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Die Falle

Der Weg war beschwerlich. Peter Herrmann keuchte hörbar, als er sich den steilen Hang hinauf zwang. Er schwitzte unter seinem Mantel, obwohl er das Gefühl hatte, der Atem würde in der Luft gefrieren, noch bevor er aus seinem Mund kam. Die dicht stehenden, nackten Bäume konnten den gestrigen Schnee nicht gänzlich abfangen, so dass dieser, in kleinen Inseln verstreut, den Boden bedeckte. Peter bemühte sich, diese Inseln zu vermeiden, um keine Spuren zu hinterlassen. Er ging auch nicht auf dem eigentlichen Weg, sondern quälte sich abseits davon den Berg hinauf, um von eventuellen Wanderern nicht gesehen zu werden.

Er hatte bis zum Treffpunkt, einer stillgelegten Mine, etwa zwei Drittel des Weges geschafft, so schätzte er. Er blieb stehen, um ein wenig zu verschnaufen. Zurückblicken wollte er nicht. Er sah nach vorn, nach oben, dorthin, wo er ihn vermutete. Ihn! Peter konnte es kaum glauben. Nach fünf Jahren hatte er ihn gefunden. Den Mörder seiner Frau.

 

* * *

 

Die Polizei verdächtigte zunächst Peter selbst. Aber er hatte ein Alibi, denn er war den ganzen Tag bei seiner Mutter gewesen. Diese hätte das unter Eid beschworen, wäre es zu einer Verhandlung gekommen. Danach verliefen die Ermittlungen im Sande. Angeblich gab es kein weiteres ausreichendes Indiz. Aber Peter war aufmerksam. Er wusste genau, was die Polizei alles mitgenommen hatte. Es war auch etwas darunter, was definitiv weder Peter noch seiner Frau gehört hatte. Ein kleines silbernes Feuerzeug.

Wie Peter später erfuhr, seien die am Tatort gesicherten Spuren verloren gegangen. Eine Schlamperei oder Unachtsamkeit der ermittelnden Beamten. So etwas sei zwar ärgerlich, hatte man ihm zu verstehen gegeben, aber es würde ab und zu passieren. Die Beamten wären auch nur Menschen und würden sich alle nur denkbare Mühe geben.

Peter war misstrauisch und wurde es noch mehr, als er selbst nachforschte. Er erfuhr von einer ehemaligen Kollegin seiner Frau, dass diese zweimal von einem der Kollegin unbekannten Mann abgeholt worden sei. „Gut situiert, würde ich sagen“, meinte sie nachdenklich auf Peters Frage, „war jedenfalls überdurchschnittlich gut gekleidet. Wahrscheinlich maßgeschneidert.“

Später erfuhr er von einer vertrauten Freundin seiner Frau, dass diese ein Verhältnis gehabt habe. Sie sei ab und zu in einem Stundenhotel in der Nähe der A3 mit ihrem Liebhaber abgestiegen. Welches Hotel genau, konnte die Freundin nicht sagen. Doch das reichte Peter. Der Polizei aber offenbar nicht, denn es kamen keine Ergebnisse. Man habe nachgeforscht, doch nichts gefunden, hieß es.

Schließlich machte sich Peter selbst, mit einem Foto bewaffnet, auf den Weg und graste jedes Hotel in einer Entfernung von 100 Kilometern längs der Autobahn ab. Und er hatte Erfolg. Eine ältere Angestellte an der Rezeption konnte sich an seine Frau erinnern. Und auch an deren Begleiter. Aber einen Namen erfuhr Peter nicht. Da halfen auch kein Bitten und kein Betteln.

Auf Peters Drängen hin, fragte ein Beamter – ein junger Kommissar mit Namen Carsten Lohe – im Hotel nach, bekam aber keine Genehmigung, die Bücher zu prüfen. Und auch keinen Erlass, mit dem er den Namen des Mannes hätte ermitteln dürfen.

