Vor sehr langer Zeit
Die Frau wusste, dass ihr nicht mehr allzu viel Zeit blieb. Rasch hastete sie durch die verschlammten Wege und Gassen des Städtchens, wobei sie größere Straßen oder belebte Plätze nach Möglichkeit vermied. Sie wollte jetzt niemandem begegnen. Der Geruch nach verbranntem Holz zog zwischen den Häusern hindurch. Sie schauderte, als ihr bewusst wurde, dass es nicht nur das war, was überall in der Luft hing, schon seit Wochen, in denen diese grässlichen Männer hier bei ihnen Gericht hielten. Es war vor drei Tagen, als sie aus sicherer Quelle erfuhr, dass sich die Schlinge um ihren Hals enger gezogen hatte, und dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis auch sie verhaftet und zum Verhör verschleppt werden würde. Natürlich war auch dabei wieder nur Neid und Missgunst im Spiel gewesen! Sie hätte es ahnen müssen. Nicht, dass sie allzu viel zu befürchten hatte. Trotz allem musste sie bei dem Gedanken laut auflachen. Nein, anhaben konnten sie ihr nichts, ganz im Gegensatz zu diesen anderen jämmerlichen unschuldigen Geschöpfen, die gar nicht wussten, wie ihnen geschah.
Endlich hatte sie ihr Haus erreicht, das im hintersten Winkel einer blind endenden Gasse lag und ebenso windschief und schlecht gebaut war, wie die anderen bescheidenen Behausungen in diesem Viertel der Stadt. Aber das war alles nur Tarnung. In Wirklichkeit hatte sie hinter dieser armseligen Fassade unschätzbare Reichtümer angehäuft, Kostbarkeiten materieller, aber auch ganz anderer Art! Und jetzt, so kurz vor ihrem Ziel, dem sie all die vielen Jahre gewidmet hatte, sollte alles umsonst gewesen sein? Nein, das würde sie niemals zulassen.
Gleich nachdem sie die Haustür hinter sich wieder fest verriegelt hatte, stieg sie in die Tiefen des Kellergewölbes hinab. Dort schüttete sie den Inhalt ihres Bündels auf dem großen Tisch in der Mitte des Raumes aus. So! Jetzt hatte sie endlich alle Zutaten zusammen. Das war nicht einfach gewesen und hatte sie nicht nur reichlich kostbare Zeit sondern auch schmerzhaft viel von ihrem Geld gekostet. Besonders der raffgierige Händler, den sie zuletzt aufgesucht hatte und der keine Ahnung davon haben konnte, wofür sie die ganzen Dinge brauchte, hatte wohl in seinem Geschäftssinn instinktiv gespürt, wie wichtig diese für sie waren und eine wirklich unverschämte Summe dafür verlangt.
Sie hatte aber, ganz gegen ihre Gewohnheiten, keine Zeit damit vertan, groß mit dem Händler herumzustreiten. Der Mann hatte kaum seine Verwunderung darüber verhehlen können, dass sie widerspruchslos ihren Geldbeutel vor ihm ausgeleert hatte.
Aber, was er natürlich nicht ahnen konnte: Lange würde er sich daran nicht mehr erfreuen können. Dafür hatte sie bereits gesorgt…
Jetzt aber schnell gemacht!
Der große Kupferkessel hing schon über der glühenden Kohle. Ihr prüfender Blick zeigte ihr, dass der Inhalt bald die richtige Temperatur erreicht haben dürfte…
Wenig später lehnte sie sich zufrieden in ihrem Sessel zurück. In der Hand hielt sie die Glasviole. Sie betrachtete sie gegen das flackernde Licht der Kerzenleuchter und sah, wie sich die ölige violette Flüssigkeit träge im Glasgefäß bewegte. Ein paar Tropfen davon dürften genügen. Sie war sich sicher, dass ihr Opfer nichts merken würde.
Ein leiser Anflug des Bedauerns befiel sie, den sie aber sogleich energisch wieder unterdrückte. Es waren jetzt wahrlich nicht die richtigen Zeiten für irgendwelche Sentimentalitäten. Gut, es handelte sich um ihre Schwester. Und wenn sie nicht dazu gezwungen gewesen wäre, wäre sie natürlich niemals auf die Idee gekommen sie zu opfern. Aber es ging nun einmal nicht anders. Ihre Häscher würden sie jeden Moment aufspüren können, das wusste sie aus sicherer Quelle.
Und vor ihr standen doch diese großartigen Aufgaben. Dagegen war das Leben ihrer Schwester, objektiv betrachtet, doch nichtig und bedeutungslos. Trotz aller Fähigkeiten, die sie besaß, und das waren nicht wenige, war sie leider darauf angewiesen, jemanden auszuwählen, der ihr selbst möglichst ähnlich sah…
Sie hatte ja alle möglichen Alternativen geprüft. Aber immer wieder lief es auf das gleiche hinaus: Um ihr Leben zu retten, hätte sie Hals über Kopf fliehen, hätte sie alles zurücklassen müssen. Dabei brauchte sie doch nur noch wenige Tage, drei, um genau zu sein. Dann würde sich die Prophezeiung erfüllen, und sie und Ihresgleichen konnten endlich aus dieser jämmerlichen ignoranten Welt verschwinden!
So, jetzt sollte sie aber allmählich wieder nach oben gehen und schon einmal den Tisch decken. Ihre Schwester konnte jeden Moment kommen…
Vielleicht hatte diese ja auch Glück. Die Wirkung des Trankes würde vielleicht drei oder auch vier, höchstens fünf Tage anhalten. Dann würden sie alle sehen, wen sie wirklich vor sich hatten. Allerdings, ob ihrer Schwester das etwas nützen würde, war natürlich mehr als fraglich. Denn die Richter konnten so etwas ja auch durchaus als unumstößlichen Beweis ihrer Verdächtigungen werten… Aber, Schluss jetzt mit diesen lästigen Gedanken. Sie meinte, oben vor dem Haus etwas gehört zu haben. Sicherlich war es bereits schon ihr Gast, den sie erwartete.… Pünktlich wie immer, ihre große brave Schwester.
1 Die Fahrt
2 Eine andere Welt
3 Die Gaukler
4 In der Stadt
5 Der Zauberer
6 Im Schloß
7 Zurück
1 Die Fahrt
1
„Autsch“, rief Sarah so laut, dass sich ihre Mutter auf dem Beifahrersitz umdrehte und ihr Vater am Steuer zusammenzuckte. Sie rieb sich den rechten Unterarm, auf dem sich jetzt deutlich die Abdrücke der Fingernägel ihres Bruders abzuzeichnen begannen und erinnerte sich plötzlich wieder an das gemeinsame Spiel, das sie sich für langweilige Autofahrten (und diese war ausgesprochen langweilig) ausgedacht hatten. Allerdings lag das bereits einige Stunden und sicherlich hunderte von Kilometern zurück.
„Das gilt doch schon lange nicht mehr, du Idiot“, protestierte sie.
„Doch. Da war eine grüne Ente“, rechtfertigte sich Robert, ihr jüngerer Bruder, „ Wir haben sie gerade überholt. Du kannst dich ja umdrehen und selber schauen, wenn du mir nicht glaubst, blöde Kuh.“
Zu diesem Spiel muss gesagt werden, dass es eigentlich ganz einfache Spielregeln hatte: Jedes Mal, wenn man auf der Autofahrt eine grüne Ente überholte, durfte derjenige, der dies zuerst bemerkt hatte, den anderen kneifen. Nun war es aber so, dass sie schon einer ganzen Weile keine grünen Enten mehr überholt hatten. Entweder, die grünen Enten waren heute alle in der Garage geblieben, oder sie fuhren an einen anderen Urlaubsort. Vielleicht an einen, der nicht in den Bergen lag, denn Enten, und nicht nur die grünen, tun sich auf bergigen Strecken bekanntlich ziemlich schwer. Zumindest waren sie bisher noch nie von einer Ente überholt worden, auch wenn ihr Vater sicherlich nicht gerade zu den Rasern auf der Autobahn gehörte.
