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Anna

Zuerst kamen nur vereinzelte Schaulustige, doch nach und nach versammelten sich immer mehr. Jeder wollte ihn sehen, jeder wollte den toten Körper des jungen Mannes sehen. Jeder wollte das Blutbad mit eigenen Augen erblicken. Jeder wollte sich davon überzeugen, dass es stimmte was alle sagten. Jeder war gekommen, um dieses Grauen zu erblicken.Die Menschenmenge lächtste fast schon danach, den in rot getauchten Klörper zu betrachten, zu sehen wie das anfangs fast schon künstlich, magentafarbene Blut immer mehr zu einem Braunton wurde, wie es die blonden Haare verklebte und das weiße T-Shirt mit immer größer werdenden Flecken verzierte. Jeder wollte dabei sein, wenn der Leichnam umgedreht wurde und die Angehörigen ein erschrecktes Keuchen von sich gaben.Jeder wollte Mitleid heucheln und den eigentlich unbekannten Nachbarn Trost spenden, um auf der Titelseite aller Zeitungen zu sein. Jeder wollte sie dann in die Arme nehmen und der Presse erklären, dass sich die Trauernden leider nicht in der Verfassung fühlten um ein Interview zu geben, sie selbst aber gerne eine Aussage machen würden, selbstverständlich nur zum Schutz deren die einen geliebten Menschen verloren hatten. Vergessen wären dann Jahre langes Misstrauen und Gerede. Vergessen wäre jedes böse Wort und jede abfällige Bemerkung. Vergessen wäre der Neid auf das teurere Auto oder das größere Haus. Eigentlich waren sie ja schon immer Freunde und das was man mal nach einem Drink zu viel gesagt hatte nur dummes Gerede.Niemals würden die verständnisvollen Nachbarn ein schlechtes Wort über ihre Freunde verlieren, doch eigentlich gab es nur einen Menschen, der Tränen weinen durfte, nur einen der Jeremy über alles geliebt hatte.


Anna stand am Rand eines im dunkeln liegenden Balkons, der auf den Platz zeigte. Auf den Platz auf dem Jeremys Leiche lag, doch Anna blickte nur teilnahmslos auf ihre Finger. Ihr Blick ging durch sie hindurch in die Lehre. Man konnte nicht erkennen, dass Anna noch vor wenigen Minuten die steile Wendeltreppe mit vor Tränen blinden Augen hinunter gestolpert war und Jeremys Namen gerufen hatte. Man konnte nicht erkennen, dass ihre Stimme das letzte war was Jeremy gehört hatte als der alles entscheidende Schuss ertönte. Niemand konnte sehen, dass Anna weiter auf ihn zu gerannt war, als sein lebloser Körper schon den Boden berührt hatte. Niemand wusste, dass sie vor ihm auf die Knie gefallen war und mit bebender Stimme immer wieder „Du darfst nicht sterben. Du musst leben. Jeremy, ich liebe dich doch. JEREMY!!!“ geschrien hatte. Niemand ahnte, dass sie mit tränen nassen Lippen ihn immer wieder geküsst hatte, mit der Hoffnung er könnte wieder aufwachen. Niemand wusste, dass sie mit ihren Fingern versucht hatte das stetig fließende Blut zu stoppen. Niemand konnte wissen, dass sie so laut geschrien hatte bis ihre Stimme heiser war. Niemand konnte wissen, dass sie seinen Namen leise schluchzend auf ihm zusammen gebrochen war. Und auch keiner konnte wissen, dass Rick ihren erschlafften Körper fort gezogen hatte, um sie in Sicherheit zu bringen und danach Jeremys Augen geschlossen und seinen Körper umgedreht, damit er nicht vollkommen ausgeliefert vor den Schaulustigen liegen würde.


Annas Tränen waren versiegt. Ihre Augen leer und trocken. Immer und immer wieder hörte sie den Schuss, der an den Häuserwänden wieder hallte und eine schrille Stimme die Jeremys Namen schrie. Anna betrachtete ihre Hände, das langsam trocknende Blut unter ihren Fingernägeln, dass wie eine surreale Verzierung wirkte. Anna wunderte sich darüber wie die rotbraune Schicht auf ihren Händen langsam begann Risse zu bilden sobald sie ihre Finger bewegte. Die Risse wurden größer und nach und nach platzten teilweise kleine Stücke ab. Plötzlich fing Anna an zu lachen. Ein schriller, kreischiger Ton, der so unecht klang wie das einer alten Babypuppe.Rick schüttelte Anna an den Schultern und redete auf sie ein. Anna wusste sie sollte ihm zu hören und aus den zusammenhanglosen Buchstaben Sätze bilden, doch in ihren Ohren klang es nur wie ein Rauschen. Sie hörte nur immer wieder den Schuss und den Schrei. Rick hohlte aus und gab ihr eine schallende Ohrfeige. Als sie sich immer noch nicht rührte schrie er sie noch lauter an. Anna legte nur den Kopf schief und lachte dann wieder. Rick gab einen undefinierbaren Laut von sich und warf die Hände in die Luft. Er fing an im Kreis zu laufen und immer wieder etwas zu brüllen.

Anna hörte ihm aber nicht zu.

Anna hörte nur den Schuss.

Anna war in ihrer eigen Welt.

 

Anna war fort.

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Tag der Veröffentlichung: 20.01.2015

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