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Gier

Es war ein warmer Sonntagabend. Die Sonne berührte bereits den Horizont und würde in wenigen Minuten nicht mehr zu sehen sein. Sie tauchte den Himmel in ein rotes Licht, und dem Beobachter, der sich die Zeit nahm, die untergehende Sonne mit seinen Blicken zu verfolgen, schien es, als würde sie ihm einen warmen Gruß schenken, wie ein tröstendes Wort, dass sie nun anderen leuchten müsse, aber ganz gewiss am nächsten Tage wiederkomme.

Elena saß auf der Terrasse ihres Hauses oben am Hang, hoch über den Dächern der Stadt, ein Glas Gin Tonic in der Hand, und schwelgte in diesen Gedanken, als sie der untergehenden Sonne hinterher blickte. Sie seufzte leise auf und stellte das Glas entschlossen auf den Tisch, als das Telefon in ihrer Hosentasche summte.

„Lohmann“, meldete sie sich und nur wenige Sekunden später versteinerte ihr Gesicht.

„Wer ist da?“, fragte sie beinahe ängstlich.

„Ich bin es. Ralph. Dein Mann. Es tut mir leid, dass ich dich so unvorbereitet überfalle. Aber ich konnte mich nicht früher melden.“

Elena sagte nichts. Sie wusste nicht, wie ihr geschah. Endlich fragte sie eisenhart: „Soll das ein dummer Scherz sein?“

„Nein, bestimmt nicht. Ich kann mir vorstellen, dass das ein Schock für dich ist. Aber ich lebe noch.“

„Das glaube ich Ihnen nicht. Ralph wurde vor einem Jahr beerdigt.“

„Leg bitte nicht auf! Ich bin es wirklich. Erkennst du denn meine Stimme nicht? Ich bin Ralph, dein Mann.“

„Doch“, gab sie unsicher zu, denn die Stimme kam ihr in der Tat vertraut vor. „Aber wie kann es sein?“

„Bei dem Brand damals war ich gar nicht im Haus. Es war ein anderer, dem ich meine Kleidung angezogen und meine Papiere zugesteckt hatte.“

„Aber warum …“, sie brachte die Frage nicht zu Ende, denn sie wusste nicht, was sie fragen sollte.

„Ich kann dir alles erklären, Liebling. Ich weiß auch, dass es eine furchtbare Zeit für dich war. Aber ich konnte mich nicht früher melden.“

„Wo bist du?“

„Ich bin in Deutschland.“

„Warum … Warum kommst du nicht her?“

„Ich will nicht, dass man mich sieht. Ich muss offiziell als tot gelten.“

„Ich verstehe das nicht. Was soll das?“

„Mein Liebling, es ist im Grunde ganz einfach: Ich bin durch einen Unfall gestorben. Ich habe die Nachrichten verfolgt und weiß, dass die Versicherung inzwischen gezahlt hat. Weil es ein Unfall war, das Doppelte. So hatte ich es damals vertraglich geregelt. Es sind zwei Millionen Euro, die du bekommen hast.“

„Was willst du denn?“, fragte sie verunsichert.

„Nun, dass du zu mir kommst.“

Sie schüttelte den Kopf, was Ralph natürlich nicht sehen konnte, und fragte: „Was soll das? Ich verstehe das alles nicht.“

„Du weißt doch, wie es uns ging. Wir hatten Schulden, konnten unser Haus nicht mehr bezahlen, ich hatte die Arbeit verloren und wir hätten alles verkaufen müssen.“

„Ja, aber …“

„Liebling, ich habe das für uns getan. Wie hätten wir sonst an Geld kommen sollen. Du kannst jetzt alles bezahlen, das Haus verkaufen und zu mir kommen. Und dann leben wir wie die Könige. Ohne Sorgen und ohne die Frage, wo wir morgen noch was zu essen hernehmen. Wir sind reich! Uns bleiben am Ende noch fast zwei Millionen! In Südamerika kann man davon fantastisch leben. Und ich habe schon alles vorbereitet.“

Die Sonne war inzwischen hinter dem Horizont verschwunden und Elena saß im Dunkeln. Doch in ihrem Kopf ging langsam ein Licht auf: „Sag mal, hattest du das alles geplant?“

„Aber ja, mein Liebling. Wie hätte ich uns denn sonst aus der Misere holen sollen?“