Auf jeden Fall hatte Sarah das Spiel schon längst wieder vergessen und wurde jetzt ziemlich abrupt und unsanft aus ihren schönen Tagträumen gerissen. Sie dachte nämlich gerade an die Pferdekoppel im Dorf ihrer Großeltern und an das Versprechen ihrer Eltern, in diesen Ferien endlich reiten lernen zu dürfen. Bisher hatte sie lediglich ein paar Mal auf dem Pferd einer ihrer besten Freundinnen sitzen dürfen. Das lief dann mit ihr allerdings nur an der Leine auf dem Voltegierplatz ein wenig im Kreis herum. Ihr Traum war es, einmal ein eigenes Pferd besitzen zu dürfen, und sie hoffte ihre Eltern im Urlaub vielleicht dazu überreden zu können, wenn sie erst sahen, wie viel Spaß es ihr bereitete.
So war es nicht weiter verwunderlich, dass der Frieden auf dem Rücksitz des Familienautos mit einem Mal stark gefährdet war, was die Eltern im vorderen Teil des Wagens, die mit solchen Situationen so ihre leidvollen Erfahrungen hatten, dazu veranlasste, rasch einen Rettungsplan zu entwerfen:
„Sagt mal ihr zwei da hinten“, rief ihr Vater munter und betont beiläufig, „Wie wäre es mit einer großen Portion Eis an der nächsten Raststätte? Ich weiß nicht, wie es euch so geht, aber ich könnte jetzt etwas Süßes vertragen und würde mir auch gerne mal ein wenig die Beine vertreten.“
Sarah schluckte gerade noch die nächste Bemerkung hinunter, die ihr bereits auf der Zunge lag. Schließlich konnte es ja nicht sein, dass ihr kleiner Bruder es wagte, sie ungestraft eine blöde Kuh zu nennen. Geschweige denn davon, dass sie es unerwidert und vor allem ungerächt hinnahm, dass sich jetzt an ihrem rechten Oberarm langsam ein blauer Fleck auszubreiten begann.
Aber um des lieben Friedens willen und natürlich auch um zu unterstreichen, dass sie eigentlich doch eher zu der Erwachsenenmannschaft im vorderen Teil des Wagens gehörte, signalisierte sie dem Vorschlag schließlich ihr Einverständnis. Sie hoffte zumindest, dass ihr Grummeln einigermaßen zustimmend klang.
Ihr Bruder dagegen (typisch: Hier ging es ja schließlich ums Essen. Ihr Bruder dachte immer nur ans Essen) war sofort Feuer und Flamme und schien das dämliche Entenspiel wohl, Gott sei Dank, sogleich vergessen zu haben.
Nach wenigen Kilometern Fahrt tauchte dann am Straßenrand ein Hinweisschild auf, welches auf die nächste Autobahnraststätte hinwies. Sarah merkte jetzt, dass sie eigentlich schon länger aufs Klo musste. Es war wirklich ungerecht: Männer schienen nie auf die Toilette gehen zu müssen, während dies Mädchen ständig taten. Natürlich wurde sie damit unpassender Weise immer wieder von ihrem Vater und natürlich vor allem von ihrem Bruder aufgezogen. Sie wartete schon auf eine entsprechende blöde Bemerkung.
Und tatsächlich: „Papa, halte am besten gleich neben dem Klohäuschen an, dann schafft es Sarah vielleicht noch“, rief ihr Bruder, das Miststück, mit einem nur schlecht unterdrückten, schadenfrohen Lächeln. Robert hatte sicherlich bemerkt, dass seine Schwester mittlerweile damit begonnen hatte, ein wenig unruhig auf ihrem Sitz herumzurutschen.
Gnädigerweise ersparten sich ihre Eltern eine Antwort auf diese Provokation. Sarah registrierte aber erleichtert, dass sie tatsächlich direkt vor dem Toilettenhäuschen anhielten. Sie stieg aus dem Wagen und versuchte die wenigen Schritte bis zur Eingangstür des kleinen Gebäudes einigermaßen würdevoll zurückzulegen. „Jetzt bloß nicht rennen müssen“, sagte sie sich. Als sie dann um die Ecke des Gebäudes gebogen und so den Blicken ihrer Familie entronnen war, warf sie diesen Vorsatz allerdings sogleich über den Haufen, hastete zur Tür, riss sie auf und stürzte in den Raum.
Glücklicherweise war ihr dort niemand im Weg, das hätte sonst sicherlich ein Unglück gegeben. Kurz bevor sie die nächste offene Kabinentür erreichte, sah sie im Augenwinkel ein schlankes Mädchen in Bluejeans und einem grünen T-Shirt an sich vorbeihasten. Sarah dachte noch, dass ihr das Mädchen irgendwie bekannt vorkam, als ihr, sie saß mittlerweile (deutlich erleichtert) auf dem Klo, klar wurde, dass sie sich gerade selbst im Wandspiegel über dem Waschbecken gesehen hatte. „Typisch, du unverbesserlicher Träumer. Wieder reingefallen!“, schalt sie sich selbst.
„Ihre Tochter hat wirklich sehr viel Phantasie.“ So oder ähnlich hatte es ihre Klassenlehrerin voriges Jahr wohl ihrer Mutter anlässlich eines Elternabends mitgeteilt, wobei sich Sarah nicht sicher war, ob das nun als Kompliment oder vielleicht doch als vorsichtige Kritik aufzufassen war. Alles in allem war sie wirklich eine gute Schülerin und verstand nicht so recht, was ihre Lehrerin an ihr auszusetzen hatte.
Für ihre Mutter war das alles natürlich ganz klar und offensichtlich. „Unsere Träumerin“, pflegte sie immer zu sagen, wenn Sarah wieder mal mit offenen Augen ins Leere starrend über ihrem Abendbrot oder vor ihren Hausaufgaben saß. „Wo bist du denn jetzt schon wieder, mein Kind? Könntest du mal für einen kleinen Moment auf die Erde zurückfliegen und zur Abwechslung einmal in dieses Brot beißen (oder diese Aufgabe zu Ende rechnen)?“
Dann dauerte es immer den winzigen Bruchteil einer Sekunde, bis Sarahs Blick wieder klar wurde. Als wenn sie gerade aus dem Schlaf gerissen worden wäre, brauchte sie einen kleinen Augenblick, um ihre Umgebung wieder richtig wahrnehmen zu können. Sie konnte, wenn man sie in Ruhe ließ, minutenlang so dasitzen. Im Übrigen war sie dazu an nahezu jedem beliebigen möglichen (und unmöglichen) Platz in der Lage.
Darauf angesprochen, was sie eigentlich immer so vor sich hin träume, gab sie meist ausweichende Antworten. Sie hatte ohnehin das Gefühl, dass das eigentlich sowieso niemanden so richtig interessierte.
„Mädchen träumen von weißen Pferden, Märchenprinzen und ähnlichem langweiligen Kram“, Das war die unerschütterliche Meinung ihres Bruder, der in der Tat lieber handfeste Schlachten mit seiner Armee aus Weltraummonstern oder anderen Plastikmutanten ausfocht.
