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Über dieses Buch

Diese Kurzgeschichte stammt aus der Feder von Peter Futterschneider und wurde im Rahmen seines Schreibprojektes GROLLUNDSCHMOLL® geschaffen. Inzwischen gibt es hier eine Menge Theaterstücke und Bücher von ihm zu entdecken:

 

www.grollundschmoll.de

 

Die Geschichte von Tobias Abenteuer in einer Reihenhaussiedlung am Rande des Waldes kann man auch hören. Sie wird von Alex Bolte vorgelesen und ist auf youtube zu finden. Alex ist Hörbuchsprecher und hat auch die Novelle "Schwere Zeiten - Bekenntnisse einer Waage" von Peter Futterschneider gelesen. 

Mondscheinsonate

Andreas und Melanie standen am Auto und warteten auf ihren Vermieter Herrn Hansen, der bald ihr Ex-Vermieter sein würde. Tobias saß bereits im Auto und wartete ungeduldig. Noch bis eine Woche vor dem Umzug hatte er jeden Tag ein riesengroßes Theater gemacht, weil er mit seinen Eltern aufs Dorf ziehen musste. Er wollte nicht weg aus seiner Stadt, nicht weg von seinen Freunden und schon gar nicht wollte er auf ein Dorf ziehen. Eigentlich war es kein Dorf, sondern eine Kleinstadt, doch im Vergleich zu Osnabrück kam es ihm wie ein Dorf vor. Außerdem hatte es sich in Tobias Gedächtnis eingebrannt, dass seine Mutter mit der Größe des neuen Wohnortes haderte. Er musste sich mehr als einmal anhören, dass sie nicht verstehen konnte, warum sie ausgerechnet in dieses Kaff ziehen mussten. Anfangs redete sie noch von einem Dorf, später fiel der Ausdruck Kaff. Kinder merken sich so etwas. Seit aber Tobias sein neues, viel größeres Zimmer zum ersten Mal gesehen hatte, war es ihm ganz egal, dass seine neue Heimat viel kleiner als Osnabrück war. Er war wie ausgewechselt und konnte es kaum noch abwarten, das neue Zimmer zu beziehen. Nachdem sie Herrn Hansen die Schlüssel in die Hand gedrückt hatten, fuhren sie los zu ihrem neuen Reihenhaus.

 

Andreas hatte extra Urlaub genommen, damit sie die ersten zwei Wochen gemeinsam im neuen Haus verbringen konnten. Diese beiden Wochen vergingen wie im Flug. Es war Sonntagabend, der Mond war schon zu sehen. Andreas saß auf der Terrasse bei einem Glas Rotwein, während Melanie noch einmal kurz nach Tobias schaute. Nachdem sie ihren friedlich schlafenden Sohn eine Weile angesehen hatte, schlich sie die Treppe herunter und setzte sich zu ihrem Mann. Dann lauschten sie entspannt der Mondscheinsonate von Ludwig van Beethoven. Schon bald wurde die Mondscheinsonate ihr ständiger Begleiter, denn Herr Bastian im Haus nebenan war Klavierlehrer im Ruhestand und spielte jeden Abend auf seinem Klavier im Wohnzimmer, in dem er früher seinen Schülern Unterricht gegeben hatte. Das Klavierspiel des Nachbarn war etwas Besonderes und machte einen Teil des Reizes dieser neuen Umgebung aus. Ihr Haus lag direkt am Waldrand, so hatten sie auf der einen Seite den Wald und auf der anderen Seite einen netten älteren Herrn, der recht ruhig und damit ein angenehmer Nachbar war und auch noch mit virtuosem Klavierspiel unterhielt.

 Für Tobias war das alles ein großes Abenteuer. Er war ein neugieriger und aufgeweckter Junge, vor allem aber ein echtes Naturkind, das sich für alles interessierte, was krabbelte oder sich in sonst irgendeiner Art und Weise fortbewegte. Ein Haus am Waldrand, das war ein Volltreffer für ihn. Er streunte im Wald herum, mehr als es seiner Mutter lieb war. Andreas hingegen freute sich darüber. Was sollte denn schon passieren?

