚Ende der aktiven Teilnahme am Traum‘. Also vielleicht gar nicht so schlecht.
Das Mädchen-vielleicht-Monster-vielleicht-Roboter-vielleicht-echt, atmete tief ein.
„Rennst du mit mir?“, fragte ich und drehte mich um. Sie war blass und unter ihrem konzentrierten Blick sah sie ein wenig erschrocken aus. So ehrlich. So menschlich. So echt.
Aber dieses Gesicht konnte nur Einbildung sein. Und wenn nicht, dann wüsste ich gerne wo der Träumer solche Leute traf.
Das Kleid das sie vorher waldgrün gemacht hatte war wieder Pink. Ein Punkt, der für die reale Person hinter einem geliehenen Körper sprach. Obwohl es mich gleichzeitig noch misstrauischer machte. Ihr Blick streifte über mein Gesicht. Dann nickte sie ganz leicht.
„Schau nicht zurück“, rief ich und versuchte sie mit mir zu ziehen, während ich nochmal ein bisschen schneller lief. Ich hatte nach ihrem Arm gegriffen und war los gerannt. Raus aus dem Dickicht und auf die freie Lichtung zu. Der Saurier hatte das natürlich direkt als Einladung aufgefasst mit zukommen. Zumindest hatte er nicht glücklich reagiert, als wir unseren Posten so überstürzt verlassen hatten. Und furchtbar lange mussten wir auch nicht auf ihn warten.
Das große, grau grüne Monster jagte uns erbarmungslos. Und mit jedem Schritt den wir gingen, jedem Mal, dass sie in ihren furchtbaren Schuhen umknickte wurde mir bewusster wie aussichtslos die Sache war. Der einzige Grund, weshalb ich nicht einfach stehen blieb war das Mädchen. Denn sie rannte weiter. Etwas das mein Unterbewusstsein aufgegeben hatte. Ich sah die blonden Locken neben mir im Wind wehen. Und die glatten braunen Haare, die darunter hervor guckten. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht.
„Komm, wir müssen hier lang.“ Keuchend zog sie an meinem Arm um uns in die andere Richtung zu dirigieren.
„Nein. Wir müssen raus aus dem Wald!“
„Das schaffen wir nicht mehr. Ich habe eine Idee.“
Ohne zu ihr zu schauen sah ich die dunklen Haare und die großen Augen. Ich dachte an ihre frechen Antworten. Neben mir war ein echter Mensch. Sie musste echte sein. Ein Bewusstsein. Ein echtes Gehirn. Und das war der Moment in dem ich losließ. Nicht ihre Hand. Nur die Verantwortung. Ich ließ mich weiter nach links ziehen. Und dort, zirka zweihundert Meter vor uns entdeckte ich den Baum. Es war ein Zwilling. Unten ein Stück zusammengewachsen und oben schmal. Der Dino, der gemütlich hinter uns her tänzelte, spielend, weil er sich seiner Sache sicher war. Fast so als wolle er nur mit uns spazieren gehen, folgte ohne Umschweife. Die letzten fünf Meter vor dem Baum wurde sie schneller und immer schneller. Schließlich ließ ich ihre Hand los, und wir sprangen hintereinander über die Gabel des Baumes. Es krachte laut und die Erde erzitterte als das Untier mit voller Wucht gegen den Stamm rauschte. Mit dem Hals steckte er zwischen den beiden Stämmen. Er schlug wild mit dem Kopf um sich. Die kurzen Arme zwischen dem Holz eingeklemmt. Und plötzlich war es leise. Ich hörte nur das brechen der Zweige unter unseren Schritten. Das Rascheln von Laub je weiter wir uns entfernten. Kein tiefes Dröhnen und Stampfen mehr.
Der Wald vor uns war freier und lichter. Der Dino hätte mit Sicherheit zu uns gefunden, doch er schrie einmal laut auf und befreite sich mit einem Ruck. Dann drehte er ab und verschwand im Dickicht.
„Gute Idee“, sagte ich atemlos und blieb schließlich stehen. „Er scheint tatsächlich das Interesse verloren zu haben.“
Sie hatte sich zu ihren Füßen gebückt und begann die schmalen Sandalen von ihren Füßen zu ziehen. Die Riemen waren verdreht und schnitten tief in ihre Haut. Es sah schmerzhaft aus. Doch sie lächelte als sie aufsah. „Na das ist doch immerhin etwas.“
Das weiße Hemd hatte ich vollständig durchgeschwitzt und die Krawatte schnürte mich unangenehm ein. Mit einem Ruck zog ich den Krawattenknoten von meinem Hals weg.
„Also dann. Wo gehen wir hin?“, fragte sie schließlich und richtete sich wieder auf.
Ich war nicht mehr wütend und auch die Angst war verschwunden. Ganz langsam bekam ich wieder Luft. Was dazu führte dass mein Gehirn normal arbeiten konnte. Sie war, genau wie ich, eine normale Person die hier in einer Rolle gefangen war. Aber etwas war anders. Ich konnte es nur noch nicht begreifen. Sie hatte gefragt ‚wo gehen wir hin‘. Wir. Jetzt konnte ich also entscheiden ob ich alleine weitergehen wollte. Dieses Mal hatte ich die Wahl. Allerdings wenn ich herausfinden wollte was heute Nacht und an ihr anders war, sollte ich sie wohl mitnehmen. Und wenn man mal von ihren gruseligen Fähigkeiten absah, war sie immer noch ein hübsches Bonbon.