Nachdem Sarah die Toilettenkabine verlassen hatte, machte sie sich am Waschbecken erst einmal frisch. Sie war von der langen Autofahrt ganz verschwitzt und fühlte sich ziemlich klebrig und ungewaschen. Als sie fertig war, betrachtete sie sich vor dem Hinausgehen noch rasch ein letztes Mal kritisch in dem großen Spiegel, der über den Waschplätzen aufgehängt war. Sie sah ein schlankes Mädchen mit langen dunkelblonden Haaren, das für sein Alter schon recht groß war. Sie gehörte zu den Größten in ihrer Klasse und überragte bereits so manchen der Jungen. Aber die waren sowieso noch ganz schön kindisch und zurückgeblieben, das hatten Sarah und ihre Freundinnen in endlosen Gesprächen bereits ausdiskutiert.
Ein paar wenige ihrer besten Kameradinnen schwärmten bereits für den einen oder anderen der Jungen in den höheren Klassen. Auch wenn da sicherlich ein paar nette Kerle dabei waren, die sich nicht ganz so albern benahmen, wie deren Geschlechtsgenossen in ihrem Jahrgang, interessierte sie sich nicht sonderlich für sie. Sie fand diese ganze Schwärmerei eigentlich ganz schön dämlich und reichlich peinlich.
Sarah näherte sich noch einmal dem Spiegel. Tatsächlich. Verdammt, da war wieder so ein hässlicher Pickel, gleich neben der Nase. Die auf ihrer Stirn konnte sie wenigstens unter ihrem Pony halbwegs verbergen. Sie würde ihre Mutter nach ihrem Gesichtspuder fragen, dann wenn es niemand sonst von ihrer Familie mitbekam.
Gehörte denn so ein blöder Kram, wie unreine Haut und hässliche Eiterpickel, immer unweigerlich dazu, wenn man älter wurde?
Dann könnte sie wirklich dankend darauf verzichten, erwachsen zu werden. Sie musste an Pippi Langstrumpf denken, eine ihrer Lieblingsromanfiguren. Hatte die nicht irgendetwas gefunden, was sie am größer werden hinderte?
Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als ihre Mutter zur Tür herein kam. Sarah nutzte die Gelegenheit und ließ sich von ihrer Mutter noch rasch mit ein wenig Gesichtspuder aushelfen. Sie sah im Spiegel, wie ihre Mutter sie dabei von der Seite betrachtete. Sarah wartete schon auf irgendeine Bemerkung. Vielleicht waren ihre Jeans zu eng, zu zerfetzt oder waren sie gar zu tief angesetzt? Sie hatte diese endlosen Diskussionen über Modefragen ziemlich satt. Man trug so etwas jetzt nun einmal!
Zu Sarahs Verwunderung sagte ihre Mutter aber nichts weiter. Sarah war sich nicht ganz sicher, aber sie meinte sogar ein leichtes Schmunzeln im Gesicht ihrer Mutter gesehen zu haben, kurz bevor sie sich zu ihr umdrehte, um den Puder zurückzugeben. Das irritierte sie ein wenig.
Ihre Mutter drückte sie kurz an sich, und gemeinsam gingen sie zum Auto zurück.
Erwachsene konnten manchmal schon ganz schön komisch sein…
2
Als sie die Raststätte wieder verließen, kamen sie auf dem Weg vom Parkplatz zur Autobahnzufahrt noch an einer Tankstelle vorbei. Sarahs Mutter fragte daraufhin, ob sie hier nicht sicherheitshalber noch einmal tanken sollten. Wenn sie schon einmal hier waren. Ihr Vater erwiderte, dass er lieber noch ein paar Kilometer weiter fahren wollte, da gleich hinter dem langen Autobahntunnel, der sie auf die andere Seite des Gebirgszuges bringen würde, eine Ausfahrt käme. Über die würde man, ohne einen größeren Umweg zu machen und ohne wesentlich an Zeit zu verlieren, in ein Dorf gelangen, in dem man bedeutend günstiger auftanken könne, als hier auf der Autobahn.
Daraufhin begann ein längerer Monolog über die Spritpreise im Allgemeinen und über die Unverschämtheit der Mineralölgesellschaften, die überhöhten Steuern auf Benzin und so weiter. Sarah sah beim Blick in den Rückspiegel, wie ihre Mutter die Augen verdrehte, sicherlich bereute sie es bereits, das Stichwort für eines der Lieblingsthemen ihres Mannes gegeben zu haben.
Ihre Mutter schaute kurz nach hinten, wobei sich ihre und Sarahs Blicke kurz begegneten. Sarah verdrehte daraufhin ebenfalls die Augen und sie mussten beide gleichzeitig herzhaft loslachen. Ihr Vater schwieg daraufhin irritiert und schien für ein paar Minuten ein wenig eingeschnappt zu sein. Spätestens aber, als Sarahs Mutter die soeben gekauften Gummidrops auspackte und die Tüte im Auto herumgereicht wurde, war alles wieder in bester Ordnung. Fröhlich ging die Fahrt weiter. Alle schwatzten durcheinander, wobei das Thema mal der bevorstehende Urlaub bei den Großeltern war, mal sah jemand von den Vieren etwas Amüsantes oder Bemerkenswertes beim Blick aus dem Fenster und teilte es den anderen zu ihrer Belustigung mit.
Schließlich begann sich die vorbeiziehende Landschaft allmählich und zunächst fast unmerklich zu verändern. Die bislang vorherrschenden flachen Getreidefelder machten sanft ansteigenden Hügeln Platz, auf denen sich zumeist Viehweiden befanden, auf deren saftigem Grün Pferde oder bunt gescheckte Kühe weideten und sich am Gras gütlich taten.
Auch die Dörfer und Städtchen, an denen sie vorüber kamen, sahen mittlerweile ganz anders aus als daheim. Die Häuser und Gehöfte standen viel weiter auseinander und hatten oftmals prächtige Holzgiebel, tief heruntergezogene Dächer, wegen des Schnees, der hier im Winter reichlich fiel, wie ihr Vater beiläufig bemerkte, und Balkone mit bunten Blumen in gewaltigen Blumenkästen. Die Kirchen besaßen lustige zwiebelförmige Türme und waren teilweise richtig bunt und farbenfroh, nicht so grau und schmucklos, wie die in ihrer Heimatstadt.
Die Autobahn machte jetzt immer engere Kurven. Schließlich verspürte Sarah einen langsam stärker werdenden Druck auf den Ohren, der ihr signalisierte, dass es dabei stetig bergauf ging.
Sarah lehnte sich in ihrem Sitz zurück und schloss die Augen. Sie freute sich schon sehr auf ihre Großeltern, die sie eigentlich viel zu selten zu sehen bekam. Das lag zum einen daran, dass sie ziemlich weit weg wohnten. Es war jedes Mal eine Fahrt von mindestens sieben bis acht Stunden, so dass man nicht einfach über ein Wochenende zu Besuch kommen konnte. Außerdem war ihr Vater in der letzten Zeit beruflich sehr beschäftigt. Er arbeitete als Ingenieur in einer großen Firma, wo er für die Entwicklung von Fahrzeugelektronik verantwortlich war. Da er erst kürzlich zum Leiter dieser Abteilung befördert worden war, hatte er natürlich derzeit jede Menge zu tun und kam fast jeden Tag abends ziemlich spät von der Arbeit zurück. Auch am Wochenende fuhr er häufig in die Firma und war zudem immer wieder im ganzen Land auf Dienstreisen unterwegs. Das war jetzt eigentlich ihr erster richtiger Urlaub seit über einem Jahr, wenn man von einem Wochenende in einem Freizeitpark absah, das sie zu ihrem letzten Geburtstag, sie war 11 geworden, geschenkt bekommen hatte.