„Man muss dem Jungen etwas zutrauen, außerdem ist es doch besser, wenn er draußen herum tobt anstatt auf dem Nintendo zu spielen“, tat er seine Meinung kund. Melanie fand ja, dass ihr Mann Recht hatte, trotzdem machte sie sich Sorgen um ihren Sohn. Außerdem schleppte Tobias alles Mögliche aus dem Wald an und hortete es in seinem Zimmer. Das machte ihr zunehmend zu schaffen, denn im Hinblick auf Insekten und überhaupt alle Tiere, die kleiner als eine Katze waren, war sie im Gegensatz zu ihrem Sohn wahrlich kein Naturkind. Daher musste Tobias alles, was noch lebte und sich nicht in einem garantiert fest verschlossenen und ausbruchsicheren Marmeladenglas aufbewahren ließ, aus dem Haus bringen. Ursprünglich hatte sie noch zugelassen, dass Tobias die Marmeladengläser mit Frischhaltefolie zudeckte, in die er kleine Löcher machte, damit seine Haustiere auch genug Luft bekamen. Der Umstieg auf die richtigen schraubbaren Deckel sowie Insekten, die auch mit wenig Sauerstoff über die Runden kommen konnten, wurde von Melanie eines Tages rigoros angeordnet, als Tobias heulend mit einem Glas ankam und sein Leid klagte, weil seine Spinne Babys bekommen habe alle verschwunden seien. Spinni war eine ziemlich große, schwarze Hausspinne, die er samt Eierkokon in ein Glas verfrachtet hatte. Als die kleinen Spinnen schlüpften, passten sie hervorragend durch die Löcher in der Frischhaltefolie und suchten zum Leidwesen von Tobias Mutter nicht nur in seinem Zimmer Unterschlupf. Zusätzlich zur Regelung mit den schraubbaren Deckeln musste Tobias beim Auswildern seiner Spinnen, Käfer und Schnaken im Garten einen Mindestabstand zur Terrasse einhalten.

Mit ihrem Glas Rotwein in der Hand kuschelte sich Melanie entspannt an ihren Mann und blickte aus sicherer Entfernung auf die Demarkationslinie im Garten. Leider nutzten ihre Anweisungen an Tobias in keinster Weise gegen die Mäuse, die sich vereinzelt dem Haus näherten. Andreas amüsierte sich über ihre panische Angst vor Mäusen. Seinem Hinweis, dass nebenan im Wald nun einmal jede Menge Mäuse leben würden, konnte sie nichts abgewinnen. Ihr Mann konnte erzählen, was er wollte, bei einer Maus geriet sie in Panik. Zum Glück lenkte sie die Klaviermusik ganz gut von den Gedanken an Mäuse ab.

 

Herr Bastian war ein echter Glücksgriff als Nachbar, nicht nur wegen der Mondscheinsonate. Tobias freundete sich schnell mit ihm an. Wenn ihr Sohn nicht im Wald war, konnte Melanie ihn mit ziemlicher Sicherheit bei Herrn Bastian finden. Der alte Herr schaffte es sogar, in Tobias die Leidenschaft für Kreuzworträtsel zu wecken. Tobias lernte schnell und probierte das neu erworbene Wissen gern bei seinen Eltern aus. Er freute sich diebisch, wenn er etwas wusste, was seine Eltern nicht wussten. Für die Schule war es auf jeden Fall nützlich. Sie wohnten inzwischen ein Vierteljahr in dem Haus, als Herr Bastian Tobias zum Geburtstag besuchte. Neben seinem Glückwunsch überraschte er ihn mit einem kleinen Geschenk. Mit leuchtenden Augen packte Tobias aus und war ganz aus dem Häuschen, als er erkannte, dass es eine hochwertige Lupe war, ein wirklich passendes Geschenk. Tobias tollte nach seinem Geburtstag noch mehr draußen herum und untersuchte jedes Insekt mit einer nie da gewesenen Ausdauer. Die Lupe bekam einen Ehrenplatz in seinem Zimmer auf dem Nachtschrank und wurde jeden Abend von ihm geputzt, um für den Einsatz am nächsten Tag bereit zu sein.

 

Bei all der Freude über die vielen neuen Eindrücke nach dem Umzug hatten Andreas und Melanie überhaupt nicht mehr an die Umstände des Hauskaufs gedacht. Das Haus war ein Schnäppchen, eine äußerst günstige Gelegenheit, ein Trennungsobjekt. Die Vorbesitzer hatten sie nie persönlich kennengelernt. Zur Beurkundung kam nur ein bevollmächtigter Rechtsanwalt, der sich recht wortkarg gab. Eigentlich wussten sie überhaupt nichts über die Vorbesitzer. Herrn Bastian wollten sie nicht ausfragen, sie hatten Angst, bei dem freundlichen alten Herrn einen schlechten Eindruck zu machen. Nach und nach setzen sich die Mosaiksteinchen dann aber doch aus Informationen zusammen, die sie bei den sporadischen Begegnungen mit den Nachbarn in der Reihenhaussiedlung sammelten. Die Vorbesitzer hatten keine Kinder und er soll gewalttätig gewesen sein. Seine Frau soll dem Alkohol sehr zugeneigt gewesen sein, so sprach man. Die Umstände des Auszugs waren mysteriös, zuerst war sie einige Tage verschwunden, dann war auch er nicht mehr zu sehen. Später wurde die Wohnungseinrichtung von einer ominösen Umzugsfirma abgeholt. Herr Bungert aus dem Haus schräg gegenüber meinte einmal makaber: „Die Alte hat sich tot gesoffen und er hat sie im Wald vergraben, ganz sicher.“ Dann hat er sich halb tot gelacht. Andreas hat ein wenig mitgelächelt. Melanie dagegen fand es überhaupt nicht witzig.