„Aber wer ist denn der Tote? Ich meine: Wer ist denn da verbrannt?“

„Ein Penner. Aber mach dir keine Sorgen. Er ist von selbst gestorben. Ich hatte nur die Gelegenheit genutzt, als ich ihn fand. Er sah mir sehr ähnlich, hatte die gleiche Größe und Statur.“

„Und was hast du gemacht?“

„Nun, ich habe die Identitäten getauscht. So gelte ich offiziell als tot und wir können beide auswandern, ohne, dass jemand uns jemals in Verbindung miteinander bringt. Ich bin weiterhin ein anderer.“

„Und wer bist du jetzt?“

„Das spielt erstmal keine Rolle. Du wirst es noch erfahren. Vorerst ist es besser, wenn es niemand weiß.“

Elena tat einen tiefen Atemzug, bevor sie fragte: „Aber was stellst du dir denn jetzt vor?“

„Aber Liebling, ich sagte es doch: Du wirst alles, was wir haben, verkaufen und mit mir nach Südamerika fliegen.“

„Und wenn ich nicht nach Südamerika will?“

Die Stimme am anderen Ende klang zwar schmeichelnd, aber es lief Elena kalt über den Rücken: „Liebling, du bist doch meine Frau. Und wir wollten zusammen glücklich werden. Jetzt können wir es! Aber wenn dir Südamerika nicht gefällt, können wir auch woanders hin. Was schlägst du vor?“

„Warum bleiben wir nicht in Deutschland?“

Ein leises Lachen klang durchs Telefon: „Aber, aber. Hier werde ich doch erkannt. Das muss dir doch klar sein. Und Europa ist auch zu unsicher. Südostasien wäre noch eine Möglichkeit, aber das tropische Klima gefällt mir nicht so gut. Im Süden Chiles ist es dagegen sehr angenehm.“

„Ich … ich muss darüber nachdenken, glaube ich. Das kommt alles zu plötzlich.“

„Aber natürlich. Das verstehe ich. Ich werde dich morgen wieder anrufen. Dann können wir alles Weitere besprechen.“

„Ja, natürlich.“ Sie wagte nicht, zu widersprechen. Sie spürte, dass Ralph keinen Widerspruch duldete. Sie zitterte kurz und heftig, obwohl es trotz der späten Stunde nicht kalt war.

„Du darfst aber keinem davon erzählen“, drang es zärtlich, aber bestimmt an ihr Ohr. „Du willst doch auch nicht, dass wir alles wieder verlieren, nicht wahr?“

Elena spürte, wie es ihr den Hals zuschnürte. So sanft seine Worte klangen, so drohend wirkten sie. Sie nahm sich zusammen und sagte so ruhig, wie es ihr möglich war: „Natürlich.“

„Dann bis morgen, mein Liebes.“

„Bis morgen.“

Sie saß noch gute zehn Minuten völlig erstarrt, das Telefon in ihrer Hand. Sie hatte Angst.

Endlich sank sie langsam in ihren Stuhl zurück. Sie dachte an die Vergangenheit, an ihr Leben mit Ralph. Sie war verliebt in ihn, obwohl er siebzehn Jahre älter war. Aber je länger sie zusammenlebten, desto häufiger kam es vor, dass er ihr drohte. Manchmal fürchtete sie sich sogar vor ihm. Obwohl er ihr tatsächlich nie etwas angetan hatte, hatte sie immer häufiger das Gefühl, dass Ralph bösartig war und seine Freude daran hatte, sie zu beherrschen. Besonders, als er seine Arbeit verlor und sie das Haus nicht mehr bezahlen konnten. Da hatte sie sich manchmal gewünscht, dass sie ihn einfach hätte verlassen können. Aber sie konnte nicht. Er machte ihr klar, dass sie beide sich die Treue geschworen haben und sie nicht einfach gehen könne. Und sie stimmte dem zu. Sie wollte ihn auch nicht wirklich verlassen, denn ihr bedeutete es selbst sehr viel, eine treue Ehefrau zu sein. In guten, wie in schlechten Tagen, wie es immer hieß. Sie lebten aber auch wirklich gut. Er arbeitete bei einer Bank und verdiente relativ viel.