Ihre Mutter arbeitete erst seit einem halben Jahr wieder. Sie war Krankenschwester in der Klinik ihrer Heimatstadt. Allerdings ging sie zur Zeit nur vormittags zur Arbeit, wenn Robert in der Schule war. Ihr kleiner Bruder war gerade eingeschult worden. Manchmal, wenn eine Kollegin krank oder im Urlaub war, musste ihre Mutter natürlich auch mal nachmittags arbeiten. Das bedeutete dann für Sarah einiges an Verantwortung, weil sie dann auf ihren Bruder aufpassen musste. Das war nicht immer leicht, da er ihr häufig nur sehr widerwillig gehorchte. Manchmal flogen ganz schön die Fetzen zwischen ihnen beiden.
Wenn sie ganz ehrlich sein wollte, musste Sarah allerdings zugeben, dass sie an solchen Tagen manchmal auch ein wenig ungnädig sein konnte. Schließlich musste sie ja dann auch auf einiges verzichten und konnte sich nicht mit ihren Freundinnen treffen.
Jetzt freute sie sich aber erst einmal auf ihren Urlaub. Sie würden drei lange Wochen bei ihren Großeltern wohnen. Dann blieben noch weitere drei Wochen Schulferien übrig. Sie würde, wenn das Wetter mitspielte, jeden Tag ins Freibad gehen, Eis essen, Bücher lesen oder einfach nur faulenzen!
3
Jetzt waren sie sicherlich schon wieder eine gute halbe Stunde unterwegs, seitdem sie die Raststätte verlassen hatte. Die Süßigkeiten waren bereits vertilgt, so dass sich Sarah wieder dem Blick aus dem Autofenster widmen konnte.
Je höher die Berge jetzt um sie herum in den Himmel ragten, desto kurvenreicher und steiler verlief die Autobahn. Sarah merkte, wie ihr Vater immer wieder einen Gang zurückschalten musste, ein Indiz dafür, dass sich die Straße immer weiter in die Höhe wand. Außerdem knackte es jetzt immer häufiger in den Ohren. Immer wieder mussten sie jetzt auf ihrer Fahrt Straßentunnel durchqueren, wenn die Felsen und Berge vor ihnen zu hoch waren, als dass man hätte eine Straße über sie hinweg bauen können. Für Sarah war die Strecke, die sie diesmal fuhren, neu, da sie einen Umweg genommen hatten, um zuvor einen Onkel ihrer Mutter zu seinem sechzigsten Geburtstag zu besuchen.
Sarah und ihr Bruder machten sich jetzt einen Zeitvertreib daraus, die Längenangaben der Tunnel zu lesen, die zusammen mit dem jeweiligen Namen des Bauwerks vor dessen Eingang auf einem Schild neben der Straße aufgeführt waren. Besonders spannend waren die Durchfahrten durch die ganz langen Tunnel, bei denen man nicht bereits schon vom Eingang aus das Ende sehen konnte.
Meistens beschreib die unterirdisch verlaufende Straße dann einen weiten Bogen. Ihr Vater hatte ihnen einmal erklärt, dass man das mit Absicht so baue, damit die Autofahrer nicht die ganze Zeit auf den immer größer werdenden Lichtfleck am Ende der Durchfahrt starrten. Das würde nämlich gar nicht so selten Unfälle verursachen, weil die Autofahrer dann nichts anderes um sich herum mehr wahrnahmen und irgendwann gegen die Wand fuhren.
Nach mehreren recht enttäuschend kurzen Bergdurchquerungen kamen sie jetzt an einem Schild vorbei, das den bislang längsten Tunnel auf ihrer Reise versprach: Immerhin fast acht Kilometer lang sollte er sein!
Zu Beginn war die Straße noch durch zahlreiche Leuchtstoffröhren an der Tunneldecke erhellt, deren gelbliches Licht alles in einen seltsam warmen Farbton tauchte. Dann, als sie bereits ein ganzes Stück Wegstrecke zurückgelegt hatten, wurde die Beleuchtung allerdings etwas spärlicher. Sarah konnte beim Blick aus dem Wagenfenster während der raschen Fahrt nicht sicher erkennen, ob hier die Betreiber des Tunnels ein wenig an Beleuchtung gespart hatten, oder ob die Lampen einfach nur kaputt waren.
Das wurde auf den nächsten hundert Metern leider nicht besser und es dauerte nicht lange, und die Straße vor ihnen wurde zum größten Teil nur noch von den Scheinwerfern ihres eigenen Wagens erhellt.
„Ein wirklich dunkler und schlecht beleuchteter Tunnel und das bei dieser Länge!“, schimpfte ihr Vater leise vor sich hin. „Man muss sich ganz schön konzentrieren, nirgendwo mit dem Auto anzuecken.“ Ihre Mutter nickte zustimmend. Sie wirkte ziemlich angespannt. Sarah wusste, dass sie diese Tunneldurchfahrten überhaupt nicht mochte. Sie sagte einmal, dass ihr diese Unmengen von Felsen, Steinen, Geröll und Erde über ihrem Kopf, mit ihren Tausenden und Abertausenden von Tonnen an Gewicht unheimlich seien.
Sarah hatte bereits auf früheren Ferienfahrten festgestellt, dass man die Länge eines Tunnels und somit den in der Dunkelheit bereits zurückgelegten Weg nur ganz schwer abschätzen konnte.
Manchmal war auf dem Weg durch die Dunkelheit eine Informationstafel zu sehen, die darüber informierte, wie viele hunderte von Metern man schon gefahren war, und sie hatte sich fast jedes Mal gewundert, weil sie diese Strecke meistens weit überschätzt hatte. Wahrscheinlich fehlten einem im Tunnel einfach die Bezugspunkte, wie man sie sonst durch die vorbeiziehende Landschaft hatte.
Irgendwie wurde sie jetzt durch das monotone Brummen des Motors und die schummrige Beleuchtung im Wagen allmählich schläfrig. Sie bemerkte, dass auch ihr Bruder neben ihr auf der Rücksitzbank schon eine ganze Weile stillsaß (bei ihm wahrlich eine Seltenheit) und offensichtlich fest eingeschlummert war.
Sarah wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, aber als sie die Augen öffnete, merkte sie gleich, dass irgendetwas nicht stimmte.
Sie hörte, wie ihre Eltern im Vorderteil des Wagens gerade leise aber offensichtlich ziemlich erregt miteinander tuschelten.
Zugleich stellte sie erstaunt fest, dass es um sie herum immer noch ganz dunkel war. Zunächst dachte sie, dass sie so lange geschlafen hatte, dass mittlerweile die Nacht über sie hereingebrochen war. Aber den Gedanken verwarf sie sogleich wieder. Ihre Großeltern wohnten nämlich gar nicht so weit weg, als dass sie dort erst in der Nacht ankommen würden.
Sarah brauchte nur wenige Augenblicke, um zu begreifen, dass sie sich tatsächlich noch immer im Tunnel befanden.
Noch etwas benommen vom Schlaf, fragte sie, laut gähnend, wie es sein konnte, dass sie immer noch nicht aus dem blöden Berg herausgekommen waren.
Ihre Eltern verstummten beide bei der Frage plötzlich, bevor ihr Vater, mit sichtlich unsicherer Stimme, zugab, dass er das auch nicht verstünde.