 

Seit diesem blöden Spruch von Herrn Bungert war ihr noch weniger wohl, wenn Tobias allein im Wald war. Trotzdem ließ sie ihn gewähren. Eines Tages untersuchte Tobias einen Pilz am Boden, der von kleinen Käfern besucht wurde. Was für interessante Käfer! Diese schienen zwischen einer bestimmten Stelle im sandigen Boden und dem Pilz hin- und herzulaufen. Das weckte seine Neugierde. Er legte die Lupe zur Seite und begann zu graben. Vorsichtig schob und kratzte er die sandige Erde zur Seite, er wollte nicht versehentlich einen Regenwurm verletzen. Bald stieß er auf ein Geflecht von Wurzeln. Er grub weiter, bis ihn eine besondere Wurzel in ihren Bann zog. Sie war nicht dunkelbraun wie die anderen Wurzeln, sie war blassgrau und hatte eine ganz glatte Rinde. Tobias zog fest daran und hatte plötzlich einen Knochen in der Hand. Das mussten noch mehr Knochen sein. Für ihn war das ein Schatz, den er unbedingt mit nach Hause nehmen musste. In seinem Zimmer fand er ein passendes Versteck für diesen Schatz. In den nächsten Tagen barg er weitere Stücke seines Schatzes. Bald fiel seiner Mutter auf, dass er förmlich in sein Zimmer schlich, wenn er aus dem Wald kam, deshalb wurde sie misstrauisch. Im Gegensatz zu seiner Frau hatte sich Andreas darüber keine Gedanken gemacht.

„Lass den Jungen doch seine kleinen Geheimnisse haben, er braucht das“, versuchte er Melanies Bedenken zu zerstreuen. Als Tobias wieder einmal an ihr vorbei in sein Zimmer schlich, ging sie hinterher und sah durch die halb geöffnete Zimmertür, wie er einen Schuhkarton unter dem Bett hervorzog und etwas hineinlegte. Am nächsten Tag wollte sie sich Klarheit über den Inhalt verschaffen. Kaum war Tobias im Wald verschwunden, holte sie den Schuhkarton hervor, hob ihn hoch und öffnete ihn vorsichtig – um ihn mit einem spitzen Aufschrei angewidert fallen zu lassen. Die vielen Knochen, die auf den Teppich fielen, waren zum Teil noch mit Fellresten versehen. Nachdem sie sich von ihrem Schreck erholt hatte, überwog dann doch der Stolz auf ihren Sohn, den kleinen Entdecker. Offensichtlich hatte er bei seinen Waldabenteuern Kaninchenknochen ausgegraben und diese wie einen Schatz gehortet. Mit spitzen Fingern räumte sie die Knochen wieder in den Karton und schob ihn zurück unter das Bett. Tobias hörte irgendwann auf, ins Zimmer zu schleichen. Melanie schloss daraus, dass seine Sammlung nun komplett war.

 

Andreas renovierte nach und nach das Haus. Nach ein paar Wochen machte er sich an das Dachgeschoss. Es war ausbaufähig und durch den hohen Kniestock bot es eine Menge Platz für ein weiteres Zimmer. Sein Haus und das von Herrn Bastian waren die einzigen Häuser in der Reihe, in denen das Dachgeschoss noch nicht ausgebaut war. Herr Bastian war nicht mehr gut zu Fuß und brauchte einen Gehstock. Andreas konnte sich gut vorstellen, wie anstrengend es für seinen war, Bad und Schlafzimmer im 1. OG zu erreichen. Das Dachgeschoss hatte der alte Mann sicher schon monatelang nicht mehr gesehen. Ein Ausbau würde sich nicht lohnen, denn er war kinderlos und seine Frau vor rund einem Jahr ins Pflegeheim gekommen. Dabei dachten sie zuerst, Herr Bastian wäre Witwer. Deshalb trauten sie sich nicht, Herrn Bastian auf seine Frau anzusprechen. Von Herrn Bungert erfuhren sie schließlich das mit dem Pflegeheim. Er konnte anscheinend nichts einfach nur so schildern wie es war, immer musste er alles ausschmücken, ganz offensichtlich basierend auf einem ausgesprochenem Minderwertigkeitskomplex. Wenn er selbst schon nichts her machte, wollte er wenigstens mit seinen Geschichten glänzen.