Doch schon vor Ralphs Arbeitslosigkeit hatte Elena tiefe depressive Phasen. Sie besuchte schließlich einen Psychotherapeuten. Ralph kam oft mit zu den Sitzungen. Sie hatte den Eindruck, Ralph sorgte sich wirklich um sie. Als dann die große Bankenkrise kam und Ralph arbeitslos wurde, ging er sogar selbst in die Therapie. Sie standen vor dem Ruin, und hatten plötzlich so viele Schulden, dass sie nicht wussten, wie sie diese je bezahlen sollten. Das machte Ralph zeitweise unerträglich. Aber die Therapie schien zu helfen, denn Ralph war nicht mehr so aggressiv. Doch frei fühlte Elena sich trotzdem nicht.

Als sie dann von seinem Tod hörte, war sie zutiefst erschüttert. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er sterben würde. Und schon gar nicht auf so schreckliche Weise. Verbrannt in einem alten Haus, in dem Obdachlose zu nächtigen pflegten. Sie hatten sich zerstritten und Ralph kam nicht mehr nach Hause. Drei Nächte hatte sie ihn nicht gesehen, bevor die Polizei ihr die Nachricht überbrachte. Das hatte sie dann auch den Polizisten erzählt. Damit war auch klar, warum sich Ralph in dem alten Haus befand, als es abbrannte. Er brauchte einen Platz zum Schlafen.

Und dann kam die Versicherung und unterstellte Selbstmord, um nicht zahlen zu müssen. Elena wurde krank darüber und konnte nicht mehr arbeiten. Letztlich wurde die Versicherungssumme doch ausgezahlt. Das Ganze hatte fast ein Jahr gedauert. Elena bezahlte die Schulden und kündigte ihre Arbeit.

Es gab damals drei Tote. Daran erinnerte sich Elena wieder, als die Vergangenheit in ihrem Geiste lebendig wurde. Ja, es waren drei. Aber Ralph hatte ihr gerade am Telefon erzählt, dass er das Feuer inszeniert und nur einen bereits Toten ins Haus gelegt hätte. Woher kamen dann die anderen zwei? Waren die zufällig im Haus, als Ralph das Feuer legte? Hatte er die beiden nur nicht bemerkt und aus Versehen mit dem Brand getötet? Elena konnte sich nicht vorstellen, dass die zwei anderen ins Haus gegangen waren, als es schon brannte. Oder hatte Ralph die zwei weiteren Leichen billigend in Kauf genommen?

Elenas Gedanken gingen noch weiter: Hatte Ralph wirklich nur die Gelegenheit ergriffen, als er einen toten Obdachlosen fand, der ihm ähnlich sah? Das wäre schon ein seltsamer Zufall gewesen. Oder hatte er den Obdachlosen als Lebenden entdeckt und ihn mit Absicht getötet? Vielleicht hatte Ralph Mitleid geheuchelt und dem armen Mann seine Kleider angeboten?

Elena schauderte. Seltsamerweise konnte sie diese Gedanken nicht abschütteln. Ganz im Gegenteil: Diese Version schien ihr viel wahrscheinlicher, als die, die Ralph ihr am Telefon erzählte. Einer der Polizisten hatte ihr einmal unverblümt gesagt, dass es ein Glück für sie gewesen sei, dass es drei Tote bei dem Unglück gegeben hätte. Anderenfalls wäre die Versicherung mit der Selbstmordversion durchgekommen.

Elena war inzwischen davon überzeugt, dass Ralph ihr nicht die Wahrheit über das Unglück gesagt hatte. Und das machte ihr noch mehr Angst. Ja, sie spürte Angst. Ralph würde sie zwingen, mit ihm zu gehen. Ob sie wollte oder nicht. Und sie war in seiner Hand. Sie konnte damit nicht zur Polizei gehen. Erstens war es fraglich, ob man ihr glauben würde, und zweitens würde sie tatsächlich wieder alles verlieren. Die Versicherung würde das Geld zurückverlangen und sie stünde vor einem Berg Schulden, den sie nie würde abtragen können. Darauf spekulierte Ralph.

Und plötzlich schoss es ihr durch den Kopf: Ralph hatte das von Anfang an geplant. Es war ihm von Anfang an bewusst, dass sie in seiner Hand sein würde und er letztendlich das Geld bekäme. Was sie nach so langer Zeit für ihn empfand, spielte bei ihm keine Rolle.

