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Vorspiel

Einige Jahre vorher…

Am 27. Oktober 1961 kam es in der angespannten Situation der Kuba-Krise zu einem Zwischenfall im Atlantik.

Ein amerikanischer Zerstörer zwang mit einer Wasserbombe das sowjetische U-Boot B-59 zum Auftauchen. Das U-Boot hatte Nuklearwaffen an Bord. Für den Abschuss der Waffen war die Zustimmung von drei Offizieren an Bord notwendig.

Der sowjetische Offizier Wassili Archipow weigerte sich zunächst, den Angriff zu erwidern. Doch nach kurzer, heftiger Diskussion gab er dem Drängen seiner Genossen nach.

 

Ein Tag vorher…

Die gepolsterte Stahltür schloss sich hinter ihm.

Die Luft in der Zelle ließ seine Augen tränen.

Es stank nach säuerlichem Schweiß und abgestandenen Urin.

Das Krankenhausbett war an einer der weißen Wände geschraubt wie ein Sarg in einer unwirklich hellen Gruft.

In dem Bett lag ein abgemagerter Mann mit einem Bauchgurt fixiert. Der Kopf war eine Kugel aus ungewaschenen, nach allen Seiten abstehenden Haaren.

Devi räusperte sich. „Mister Hacket?“ Keine Reaktion.

„Sir, ich bin Ihr behandelnder Arzt und möchte mit Ihnen sprechen.“

Der Mann lag starr wie tot, sein Brustkorb unter dem fleckigen Patientenkittel bewegte sich nur schwach.

Devi beugte sich vor. „Sir?“

Hacket fuhr so abrupt in die Höhe, dass Devi zurückwich und mit dem Rücken gegen die Tür prallte. Seine Hand griff in die Kitteltasche und umfasste den Pieper.

Dunkel funkelnde Augen starrten den Arzt aus dem Wust der ungekämmten Haare an.

„Du bist keiner von denen“, krächzte der Patient und stemmte sich gegen den Gurt. „Du bist ein Mohr, ein Heide, so ist es doch, ja?“

Devi verschluckte sich an seinem eigenen Speichel.

„Hindu“, presste er zwischen zwei Hustenanfällen hervor. „Sir, ich bin Hindu.“

Hacket legte den Kopf schief. „Das kann jeder sagen. Beweis es mir. Ich kenne eure Tricks, ja. Ich kenn’ sie. Ja!“

Der junge Arzt klopfte sich gegen die schmale Brust und rang nach Luft. „Sir, ich bin Doktor Devi…“

„Davy?“ Hacket spuckte aus. „Ein Papist, also doch!“

„Was ist ein Papist? Nein, es heißt Devi, wie die Mahadevi, die große Göttin. D-e-v-i.“

Hacket kaute einen Moment auf einem Zipfel seines Bartes herum. „Gut, gut“, sagte er. „Ich will’s glauben. Es ist eh nicht viel Zeit, Mister Göttin. Nicht viel Zeit! Gar nicht!“

Devi trat einen Schritt auf das Bett zu. „Sir, wir haben…“

Hacket schüttelte den Kopf und wies zur Decke.

Dort war in gut drei Meter Höhe ein weiß lackierter Kasten befestigt.

„Man hört uns“, flüsterte Hacket. Das war dem jungen Arzt klar, aber er beschloss, dies für sich zu behalten.

„Kommen Sie näher, näher, ja? Es ist wichtig, ganz wichtig!“ Hackets Stimme überschlug sich.

Devi trat einen weiteren Schritt auf Hacket zu, da schoss die rechte Hand des Patienten vor, packte den Kittel und zog den Arzt auf das Bett. Der Pieper fiel aus der Tasche und klackerte auf den Boden. Devi zappelte panisch, aber der dürre Mann verfügte über ungeahnte Kräfte. Der Arzt lag wie in einem Schraubstock fest gezwängt.