 

„Die Frau vom alten Bastian ist über Nacht ins Pflegeheim gekommen. Von uns Nachbarn hat es keiner gesehen, dabei hätten sich einige sicher gern von ihr verabschiedet. Vielleicht ist sie ja auch gar nicht im Heim, sondern sie ist ganz von uns gegangen? Wer weiß, was der Alte vor uns geheim hält? Naja, der hat ja eh nur sein Klavier im Kopf. Wie halten Sie das Geklimper überhaupt aus?“, lästerte er.

 

Andreas stieg die Treppe hinauf ins Dachgeschoss, in dem er bislang nur ab und zu die Dachfenster zum Lüften geöffnet hatte. Oben auf dem Treppenabsatz zur Straßenseite hin befand sich ein Kriechboden, allenfalls als behelfsmäßiger Lagerraum zu nutzen. Den Kriechboden konnte man durch eine Luke erreichen. Andreas schloss die Luke auf, öffnete sie und wich vor dem moderigen Geruch zurück. Diese Tür schien länger nicht geöffnet worden zu sein. Er blickte hinein, sah nicht viel und lief nach unten, um eine Taschenlampe zu holen. Mit der Lampe bewaffnet wagte er sich auf Knien ein Stück vor. Spinnweben klebten an seinen Haaren, der Mäusekot drückte sich in seinen Handballen, mit dem er sich aufstützte. Der Kriechboden war auf den ersten Blick leer. Auf den zweiten Blick fand er Unerwartetes. Seinen Fund barg er nach und nach auf dem Treppenabsatz. Staunend blickte er auf den Berg leerer Wodka-Flaschen. Was würde er wohl auf dem Kriechboden auf der anderen Seite finden?

„Melanie, bring mir bitte mal die Klappbox hoch“, rief er nach unten. Auf halben Weg nach oben fragte sie ihn sicherheitshalber, ob die Luft rein sei.

„Sind da auch keine Mäuse?“

„Mäuse nicht, aber dafür jede Menge Wodka-Flaschen. Falls du dich vor Wodka-Flaschen fürchtest, bleib lieber, wo du bist.“

„Du meine Güte, dann muss die Frau wirklich Alkoholikerin gewesen sein. Ein Fünkchen Wahrheit war also doch in dem Gequatsche vom Bungert“, antwortete sie.

„Das reicht mir für heute“, beschloss Thomas. Sie ließen den Tag auf der Terrasse ausklingen, begleitet von der Mondscheinsonate, wie so oft.

 

Die Klänge des Klaviers passten so gar nicht zu dem Ereignis, das sich an diesem Abend zum ersten Mal in der Reihenhaussiedlung jährte. Damals war das gemeinsame Abendbrot gerade beendet. Sie saßen sich schweigend gegenüber. Karl blickte seine Frau stumm an, sie starrte an ihm vorbei ins Leere. Nach einigen Minuten vollzog sich wie jeden Abend dieselbe Prozedur. Ohne ihm in die Augen schauen zu können, stand sie auf.

„Ich bin dann mal oben“, war ihr Kommentar. Seit Jahren hasste er sie dafür, seit Jahren wollte er sie aufhalten, wollte er ihr widersprechen. Doch auch an jenem Abend drehte sie ihm den Rücken zu und ging langsam die Treppe hoch. Sie konnte seinen bohrenden Blick förmlich spüren, sie wusste, dass er sie dafür hasste, aber sie konnte nicht anders - nein, sie wollte es nicht anders. Mit Rücksicht auf ihn hielt sie sich in den ersten Jahren zurück. Irgendwann war es ihr aber völlig egal geworden. So nahm sie Stufe um Stufe und er würde sie nicht daran hindern. Sie würde sich das nehmen, was sie brauchte, was ihr Entspannung bringen würde. Den bohrenden Blick spürte sie nicht mehr, sie war für nichts anderes mehr empfänglich. Das leichte Vibrieren der Treppe spürte sie nicht, als er ihr folgte. Er stieg ihr immer schneller hinterher. Von Stufe zu Stufe stieg der Hass, der sich über diese lange Zeit angestaut hatte, von Stufe zu Stufe durchlebte er wieder und wieder die immer gleiche Szene am Abendbrottisch und das, was danach folgte und ihn so anwiderte. Es würde das letzte Mal sein, dafür würde er sorgen. Er kam näher und näher, sie hätte eigentlich seinen Atem spüren müssen, doch all ihr Handeln war nur noch einem Ziel unterworfen. Als sie irritiert einen Luftzug spürte und sich umdrehte, war es zu spät! Der schwere Schürhaken, den er vom Kamin mit nach oben genommen hatte, sauste auf ihren Schädel herab und streckte sie nieder. Sie lag ein oder zwei Sekunden still da, dann stöhnte sie kurz auf und krampfte die Finger zusammen. Ein zweites Mal traf der Schürhaken ihren Schädel, wirbelte ihren Kopf herum. Dieser Schlag musste den Tod herbeigeführt haben.