Ihr wurde schlecht. Sie spürte, dass Ralph sie erpressen und mit ihr machen konnte, was er wollte. Sie sah nur einen Ausweg: zur Polizei gehen und alles aufs Spiel setzen. Aber dann wäre sie wieder mit dem Mann zusammen, den sie einst geheiratet hatte. Und sie wusste inzwischen, dass sie mit diesem Mann nicht mehr zusammenleben wollte. Sie war traurig, dass er tot war, aber sie liebte ihn nicht mehr. Sie hatte ihn nur bedauert und war froh, nicht mehr in Angst leben zu müssen. Und jetzt war diese Angst wieder da. Und sie würde nicht die Kraft haben, sich von ihm scheiden zu lassen. Er würde sie eher umbringen. Davon war sie überzeugt.

 

* * *

 

Der folgende Abend lud nicht dazu ein, auf der Terrasse zu sitzen. Es war zwar nicht kalt, aber verregnet. Der schöne Sommertag von gestern wollte sich nicht wiederholen. Das Wetter spiegelte ungewollt Elenas Stimmung wider. Es war grau und trübe. Kein lächelnder Sonnenstrahl stahl sich durch die Wolken, um einen Hauch von Heiterkeit zu verbreiten.

Elena hatte sich die letzte Nacht und den ganzen Tag damit beschäftigt, einen Weg aus der Lage, in der sie seit gestern war, zu suchen. Sie hatte jedoch keinen Ausweg gefunden. Sie wusste nur eins: Egal, was Ralph verlangen würde, sie würde zu allem „Ja“ sagen.

„Guten Abend, mein Liebling“, klang es zärtlich durchs Telefon, „wie geht es dir? Ich hoffe, du hast dich von dem gestrigen Schrecken erholt!?“

„Ja“, entgegnete Elena trocken und wagte kaum zu atmen.

„Hast du dir alles überlegt?“

„Ja.“

Ralph versuchte, lustig zu sein, als er sagte: „Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen, mein Liebes. Ich verstehe ja, dass es dich mitnimmt. Aber denke daran, dass vor uns eine wunderbare Zukunft liegt.“

„Ja, ich denke daran.“

„Na also. Hast du schon überlegt, wie du das Haus verkaufst?“

„Ja. Ich nehme einen Makler.“

„Das ist sehr gut. Bis es verkauft ist, wird es sowieso noch eine Weile dauern. Du solltest ihm eine Vollmacht ausstellen, dass er alles für dich erledigen darf. Die ganzen Sachen mit dem Notar und so weiter. Es wäre blöd, wenn du jedes Mal wieder nach Deutschland reisen müsstest.“

„Ich weiß nicht, ob das geht …“

„Oh sicher. Es wird gehen. Ich kann dir ein paar Tipps geben.“

„Ja, gut.“

„Auf alle Fälle solltest du schon mal alles vorbereiten, damit das Geld, das flüssig ist, nach Chile überwiesen werden kann. Wir brauchen es ja jetzt nicht mehr in Deutschland.“

„Ja, ist … Ist das denn nicht ein bisschen schnell?“

„Findest du? Du musst es ja nicht morgen machen. Aber vor deiner Abreise auf jeden Fall. Von Chile aus ist es etwas schwierig, an das Geld zu kommen. Und es kostet nur unnötige Gebühren.“

„Ja?“

„Ja, mein Liebling. Ich habe da schon meine Erfahrungen gemacht. Du wirst morgen Vollmachten in deinem Briefkasten finden. Diese musst du unbedingt unterschreiben und zur Bank bringen.“

„Was für Vollmachten?“ Sie traute sich kaum zu fragen. Sie hatte Angst, er würde die Geduld verlieren, wie es früher mit seinen Wutausbrüchen gewesen war.

Aber er antwortete ganz ruhig: „Damit wir auch von Chile aus an unser Geld kommen. Wir werden das nach und nach auf ein Konto in Chile transferieren müssen.“

Elena war wie eine Maschine. Sie empfand nichts und tat mechanisch alles, was zu tun war. Sie war in seinem Bann, wie sie es immer schon gewesen war. Und sie konnte diesen Zustand jetzt nur ertragen, indem sie jedes Gefühl in sich abtötete.