„Weiß nicht. Wir sollten vermutlich mal die Party suchen, auf die wir scheinbar eingeladen sind“, sagte ich. Nicht dass man das musste, aber es wäre was ich getan hätte, wenn ich alleine wäre. Herausfinden wer ich für die Nacht war und dieser Rolle dann eine Aufgabe geben. Man erkannte zwar niemanden mehr, aber wach war das Bewusstsein ohnehin. Die Zeit konnte man also getrost nutzen, selbst wenn es nirgendwohin führte. Ich konnte mein Bonbon ja einfach mitnehmen. Dann konnte ich wenigstens sehen, wenn sie die sieben Plagen auf uns alle losließ. Und wenn das nicht ihre Absicht war, hatte ich wenigstens eine hübsche Begleitung.
Als sie nicht auf meine Worte reagierte deutete ich auf unsere Kleidung. Ein kleines o formte sich auf ihren Lippen und ihre Wangen wurden leicht rot. „Und wo finden wir die?“, fragte sie ein wenig unsicher.
Ich zuckte die Schultern. „Kein Ahnung. Normalerweise taucht man nie zu weit entfernt vom Hauptschauplatz auf, aber es kann auch sein, dass wir gerade eben in die andere Richtung gelaufen sind.“
Ich versuchte ihren Gesichtsausdruck zu lesen. Unschlüssig kaute sie auf ihre Unterlippe. „Okay. Dann lass uns einfach Mal aus dem Wald raus gehen“, antwortete sie ausweichend. Ihr Blick war ernst. Tatsächlich wirkte sie jetzt besorgter als zuvor mit dem Dino. Sie ging barfuß neben mir her, den Blick starr auf den Boden gerichtet. So still hatte sie nichts von einem Monster. Es tat mir ein bisschen leid, dass ich so schlecht von ihr dachte. Aber egal wie hübsch sie war, sie war auch eine Fremde. Noch ein bisschen fremder, als die anderen Fremden hier.
„Warum hast du mich überhaupt mitgenommen?“, fragte sie schließlich. Ihre leise Stimme hatte einen tiefen Klang. „Weißt du, du hättest mich ja auch einfach stehen lassen können.. Mit meinem pinken Kleid.“
Überrascht sah ich auf. Ihr schien das Bonbonpapier auch nicht gerade zu gefallen. Ich lachte leise. Jetzt wo ich sie nicht mehr durch den Wald kommandierte, stellte sie ganz schön viele Fragen. Fast so, als hätte sie das alles noch nie.. „Du bist heute zum ersten Mal hier, oder?“, fragte ich. Doch ich musste nicht auf ihre Antwort warten. Das würde auch erklären warum sie am Anfang so verwirrt gewesen war. Ich seufzte. „Weißt du, wir standen quasi auf der selben Stelle. Wenn ich einfach gegangen wäre, hättest du das auch bemerkt.“ Weshalb ich ihr den Mund zugehalten und sie davon gezerrt hatte. Was für ein schöner Einstieg. Ich warf ihr einen Blick zu, doch sie sah weiter auf den Boden. Die silbernen Sandalen in ihrer Hand wippen bei jedem Schritt und die ausladenden Lagen ihres Kleides blieben in den kleinen Ästen hängen. „Außerdem gehe ich davon aus, dass du mein Date bist“, sagte ich in Gedanken versunken. Es war was ich dachte, aber vermutlich nicht was ich hätte sagen sollen. Skeptisch zog sie die Augenbrauen hoch. Diese Welt war so nah an der Realität wie ein Marvel Film. Das schien ihr noch nicht so ganz bewusst zu sein.
Ich rollte die Augen. „Nicht so!“, sagte ich energisch. Aber wie dann? Manchmal sollte man seine Gedanken einfach für sich behalten Tom, dachte ich und gab mir geistig selbst eine Kopfnuss. „Wir sind auf eine Party eingeladen, schon vergessen? Wir sind nur Rollen in diesem Traum. Und es ist am gesündesten, man hält sich an das Drehbuch. Je unauffälliger desto besser.“
Sie nickte und sah mich kurz an. Die Augen noch immer mit Sorge umwölkt, dann sah sie zurück zu ihren Füßen.
Der Wald vor uns lichtet sich immer weiter. Die dicken Stämme der Bäume verschwanden. Wurden ersetzt durch hohe Farne und stachelige Büsche, die es in unserer Zeit längst nicht mehr gab. Erst jetzt, kurz bevor wir den Waldrand erreichten, viel mir auf wie wenigen Tieren wir begegnet waren. Der ganze Wald war still. Wir hatten keinen anderen Dino getroffen. Was seltsam war nachdem uns der erste so vehement hinterher gelaufen war. Er hatte uns aus einem Waldstück heraus ausgespäht und dann über die Lichtung in den anderen Wald gescheucht. Als wir den Waldrand erreichten nahm ich ohne ein Wort zu sagen wieder ihre Hand und zog sie mit mir hinter eines der hohen Gestrüppe. Sie wehrte sich nicht. Ihr Blick war plötzlich klar und konzentriert. Vorsichtig sah ich zwischen den Zweigen hindurch auf sie Lichtung die sich jetzt vor uns auftat. Es war eine relativ große Fläche. In der Mitte standen ein paar wenige kleine Pflanzen und der Waldrand war gerade, wie mit dem Lineal gezogen. Doch ich konnte den oberen und unteren Rand nicht einsehen. Langsam suchte ich die Zweige auf der anderen Seite nach Dinoaugen ab. Ich konnte nichts sehen. Auch wenn das nichts zu bedeuten hatte. Die Ebene lag vollkommen still und leer vor uns. Um sie dieses Mal vor zu warnen nickte ich leicht, dann zog ich uns beide aus dem Versteck. Zügig rannten wir zum Mittelpunkt der Ebene. Die Pflanze in deren Schatten wir uns duckten sah aus wie ein übergroßer Kaktus. Oder eine massive Aloe Vera Pflanze. Die dreieckigen Arme hatten dicke Nadeln an den Kanten. Doch die Fläche dazwischen war breit. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Pflanze und zog das Mädchen neben mich. Von hier aus konnte man nun die gesamte Fläche einsehen. Der Wald war nach oben hin, wie ein Hufeisen geschlossen. Die Kanten gerade, als hätte man sie gerodet. Nach unten war der Wald offen. Eine sandig grüne Fläche zog sich unendlich bis an den Horizont. Wieder lehnte ich mich um die Pflanze, dieses Mal vorsichtig, um den Dornen zu entgehen, und suchte den Waldrand nach verräterischen Anzeichen oder einem Richtungshinweis ab.