„Endlich ist es vorbei“, stellte er zufrieden fest. Er ließ den Schürhaken fallen, sackte neben der Leiche zusammen und starrte sie über Stunden an. Die Leiche musste verschwinden, doch wohin? Im nächsten Augenblick zerrte er sie mühsam durch die Luke des Kriechbodens. Ihr Kopf war seltsam anmutend verdreht, ihre Augen schienen verwundert zu blicken. Um sie wurde es zum zweiten Mal dunkel an diesem Abend, als er die Luke schloss. Während sich also dieses Ereignis zum ersten Mal jährte, wurde Karl schon längst regelmäßig von dieser Erinnerung heimgesucht. Das Geschehene spielte sich wieder und wieder in seinen Gedanken ab und quälte ihn.

 

Andreas wollte eigentlich im Dachgeschoss weiter arbeiten und sich den anderen Kriechboden vornehmen. Sein Auto machte ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung, es musste für mehrere Tage in die Werkstatt. Der Dachboden musste warten, da Andreas in den Tagen danach auf Bus und Bahn angewiesen war und viel später als sonst von der Arbeit nach Hause kam. Tobias fand das gut, so konnte er in Ruhe ein neues Reich erobern. Er hatte seinem Vater dabei geholfen, die vielen Wodka-Flaschen zum Altglascontainer zu bringen.

„Dann wollen wir mal den Schatz wegbringen, den ich oben gefunden habe“, sagte sein Vater zu ihm. Er dachte sich nichts dabei, doch bei seinem Sohn weckte er damit Lust auf neue Abenteuer. Tobias spielte schon den zweiten Nachmittag im Dachgeschoss mit seinen Autos. Er fand, dass sie ein wenig kurz gekommen waren in den letzten Wochen, als er so viel im Wald gespielt hatte. Mit Bauklötzen errichtete er eine kleine Garage. Leider fiel sie immer wieder zusammen, eine größere Garage musste her, besser noch ein Tunnel oder eine Höhle. Die Luke! Die Luke wäre genau richtig, das gäbe eine tolle Höhle. Er parkte ein Auto nach dem anderen an der Wand links und rechts neben der Luke. Dabei hätte er fast einen Käfer überfahren. Da waren noch mehr Käfer, die ihm vorher überhaupt nicht aufgefallen waren. Sie krabbelten vor der Luke und in dem Spalt zwischen Zarge und Tür. Das war ein Fall für den Forscher Tobias, der sofort seine Lupe von ihrem Ehrenplatz holte und akribisch jeden Käfer untersuchte. Diese fühlten sich von ihm gestört und verschwanden nach und nach hinter der Luke. Er legte die Lupe zur Seite und wackelte an der Luke. Im Schloss fehlte der Schlüssel. Kein Problem für den Forscher, der fix den Schlüssel von der gegenüberliegenden Luke nahm und feststellte, dass dieser Schlüssel auch hier passte. Langsam öffnete er die Luke und blickte in das Reich der Käfer. Es war ein Reich mit einem eigenartigen, süßlichen Geruch, den er noch nie vorher gerochen hatte. Etwas weiter hinten lag etwas, aber er konnte es nicht genau erkennen. Schnell holte er die Taschenlampe. Der Schein der Lampe tastete den Boden ab bis zu einer Erhöhung. So etwas hatte Tobias noch nie gesehen! Zwei Augen mit trüben Linsen blickten so, als wenn sie von irgendetwas völlig Unerwartetem überrascht worden waren. Der Kopf war seltsam verdreht. Der Forscher piekste mit seinem Zeigefinger in den Körper, es fühlte sich komisch an. Fast hätte er dabei einen Käfer erdrückt, der auf dem unbekannten Fund krabbelte. Tobias hatte einen neuen Schatz gefunden! Es sollte für ein paar Tage lang sein Geheimnis bleiben. Er schloss die Luke, steckte den Schlüssel zurück auf die andere Seite, sammelte die Autos und Klötze ein und ging nach unten.

 

Abends löcherte er seine Mutter Löcher mit Fragen.