Er gab ihr noch weitere Anweisungen, bis sie haarklein wusste, was sie mit den verschiedenen Vermögenswerten und Vollmachten zu tun hatte und wie und wann sie nach Südamerika kommen sollte. Sie spürte, dass er ihr keine Zeit zum Nachdenken lassen wollte. Und er schärfte ihr wieder und wieder ein, wie wichtig es war, keinem davon zu erzählen.

 

* * *

 

Ralph legte das Telefon auf den Nachtschrank neben dem Bett, auf dem er während des Telefonats mit Elena gesessen hatte. Er strich sich mit einer Hand das ergraute Haar zurück, so dass eine kleine Narbe an der Stirn sichtbar wurde. Eine Weile blickte er noch nachdenklich auf den Boden, bevor er aufstand und ins Wohnzimmer ging. Dort wartete eine junge Frau, die ihn neugierig ansah.

„Sie ist noch nicht ganz überzeugt, Sandra“, sagte Ralph und setzte sich in einen Sessel. „Ich denke, ich muss sie jetzt die ganze Zeit begleiten. Sie darf keine Zeit zum Nachdenken haben.“

„Wie lange wird das dauern?“, fragte Sandra.

„Etwa eine Woche noch. Sie muss morgen zur Bank und die Vollmachten abgeben. Es wird wohl einige Tage dauern, bis das alles durch ist. Ich muss dann auch hin, um mich zu legitimieren. Du sorgst dafür, dass Elena mir nicht aus Versehen über den Weg läuft. Dann muss sie den Makler aufsuchen und bis Freitag müssen alle Dokumente unterschrieben sein. Den Flug soll sie für Samstag buchen. Ich habe ihr alles durchgegeben.“

„Bist du noch immer entschlossen, sie umzubringen?“

„Ja“, antwortete er ohne Zögern, „warum nicht?“

„Naja, es ist schon richtig. Anderenfalls wird sie früher oder später Ärger machen. Ich habe nur ein wenig Angst, dass was schiefläuft und wir die Polizei am Hals haben.“

„Mach dir keine Sorgen“, lächelte er ihr zu, „ich kenne ein paar schöne Ecken in Chile, wo es keiner merken wird.“

Sandra lehnte sich in das Sofa zurück und schwelgte: „Zwei Millionen Euro!“ Und mit einem leichten Seufzen fügte sie hinzu: „Ich wünschte, es wäre schon so weit. Ich kann es kaum noch erwarten.“

„Wir haben jetzt über ein Jahr daran gearbeitet. Und die Vorbereitungen sind so gut, dass Elena nichts Anderes tun kann, als das zu befolgen, was ich ihr sage.“

Er sah Sandra ernst an: „Die letzten Tage müssen wir ruhig bleiben und dürfen nichts Unüberlegtes tun.“

Das war eine Mahnung, die sie sehr wohl verstand. Sie neigte zur Ungeduld, das wusste Ralph, und er fragte sich in letzter Zeit häufig, ob sie die Nerven behalten würde. Am liebsten hätte er sie schon über den Atlantik geschickt, aber er brauchte sie in den kommenden Tagen noch hier bei sich.

„Das Wichtigste ist“, schloss Ralph, „dass sie im Flugzeug sitzt. Dann haben wir es geschafft.“

 

* * *

 

Elena wusste nicht, wie ihr geschah. Sie empfand nichts, konnte nicht weinen und funktionierte einfach nur. Ralph rief sie jetzt fast jede Stunde an. Und sie selbst musste auch ihn bei jeder neuen Etappe zurückrufen. Dabei wusste sie nicht, ob Ralph in der Nähe war und sie beobachtete. Nur nachts kam sie ein wenig zur Ruhe. Aber anstatt zu schlafen, lag sie wach und dachte nach.

Sie wollte aus all dem raus, aber sie hatte Angst vor Ralph. Er war wie besessen und würde sie wohl eher umbringen, als zulassen, dass sie zur Polizei ginge. Und wenn sie es täte, würde sie sich nicht einfach von ihm trennen können.

Plötzlich schoss ihr durch den Kopf, dass sie ja auch noch eine Lebensversicherung hatte. Diese würde im Falle ihres Todes an Ralph gehen. Wenn sie also zur Polizei ginge und alles verlöre, dann bräuchte Ralph nur wieder einen geschickten Unfall herbeiführen und hätte trotzdem ein kleines Vermögen.