„Hey. Du weißt, dass die uns immer noch riechen können, oder?“, fragte sie, während sie über meine Schulter sah. Sie hatte die vielen Lagen ihres Rockes zusammengeknüllt und hielt sie jetzt dicht an ihrem Körper fest, damit sie nicht allzu verräterisch neben der grünen Pflanze hervor lugten.
„Ja. Aber ich hoffe, dass sie darüber nur erfahren, dass wir überhaupt da sind und nicht wo genau.“
Der Wind stand günstig. Die Halme auf dem Boden kräuselten sich in alle Richtungen. Und der Schweiß auf meiner Haut war beinahe wieder getrocknet. Der Geruch den wir ganz definitiv verströmten wurde über die Leere Ebene verwirbelt.
„Warum verwandeln wir uns nicht selbst in Saurier? Da wären wir deutlich unauffälliger.“
Die Frage erwischte mich völlig unvorbereitet. „Wir können uns nicht einfach in irgendwas verwandeln. Das liegt nicht in unserer Hand“, antwortete ich patzig. Aber sie schon, schrie mein Kopf. Nur was brachte sie dazu zu denken, dass das normal war? Eine kleine Alarmglocke in meinem Hinterkopf begann zu schrillen. Ich ignorierte sie. „Siehst du den Busch dort vorne?“ Im Sprechen drehte ich mich langsam zurück hinter die Pflanze. „Es ist ein bisschen weiter aber w..“ Mir blieben die Worte im Hals stecken. Ich hatte immer gedacht ich wäre der Kämpfertyp. Oder dass man schreit, wenn man Angst hat. Doch nichts davon passierte. Ich bekam nur einfach keine Luft mehr. Direkt vor mir stand ein Dinosaurier. Klein wie ein Truthahn und mit hübschen blauen Federn bedeckt. Ein Fernsehklassiker, der normalerweise im Rudel unterwegs sein sollte.
„Was ist?“, fragte der Velociraptor, wobei das Maul ganz seltsam auf und zu klappte und Blick auf die Reihen aus scharfen weißen Zähnen freigab.
Ich fühlte wie ich zu Zittern begann. Ich schwankte leicht. Konnte noch immer nicht sprechen. Der Saurier neigte fragend den Kopf zur Seite, plötzlich sprang er erschrocken auf und drückte sich ängstlich näher an die Pflanze. Wie in Zeitlupe beobachtete ich das Vorgehen. Hatte immer noch nicht verstanden was passierte. Die kleine Exe hob die federbesetzten Ärmchen an und drehte sie langsam hin und her. Sie sah an sich herunter, federte leicht auf den Beinen. Dann sah sie auf. Sah mir direkt ins Gesicht. Die Exenaugen blinzelten. Wie bei einem Krokodil schob sich blitzartig ein zweites Lied von der Seite über das Auge. Ich taumelte. Ohne an die Dornen zu denken griff ich nach der Pflanze, um mich aufrecht zu halten.
„Komm schon. So haben wir viel mehr Möglichkeiten!“
Die Exe kam langsam auf mich zu. Sie war um einiges kleiner als ich, trotzdem versuchte ich panisch zurück zu weichen. Ich viel über meine eigenen Beine. Der Saurier hüpfte ein weiteres Mal auf mich zu und beugte sich mit seinem scharfen Maul über mich. Angst pulsierte durch meine Adern. Ich hörte nur das Rauschen von Blut in meinen Ohren. Meine Muskeln krampften. Panisch rollte ich mich zu einem kleinen Ball zusammen. Den Rücken zu den scharfen Zähnen gekehrt, die Arme schützend über den Kopf gelegt. „Fass mich bloß nicht an!“, fauchte ich.
Ich war nicht vor einem bescheuerten riesen T-Rex davon gelaufen, nur damit mir jetzt ein Velociraptor, wie eine Hyäne die Luftröhre aufbeißen konnte.
Doch nichts passierte. Ich atmete langsam und ruckartig. Die Dunkelheit über meinen Augen beruhigte mich. Das war heute schon mal passiert. Nur dieses Mal hatte ich den Prozess nicht gesehen. Ich hatte mich zu vollendeten Tatsachen umgedreht. Der Menschenkörper war von ihr abgeblättert wie alte Farbe und darunter lag ein Truthahn großer mörderischer Dino. Ich hatte mich noch nicht einmal gewundert dass die Exe sprechen konnte. Ich hatte sogar geantwortet. Neue Wut stieg in mir auf. Was passierte hier? Ich war Lichtjahre davon entfernt irgendetwas zu verstehen oder im Griff zu haben. Trotzdem, die neue heiße Energie füllte meinen Bauch. Ruckartig drehte ich mich um. „Du bist ja nicht mehr ganz normal!“, zischte ich.
