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Die Flinte im Korn

 

George Anderson nahm mit zitternden Händen seine alte Schrotflinte aus dem Schrank und drehte sich langsam zum Fenster. Die heiße Augustsonne, die erbarmungslos seinen Weizen röstete, stand an einem wolkenlosen Himmel und trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Hier im Haus war es seit Tagen unerträglich warm und obwohl er mit seinen 73 Jahren noch recht fit war, machte ihm das zu schaffen. Er war von den wenigen Schritten von der Küche in das Wohnzimmer ziemlich außer Atem gekommen und sein altes Herz schlug ungewöhnlich schnell.

Vielleicht lag das an den Ereignissen, die sein Leben in letzter Zeit durcheinander gebracht hatten, George wusste es nicht. Über seinen Weizenfeldern kreischten etwa ein halbes Dutzend Krähen in die Stille hinein, wie ein Schlachtruf zerschnitten sie die Ruhe vor dem Sturm.

George wischte sich die linke Hand an seiner ohnehin schon schmutzigen, blauen Latzhose ab, während er langsam den Kopf drehte und mit den Augen die Ecke in der Küche absuchte, in der seine Frau saß. Er konnte ihren gedrungenen Körper in dem Halbdunkel nur schwer ausmachen, dort in dem Schaukelstuhl, den er ihr zu ihrem 20. Hochzeitstag geschenkt hatte. Das war nun auch wieder beinahe 30 Jahre her, überschlug George in seinem Kopf, doch der weiße Lack leuchtete noch immer aus dem düsteren Zimmer. Er hatte heute Morgen alle Vorhänge zugezogen, um die Hitze wenigstens ein bisschen auszusperren.

 Er schloss die Augen und atmete tief ein. Er fühlte sich auf einmal, als hätte man ihm Gewichte um die Schultern gelegt. Das alles war zu viel für ihn. Er hatte sich eigentlich hier zur Ruhe setzen und irgendwann friedlich einschlafen wollen, doch dass seinem Leben nun so ein Ende gesetzt werden sollte, konnte er nicht mit seinem Gerechtigkeitssinn vereinbaren. Wenn man sein Leben lang hart gearbeitet hatte, sollte man ein Anrecht darauf haben, sein Leben auf friedliche Weise beenden zu dürfen.

Er öffnete die Augen wieder und bemerkte, dass eine Träne seine Wange herunterlief. Langsam setzte er sich in Bewegung und schlurfte in die abgedunkelte Küche. Er legte das Gewehr auf den Tisch. Das dumpfe Klopfen von Metall auf Holz ließ Mary hochschrecken. Sie sah ihn müde an und lächelte. George erwiderte das Lächeln. Das nahm zumindest einen Teil der Last von seinen Schultern.  Er holte zwei Gläser aus dem Schrank und füllte sie mit kalter Limonade aus dem Kühlschrank. Es war die letzte Flasche. Er teilte sie auf und stellte die Flasche ab. Während er die Gläser zum Tisch balancierte, erinnerte er sich an die vielen Sommerabende, an denen sie zu zweit oder zusammen mit Carl, ihrem Sohn, auf der Veranda gesessen hatten und Marys selbstgemachte Limonade getrunken hatten.

Bedächtig stellte er eines der Gläser auf dem Tisch ab und drückte Mary das andere in die rechte Hand.

„Danke“, sagte sie, immer noch lächelnd und trank einen Schluck.

 Auch George nahm sein Glas, setzte sich und trank die Limonade mit einem Zug aus. Die kühle Flüssigkeit tat seinem Hals gut. Er stellte sein Glas wieder ab und wandte sich Mary zu. Der Verband an ihrem linken Oberarm war, obwohl erst  vor wenigen Stunden gewechselt, erneut von dunklem Blut getränkt. Mary, die seinen besorgten Blick bemerkt hatte, legte ihre Hand auf seine. So saßen sie da, bis die Standuhr im Wohnzimmer fünf  schlug. George erwachte aus dem tranceartigen Zustand, in dem er die letzten Stunden geschwebt hatte. Er rieb sich die Augen und blickte zu Mary. Sie hatte die Augen geschlossen und atmete ruhig ein und aus.

Sie war nun schon deutlich blasser. Ihre sonst so zartrosa Wangen waren kreidebleich und sahen eingefallen aus. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Er nahm den metallischen Geruch von Blut wahr und bemerkte, dass der Verband sich inzwischen noch mehr verfärbt hatte. Er holte eine Schüssel mit lauwarmen Wasser, Tücher und ein Hand voll Mullbinden und begann, ihren Verband zu wechseln. Zuerst befürchtete er, sie würde aufwachen, doch sie zuckte nicht einmal.

