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Kapitel Eins

Die übergroße Wanduhr über der Eingangstür des Coffeeshops zeigte zwanzig nach elf. Um diese Zeit war der Laden nur durchschnittlich gut besucht, denn die Mittagspause der umliegenden Büros und Geschäfte hatte noch nicht begonnen, und auch die meisten Schüler und Studenten saßen noch im Unterricht und in den Vorlesungen, anstatt sich hier mit flüssigen Wachmachern zu versorgen. Für mich und den Mann, der mich begleitete, hatte das den Vorteil, dass wir problemlos einen Tisch nahe der großen Glasfenster bekamen, durch die wir unauffällig alles beobachten konnten, was drinnen sowie draußen vor sich ging. Deshalb waren wir schließlich hergekommen: zum Beobachten. Oder wie der Mann es nannte, zu Recherchezwecken.

Besagter Mann schaute bereits scheinbar beiläufig durch die Fenster, als ich mit vollen Händen zurück zum Tisch kam. Die kleine Porzellantasse stellte ich vor ihm ab, während ich aus dem großen Pappbecher selbst einen Schluck nahm, bevor ich mich hinsetzte. "Es tut richtig gut, zur Abwechslung mal was anderes als nur normalen Filterkaffee zu trinken."

Der Mann verdrehte die Augen. "Wenn du mich fragst, dürfte sich sowas", er deutete flüchtig auf meinen Becher, "überhaupt nicht Kaffee nennen. Milch, na von mir aus, aber Sirup, Aromen, Sahne und was da noch alles drin ist - mir graut schon beim Gedanken daran."

Ich zuckte mit den Schultern. "Mir schmeckt er so."

"Ich weiß." Sein Gesicht verriet deutlich, was er davon hielt, während er den aufsteigenden Dampf seines Espresso tief einatmete. "Ich hoffe, du kannst dich trotz des vielen Zuckers konzentrieren."

"Das werd ich gerade noch hinkriegen." Wie zum Beweis sah ich über den Rand meines Bechers hinweg nach draußen, wo einige Menschen unterschiedlichen Alters vorbeispazierten. "Ich soll jetzt also einfach jemanden aussuchen, ja?" Kaum hatte ich es ausgesprochen, kam mir meine Formulierung mehr als unpassend vor. "Einfach jemanden aussuchen", na klar.

"Fangen wir am besten ganz von vorne an", bremste mich der Mann und nippte an seinem Espresso. "Schließ die Augen. Na, mach schon."

Ich gehorchte. Die tiefe Stimme des Mannes ließ mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen, als er weitersprach: "Hör einfach auf dein Bauchgefühl und denk nicht zu lange nach. Soll es ein Mann oder eine Frau sein?"

"Ein Mann." Ich hätte nicht erklären können, warum.

"Gut. Hast du ein bevorzugtes Alter?"

"Ehm. Nein, ich glaube nicht. Vielleicht - mittleres Alter?!"

"Aussehen? Charakteristika?" Als ich nicht antwortete, fuhr der Mann fort: "Brille, dicker Bauch, Glatze, Bart..."

Im Gegensatz zu vorher wollte dazu kein Bild vor meinem inneren Auge erscheinen. "Ist egal."

Der Mann nickte. "In Ordnung. Dann brauchen wir nur noch dein Ausschlusskriterium."

Ich öffnete die Augen. "Mein was?"

"Naja, für jeden gibt es so etwas wie - ein No-Go, eine Art Tabu, verstehst du? Etwas, dass dich in jedem Fall davon abhalten würde, dich für diese Person zu entscheiden."

"Zum Beispiel?"

"Zum Beispiel..." Der Mann machte eine Pause, die mir länger vorkam als nötig. "Kinder. Schwangere. Ähnlichkeit mit einem Freund oder Verwandten. Und so weiter, und so weiter."

Er hatte betont leise gesprochen, und obwohl unser Gespräch nicht im Geringsten darauf hindeutete, worum es

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 22.06.2016
ISBN: 978-3-7396-6162-9

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