Der Saurier, der sich gerade noch über mich gebeugt hatte zuckte leicht zurück.
„Komm schon.“ Sie klang ein wenig verletzt. Aber das gönnte ich ihr von Herzen. „Wir wären viel schneller. Ich kann dich auch tragen.. Außerdem kann ich Luftballons riechen.“
„Du bist ein Velociraptor!“, brüllte ich dieses Mal. „Der wiegt selbst maximal fünfzehn Kilogramm! Du kannst niemandem helfen!“
Ich lag noch immer am Boden. Vielleicht hätte ich aufspringen sollen, damit ihr klar wurde wie klein sie gerade tatsächlich war. Obwohl sie bemerkt hatte, dass ich meine Fassung eindeutig verloren hatte, ließ sie nicht locker. Ein bisschen so, als könnte sie nicht kontrollieren was mit ihr passierte. Oder sie war einfach viel zu naiv für die Realität! „Die gab es in der Unterkreide noch nicht einmal!“, sagte ich. Fakten hatten schließlich vorhin auch schon geholfen. „Das ist nicht unauffällig!“, sagte ich mit Nachdruck.
Sie schwieg. Den Gesichtsausdruck eines Sauriers konnte ich leider nicht lesen. Es dauerte einen Moment doch dann sah ich wie sich der Rücken des Velociraptors nach oben Bog. Immer weiter, bis er mindestens drei mal so hoch war. Gleichzeitig schmolz der Exenschweif dahin, Arme, Beine und Kopf verformten sich. Das hübsche Blau verfärbt sich und verwandelte sich zurück in das verhasste pinke Kleid. Mit trotzigem Blick streckte sie mir eine Hand entgegen, so dass ich gerade noch sehen konnte wie aus den ledrigen grauen Klauen helle Finger entstanden. Mir war speiübel. Ich schob ihre Hand bei Seite und stand aus eigener Kraft auf. Selbst jetzt war ich noch mehr als einen Kopf größer als sie. Es war ein gutes Gefühl. Kaum merklich reckte ich das Kinn nach oben.
„Zu viel Jurassicpark gesehen, oder was?“, fragte sie. Jetzt wo ich stand und der Zorn in meinen Adern loderte, war sie mir beinahe zu wieder. „Wer bist du?“ Zornig spuckte ich ihr die Worte entgegen.
„Ich bin ganz normal.“ Verzweifelt warf sie die Arme in die Luft. Ihre Stimme war brüchig. „Das hier ist ein Traum. Wir können alles sein was wir wollen.“
Aber wie gesagt, eben nur beinahe zuwider. Ihr Blick war verletzt. Das war ihre erste Nacht hier. Sie kannte die Regeln nicht. Und nur weil ich nicht verstand warum sie in der Lage war eben diese zu beugen, machte sie das noch nicht zum Feind. Sie hatte mich erschreckt. Ich hatte die Kontrolle verloren.
Aber solange ich nicht sicher wusste wo sie stand. Und ob sie kontrollieren konnte was sie tat, konnte ich sie das nicht wissen lassen.
„Nein können wir nicht“, sagte ich also, um eine möglichst neutrale Miene bemüht. „Wir müssen uns an die Vorgaben halten. Unauffällig. Schon vergessen? Sonst endet der Spaß hier früher, als dir lieb ist.“
Es war keine Drohung. Eher eine Warnung. Dass sie etwas konnte, das sonst niemand konnte musste sie nicht wissen. Wenn sie zu einer der tödlichen Gruppen gehörte wusste sie es sicherlich schon. Aber wenn nicht, würden eben diese Gruppen sie dafür jagen.
Wir waren über die Ebene gehuscht und am hinteren Ende wieder in den Wald hinein verschwunden. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, doch schließlich entdeckten wir eine Art Trampelpfad, der sich immer weiter ausdehnte. Oben in den Zweigen hingen tatsächlich Luftballons. Latex. Ein zugegeben markanter Geruch.
Jetzt standen wir wieder am Rande einer Lichtung. Sie war überschaubar und so makellos rund das es künstlich wirkte. Was allerdings noch unnatürlicher war, war die schiere Menschenmenge, die sich über die Wiese verteilt hatte. Es mussten hunderte sein. Am Rande der Lichtung war eine große hölzerne Plattform aufgebaut. Laute Musik brachte die Farne zum vibrieren. Eine Party im Urwald. In Schlips und feinen Schuhen. Ich hätte lachen können, so absurd war die Idee. Träume!, dachte ich. Vollkommen ohne Rand und Band. Haltlos an der Grenze zum Wahnsinn. Dem pinken Bonbon neben mir schien allerdings alles andere als zum Lachen zu mute. Sie wirkte verschreckt. Ich konnte dabei zusehen, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich. Blass und leise und ängstlich.
„Du siehst aus als hätte sich deine Begleitung gerade in einen Dino verwandelt“, sagte ich trocken. Sie zuckte ehrlich erschrocken zusammen, so als hätte sie nicht damit gerechnet, meine Stimme noch einmal zu hören. Betreten sah sie mich an und unter ihrer Blässe regte sich etwas. Ich kannte diesen Ausdruck. Schuld.
„Tut mir leid“, sagte sie und verzog ihr Gesicht zu einer schiefen Grimasse. Sie klang dabei so ehrlich, dass es beinahe weh tat. Ich konnte mich selbst in ihr sehen und trotzdem verstand ich mich nicht. Während wir stumm durch den Wald gestapft waren, war meine Wut langsam verflogen. Jetzt zuckte ich einfach die Schultern. Mit einer Hand auf ihrem Rücken schob ich uns näher an die Menge heran.