Zwischen Peter und Carsten entstand im Laufe der Jahre eine Art Freundschaft. Und obwohl der Kommissar nichts hätte sagen dürfen, erfuhr Peter von ihm, dass der Staatsanwalt eine nähere Untersuchung verhindert habe, weil mit diesem Hotel offenbar mehr los war, als die Beamten wussten, und dadurch andere Untersuchungen Gefahr liefen, durch weitere Ermittlungen gestört zu werden.

Peter forschte nun wieder auf eigene Faust und bekam die Hotelangestellte so weit, etwas mehr zu berichten: „Er kommt häufiger vorbei“, gestand sie ihm ein, „nicht nur mit Ihrer Frau. Er hatte immer schon mehrere.“

Schließlich brachte Peter die Angestellte dazu, ihn anzurufen, wenn sie den Mann wieder sähe. Und sie hielt Wort. Peter konnte unauffällig dem Mann folgen. Allerdings verlor er diesen bald aus den Augen, denn mit dem BMW des Verfolgten konnte Peters alter VW nicht Schritt halten.

Carsten tat Peter den Gefallen und ließ über das notierte Kennzeichen den Fahrzeughalter ermitteln. Es war ein Leihwagen. Um den Halter herauszufinden, musste Carsten sich wieder an den Staatsanwalt wenden. Und dieser nahm ihm prompt den Fall weg und drohte mit einer Versetzung, als Carsten den Grund für die Nachforschungen nannte.

„Er hatte nicht mal versucht herauszufinden, ob die Person irgendwie mit den anderen Ermittlungen in Verbindung steht“, klagte der Kommissar seinem Freund. „Offenbar ist da eine Bundesermittlung wegen eines Riesendings im Gange, oder da ist was faul. Jedenfalls kann ich dir jetzt nicht mehr helfen. So gerne ich würde.“

Peter sah es ein und beauftragte letztendlich einen Privatdetektiv. Eine Detektei konnte er sich nicht leisten, so nahm er sich nach langem Suchen in den Anzeigenblättern einen Einzelgänger, der ihm zwar kreuzunsympathisch war, jedoch wenig kostete. Aber es hatte sich gelohnt. Nicht lange, und Peter kannte den Namen, den Wohnort und den Beruf des Mannes.

Doch das alles nützte nicht viel, denn erstens musste der Mann nicht unbedingt der Mörder seiner Frau sein und zweitens kam Peter ohne die Polizei nicht an ihn heran. Also verfiel er auf eine absurde, aber wie es sich herausstellte, richtige Idee: Peter schrieb Erpressungsbriefe. Und es funktionierte. Peter gab nur vage Details in diesen Briefen an, aber der Mann reagierte schnell. Eine der Instruktionen im ersten Brief war, dass der Mann sich eine von Peter vorgegebene Kennung für Internet-Telefonie zulegen sollte. Und tatsächlich, zum angegebenen Zeitpunkt war der Erpresste in der Leitung. Peter hatte wochenlang im Internet geforscht und war sich schließlich sicher, dass er alles richtig eingerichtet hatte und selbst nicht gefunden werden konnte.

Die Übergabe des Geldes sollte an der alten Mine erfolgen. Natürlich war verabredet, dass das Geld abgelegt werden sollte und der Erpresser, also Peter, es sich später holen würde. Aber das Geld interessierte Peter nicht. Er wollte den Mörder stellen. Dieser sollte ein Geständnis machen, das Peter aufnehmen würde. Und wenn die Polizei dann noch immer nicht handelte oder irgendetwas schiefginge, würde Peter den Mann auch selbst richten. Er hatte es sich fest vorgenommen.