Er erschrak, als der die letzte Lage des Verbandes von ihrem Arm löste. Die verwundete Stelle war stark angeschwollen und hatte sich dunkel verfärbt. Nur wenn man genau hinsah, konnte man noch die Kontur des Bisses sehen, das aufgequollene Fleisch drumherum schien ihn in sich aufgenommen zu haben. Die Bilder vom Vorabend drangen in sein Gedächtnis. In seinem Alter vergaß er oft etwas - wo er seine Brille zuletzt hingelegt hatte, den Namen des Briefträgers, der jeden Tag bis an die Stufen der Veranda lief und klopfte,  um ihnen den weiten Weg zum Briefkasten zu ersparen - und manchmal vergaß er sogar, was er am Tag zuvor zu Mittag gegessen hatte. Doch ausgerechnet diese Bilder konnte er nicht vergessen. In Zeitlupe liefen sie vor seinem geistigen Auge ab. Die Gestalt, die den sandigen Weg entlang getorkelt war, langsam und unkoordiniert, fast so, also würde sie sich nur zufällig in ihre Richtung bewegen, hatte dreckverschmierte und teilweise zerrissene Kleidung getragen und ihr Gesicht war blutig und aufgequollen gewesen. Dieser Anblick hatte George an seinen älteren Bruder Stan erinnert, als er mit 16 Jahren im Morgengrauen von einer durchzechten Nacht nach Hause kam, das Gesicht blutbeschmiert als Folge einer Schlägerei um ein Mädchen. Ihren Namen wusste George nicht mehr. Er konnte sich nur daran erinnern, dass ihr Vater ihn wütend in sein Schlafzimmer geschleift hatte und ihm mit den Sohlen seiner Pantoffeln den Hintern versohlt hatte, während George selbst in seinem Bett saß und ängstlich unter der Decke hervor lugte. Seine Mutter hatte Stan dann mit kalten Tüchern das Gesicht abgetupft, sodass er weniger schrecklich aussah.

Das würde bei diesem Ding auch nichts mehr helfen, dessen war sich George bewusst gewesen. Sie hatten gehört, was in den Städten vor sich ging, und hatten sich deswegen nicht getraut, die Farm zu verlassen. Carl war während der ersten Tage bei Ihnen gewesen, war dann jedoch mit dem Geländewagen losgefahren, um noch einige Vorräte zu besorgen. Und war nicht zurückgekommen.

Sie hatten nicht damit gerechnet, dass einer dieser Infizierten, wie sie sie im Radio nannten, bei ihnen auftauchen würde. Mary war wohl nicht bewusst gewesen, um was es sich da handelte und so war sie besorgt nach draußen geeilt, um dem Mann zu helfen, bevor George sie hatte aufhalten können. Sie hatte die Gestalt schon fast erreicht, als sie ihren Fehler bemerkte. Sie war erschrocken rückwärts gestolpert und hatte beinahe das Gleichgewicht verloren. Doch sie hatte sich gefangen und war in Richtung  Veranda gelaufen, laut nach George rufend. Dieser hatte sich bereits eine der Schaufeln genommen, die neben der Tür standen und war ihr entgegengelaufen. Doch bevor er den Angreifer damit schlagen konnte, war er über Mary hergefallen und hatte die Zähne in ihrem Arm vergraben. George hatte, blind vor Wut  und Schrecken,  solange auf den Kopf der Gestalt eingeschlagen, bis sie sich nicht mehr bewegt hatte. Er hatte sowohl den leblosen Körper des Angreifers als auch die verschmierte Schaufel einfach liegen gelassen und Mary ins Haus gebracht.

Und jetzt saß er da, über sie gebeugt und begutachtete diese Wunde. Mary hatte abgestritten, dass sie Schmerzen hatte, und wie zum Beweis gelächelt. Doch nach fast 50 Jahren Ehe kannte er sie gut genug, um zu bemerken, wann sie log. Seit gestern Abend saß sie nun da und hatte ihren Arm kaum bewegt.

Als er mit einem Tuch versuchte, die Wunde auszuwaschen und das entzündete Fleisch zu kühlen, nahm er außer dem Geruch nach Blut noch einen anderen, fauligen Geruch war. Vorsichtig legte er ihr einen neuen Verband an, immer darauf bedacht, ihn nicht zu fest zu ziehen, um ihr nicht wehzutun. Danach setzte er sich erneut in seinen Stuhl und starrte vor sich hin.

Er wusste, was bald passieren würde. Er hatte es im Radio gehört, vor ein paar Wochen, als das alles angefangen hatte. Man wurde schwach, bekam Fieber, starb, kam zurück. All das hätte ihm unreal vorkommen müssen, doch wenn man ein bestimmtes Alter erreicht hatte, nahm man manche Dinge hin, wie sie waren. Er konnte nichts daran ändern, auch das wusste er, und trotzdem überkam ihn eine blinde Angst, die ihm den Atem nahm.