Nur zögernd setzte sie sich in Bewegung und ich spürte mit jedem Meter den wir gingen wie sie sich sträubte.
„Kein Partyfan?“
Ruckartig schüttelte sie den Kopf. Sie war noch immer blass und sie sprach weiterhin kein Wort. Kein gutes Zeichen. Sie hatte wieder diesen Gesichtsausdruck, der bei mir das Gefühl auslöste, dass irgendetwas anders war. Gleichzeitig fühlte sie sich neben mir so vertraut an. So, als wäre sie schon immer da gewesen. Wie konnte ich mich so fühlen? Hätte ich nicht eigentlich wütend sein sollen? Oder zumindest genervt? Wenigstens vorsichtig?
„Versuch einfach eine Person zu sein, die Spaß hat an so einer Feier. Wer weiß, vielleicht tanzt du heute noch auf dem Tisch da oben.“
Sie war stehen geblieben. Ohne sie an zu sehen wusste ich, dass sie mich entsetzt anstarrte. Ich schmunzelte. Warum fühlte sich das so ehrlich an? „Was ich sagen will ist, du weißt gar nicht wer du heute Nacht bist. Aber du lässt auch nicht zu das zu erfahren.“
Ich versuchte eine Reaktion aus ihr heraus zu kitzeln. Irgendetwas das mir einen Hinweis gab. Etwas dass mir verraten würde, was es mit ihr auf sich hatte. Doch sie blieb still. Sie blieb erstaunlich lange still. Ich fühlte ihren warmen Körper neben mir. Die unterdrückte flache Atmung. Nachdenklich glitt ihr Blick über die Menge. „Ich weiß. Im Prinzip könnte ich mich verhalten, wie ich will. Ganz ohne Konsequenzen. Schließlich weißt du nicht wer ich wirklich bin und ich weiß nicht was du siehst. Aber macht es dir gar nichts aus, dass alles was hier passiert gelogen ist? Machst du dir keine Gedanken darüber, wem du die dunklen Haare, die gerade Nase und die schönen blauen Augen gestohlen hast?“
Bitte was? Ich verschluckte mich an meinem eigenen Atem und versuchte den Husten zu unterdrücken der dabei aus mir heraus brach. Schockiert starrte ich sie an. Sie hatte gerade mich beschrieben. Mich. So wie ich tatsächlich aussah, nicht meine Rolle. Wie hoch war wohl die Wahrscheinlichkeit, dass meine Rolle und ich identisch aussahen?
Ihre Wangen liefen rot an und sie versuchte weg zu sehen. Sie hatte ein paar sehr nette Adjektive verwendet um mich zu beschreiben. Jetzt war es ihr unangenehm. Das war süß. Trotzdem konnte ich nicht anders als sie anzustarren, während ich versuchte wieder Luft zu bekommen. Mit fahrigen Händen zog sie große Gesten und ganz langsam fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Sie hatte es mir gerade verraten. Das was an ihr anders war.
„Und, also ich will jetzt wirklich nicht anmaßend sein, aber auf solchen Feiern verlieren die Leute doch vollkommen die Kontrolle. Sieh dich doch mal um! Ich meine ja nur. Eigentlich ist es mir egal wer da mit wem rummacht. Ehrlich. Aber da stimmt doch was nicht. Ich glaube ich will niemals so viel Alkohol trinken, dass ich nicht mehr erkenne wer mein Gegenüber ist... Oder wer ich selber bin.“
Plötzlich stockte sie, als sie erkannte was ich selbst gerade erst verstanden hatte. „Oh mein Gott, sie wissen es gar nicht.“
Mein Blick war während ihrem Redeschwall über die Menge geglitten. Alle hier wirkten wie verkleidet. Hier und dort waren Perücken zu sehen. Lange Haare wurden unter Mützen versteckt. Viele Kleidungsstücke passten schlecht oder überhaupt nicht. Sie alle sahen wie verkleidet aus. Nur dass das, außer uns beiden, hier niemand sehen konnte. Was sich die ganze Zeit so seltsam und so falsch angefühlt hatte war ihr Gesicht. Es war ihr Gesicht. Ihr echtes, nicht das einer Rolle. Ich konnte sie sehen, unter der Verkleidung. Das waren ihre eigenen Haare unter einer Perücke. Und es war kein Fehler der nur bei ihr auftrat weil sie so konstruiert war um mich zu verwirren. Es war ein Fehler in meinem System. Denn ich konnte schließlich plötzlich alle sehen. All die echten Personen, die ihre Rollen wie schlechte Verkleidungen übergeworfen hatten. Und ihr ging das genauso. Die Identitätsverschlüsselung war ausgefallen. Heute, denn gestern war es noch nicht so gewesen. Und nur bei ihr und mir. Ich starrte sie an. Wenn das ihre erste Nacht war, dann wusste sie nicht wie diese Träume normalerweise abliefen. Und wenn die Identitätsverschlüsselung für uns beide aufgehoben war, dann vielleicht noch andere Sachen. Weshalb sie sich in einen Dino verwandeln konnte ohne es selbst zu bemerken.