„Wir müssten schon längst wieder draußen sein“, erklärte er. „Ich habe zwar nicht von Anfang an auf den Kilometerzähler geachtet, aber seitdem ich mitzähle haben wir bereits fast 15 Kilometer zurückgelegt. Und der Tunnel sollte insgesamt ja eigentlich nur acht Kilometer lang sein….“
„Vielleicht haben wir das Schild nicht richtig gelesen, oder die Angaben darauf waren falsch“, sprach ihre Mutter leise, aber man konnte es ihrer Stimme anmerken, dass auch sie ziemlich irritiert und ein wenig besorgt war.
„Nein, das kann nicht sein“, widersprach ihr Vater, „So lange Straßentunnel dürfte es in dieser Gegend überhaupt nicht geben. Ich kenne die Strecke ziemlich gut. Und so neu sieht dieser Tunnel auch nicht gerade aus, als dass er auf den Karten einfach noch nicht verzeichnet wäre.“
Sie schwiegen alle eine ganze Weile, bis Sarah endlich laut aussprach, was ihr die ganze Zeit schon komisch vorgekommen war: „Seltsam, habt ihr nicht auch alle den Eindruck, dass wir die Einzigen sind, die überhaupt durch diesen Tunnel fahren?“
Und wirklich, keiner von den Dreien konnte sich daran erinnern, dass sie in der letzten Zeit ein anderes Fahrzeug überholt hätten, oder dass ein anderer Wagen an ihnen vorbeigefahren wäre.
Vor ihnen war in der Dunkelheit auch kein rotes Rücklicht als Hinweis auf ein vor ihnen fahrendes Fahrzeuges zu erkennen. Beim Blick nach hinten aus dem Heckfenster konnte Sarah nur die undurchdringliche Schwärze der Tunnelröhre sehen, die von keinem anderen Autoscheinwerfer erhellt wurde.
Die Wände des finsteren Tunnels wurden im Vorbeifahren von den roten Rücklichtern ihres eigenen Wagens nur ganz kurz und schemenhaft erhellt. Da der Autobahntunnel zwei getrennte Röhren für die jeweils entgegen gesetzten Fahrspuren aufwies, konnte man auch nichts über andere, entgegenkommende Fahrzeuge sagen.
Zu allem Überfluss wurden die wenigen Neonröhren an der Decke des Tunnels, die ohnehin nur noch ganz unregelmäßig und in immer größeren Abständen voneinander angebracht waren, schließlich noch spärlicher. Nachdem der Wagen einer weiteren sanften Biegung der Straße nach links gefolgt war, hörte die Beleuchtung schließlich schlagartig ganz auf.
Robert, ihr kleiner Bruder, der bei dem aufgeregten Gespräch zwischen Sarah und ihren Eltern irgendwann aufgewacht war, war jetzt ganz kleinlaut geworden, was für ihn gänzlich untypisch war. Er starrte ebenso wie die anderen gebannt nach vorne, wohl in der Hoffnung, jeden Moment als erster den ersehnten Lichtschimmer des Tunnelausganges zu erhaschen.
Sie fuhren eine ganze Weile so weiter, ohne dass ein rechtes Gespräch aufkommen wollte, als Sarah ihren Vater am Steuer leise fluchen hörte:
„Verdammt, wenn wir hier nicht bald herauskommen…, wir haben nämlich fast kein Benzin mehr.“ Sarah beugte sich zwischen den Lehnen der Vordersitze vor.
Tatsächlich. Im Armaturenbrett leuchtete das gelborange Symbol der Tankanzeige. Und der Zeiger zeigte ganz nach unten in den Bereich der Reserve.
„Ich habe doch am Parkplatz gesagt, dass du noch einmal tanken solltest. Und das alles nur wegen der paar Cent“, warf ihre Mutter vorwurfsvoll ein, verstummte dann aber rasch. Sie hatte offensichtlich eingesehen, dass ein Streit ihnen in dieser Situation auch nicht weiterhelfen würde.
Sie schwiegen jetzt alle wieder ganz betreten, währenddessen ihr Vater vorsichtig weiterfuhr. Sarah konnte von ihrem Rücksitz aus sehen, dass er das Lenkrad so fest umklammert hielt, dass die Fingerknöchel ganz weiß heraustraten. An seinen Schläfen perlten die ersten Schweißtropfen herab. Ihr wurde selber ganz heiß. Sarah begriff, dass ihr Vater wohl die Klimaanlage ausgestellt haben musste, um ein wenig Treibstoff zu sparen.
Es half aber alles nichts. Nach einer weiteren, schier endlosen Strecke durch die Dunkelheit fing der Motor zunächst erst ganz vereinzelt an zu ruckeln, dann wurden die Aussetzer immer häufiger.
Sarah hielt die Luft an.
Sie hatte Angst.
„Gott sei Dank, da vorne scheint so etwas wie eine Haltebucht zu sein“, flüsterte ihr Vater mit heiserer Stimme und ließ den mittlerweile hoffnungslos stotternden und ruckenden Wagen schließlich ausrollen.
Tatsächlich war hier an dieser Stelle der Tunnel deutlich breiter, so dass Platz genug war für einen schmalen Haltestreifen, auf dem sie erst einmal ungefährdet stehen bleiben konnten.
Sie blieben alle einen kurzen Augenblick schweigend im Auto sitzen.
Es wurde fast unheimlich still, als der Motor schließlich nach ein paar letzten Fehlzündungen endgültig verstummte.
So sehr sie ihre Sinne in der Dunkelheit auch anstrengte, in der sie umgebenden Stille konnte Sarah keinerlei Geräusche von anderen Fahrzeugen hören.
Ihr Vater zog jetzt sein Mobiltelefon heraus. Sicherlich wollte er den Pannendienst anrufen. Kurz darauf hörte Sarah ihren Vater enttäuscht fluchen. Sie begriff, dass hier im Tunnel
offensichtlich kein Empfang möglich war. Gleichzeitig erinnerte sie sich daran, dass auch das Radio schließlich bereits kurz nach der Einfahrt in den Berg verstummt war.
„Hier gibt es sicherlich ganz in der Nähe eine Notrufsäule, schließlich ist das die erste Haltebucht, die ich in diesem verdammten Tunnel bisher gesehen habe. Ich werde jetzt aussteigen und nachschauen gehen. Ihr anderen wartet besser alle hier im Auto. Da ist es am sichersten. Eine Panne in einem Straßentunnel zu haben, ist schließlich nicht gerade ungefährlich.“
Da die Batterie ihres Autos noch funktionierte, leuchteten wenigstens noch die Fahrzeugscheinwerfer. Sarah versuchte nicht darüber nachzudenken, wie lange so eine Fahrzeugbatterie brauchte, bis sie endgültig leer war. Sie erinnerte sich nur zu gut an ein Erlebnis, das sie im letzten Urlaub hatten, als ihr Vater versehentlich das Licht am Auto hatte brennen lassen, während sie eine Burg besichtigten. Sie waren gar nicht lange unterwegs gewesen, aber als sie zu ihrem Fahrzeug zurückkamen, hatte dieses beim Anlassen nicht nur keinen Mucks mehr von sich gegeben, sondern auch die Scheinwerfer hatten mittlerweile aufgehört zu funktionieren. Nun, es war ja auch ein altes Auto gewesen, versuchte Sarah sich zu trösten. Das, in dem sie jetzt saßen, war noch ganz neu und hatte sicherlich eine bessere Batterie. Sarah zuckte zusammen, als plötzlich ein Warnton erklang. Natürlich: Ihr Vater hatte gerade die Fahrertür geöffnet. Bei diesem Auto wäre ihnen das Missgeschick vom letzten Urlaub also nicht passiert.