„Mama, wie lange muss man schlafen, bis man tot ist?“

„Wenn man tot ist, ist man tot, wenn man schläft, dann schläft man“, war ihre Antwort.

„Hast du schon mal mit offenen Augen geschlafen?“

„Wenn man schläft, sind die Augen zu, mein Kleiner“, erklärte sie geduldig. So ging das am nächsten Abend weiter. Seine Eltern waren erstaunt über sein Interesse an diesem Thema. Am Tag darauf zupfte Tobias an Melanies Hose.

„Du Mama, was ist eigentlich eine Leiche?“

„Meine Güte, Tobias, was fragst du denn für Sachen?“

„Wenn ich dir ein Geheimnis verrate, schimpfst du dann mit mir?“

„Natürlich nicht. Du kannst mir alles erzählen.“

„Komm, ich zeige dir was.“ Er lief die Treppe hinauf. „Du musst mit nach oben kommen, Mama.“ Oben öffnete er die Luke und gab ihr die Taschenlampe.

„Guck mal, ich habe einen Schatz gefunden.“ Melanie machte die Lampe an und hatte dabei ein ganz schlechtes Gefühl, das durch den widerlichen Geruch und einer Menge Käfer noch bestätigt wurde. Der Lampenschein nahm den gleichen Weg wie ein paar Tage zuvor bei Tobias. Auf einmal starrten sie zwei Augen an, Melanie schrie entsetzt auf, sie ließ die Taschenlampe fallen.

„Um Himmels Willen! Tobias! Komm sofort mit nach unten!“ Ihr wurde schwindelig, die Wände schienen sich zu bewegen. Sie zerrte ihn hinter sich her die Treppe hinunter.

„Mama, das tut weh, aua“, jammerte Tobias.

„Du bleibst hier unten!“ Panisch nahm sie das Telefon und rief ihren Mann an.

„Andreas? Du musst sofort herkommen! Es ist fürchterlich! Beeil dich bitte!“ Tobias war völlig verunsichert.

„Tobias, geh rüber zu Herrn Bastian und hilf ihm beim Kreuzworträtsel“, befahl sie ihrem Sohn. Tobias verließ das Haus, Melanie fing an zu heulen, schon fast hysterisch. Sie kauerte auf der untersten Treppenstufe an der Wand und sehnte ihren Mann herbei. Es dauerte fast eine Stunde, bis die Haustür ins Schloss fiel.

„Melanie, was ist den passiert? Du hast ja fürchterlich geklungen!“

Sie fiel ihm um den Hals „Warum hast du so lange gebraucht?“

„Schon vergessen? Unser Auto ist in der Werkstatt, ich musste mir erst ein Auto vom Kollegen besorgen. Erzähl schon, was ist passiert?“ Melanie zeigte nach oben.

„Geh hoch und schau selbst, ganz oben.“ Andreas ging mit mulmigem Gefühl nach oben. Die offene Luke sah er sofort. Auf dem Boden lag noch die Taschenlampe. Er nahm die Lampe, leuchtete in das dunkle Verlies, schüttelte den Kopf und brüllte dann wütend los.

„Mensch Melanie! Dafür reißt du mich aus der Arbeit? Wie soll ich das meinem Chef erklären?“ Sie stand achselzuckend im Treppenhaus.

„Aber es ist doch so schrecklich!“

„Verdammt nochmal, du musst endlich mal was gegen deine panische Angst vor Mäusen tun! Bring mir bitte das Kehrblech hoch“, meckerte ein verständnisloser Andreas.

„Das musst du dir schon selbst holen!“ Melanie verzog sich beleidigt ins Wohnzimmer. Andreas holte das Kehrblech und entsorgte die Maus.

„Armes Ding, sicher wurde es vom Schlag der Mausefalle sofort getötet. Die Maus guckt völlig überrascht“, dachte er dabei. Er warf die Maus in die Mülltonne.

„Die Maus ist weg. Bist du jetzt zufrieden?“

„Danke Schatz!“ antwortete sie aus dem Wohnzimmer. Thomas fuhr wieder zurück in die Firma. Melanie hatte sich inzwischen langsam beruhigt. Seit sie die tote Maus gesehen hatte, fühlte es sich so an, als wenn es überall juckt. Gegen das Jucken nahm sie ein Balsam von Linola, mit dem sie sich eincremte. Dann legte sie sich erschöpft auf das Sofa und schlief ein.

 

Plötzlich wurde sie von ihrem heulenden Sohn geweckt. Tobias war völlig aufgelöst und schilderte hektisch, was ihm widerfahren war.