Allerdings, wenn auch ich alle in ihrer wahren Gestalt sehen konnte, konnte ich dann, genau wie sie, auch verändern wie ich aussah? Konnte ich die Grundregeln brechen? Ich holte einmal tief Luft. Ohne das Mädchen aus den Augen zu lassen, konzentrierte ich mich auf den Boden. Ich konnte nicht mein Aussehen verändern. Dafür waren zu viele Menschen auf der Lichtung. Wenn allerdings die Regeln aufgehoben waren, konnten wir alles tun. Ich stellte mir vor wie ich ganz leicht vom Boden abhob. Nur wenige Zentimeter. Ich wartete, hielt konzentriert den Atem an. Doch nichts passierte.
Ich konzentrierte mich auf meine Schuhe. Vielleicht konnte ich das schwarz aus dem Leder heraus schmelzen lassen, so dass es langsam dunkelbraun wurde. Ein Blick zu meinen Füßen genügte. Es passierte nichts. Langsam atmete ich aus. Mit lautem Rauschen im Kopf starrte ich das Mädchen an. Alles um sie herum wirkte plötzlich unscharf. Für sie allein hatten sich die Regeln geändert. In dem Moment erschien sie mir wie das Ass im Ärmel, eine gezinkte Karte. Sie konnte die Regeln umgehen, vermutlich alle. Aber niemand konnte sie finden, weil sie für alle anderen jede Nacht anders aussah.
Hinter ihrer Schulter bewegte sich etwas. Zwischen den Farnen und Büschen am Rand der Lichtung tauchten langsam Gestalten auf. Meter um Meter reihten sie sich nebeneinander auf, so dass keine Möglichkeit mehr bestand ungesehen von der Lichtung zu verschwinden.
„Scheiße.“
Ich schnappte ihre Hand und zog sie weg von den Menschen die gerade so gute Sicht auf uns hatten. Vielleicht war ihr Talent doch nicht unbemerkt geblieben. Denn die, die gerade die Lichtung umzingelten sahen nicht so aus als würden sie Spaß verstehen.
„Was ist los?“, fragte sie leise, während ich sie weiter zwischen den tanzenden Menschen hindurch schob. So würde uns niemand sehen. Wir wären nur zwei unter vielen. Unauffällig. Denn ich war mir sicher dass es kein Zufall war, dass diese ausgerechnet jetzt hier auftauchte. Mit feindseligen Blicken suchten sie die Masse ab. Eine so große Gruppe hatte ich in dieser Welt noch nie getroffen. Normalerweise bildeten sich hier nur selten unabhängige Gruppe. Schließlich konnte man sich nicht mehr erkennen. Das hier war absolut unnatürlich.
Ich schob ein Pärchen zur Seite und ganz plötzlich, mit einem Ruck, rutschte ihre Hand aus meinem Griff. Erschrocken drehte ich mich um, doch sie war weg. Panik regte sich erneut in meinem Bauch. Ich versuchte zurück zu gehen, doch die wogende Masse an Jugendlichen schob und drückte und riss an mir, sodass ich längst nicht mehr wusste, wo ich eigentlich war. Um mich herum waren tausende Gesichter. Köpfe, Farben, Eindrücke. Dann ging plötzlich die Musik aus. Das wogende Meer wurde ruhig. Alle schauten erwartungsvoll zur Plattform hinüber. Alle außer mir. Ich nutzte den Moment der Ruhe und sah über die vielen Köpfe hinweg. Ein Stück links von mir war eine Bewegung zu sehen und das Aufblitzen von grell pinkem Stoff. Wer hätte gedacht dass ich heute noch einmal froh über die Signalfarbe sein würde? Ich setzte mich in Bewegung und versuchte mich zu ihr durch zu graben. Im gleichen Moment allerdings begann die Menschenmenge sich wieder in Bewegung zu setzen. Alle strömten nach vorne auf die Plattform zu. Stimmen wurden lauter. Stritten und klagten über die fehlende Musik. Es war eng und laut und warm. Ich fühlte mich eingeklemmt.
Ein Stück vor mir sah ich das pinke Kleid aufflackern und verschwinden wie ein schlechtes Hologramm, oder eine Lampe der die Energie ausging. Ich erinnerte mich an das bleiche Gesicht, als sie die Menschenmasse gesehen hatte. Das Mädchen, das immer wieder stolperte und beinahe zertrampelt wurde, kämpfte sich gerade aus weiter. Ich schob mich weiter nach links wo ich schließlich aus der stickigen Enge herausfiel. Dann ging ich hinter den Menschen vorbei und schob mich wieder ein Stück zwischen die Rücken. Sie stolperte wieder, doch ich griff nach ihrem Arm. „Hab ich dich“, sagte ich und zog sie ohne Rücksicht auf die Umstehenden nach draußen. Sie war blass und erschrocken. Mit beiden Händen klammerte sie sich an meinem Arm fest. Die großen Augen fest zusammengekniffen versuchte sie zu Atem zu kommen. Die Figuren am Rande der Lichtung starrten uns an. Interessiert, überrascht. Wir waren die einzigen die nicht nach vorne strebten. Und die einzigen die noch immer aneinander festhielten.
„Was ist los?“, fragte sie wieder. Sie hatte die Augen wieder offen und sah mich ernst an. Dann sah sie plötzlich zur Seite, starrte die Menschen am Waldrand an. Einige von ihnen trugen Waffen. Wo auch immer sie die her hatten. Und auch an ihnen wirkte die Kleidung und das Auftreten inszeniert. Die meisten waren in braun grüne Overalls gekleidet. Manche trugen festlich Kleider, genau wie wir.
„Wir müssen dringend hier weg“, raunte ich ihr zu, und scannte weiter den Waldrand nach einer Schwachstelle ab.