 

* * *

 

Jetzt, wo er keuchend hier oben stand und den Blick auf das letzte Stück Weg in Richtung Mine lenkte, dachte Peter nochmal über die vergangenen Jahre nach. Warum hasste er diesen Mann so? Nur, weil dieser seine Frau, die er liebte, ermordet hatte? Oder weil seine Frau mit diesem ein Verhältnis hatte und er als betrogener Ehemann die Demütigung rächen wollte? Peter wusste es selbst nicht so genau. Es war wohl alles zusammen. Es war ein unsäglicher Schmerz, zu erfahren, dass er nicht der einzige im Leben seiner Frau gewesen war. Eigentlich müsste er seine Frau dafür hassen. Aber er hasste diesen Mann. Weil dieser ein überhebliches, arrogantes Auftreten hatte und Peter damit zeigte, wie klein und verwundbar er war. Und obwohl dieser Mann jede andere Frau hätte haben können, hatte er sich Peters Ehefrau genommen.

Peter seufzte leise auf und atmete tief durch, bevor er den Weg endlich fortsetzte. Oben vor der Mine war noch alles ruhig. Aber es würde höchstens noch eine halbe Stunde dauern, bis der Mörder kam. Peter tat ein paar Schritte in den stillgelegten Stollen, dessen Eingang schon lange nicht mehr von dem alten Gitter geschützt wurde. Ganz im Dunkeln wartete er still und war froh, dass er langsam wieder zu Atem kam. Sein lautes Keuchen hätte ihn womöglich verraten. Er prüfte, ob das Messer in seinem Mantel griffbereit war, für den Fall, dass es notwendig werden sollte, dieses zu gebrauchen.

Bald verdunkelte ein Schatten den Eingang. Ein Mann stand einfach nur da und schaute in den Stollen hinein. Schließlich ging Peter leise auf den Mann am Eingang zu. Dieser schien nicht überrascht, sondern sagte leise, aber ernst: „Ich dachte mir, dass Sie bereits da sind.“

Peter stand nun dicht vor ihm und sah seinem Gegner fest, doch seltsamerweise ohne jedes Gefühl, in die Augen.

Der Mörder seiner Frau fuhr leise fort: „Glaubten Sie allen Ernstes, Sie könnten mich erpressen? Sie wissen doch, wer ich bin!?“

„Sie sind der Staatsanwalt, der den Mord an meiner Frau untersuchte“, entgegnete Peter kühl, „und der Mann, der sie ermordete.“

„Ich hab’s nicht gern getan.“

„Warum taten Sie es?“

Der Staatsanwalt zuckte mit den Schultern, als er sagte: „Sie wollte meine Karriere zerstören. Sie war leider etwas habgierig, und als ich ihr sagte, dass Schluss sei, drehte sie durch. Ich musste es tun.“

Das alles war kalt und herzlos gesprochen. Es war, als redete er über ein Geschäft. Peter spürte, dass er gegen diesen Mann keine Chance hatte. Peter hätte ihn einfach niederstechen können, aber genau das konnte er nicht. Er konnte keinen Menschen töten. Das wurde ihm in diesem Moment bewusst.

„Da oben warten zwei Polizisten“, fuhr der Staatsanwalt fort und deutete mit dem Kopf über den Eingang der Mine. „Ich werde Sie jetzt festnehmen lassen. Es ist Ihnen wohl klar, dass Sie nichts ausrichten können!?“

Das klang spöttisch. Peter antwortete ruhig: „Sie haben Beweise im Mordfall meiner Frau vernichtet. Sie werden genauso alles vernichten, was ich gegen Sie in der Hand habe.“

„Sie haben recht. Machen Sie sich also keine falschen Hoffnungen. Glücklicherweise ist ihre Mutter letztes Jahr gestorben, wie ich erfahren habe. Damit haben Sie für den Mord an Ihrer Frau auch kein Alibi mehr.“

Nach diesen Worten hob er eine Hand und im Dickicht über ihnen raschelte es. Einer der zwei Männer trug Zivil. Es war der Hauptkommissar, der den Mordfall bearbeitete. Der Staatsanwalt hatte in einer Hand eine Pistole und wühlte mit der anderen in den Taschen von Peters Mantel. Das Messer steckte er wieder zurück, das Telefon und das Aufnahmegerät steckte er in seine eigenen Taschen. Das ging schnell und war erledigt, bevor die zwei Beamten bei ihnen ankamen.