Von ihrem Platz aus konnte Sarah im Kegel der Scheinwerfer allerdings nichts entdecken, was auch nur annähernd wie eine Notrufsäule aussah. Es schien ihr fast so, als sogen die dunklen Tunnelwände das Licht nahezu völlig auf.
Wenigstens ihren Vater konnte Sarah jetzt aber gut erkennen, wie er sich, sich immer wieder suchend umblickend, allmählich von ihnen entfernte. Schließlich verlor sie ihn für eine kurze Schrecksekunde in der Dunkelheit ganz aus den Augen. Dann sah sie, zu ihrer Erleichterung, dass er wieder zu ihnen zurückkehrte.
Ihr Vater setzte sich wieder auf seinen Platz hinter dem Steuer. „Ich kann hier kein Telefon oder auch nur ein verdammtes Hinweisschild darauf entdecken“, berichtete er, sichtlich verärgert und noch ganz außer Atem.
„Das verstehe ich einfach nicht. In diesem Land gibt es doch für so etwas mit Sicherheit ganz klare Vorschriften und Gesetze. Ich zahle doch weiß Gott genug an Steuern und allen möglichen anderen Abgaben!“
Nach diesem kurzen Ausbruch schwieg ihr Vater eine Weile, um dann mit leiser Stimme fort zu fahren: „Weiter vorne scheint aber so etwas wie ein Einschnitt in der Tunnelwand oder vielleicht sogar ein Durchgang zu sein. Ich bin mir nicht ganz sicher. Das Licht der Autoscheinwerfer ist da vorne einfach zu schwach.“ Er überlegte kurz. „Moment mal! Wir müssten hier doch im Handschuhfach irgendwo noch eine Taschenlampe haben.“
Er kramte hektisch im Handschuhfach herum, wo er schließlich tatsächlich eine Taschenlampe fand, die glücklicherweise auch noch funktionierte. Daraufhin besprach er sich kurz mit Sarahs Mutter.
„Ich gehe noch einmal los. Wenn dort vorne tatsächlich so etwas wie ein Notausgang nach draußen sein sollte, hole ich euch gleich hier im Wagen ab!“
Er schloss die Fahrertür, und wenig später sahen sie ihn erneut im Licht der Scheinwerfer verschwinden. Irrte sie sich, oder wurden diese bereits schwächer? Sarah war sich nicht sicher und wollte lieber nicht laut fragen. Die Atmosphäre im Inneren des Wagens war ohnehin schon ängstlich und angespannt genug. Daran nicht unbeteiligt war sicherlich auch die schlechte Luft, die nicht nur hier im Auto sondern auch draußen im Tunnel herrschte. Obwohl sie die Fenster mittlerweile alle geöffnet hatten, blieb es im Wagen weiterhin unangenehm stickig und warm. Sarah merkte mit einem unbehaglichen Gefühl, wie ihr die Schweißtropfen von Stirn und Nacken herunter tropften.
Sie warteten jetzt schon eine ganze Weile, viel länger als zuvor, ohne dass sie den Vater wiederkommen sahen.
Nicht nur Sarah war mittlerweile ganz unruhig geworden. Sie merkte, dass auch die Mutter auf dem Beifahrersitz nervös hin und her rutschte und mit den Fingern der rechten Hand unaufhörlich auf den Fensterrahmen der Tür trommelte. Als sie mit der Hand in Richtung ihrer Hemdtasche griff, wusste Sarah, dass ihre Mutter wohl unwillkürlich nach ihren Zigaretten suchte. Allerdings hatte sie bereits vor über einem Jahr endgültig mit dem Rauchen aufgehört, sehr zur Erleichterung der restlichen Familienmitglieder. Jetzt konnte Sarah an der automatischen Geste erkennen, wie nervös ihre Mutter sein musste. Robert dagegen, ihr sonst stets so unruhiger und lebhafter Bruder, hatte schon die ganze Zeit nichts mehr gesprochen und starrte jetzt nur noch mit großen ängstlichen Augen nach vorne in die Dunkelheit, die seinen Vater verschluckt zu haben schien.
„Vielleicht hat er doch noch ein Telefon gefunden und holt gerade Hilfe herbei“, sprach ihre Mutter leise, klang dabei aber in Sarahs Ohren reichlich unsicher und wohl selbst nicht allzu sehr davon überzeugt. Schließlich hörte die Mutter mit dem monotonen Getrommel ihrer Finger auf und öffnete stattdessen die Wagentür. Sie stieg aus und begann damit, laut nach ihrem Mann zu rufen. Ihre Stimme hallte im Tunnel wider. Sarah fand, dass die ganze Situation etwas ziemlich Unheimliches hatte. Ihr lief es trotz der im Tunnel herrschenden Hitze ganz kalt den Rücken herunter.
Es herrschte eine geradezu schaurige Stille. Auf die unzähligen Rufe hin war keinerlei Antwort zu vernehmen.
Nachdem sie einige weitere Minuten gewartet hatten, die Sarah schier endlos lang vorkamen, beschloss ihre Mutter, jetzt selbst loszugehen, um nach ihrem Mann zu suchen.
„Nicht, dass ihm in der Dunkelheit etwas passiert ist! Er kann ja gegen ein Hindernis gelaufen oder gestolpert und hingefallen sein. Ihr wisst ja wie ungeschickt euer Vater manchmal sein kann. Vielleicht liegt er irgendwo da vorne, bewusstlos…“
Sie sprach nicht weiter, weil ihr jetzt offenbar bewusst wurde, wie sehr sie damit ihre Kinder ängstigen könnte. Es entbrannte daraufhin eine kurze aber heftige Diskussion zwischen Sarah und ihrer Mutter.
Zunächst bestand Sarahs Mutter natürlich vehement darauf, sich alleine auf die Suche zu machen. Sie erklärte ungeduldig und nervös, dass sie doch nur schnell ein Stück nach vorne gehen wollte, bis dorthin, wo ihr Mann vorhin meinte, einen Ausgang gesehen zu haben. Sie würde dann auch ganz bestimmt zu ihren Kindern zurückkommen und zusehen, dass sie gemeinsam so schnell wie möglich aus diesem scheußlichen Tunnel verschwanden
Sarah war damit aber überhaupt nicht einverstanden. Sie war der Ansicht, dass sie jetzt lieber alle zusammen bleiben sollten. Sie schielte dabei in Richtung ihres kleinen Bruders, der ganz ängstlich auf dem Rücksitz neben ihr kauerte. Sie erwähnte dabei natürlich nicht, dass sie selbst Angst hatte, so ganz ohne den Schutz eines Erwachsenen im Auto zurückzubleiben.
Als dann Robert zu weinen anfing, gab ihre Mutter schließlich nach.
Nachdem sie alle drei ausgestiegen waren, schloss Sarahs Mutter sicherheitshalber den Wagen ab. Die Scheinwerfer, die tatsächlich langsam schwächer zu werden begannen, ließ sie natürlich brennen. Eine entleerte Batterie war jetzt sicherlich das geringste Problem, das sie hatten.
„Bleibt aber ganz dicht bei mir und haltet euch immer an die rechte Tunnelwand, damit ihr nicht noch überfahren werdet“, ermahnte sie ihre beiden Kinder.
Die Gefahr des Überfahrenwerdens kam Sarah allerdings recht gering vor, da weiterhin kein anderes Auto zu sehen oder zu hören gewesen war.
Die Aufforderung, dass sie dicht beisammen bleiben sollten, empfand Sarah allerdings als absolut einleuchtend, zumal sie sich in dem unheimlichen Tunnel immer unbehaglicher zu fühlen begann.