„Das könnte schwierig werden.“
„Allerdings“, stimmte ich ihr zu. Ich mochte ihre platte direkte Art. Sie hatte recht. Mittlerweile standen sie ringsum. Und mindestens fünf waren mittlerweile auf uns aufmerksam geworden.
„Wenn ich mir die so ansehe, bin ich beinahe froh, dass wir vor dem Dinosaurier davon gelaufen sind und nicht auf einen Jeep gewartet haben.“
„Wer sind die Leute?“, fragte sie. Während ich wieder sauer wurde, weil ich zu spät festgestellt hatte, dass ich den heiligen Gral gefunden hatte und diese Leute gerade dabei waren mir Zeit zu stehlen um ihr das zu erklären.
„Ich weiß nicht genau.“ Ich schluckte. Ich konnte schließlich auch nur raten. „Es ist eine der Gruppen.. Von denen du hoffentlich gehört hast. Ich denke sie sind hier um..“ Ich brach ab. Ich konnte schlecht sagen ‚hey, ich denke sie sind wegen dir hier. Weil du dich in einen Dino verwandeln kannst.‘ Das würde sie mir nicht glauben. Und vielleicht zu diesem Zeitpunkt auch einfach noch nicht verstehen. Wie konnte ich es also höflich umschreiben? Ich schluckte wieder. „Um Mitglieder anzuwerben.“
Es klang mehr wie eine Frage, als eine Antwort. Doch sie akzeptierte es. Ich spürte wie ihre Finger an meinem Arm leicht zitterten. Mein Groll gegen die Gruppe und die ganze Traumweltsache stieg.
„Woran erkennst du sie“, flüsterte sie leise. „Immerhin sehen sie aus wie jeder andere hier auch.“
„Es ist eine große Gruppe. So etwas trifft man in dieser Welt nicht. Ich weiß nicht wie sie sich erkennen. Aber sobald du einer Gruppe aus bunt zusammen gewürfelten Personen begegnest. Lauf weg! Wenn es inhaltlich Sinn macht, dass sie zusammen sind ist es okay. Aber das hier..“
Ich spürte, dass sie mich ansah. Doch ich ließ weiter meinen Blick schweifen. Wir brauchten dringend einen Ausweg.
„Du sagst, sie suchen neue Mitglieder. Warum laufen wir weg? Wir können doch auch einfach nein sagen.“
Dieses Mal musste ich sie ansehen. Sie sah ernst und erschrocken aus. Viel zu weich für die Aufgabe die ihr gerade aufgedrückt wurde. Für die Verantwortung, von der sie noch gar nichts ahnte.
„Dann hast du zum letzten Mal nein gesagt.“
Ich musste weg sehen. Es war die Wahrheit. Die dort am Waldrand brauchten sie auf ihrer Seite, oder sie musste verschwinden und so wie sie zu uns herüber sahen, war ihnen zweiteres eindeutig lieber. Ein paar der Figuren lösten sich jetzt aus der Reihe und kamen geradewegs auf uns zu.
„Wir sind zu auffällig“, sagte sie.
„Was..?“ Ich drehte den Kopf so dass ich sehen konnte was sie meinte. Auch am anderen Ende der Reihe hatten sich drei Personen von ihren Positionen gelöst und kamen nun auf uns zu. Ich hätte gerne geflucht, aber ich hatte das Gefühl ich hatte mein Kontingent für heute aufgebraucht. Obwohl ich nicht wusste was sie tun würden wenn sie bei uns ankamen, sie konnten uns schließlich schlecht auf freiem Feld hinrichten ohne das in der Menge hinter uns eine Massenpanik ausbrach, aber ich wollte es trotzdem nicht wissen.
Ich zuckte erschrocken zusammen als sie plötzlich ihre Hände von meinem Arm löste. Als hätte ich Angst dass sie wieder verschwinden könnte sah ich ruckartig zu ihr hinüber. Sie hatte sich aufrecht neben mich gestellt. Die Schultern gestrafft und kampfbereit. Ich zuckte wieder als sie ihre Finger in meine Hand schob und sie mit meinen Fingern verschränkte. Sie sah mich an. Ein vorsichtiges Lächeln lag auf ihren Lippen. „Unauffällig. Ich weiß. Aber manchmal ist es auch schon zu spät für solche Vorsichtsmaßnahmen.“
„Was hast du vor!“
„Verschwinden.“
Sie kniff fest die Augen zusammen und drückte meine Hand. Mit leicht geöffnetem Mund starrte ich sie an. Ich sah wie ihre Füße verblassten. Die Beine, der Rock. Daneben verblassten meine eigenen. Ich hörte schnelle Schritte. Alarmiert sah ich zur Seite. Die Wächter von links hatten begonnen zu rennen. Und waren dann perplex stehen geblieben. Wieder sah ich an mir herunter. Ich schnappte nach Luft. Da wo gerade noch meine Füße den Boden berührt hatten, war jetzt nur noch grünes Gras zu sehen. Keine Abdrücke. Kein Schatten. Ich sah das Mädchen an, das jetzt wieder die Augen öffnete und verwirrt gegen die Sonne blinzelte. „Hat es geklappt? Bitte sag mir dass du was sehen kannst.“
Sie flüsterte. Trotzdem kamen ihre Worte laut und verständlich bei mir an. Als wären wir in unserer eigenen Blase. Unbewegt und ohne zu blinzeln starrte sie nach vorne.
„Sie sind stehen geblieben und sehen sich um. Ich denke wir sind gerade vor ihren Augen unsichtbar geworden.“
Meine Stimme klang leicht hysterisch.