„Opa Bastian hat mich geschlagen! Dabei habe ich überhaupt nichts Schlimmes getan. Ich wollte das nicht, das war nicht mit Absicht, das musst du mir glauben, Mama!“ Er rannte in sein Zimmer, Melanie lief ihm hinterher.

„Tobias, was ist denn los?“

„Opa Bastian ist eingeschlafen und ich bin hochgegangen. Ich wollte doch nur oben bei ihm nachsehen, ob es da auch Mäuse gibt.“

„Ohne ihn zu fragen?“

„Er hat doch geschlafen, Mama.“

„Was hast du oben gemacht?“

„Nichts.“

„Nichts?“

Tobias druckste herum. „Ich wollte nur mal hinter die Luke schauen, dann ist eine Maus rausgerannt. Mama, die läuft jetzt in seinem Haus herum!“

„Fürchtet sich Herr Bastian denn vor Mäusen?“

„Bestimmt. Er hat gemerkt, dass ich oben bin und ganz laut geschrien, ich soll sofort runter kommen. Als ich unten war und gesagt habe, dass ich die Luke aufgemacht habe, hat er mir eine Ohrfeige gegeben.“ Der Damm war gebrochen und Tobias Tränen flossen in Strömen. Die Ohrfeige von dem alten Herrn kam völlig unerwartet, Tobias war untröstlich. Melanie nahm ihn fest in den Arm.

„Herr Bastian hat es bestimmt nicht so gemeint, er hat sich doch nur erschrocken. Außerdem läuft jetzt eine Maus dort oben herum. Das wird ihm nicht gefallen.“ Tobias verkroch sich ins Bett.

„Ich will nicht mehr zu Opa Bastian.“

„Keine Angst, ich werde mit ihm reden.“ Sie gab ihm einen Kuss und machte sich auf zu dem alten Herrn um sich zu entschuldigen, das gehörte sich schließlich so. Die Maus musste ihr egal sein, sie musste nach oben und die Luke schließen. Herrn Bastian konnte sie es jedenfalls nicht zumuten.

 

Auf ihr Klingeln ließ er sie ein.

„Sie müssen Tobias bitte entschuldigen, er wollte sie nicht verärgern.“

„Er hat da oben nichts zu suchen, das hatte ich ihm gesagt, als er das erste Mal bei mir war“, sagte Herr Bastian ernst.

„Gewiss, aber er ist doch noch ein Kind.“

„Gerade Kinder müssen sich an Regeln halten“, antwortete er. Melanie blickte ins Treppenhaus.

„Ich gehe hoch und schließe die Luke für Sie.“

„Das müssen Sie nicht.“

„Das ist aber kein Problem für mich.“ Er wollte etwas erwidern, da klingelte das Telefon.

„Sie entschuldigen mich bitte.“ Er ging in das Wohnzimmer ans Telefon. Melanie wollte nicht nochmal fragen, es war klar, dass er mit seinem Gehstock nur schwerlich nach oben gehen konnte. Also ging sie nach oben. Herr Bastian beendete nur Sekunden später das Gespräch, jemand hatte sich verwählt. Er kam zurück in den Flur.

„Sie müssen nicht...“, dann verstummte er.

Melanie war schon auf dem Weg nach oben.

„Das mache ich doch gern für Sie“, rief sie aus dem Treppenhaus. Seine Augen wurden zu kleinen Sehschlitzen, seine Schläfen schwollen an, das Gesicht wurde zur Fratze.

„Du wirst da nicht hochgehen“, flüsterte er entschlossen, nahm den schweren Schürhaken vom Wohnzimmerkamin, lehnte den Gehstock an und folgte Melanie flink wie eine Katze. Melanie war oben angekommen und starrte voller Entsetzen auf das Gewimmel von Käfern, die sich am Kopf der Frauenleiche auf dem Kriechboden tummelten. Die Käfer in ihrem Haus waren nicht wegen der toten Mäuse da, vielmehr kamen sie schon aus dem Nachbarhaus zu ihnen. Der Alte hatte seine Frau erschlagen! Auf einmal spürte sie einen Luftzug, im Augenwinkel sah sie einen Schatten heranfliegen. Es war der Schürhaken, der mit Wucht auf ihren Schädel krachte. Dann war nur noch Stille um sie herum. Sie konnte sich nicht bewegen, nicht klar sehen, wie durch ein dickes Brennglas.

 

Nur schemenhaft erkannte sie ein Gesicht. Es war das Gesicht ihres Sohnes.

„Mama, du kannst ja mit offenen Augen schlafen!“ Tobias hielt seine Lupe knapp einen Zentimeter vor das Gesicht seiner Mutter und schaute sie fasziniert durch das Glas an. Langsam wurde Melanie wieder wach. Sie brauchte einen Augenblick, um sich zu orientieren.