Warum hatte sie früher immer daran geglaubt, dass alles mal besser werde, dass er sich ändere und sie mit ihm glücklich sein könne? Jetzt wünschte sie sich nichts lieber, als dass Ralph tatsächlich tot sei.

 

* * *

 

Am Samstag wartete Elena am Gate. In wenigen Minuten würde sie im Flugzeug sitzen. Die letzte Woche war die schlimmste ihres Lebens. So, wie sie jetzt hier stand, war sie ein Wrack, völlig abgehärmt und zittrig. Sie war übermüdet, doch sie merkte nichts mehr davon. Sie hatte nicht mal mehr ihre Haare gepflegt und zusammen mit den Ringen unter ihren Augen und den eingefallenen bleichen Wangen wirkte sie, als sei sie gerade einem Krankenhaus entflohen.

Sie sah sich ständig um, in der Hoffnung, Ralph zu sehen. Aber offensichtlich würde dieser mit einem anderen Flugzeug fliegen. Oder war er doch nicht in Deutschland gewesen und hatte alles von Chile aus geregelt? Aber nein, das konnte nicht sein. Es war schließlich eine deutsche Telefonnummer, die sie angerufen hatte und von der seine Anrufe kamen. Wahrscheinlich eine Prepaid-Nummer.

Das Gate öffnete sich und die Schlange vor dem Schalter wurde langsam kürzer. Elena hatte Angst und wurde immer nervöser. Dieses Flugzeug bedeutete für sie den Tod. Sie fühlte, dass sie sterben würde und es kein Zurück mehr gäbe, wenn sie dieses Flugzeug beträte. Und doch würde sie es tun. Sie hatte keine Kraft, sich Ralph zu widersetzen. Sie würde einsteigen. Aber ganz hinten. Als letzte. Sie würde warten, bis alle anderen eingestiegen sind.

„Na, das ist ja eine Überraschung!“

Elena erschrak und drehte sich mit einem Ruck zu dem Sprecher um. Erleichtert sagte sie: „Ach, Sie sind es, Herr Brandt.“

Julius Brandt war ihr Psychotherapeut, in dessen Praxis sie zusammen mit Ralph viele Stunden verbracht hatte.

„Sie sehen so erschrocken aus“, fragte er freundlich, „haben Sie jemand anderen erwartet?“

„Ja – nein – ich weiß nicht“, stotterte sie. Aber auf einmal fühlte sie sich besser. Plötzlich hatte sie das Gefühl, da war ein Mensch, der sie verstand, dem sie sich anvertrauen konnte. Fast erleichtert fragte sie: „Fliegen – fliegen Sie auch nach Chile?“

„Ja“, strahlte er sie an, „es sieht so aus, als flögen wir gemeinsam.“

Sie fasste Mut und ging mit ihm zusammen an das Ende der Schlange. Er sah sie freundlich an und strich sich mit einer Hand das ergraute Haar zurück, so dass eine kleine Narbe an der Stirn sichtbar wurde. Während sie langsam auf den Schalter zugingen, ließ er sie nicht aus den Augen.

Sie merkte es und sagte verlegen: „Ich muss schrecklich aussehen. Die letzte Woche war sehr anstrengend. Wegen all der Reisevorbereitungen. Ich bin das gar nicht gewohnt.“

„Aber das macht doch nichts“, sagte er mit sanfter Stimme. Und sie fühlte sich getröstet und atmete erleichtert auf.

Sie standen jetzt am Schalter und Elena zögerte einen Moment. Hinter sich bemerkte sie nun auch eine junge Frau, die sie ungeduldig ansah. Elena wollte sie vorlassen, doch Herr Brandt schob Elena nach vorn. Und plötzlich war die ganze Angst wieder da. Hinter ihr Herr Brandt und diese Frau, die sie nicht zurückließen. Mechanisch gab Elena der Dame am Schalter ihre Bordkarte. „Nun ist es vorbei“, dachte sie, „es gibt kein Zurück mehr.“ Ihr wurde schlecht und sie fühlte, wie sie schwankte.

Den Tumult um sich herum nahm sie nur wie im Traum wahr. Sie sah schemenhaft Polizisten. Einer zog sie an die Seite. Es drangen noch Worte, wie „verhaftet“ und „wegen Mordes“ an ihr Ohr. Dann wurde es schwarz um sie und sie sank ohnmächtig zu Boden.