Immerhin wusste ich jetzt dass es mich nicht störte dass sie fröhlich vor sich hin zaubern konnte. Ich war nur nicht bereit die Kontrolle zu verlieren. Dieses Mal, immerhin, hatte sie mich vorgewarnt.
„Soll ich es rückgängig machen?“, fragte sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
„Um Gottes Willen, bloß nicht!“
Bei der Vorstellung jetzt wieder aus dem Nichts aufzutauchen begann mein Herz rasend schnell zu klopfen. Die beiden Delegationen von rechts und links hatten sich mittlerweile auch wieder in Bewegung gesetzt und pirschten sich leise an uns heran.
„Was ist mit dir?“, fragte ich, da sie noch immer wie versteinert in den Himmel starrte.
„Ich kann nichts sehen.“
Ihre Stimme zitterte leicht und ihre linke Hand, die ich fest umklammert hielt, zuckte kurz. Die Kleingruppen neben uns hatten jetzt begonnen die hinteren Reihen zu durchsuchen. Sie drehten die Leute um, stießen sie aus dem Weg und rückten ganz langsam immer näher zu uns. Ob sie nun sehen konnte oder nicht. Hier stehen zu bleiben war keine Möglichkeit mehr.
„Zeit zum Abflug“, raunte ich ihr zu und warf sie mir kurzerhand über die Schulter. Sie weigerte sich meine Hand loszulassen. Vermutlich aus Angst, ich könnte dadurch wieder sichtbar werden. Was ein spontanes Kuddelmuddel auslöste. Aber es war egal. Sobald ich sie sicher hatte, stürmte ich los. Ich hielt zügig auf eine der Lücken zu, die sich mittlerweile durch die Delegation in der Reihe aus Wächter ergeben hatte. Es war nicht weit. Erst wenige Meter von den Personen entfernt verlangsamte ich meine Schritte um vorsichtig und möglichst geräuschlos zwischen ihnen hindurch zu huschen. Ich drückte uns durch das Gestrüpp ohne die Pflanzen zur Seite zu schieben und ging dann wieder schneller querfeldein.
„Ich weiß nicht wie lange ich das noch aufrecht erhalten kann“, sagte sie wobei die letzten Worte bereits undeutlich und leise waren. Nur ein paar Sekunden später erschlaffte ihr Körper. Ich spürte das Kribbeln in meinen Füßen. Hinter einer Reihe dichter Bäume hielt ich an. Meine Füße waren bereits wieder sichtbar. Die Farbe breitete sich langsam das Bein hinauf aus. Vorsichtig ließ ich sie von meiner Schulter gleiten. Ihre Augen waren geschlossen der Atem ging flach. Sie war bewusstlos. Kurz überlegte ich, ob ich versuchen sollte sie aufzuwecken. Doch wir waren noch zu nah an der Lichtung. Ich legte sie erneut über meine Schulter und ging vorsichtig weiter.
Schwungvoll setzte ich mich in meinem Bett auf. Der Wecker schrie mich an. In meinem Kopf drehte sich alles, und das einzige was ich denken konnte war: noch nicht! Aber es war zu spät. Ich war aufgewacht, bevor sie wieder zu sich kam. Energisch schlug ich auf den Wecker.
Ich hatte einen Felsvorsprung gefunden und darunter eine kleine Höhle. Dort lag sie jetzt. Alleine. Außer jemand hatte sie gefunden. Nachdem sie Bewusstlos geworden war, war ich tatsächlich Stück für Stück wieder aufgetaucht. Nur bei ihr hatte es länger gedauert. Kleine Funken wie Pixel waren immer wieder um sie herum aufgeflackert. Irgendwie so, als hätte die Energie nicht mehr ausgereicht, um sie wieder zusammen zu setzen. Ich seufzte und vergrub das Gesicht in den Händen. Wie sollte ich sie denn jetzt wieder finden? Ich musste ihr doch noch so viel sagen. Das mit dem Heiligen Gral zum Beispiel..
In dem Moment piepste mein Handy. Ich nahm die Hände aus dem Gesicht und trat die Decke zur Seite um mich an die Bettkante zu setzen.
Das Gerät zeigte eine neue Nachricht.
Ian. Vermutlich war er auch gerade aufgewacht. Ich war gespannt was er zu meiner Nacht zu sagen hatte. Oder wie er sie erlebt hatte.
Ich klickte die Nachricht auf.
Ich werde in meinem ganzen
Leben nie wieder vor vier Uhr
Schlafen gehen!
Wieso? Was ist passiert?
Ich war der Träumer..
Was!?
Ich dachte wirklich ich sterbe.
Und dann plötzlich hat sich
irgendwas verändert. Hat sich
angefühlt als würde der Boden
kippen. Wie bei einer Waage
die einseitig beladen wird. Da
wo der Boden nach unten hing
hat alles gegrisselt und
geflimmert. Und als es sich
dann endlich irgendwie sortiert
hatte stand da ein Mädchen mit
blonden Haaren in einem
krassen pinken Kleid.
Und dann?
Weiß nicht. Als Träumer träumt
man einfach. Man hat den
Überblick über jede Ecke und
jeden Winkel. Ich konnte sehen,
dass ganz plötzlich alle in ihre
Richtung gerannt sind. Von mir
weg. Sogar der Typ der schon
in meinem Zimmer war..
WAS!?
Jop.
Ich dachte wirklich ich sterbe.
Mein Herz klopfte wild. Ich musste sie auf jeden Fall wieder finden.
Cover: Anne Klisch
Tag der Veröffentlichung: 06.06.2022
Alle Rechte vorbehalten