Er hielt es in diesem Moment nicht mehr aus, so dazusitzen und zu warten und so stand er auf, was ihn erneut ungewöhnlich viel Kraft kostete, und lief zur Verandatür. Er öffnete sie nicht, denn er wusste, dass der leblose Körper inzwischen unerträglich stinken musste. George erinnerte sich daran, dass vor einigen Jahren, als er noch eine Hand voll Milchkühe gehalten hatte, einmal eine von ihnen aus der kleinen Weide ausgebrochen war. Er hatte zusammen mit Carl die Umgebung abgesucht, aber nichts gefunden, und nach zwei Tagen hatten sie die Suche schließlich aufgegeben. Zwei Wochen später hatte George die entlaufene Kuh dann zufällig gefunden. Sie war anscheinend in ein altes Wasserloch gestürzt, hatte sich beide Vorderbeine gebrochen und war dort verendet, nicht in der Lage, sich selbst zu befreien. Das war auch in einem sehr heißen und feuchten Sommer gewesen und so war die Verwesung bereits stark fortgeschritten. Der Gestank war unerträglich und allerhand Ungeziefer, Käfer, Würmer und Fliegen hatte sich auf dem massigen Kadaver getümmelt. George hatte das Wasserloch mitsamt der Kuh mit Carls Hilfe zugeschüttet und als die beiden nach ein paar Tagen die Stelle aufsuchten, war der unangenehme Geruch  verflogen.

Jetzt war es ihm egal, ob es da draußen stank oder nicht. Bald würde ihm alles egal sein.

Schweren Herzens betrachtete er Mary auf dem Schaukelstuhl. Er würde ihrem Leiden ein Ende bereiten, das hatten sie ausgemacht, noch vor dem gestrigen Vorfall.  Spätestens nachdem im Radio keine Nachrichten mehr kamen, sondern nur noch Musik gespielt wurde, war ihnen klar geworden, dass ihre Normalität, ihr Alltag, durch das Warten auf den Tod ersetzt wurde.

Mary sah immer schlechter aus. Ihr Atem ging schneller, als noch ein paar Minuten zuvor. Der Schweiß hatte nun auch den Kragen ihrer Schürze durchtränkt. George ging zu ihr und legte ihr fühlend die Handfläche auf die Stirn. Sie war glühend heiß. Fieber.  Er lief mühsam zur Spüle und befeuchtete ein Tuch, das er ihr auf die Stirn legte. Sie rührte sich unter der kühlen Berührung und öffnete langsam die Augen. Er hatte zuerst das Gefühl, dass sie ins  Leere starrten, doch dann fixierten sie sein Gesicht und ein Lächeln glitt über ihr Gesicht.

„George“, murmelte sie.

Wie schön sie noch war, trotz der Falten und der Blässe, ging es ihm durch den Kopf. Dann schloss sie die Augen erneut und George hatte das Gefühl, dass sie in sich zusammensackte. Er stand noch eine Weile da und betrachtete ihre sich langsam hebende und senkende Brust. Dann verrückte er seinen Stuhl, um Mary besser im Blick zu haben und setzte sich. Draußen war es inzwischen düster geworden, es mochte vielleicht neun oder zehn Uhr sein. Doch er machte die Lampen nicht an, dafür hatte er keine Kraft mehr.  Schon wenige Minuten später fielen ihm die Augen zu und er döste bis zum Morgengrauen vor sich hin, immer wieder zu Mary blickend, die friedlich in ihrem Stuhl saß. Als es hell genug war, dass George sich ohne Lampen im Zimmer zurechtfand, stand er auf und ging in das kleine Schlafzimmer im Erdgeschoss, das sie seit einigen Jahren bewohnten, und zog sich ein frisches Hemd und seine gute Hose an. Er betupfte sich mit dem Rasierwasser, das Carl im vor drei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte und kämmte sein schütteres Haar. Schließlich schlurfte er wieder in Richtung Küche. Er stellte sich neben den Tisch, auf dem noch die Schrotflinte lag und betrachtete seine Frau. Sie saß jetzt nicht mehr friedlich da, sondern wand sich wie unter Schmerzen, die Augen immer noch geschlossen.

In diesem Moment wusste George, dass es vorbei war. Er sprach ein Gebet und nahm die Flinte in seine alten zittrigen Hände.

Wenige Sekunden später hallte ein Schuss über die endlosen, goldenen Weizenfelder von George Anderson, der eine Horde Krähen aufscheuchte, die kreischend in den Himmel stoben. Und die aufgehende Augustsonne begann erbarmungslos, George Andersons Weizen zu rösten, als ein zweiter Schuss das letzte menschliche Leben im Umkreis von 100 Meilen auslöschte.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.02.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ein großes Dankeschön an alle, die eine Stimme für diese Geschichte abgegeben haben!

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