 

* * *

 

Es war wieder ein warmer Abend und die Sonne färbte den Himmel rot. Gleich würde sie hinter den Bäumen und Häuserreihen verschwunden sein. Elena saß wieder auf einer Terrasse, doch nicht an ihrem Haus, sondern vor ihrem Zimmer in der Klinik.

Neben ihr saß Hauptkommissar Kurt Friedland, ein alter Haudegen vom Landeskriminalamt.

„Danke, dass Sie sich nach mir erkunden“, sagte Elena und blickte in die roten Wolken, die sich um die untergehende Sonne schmiegten, „das ist sehr nett von Ihnen.“

Der Hauptkommissar sah sie freundlich an: „Sie haben verdammt viel durchgemacht, gute Frau. Ich mache mir wirklich Sorgen um Sie.“ Und mit einem Lächeln fügte er hinzu: „Ich muss Ihnen nämlich sagen, dass ich das auch aus ein wenig Eigennutz tue.“

Sie sah ihn fragend an.

„Nun, ich brauche Sie ja noch als Zeugin. Ohne Ihre Aussagen werden wir es schwer haben, diese Verbrecher hinter Schloss und Riegel zu bringen.“

„Wollen Sie mir nicht sagen, was wirklich passiert ist? Ich habe überhaupt noch keine Vorstellung davon.“

„Sind Sie stark genug?“

Diese Frage klang wirklich voller Sorge und war ernst gemeint. Aber Elena nickte leise und sah ihm in die Augen: „Ja, ich will es hören.“

„Nun“, begann der Kommissar und setzte sich auf seinem Stuhl zurecht, „ich erzähle die Geschichte mal in der Reihenfolge, wie ich sie erlebt habe: Bei der Untersuchung des Brandes, bei dem Ihr Mann ums Leben kam, konnten wir nicht belegen, dass es Brandstiftung war. Aber die Obduktion ergab, dass Ihr Mann vermutlich schon vor dem Brand tot gewesen war. Er war nämlich nicht an einer Rauchvergiftung gestorben. Wegen des Zustands der Leiche konnte die Gerichtsmedizin aber nichts Konkretes sagen.

Ich begann dann, das bisherige Leben von Ihnen und Ihrem Mann zu untersuchen. Wir stießen auf Herrn Julius Brandt, ihren Psychotherapeuten. Seine Vergangenheit war sehr interessant. Er war wegen Urkundenfälschung und Erbschleicherei vorbestraft. Dummerweise aber hatte er von Ihrem Mann nichts geerbt, und so gab es kein Motiv, warum er Ihren Mann hätte ermorden sollen. Bis wir von einem früheren Kollegen Ihres Mannes erfuhren, dass Herr Brandt sehr wohl von Ihrem Mann etwas bekommen sollte. Zumindest hatte er damit gerechnet. Diesen Kollegen kennen Sie auch. Er heißt Helmut Schier.“

„Ja, er war ein guter Freund meines Mannes“, bestätigte Elena.

„Wir haben dann anhand der Informationen von Herrn Schier ermitteln können, dass Herr Brandt Ihren Mann in seinen Therapiestunden schon so weit hatte, dass dieser bereit war, die Lebensversicherung auf eine gemeinnützige Stiftung für obdachlose Kinder umzuschreiben. Später fand ich dann über einige Umwege heraus, dass diese Stiftung noch nie in Erscheinung getreten war und Frau Sandra Brandt Stifterin und Vorstand in einem war. Das war gar nicht so ungeschickt gemacht. Faktisch wäre alles Geld, das in die Stiftung gegangen wäre, direkt in die Taschen von Julius Brandt geflossen. Und damit hatte er ein handfestes Motiv.“

Der Kommissar machte eine Pause, die Elena für eine Bemerkung nutzte: „Aber das verstehe ich nicht. Das Geld aus der Versicherung habe doch ich bekommen!?“

„Das war ein Punkt, der mich auch irritierte. Aber die Erklärung war ganz einfach: Ihr Mann wollte die Versicherung tatsächlich umschreiben lassen und er hatte es Herrn Brandt glaubhaft versichert, dass er es getan habe. Aber auf Anraten seines Freundes hatte er es sich nochmal überlegt, und Herrn Brandt davon nichts gesagt. Warum sollte er auch? Vor Herrn Brandt stand Ihr Mann jetzt als guter Mensch da und hatte Ruhe vor dem Thema.