Er sah in einen Mund voll gelber Zahnstummel, fauliger Atem ließ ihn würgen.

„Ich bin schon lange tot“, flüsterte der Kranke.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lagoon

Lucas MacKay

Schnee peitschte in schmutzig grauen Wellen gegen das einzige Fenster des Auld Lagoon, das Blick auf Camp 41 bot.

Die beiden Wachsoldaten am Tor der Zeltstadt waren im Schneetreiben vor den mit Stacheldraht bewehrten Sandsäcken nur noch als Schemen erkennbar. Im Hintergrund ragten die Türme von Lagoon Castle empor.

So war der August in Schottland, in jenem Jahre 1973.

Es war gegen Ende meines ersten Monats als Assistenzarzt im Flüchtlingslazarett.

Vor dem Krieg gab es hier nur einen herunter gekommenen Pub nahe der Bucht, der sich von Fernfahrern und Rucksacktouristen ernährte. Nun, zehn Jahre nach dem großen Knall, bildeten mein Kollege Devi und ich die Stammkundschaft.

Unsere Klientel, die gestrandeten Deutschen, Niederländer und Belgier, die man hier in der Einöde deponiert hatte, waren kaum in der Lage, das Einkommen des Auld Lagoon zu steigern.

Manchmal fragte ich mich, wie Hank Allister, der Besitzer und einzige Mitarbeiter des Pubs, so überstehen konnte.

Zumal ich nun wahrlich kein starker Trinker war, dazu saß vermutlich meine puritanische Konditionierung zu tief.

Ich stammte aus der Karibik, was man angesichts meiner hellen Haut und der kurzgeschorenen blonden Haare kaum angenommen hätte. Aber Rix Island war eine, wie man damals sagte, weiße Siedlungskolonie. Weiß, protestantisch und angelsächsisch, aber eben eine Kolonie.

Das war wohl der Grund, warum ich die Zuweisung zum Flüchtlingslazarett erhalten hatte. Kein Brite gab sich freiwillig mit Strahlungsopfern vom Kontinent ab. Es war halt recht praktisch, wenn man auf Kolonisten zurückgreifen konnte.

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich begriff diesen Umstand als Glücksfall. Ja, ich war glücklich in Camp 41. Die Arbeit war hart, aber sie diente einem höheren, einem praktischem Zweck.

Ich fühlte mich nützlich und sicher in dem, was ich tun konnte.

Und doch vermisste ich die Wärme meine Heimat und den grossen, leuchtend grün scheinenden Mond über dem Meer.

„Ich bin schon lange tot!“ Devi, der neben mir an der Theke lehnte, gestikulierte derart, dass Hank mit einem raschen Griff sein Real Ale in Sicherheit brachte. „Das hat der mir ins Ohr geflüstert. Kannst du das glauben?“

Wenn Devi aufgeregt war, und das kam häufig vor, übertönte er mühelos die aus dem Radio plärrenden Beatles. Selbst die Rolling Stones hätten keine Chance gehabt. Da seine Lautstärke weder Hank noch mich störte, gab es im Pub niemanden, der sich hätte beschweren können. Abgesehen von dem kleinen Jungen, der auch an jenem Tag still auf der Bank unter dem Fenster saß und einen Schreibblock mit Buntstiften ausmalte.

„Beeindruckend“, murmelte ich in einem Tonfall, der das Gegenteil ausdrückte.

„Ja, Moment, Lucas. Das Heftigste kommt noch. Das glaubst du nicht.“ Er nahm schlürfend einen tiefen Schluck Bier. „Ich hab in der Bibliothek geforscht. Und jetzt kommt es!“

Hank zog die buschigen Augenbrauen zusammen und strich die Koteletten glatt. Ich kannte die Geste. Hank war deutlich entnervt. „Und was?“, brummte er unwillig.