So gingen die drei vorsichtig und dicht hintereinander den vom Scheinwerferlicht zunächst gut beleuchteten Fahrbahnrand entlang. Ihr Weg war allerdings zunehmend schlechter erkennbar, je weiter sie sich von ihrem Auto fortbewegten. Sarah musste höllisch aufpassen, dass sie nicht stolperte. Der Asphalt am Straßenrand war nämlich in keinem sonderlich guten Zustand. Überall fanden sich Risse und Schlaglöcher. Hier konnte man sich sicherlich leicht den Knöchel brechen, wenn man nicht sehr vorsichtig war.
Gerade noch im Dämmerlicht erkennbar, sahen sie vor sich schließlich tatsächlich so etwas wie eine große Nische in der rechten Tunnelwand aus der Dunkelheit auftauchen.
„Schaut doch Kinder, da vorne“, hörte Sarah ihre Mutter, sichtlich erleichtert, ausrufen, „Da vorne steht euer Vater. Er wartet sicherlich schon auf uns!“
Sie eilte voraus und winkte den anderen beiden ungeduldig zu, ihr rasch zu folgen.
Sarah, die erst einmal stehen geblieben war, kniff ihre Augen zusammen und meinte tatsächlich eine menschliche Silhouette zu erkennen, die sich schemenhaft von der Dunkelheit der Tunnelröhre abhob. Der Mann schien ihnen tatsächlich zuzuwinken, soweit man das bei den armseligen Lichtverhältnissen überhaupt sicher sagen konnte.
Es war ein ganz schwacher Lichtschein zu erkennen, wahrscheinlich von der Taschenlampe, die ihr Vater bei sich trug. Das Licht war allerdings eher diffus und ließ die ganze Gestalt irgendwie unwirklich und falsch proportioniert erscheinen. Sarah hatte bei dem Anblick ein ziemlich seltsames Gefühl. Etwas schien da nicht zu stimmen. Sie wusste zwar selbst, dass es eigentlich nur ihr Vater sein konnte, der da auf sie wartete. Aber warum blieb er einfach da vorne stehen und kam ihnen nicht mit seiner Taschenlampe entgegen, damit sie es in der Dunkelheit leichter hatten? Und warum rief er ihnen nicht wenigstens irgendetwas zu?
„Sarah, Robert! Nun kommt doch endlich“, ermahnte sie ihre Mutter, die jetzt ziemlich ungeduldig klang und riss Sarah so aus ihren Gedanken.
Sie war ihnen in der Zwischenzeit schon weit vorausgeeilt und in der Dunkelheit des Tunnels kaum noch zu erkennen. „Da vorne scheint es wirklich herauszugehen! Ich kann schon das Licht erkennen…“
Sarah beeilte sich, ihrer Mutter nachzukommen. Sie wollte nicht in der Finsternis zurückbleiben. Sie musste aber nach wenigen Metern wieder stehen bleiben, weil sich der Schnürsenkel ihres rechten Schuhs geöffnet hatte und sie fast gestolpert wäre. Sie bückte sich rasch, um ihn zuzubinden. Ihr Bruder, der mit seinen kurzen Beinen der Mutter nicht folgen konnte, war bei ihr geblieben.
„Wo ist Mama?“, fragte er leise, als Sarah gerade wieder aus der Hocke hochkam und in Gedanken die Schnürsenkel ihrer neuen Schuhe verfluchte, die ihr zumeist in den unpassendsten Situationen immer wieder aufgingen.
Sarah starrte angestrengt in die Dunkelheit.
Das konnte doch einfach nicht sein. Ihre Mutter und auch ihr Vater waren mit einem Mal nicht mehr zu sehen. Auch der diffuse Lichtschimmer war weg.
„Mutter, Vater. Wo seid ihr?“, rief sie zunächst alleine, dann zusammen mit ihrem Bruder. Immer und immer wieder riefen sie.
Aber niemand antwortete ihnen.
4
Die können uns doch nicht einfach hier in der Dunkelheit stehen lassen, war der erste empörte Gedanke, der Sarah durch den Kopf ging, als sie sich von ihrem ersten Schrecken erholt hatte. Ihr kleiner Bruder stand währenddessen ganz stumm und verloren neben ihr.
Nachdem sich Sarah wieder einigermaßen gefasst hatte, nahm sie Robert fest bei der Hand, und gemeinsam tasteten sie sich vorsichtig an der Wand des Tunnels entlang, weiter auf die vermeintliche Nische zu, wo ihre Eltern den Notausgang vermutet hatten.
Es war jetzt fast völlig stockfinster, und Sarah konnte ihre Hand kaum noch vor den Augen erkennen. Die Autobatterie stand wohl kurz davor, ihren Geist endgültig aufzugeben.
Abgesehen von den Geräuschen ihrer Schritte, die schwach an den Wänden des Tunnels widerhallten, war es gespenstig still um sie herum.
Schließlich bemerkte Sarah, eigentlich ertastete sie es mehr, als dass sie es wirklich sehen konnte, wie die Wand zu ihrer Rechten zurückwich und sich tatsächlich eine Art von Nische neben ihnen auftat.
Sie spürte sogleich einen schwachen kühlen Luftzug im Gesicht und an ihren nackten Unterarmen. Sarah fröstelte ein wenig.
„Hier muss irgendwo der Weg nach draußen sein“, sprach sie zu ihrem Bruder, die Stimme unwillkürlich zu einem Flüstern gesenkt.
Sarah folgte dem Luftzug und tastete die Wand nach einer Öffnung ab.
Robert fand die Tür schließlich als erster und zerrte ganz aufgeregt an der Hand seiner großen Schwester.
Mittlerweile hatten sich deren Augen etwas besser an die Dunkelheit gewöhnt, und sie erkannte jetzt schemenhaft die Umrisse einer Stahltür, die in die Rückwand der Nische eingelassen war.
Ansonsten fanden sich aber, soweit sie das im Dämmerlicht erkennen konnte, keinerlei Hinweisschilder oder Markierungen. Nichts wies darauf hin, dass es sich hier wirklich um einen Notausgang handeln könnte, und vor allem konnte sie nicht wissen, ob ihre Eltern zuvor durch diese Tür gegangen waren.
Aber, wohin sonst hätten ihre Eltern so schnell verschwinden können? Eine andere Möglichkeit konnte sich Sarah einfach nicht vorstellen.
Weiter hinein in den dunklen Tunnel waren sie ganz sicher nicht gegangen. Das hätte keinerlei Sinn gemacht.
Während sie unschlüssig vor der Tür stand, merkte Sarah, wie sehr sie mit einem Mal die Dunkelheit und Abgeschlossenheit des stickigen Tunnels zu erdrücken schienen. Sie verspürte jetzt nur noch ein immer größer werdendes Verlangen nach frischer Luft und Tageslicht!
„Komm Robert, machen wir, dass wir hier endlich raus kommen!“ Sarah griff die rechte Hand ihres Bruders und schob die nur angelehnte Stahltür ganz auf.
Sogleich wurde der kühle Luftzug stärker. Vorsichtig betraten die beiden Kinder die kleine Kammer, die sich hinter der Tür verbarg.
Der Raum war völlig leer und, soweit man es in der Dunkelheit erkennen konnte, ziemlich verstaubt. Überhaupt roch es hier ausgesprochen muffig und abgestanden, trotz des beständigen Luftstroms. Ein Telefon oder irgendwelche Hinweistafeln konnte sie auch hier nirgends entdecken. Allerdings schien früher tatsächlich einmal etwas an der Wand angebracht gewesen zu sein. Jetzt waren hiervon allerdings nur noch ein paar Löcher zu erkennen. Eine weitere Tür am hinteren Ende der Kammer öffnete sich schließlich in ein enges Treppenhaus, in dem eine recht steile Treppe nach oben zu führen schien.