Herr Brandt hatte den Mord jedenfalls schon lange vorbereitet und führte ihn dann auch aus. Wichtig war, dass es wie ein Unfall aussehen musste, und das tat es dann ja auch. Ich nehme an, die zwei anderen Obdachlosen, die noch in dem Haus waren, hat er nicht nur in Kauf genommen, sondern eingeplant. Aber das alles werden wir ohne ein Geständnis wohl nicht beweisen können. Jedenfalls muss der Schrecken riesengroß gewesen sein, als Herr Brandt merkte, dass Ihr Mann gar nichts geändert hatte und weiterhin Sie die Berechtigte aus der Versicherung waren.“

Wieder eine Pause. Elena sagte leise, auf den Boden blickend: „Und darum machte er sich an mich ran. Ich kann es nicht glauben. Ich hätte geschworen, es sei Ralph gewesen.“

„Ja, das ist ja das Perfide. Sie waren lange genug bei ihm in Therapie. Herr Brandt kannte Sie ganz genau und wusste, welche Knöpfe er bei Ihnen drücken musste, damit Sie taten, was er wollte.“

„Es war so schrecklich. So unheimlich. Ich hatte die ganze Zeit eine wahnsinnige Angst.“

Nach einer stillen Minute fragte sie aufblickend: „Aber woher wussten Sie das? Wie konnten Sie überhaupt am Flughafen sein?“

„Nun, ich wusste, dass er etwas unternehmen würde und dass er sich dafür an Sie wenden musste. Zwei Millionen Euro Versicherungssumme sind zu viel, um darauf zu verzichten. Erst recht, wenn dafür schon ein dreifacher Mord begangen wurde. Herr Brandt stand die ganze Zeit unter Beobachtung. Wir wussten alles, was er tat und mit wem er verkehrte. Und die Interpol in Chile war so gut, uns zu unterstützen. Wir wussten, dass er oft in Chile war, wussten aber nicht, warum. Durch die chilenische Polizei erfuhren wir dann, dass er dort ein günstiges Grundstück angekauft hatte und sich nach vollbrachter Tat sicher dort absetzen würde.

Wir beobachteten auch alles, was letzte Woche passierte, nachdem er mit Ihnen Kontakt aufgenommen hatte. Sie waren nie allein in der Zeit, auch, wenn wir es Ihnen leider nicht zeigen konnten. Und wir mussten leider auch bis zum Schluss warten, um genug Material zusammenzubekommen. Ganz wasserdicht ist unsere Anklage noch immer nicht, aber wir durften Sie auf keinen Fall in das Flugzeug steigen lassen. Wären Sie erstmal in Chile gewesen, hätten wir nichts mehr für Sie tun können. Darum nahmen wir die beiden am Flughafen fest.“

Elena dachte wieder einen Moment nach. Sie blickte in die Wolken, die jetzt nur noch als dunkle Schatten am Himmel zu sehen waren, und für einen Augenblick wünschte sie, sie könnte jetzt zu Hause sein. Denn dann hätte sie auch die Sterne sehen können, die in den vielen Lichtern des Krankenhauses untergingen.

„Denken Sie“, fragte sie schließlich, „dass die zwei wieder auf freien Fuß kommen?“

„Nein“, antwortete der Kommissar entschieden, „nicht mit Ihrer Aussage und dem, was wir diesbezüglich in der letzten Woche sammeln konnten. Da bin ich sicher.“

Kurt sah sie an. Er fühlte sich jetzt nicht als Polizist, sondern als Kurt Friedland, ein guter Freund, der seit mehr als einem Jahr an Elenas Seite stand, um sie zu beschützen.

Er stand auf und reichte ihr die Hand: „Nun machen Sie sich keine Sorgen mehr. Ich bin weiterhin für Sie da. Bis wir das alles hinter uns haben.“

Eine Träne rann über ihre Wange. Sie sagte nichts, aber in ihrem Blick lag ein aufrichtiges „Danke“.

Impressum

Texte: Andreas Ganzer
Bildmaterialien: Andreas Ganzer
Cover: Andreas Ganzer, www.bookrix.de
Lektorat: Dinara Ganzer
Tag der Veröffentlichung: 13.08.2019

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