„Es gab einen Mann gleichen Namens. Hacket. Und der ist als Hexer verbrannt worden. 1687!“

Ich seufzte. „Devi, du solltest deine Phantasie im Zaum halten. Es ist mir klar, dass unsere Arbeit eine enorme psychische ...“

„Jetzt werde nicht beleidigend. Du bist doch selbst so ein Kreuzanbeter. Da dürfte Übernatürliches dich nicht stören.“

„Vorsicht!“ Hank legte den Zeigefinger an seine Lippen und deute mit dem Daumen auf das Plakat an der Eingangstür.

Der Nationalgardist auf dem Poster starrte die drei Männer am Tresen finster an. Zumindest Hank gab sich Mühe, den Blick mindestens doppelt so grimmig zu erwidern.

„Ach, komm schon.“ Devi zog einen Fluntsch. „Der Nationalkult wird wohl kaum den Pub verwanzt haben.“

Da war ich mir nicht sicher. Seit dem Krieg nahm die Suche der US-Regierung nach tatsächlichen oder eingebildeten Feinden meiner Meinung nach paranoide Züge an. Kommunisten, Sozialisten, traditionelle Christen und Ausländer standen ganz oben auf der Liste des seit 1963 eingerichteten amerikanischen Nationalkultes. Und von all diesen Verdächtigen gab es hier im Camp 41 mehr als genug.

Hanks Daumen wanderte zu dem Jungen, der still in sein Malbuch vertieft unter dem Fenster hockte.

Devi leerte sein Glas in einem Zug. „Also ehrlich, Hank, das ist.“ Das satte Dröhnen eines Motors verschluckte den Rest seines Kommentars. Wir sahen über den Knaben hinweg eine wuchtige, dunkle Maschine vorfahren. Das Motorgeräusch verstummte. Eine Frau in schwarzer Ledermontur kletterte vom Motorrad.

„Das ist.“, nahm Devi den Faden wieder auf.

„Eine 1958er Norton Manx!“, ergänzte ich.

Devi grinste versonnen. „Nein, ein richtig toller Hintern.“

Mein Kollege war ein von Hormonen und sprunghaften Emotionen gelenkter Mensch. Aber in diesem Fall musste ich ihm zustimmen. Allerdings hätte ich eine höflichere Wortwahl getroffen.

Die Tür wurde aufgerissen, und der Nationalgardist auf seinem Poster verschwand aus unserer Sicht.

Hank nickte der Motorradbraut zu. Sie hob eine behandschuhte Hand zum Gruß und zog mit der anderen den mit Schlamm bespritzten Helm ab.

Zum Vorschein kam ein klassisch geschnittenes, kaffeebraunes Gesicht, in dem grüne Augen katzenhaft funkelten. In seltsamen Kontrast leuchtet krauses, dunkelrotes Haar, unmodisch kurz geschoren.

Devi pfiff anerkennend durch die Zähne und erntete einen Stinkefinger der Dame. „Hank.“ Sie nickte dem Wirt zu, aber ihr Blick galt mir. „Hallo, Lucas, lange nicht gesehen.“

Vor meinen Augen verschwamm der Pub zu Nebel. Nein, es war Rauch.

Es waren brennende Kirchenbänke. Schreie, Schüsse und eine riesige, finstere Gestalt. Und das Gesicht der Motorradfahrerin, fast zwanzig Jahre jünger.

Ich schnappte nach Luft und versuchte der Vision aus der Vergangenheit zu entkommen.

Heftige Schläge klopften gegen meinen Rücken und drängten mich auf die Theke. Ein Glas kippte, Ale ergoss sich über meine weiße Tuchhose.

„Meine Güte, Luke.“ Devis Stimme überschlug sich. „Erstickst an deinem Bier.“ Er klopfte weiter. „So schön ist das Weib auch wieder nicht.“

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Udo F. Rickert
Cover: Udo F. Rickert
Tag der Veröffentlichung: 09.11.2016
ISBN: 978-3-7396-8265-5

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Hanna

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