„Ich verhafte Sie“, fuhr der Staatsanwalt unbeeindruckt fort, „wegen des dringenden Tatverdachts, Ihre Frau ermordet zu haben.“

 

* * *

 

Sie traten den Weg nach unten an, Peter zwischen den beiden Beamten, die Hände auf dem Rücken mit Handschellen gesichert. Es hatte wieder angefangen zu schneien und die kalten Kristalle brannten Peter wie kleine Feuerflammen auf der Haut.

Auf dem Parkplatz standen zwei Fahrzeuge, denen der frische Schnee ein weißes Tuch überlegte. Neben Peters eigenem Wagen parkte eine ihm unbekannte Limousine. Zu dieser führten die Beamten den Gefangenen.

Niemand sprach ein Wort. Doch diese Stille wurde von einem lauten Martinshorn jäh unterbrochen. Zwei Streifenwagen fuhren mit Blaulicht auf den Parkplatz und blockierten den Weg.

„Haben Sie die Verstärkung angefordert?“, fragte der Staatsanwalt sichtlich irritiert den Hauptkommissar.

Doch bevor der Gefragte antworten konnte, öffneten sich die Türen der Streifenwagen und vier uniformierte Polizisten stiegen aus und traten – zwei von ihnen mit den Händen an den Pistolen – auf die kleine Gruppe zu. Aus dem vorderen Streifenwagen stiegen nun auch Kommissar Carsten Lohe und ein weiterer Mann, den Peter nicht kannte. Dieser Mann war es, der schließlich sagte: „Staatsanwalt Bernard Graf, ich nehme Sie hiermit wegen des dringenden Tatverdachts der Tötung von Frau Ines Herrmann fest.“

Der Staatsanwalt schluckte und wollte sich empören, brachte aber schließlich, als die Polizisten ihm Handschellen anlegten, nur ein irritiertes „Wer sind Sie überhaupt?“ hervor.

„Ich heiße Holger Frank und bin interner Ermittler. Kommissar Lohe informierte mich über einige Unregelmäßigkeiten im Mordfall Ines Herrmann. Und Herr Herrmann war so klug, Kommissar Lohe rechtzeitig über das, was er vorhatte zu informieren. So konnten wir Ihnen diese Falle stellen.“

„Er hat alles in seine Manteltaschen gesteckt“, sagte Peter.

„Das ist eine Fälschung“, schrie der Staatsanwalt, „ein Zusammenschnitt, um mich zu verleumden.“

„Es hat keinen Zweck, Herr Graf“, sagte Carsten Lohe ruhig, „wir haben nämlich auch das Mobiltelefon mitlaufen lassen und Ihre Aussagen nicht nur gehört, sondern auch aufgenommen. Für den Fall, dass Sie das Aufnahmegerät von Herrn Herrmann doch noch irgendwie vernichtet hätten.“

 

* * *

 

Die zwei Streifenwagen verließen als erste den kleinen Parkplatz. Der vollkommen verdutzte Hauptkommissar, der wohl erkannte, dass er seinem Staatsanwalt seit Jahren auf den Leim gegangen war, setzte sich schließlich mit seinem Schutzpolizisten in die Limousine und fuhr der kleinen Kolonne hinterher.

Kommissar Lohe stieg zu Peter in den Wagen und sagte erleichtert: „Das ist ja doch noch alles gut gegangen.“

Peter sah ihn dankbar an.

„Aber wegen der Erpressung“, fuhr Carsten fort, „kommt garantiert noch was nach.“

Peter nickte ruhig, dachte bei sich: „Das ist mir jetzt echt egal“, und sank zufrieden in seinen Sitz.

 

Impressum

Texte: Andreas Ganzer
Cover: www.bookrix.de
Lektorat: Dinara Ganzer
Tag der Veröffentlichung: 27.07.2019

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