„Tobias, nimm bitte die Lupe aus meinem Gesicht.“ Melanie war völlig neben der Spur. „Verdammt, was für ein Scheiß Traum! Alles nur wegen der blöden Maus!“, dachte sie.

„Bist du jetzt endlich wach, Mama? Ich warte schon die ganze Zeit, du musst Opa Bastian helfen, er möchte ganz oben in seinem Haus mal wieder lüften. Er kommt doch mit seiner Krücke nicht so gut die Treppe rauf.“ Melanie zögerte, denn sie wollte lieber auf Andreas warten.

„Mama, komm jetzt“, drängelte Tobias.

„Ok, aber das machen wir zusammen.“ Gemeinsam gingen sie zu Herrn Bastian. Während sie die Treppe langsam hochgingen, drehte sich Melanie mehrmals um. Herr Bastian winkte freundlich hoch. Oben angekommen lüftete sie kurz, dann verabschiedeten sie sich von Herrn Bastian. Da waren keine Mäuse, keine Leiche, kein Schürhaken.

 

Später war Tobias schon im Bett, Herr Bastian spielte die Mondscheinsonate unnd Andreas kuschelte mit Melanie auf dem Sofa. An diesem Abend war sie besonders anschmiegsam. Andreas war happy, dass er am nächsten Tag endlich das Auto abholen konnte. Dann konnte er sich auch weiter dem Mäuse-Kriechboden widmen und mit der Renovierung fortfahren.

 

Zum gleichen Zeitpunkt lag Karl auf seiner Pritsche und starrte nach oben an die Decke. Es war einer der seltenen Tage, an denen er in einer Obdachlosenunterkunft Zuflucht suchte. Nach mehreren Tagen Regen wurden seine Klamotten überhaupt nicht mehr trocken. Er mochte die Schlafräume in solchen Unterkünften überhaupt nicht, denn irgendjemand roch immer nach Fusel. Wenn er etwas nicht ausstehen konnte, dann war es Alkohol. Der Geruch nach Alkohol war ihm zuwider. Seit er vor einem Jahr sein Haus überstürzt verlassen hatte, trieb er sich als Außenseiter auf der Straße herum. Er hielt sich von den anderen Berbern fern. Der Aufforderung des Anwaltes, sich bei ihm zur Übergabe des restlichen Geldes aus dem Verkauf des Hauses zu melden, ist er nie nachgekommen. Das Geld war ihm egal, er brauchte es nicht, denn er hatte alles, was er wollte: Seine Ruhe. Wie jeden Abend hatte er Angst vor dem Einschlafen. Der Traum würde wieder kommen, wieder und wieder würde er den Schürhaken nehmen, damit sie endlich aufhört zu trinken und sich wie eine boshafte Furie zu benehmen, wieder würde er zuschlagen, ihren Schädel zertrümmern und sie einmauern. Und wieder würde sie an der schnell von ihm gemauerten Trennwand kratzen. Erst als er sie schon in Windeseile im hinteren Winkel des Kriechbodens eingemauert hatte, hörte er auf einmal dieses Kratzen, dachte er, dass sie vom zweiten Schlag noch nicht tot war. Er sammelte voller Panik die nötigsten Unterlagen über das Haus zusammen, packte seinen Rucksack, verließ für immer das Haus und suchte einen Anwalt in der Stadt auf.

Er beauftragte den Anwalt mit dem Hausverkauf und verließ die Stadt. Das Kratzen jedoch hatte sich in seinem Gehirn eingebrannt, es verschwand nicht mehr und löste die zwanghafte Vorstellung aus, dass seine Frau noch immer nicht tot sei. Langsam schlief Karl ein in der Gewissheit, dass der Traum kommen würde.

 

Am nächsten Tag öffnete Andreas die Luke, schaute sich den Kriechboden näher an und stutzte.

„Melanie, hinten im Kriechboden ist ein Teil abgemauert, das ist ja merkwürdig“, rief er laut nach unten. Er leuchtete auf den Boden und entdeckte eine Menge Käfer, es wurden immer mehr, je näher er der Mauer kam. „Melanie, kannst du mir mal den Bohrhammer aus dem Schuppen bringen? Dann kannst du auch gleich Tobias Bescheid sagen, denn ich glaube, ich habe hier noch einen Schatz gefunden!“

 

ENDE

Impressum

Texte: Peter Futterschneider
Bildmaterialien: Pixabay, moon-859372
Cover: Peter Futterschneider
Lektorat: Peter Futterschneider
Satz: Peter Futterschneider
Tag der Veröffentlichung: 26.03.2024

Alle Rechte vorbehalten

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