Sarah und ihr kleiner Bruder blieben am Eingang zum Treppenhaus kurz stehen und lauschten erst einmal nach irgendwelchen Schritten oder anderen Geräuschen.
Aber außer ihren eigenen Atemzügen konnten sie zunächst nichts hören. Nichts, was ihnen angezeigt hätte, dass sie ihren Eltern dicht auf der Spur und somit auf dem richtigen Weg waren.
Dann, als sie schon losgehen wollten, vernahmen sie endlich, ganz leise und ziemlich weit oberhalb von ihnen, hastige Schritte. Die Geräusche wurden aber rasch leiser und entfernten sich immer mehr.
Sarah begann erneut, laut nach ihren Eltern zu rufen. Robert stimmte in ihre Rufe mit ein.
Eine Antwort bekamen sie seltsamer Weise nicht, obwohl ihre Stimmen laut durch den Treppenschacht hallten und von den Wänden immer wieder reflektiert und verstärkt wurden. Das war Sarah völlig unbegreiflich. Ihre Eltern mussten sie doch gehört haben.
Schließlich konnten sie von den Schritten nichts mehr hören.
„Warum haben die uns hier zurückgelassen?“ Sarahs Bruder schluchzte laut auf.
Sarah drückte ihn sachte an sich und strich ihm über den Kopf. Eine Antwort auf diese Frage konnte sie ihm aber auch nicht geben.
Sie spürte, dass sie jetzt mit einem Mal wohl eine große Verantwortung hatte, nicht nur für sich, sondern gerade auch für ihren kleinen Bruder. Trotz aller Streitigkeiten und Sticheleien zwischen ihnen beiden, die in der letzten Zeit teilweise ziemlich nervtötend gewesen waren, war Robert im Grunde genommen doch noch ein richtiges Kind, das nun von ihr, der „großen“ Schwester, beschützt werden musste.
„Komm, Robert! Jetzt sollten wir endlich wirklich von hier verschwinden. Sicher warten die Eltern oben am Ausgang auf uns. Die haben es in dieser miefigen Dunkelheit sicher auch nicht länger ausgehalten.“
Langsam und vorsichtig machten sie sich jetzt an den beschwerlichen Aufstieg durch das finstere Treppenhaus. Völlig dunkel, wie es Sarah zunächst befürchtet hatte, war es Gott sei Dank doch nicht. Von irgendwoher weit oben kam ein wenig Licht, so dass sie zumindest schemenhaft die Treppenstufen erkennen konnten, auf denen sie sich jetzt Schritt für Schritt nach oben tasteten. Über ihren Köpfen, schien sich die Treppe schier endlos nach oben zu winden.
Sarah ging voran, wobei Robert ihr dicht folgte und sich, damit sich beide in der Dunkelheit nicht verloren, am Gürtel ihrer Jeans festhielt.
Sarah verlor in der Dunkelheit allmählich völlig das Zeitgefühl. Es kam ihr bald so vor, als wären sie bereits schon seit einer Ewigkeit unterwegs. Aber ein Ende der Treppe schien noch nicht in Sicht zu sein.
Erschöpft mussten sie schließlich eine kurze Pause einlegen. Die Luft war teilweise so stickig und verbraucht, dass Sarah ganz kurzatmig war. Der frische Luftzug, den sie am Fuß der Treppe zumindest noch erahnen konnten, war hier oben kaum mehr zu verspüren.
Hoffentlich führte ihr Weg sie nicht in irgendeine Sackgasse, dachte sich Sarah.
Schließlich brachen sie wieder auf, ihrem unbekannten Ziel entgegen.
2 Eine andere Welt
1
Ab und zu streifte irgendetwas über Sarahs Gesicht, wahrscheinlich waren es Spinnweben, die sie hastig und voller Ekel wegwischte. Vielleicht war es doch gar nicht so schlecht, dass es hier so dunkel war, dachte sie sich, so konnte man wenigstens nicht sehen, was hier so alles lebte und herumkrabbelte. Allein schon bei dem Gedanken, kribbelte es ihr gleich am ganzen Körper. Wenn sie eines nicht leiden konnte, dann waren es Spinnen, besonders die dicken mit den haarigen Körpern. Die waren einfach ekelhaft.
Nach einigen weiteren Treppenabsätzen, Sarahs Beine wurden allmählich müde, bemerkte sie, dass es um sie herum allmählich wieder etwas heller wurde. Das Licht schien dabei diffus von oben und von der Seite zu kommen. Wahrscheinlich waren hier irgendwelche Lichtschächte eingelassen worden. Hoffentlich bedeutete das, dass sie bald am Ende der Treppe angelangt waren.
Nach und nach konnte man die Umrisse der Treppenstufen und der Wände wieder schemenhaft erkennen. Tatsächlich hingen überall, in jedem Mauerwinkel und auch am Geländer, das im Übrigen hoffnungslos verrostet war, Spinnweben herum. Die meisten davon waren dermaßen verstaubt, dass sie fast wie Vorhänge wirkten.
Überhaupt sah es nicht so aus, als wenn hier jemand in den letzten Jahren sauber gemacht hätte. Auch der Boden der Treppenabsätze und die Stufen selbst waren mit einer zentimeterdicken Staubschicht belegt.
Seltsam war nur, dass Sarah auf den Stufen, die vor ihr lagen keine Fußabdrücke erkennen konnte, während sich ihre eigenen und die ihres Bruders im Staub deutlich hinter ihnen abzeichneten. Sie schüttelte energisch mit dem Kopf. Nein, ihre Eltern mussten hier entlang gegangen sein. Und wer weiß, wie schnell hier drinnen alles wieder verstaubte. Sie dachte da nur an ihr Zimmer daheim, wenn sie ein paar Tage nicht richtig aufgeräumt hatte…
Dann waren Sarah und Robert endlich am obersten Absatz der Treppe angelangt. Sarah atmete ein paar Mal tief durch. Sie war sicherlich nicht unsportlich, aber der Aufstieg war wirklich anstrengend gewesen. Sie bewunderte ihren kleinen Bruder, der kein einziges Mal gejammert hatte. Im Zwielicht des Treppenschachts war jetzt direkt vor ihnen eine Tür erkennbar. Durch einen schmalen Spalt am Boden trat helles Tageslicht hindurch.
Sarahs erste Freude über diesen Anblick verflog rasch, als sie gleich darauf feststellen musste, dass sich die Tür nicht öffnen ließ. In ihrem ersten Schrecken befürchtete sie schon, sie wäre fest verschlossen. Nachdem sie sich aber mit ihrem ganzen Gewicht, was zugegebenermaßen nicht sonderlich viel war, dagegen warf, begann sich die Tür doch allmählich zu bewegen. Dabei gab sie ein fürchterlich lautes, quietschendes Geräusch von sich, als wäre sie schon seit Jahren nicht mehr bewegt worden.
Auch das war wieder seltsam und kaum begreiflich. Schließlich müssten ihre Eltern doch gerade eben erst durch genau diese Tür gekommen sein. Natürlich konnten sie in der Dunkelheit einen weiteren Ausgang übersehen haben, aber Sarah glaubte das eigentlich nicht.
Sie beschloss, diese Entdeckung (und die mit den fehlenden Fußabdrücken) erst einmal für sich zu behalten. Sie wollte ihren kleinen Bruder nicht noch mehr ängstigen.
Jetzt war es erst einmal gut, dass sie dem schrecklichen Tunnel entronnen waren!
Sarah quetschte sich schließlich mit einiger Mühe als erstes durch die Tür, die sich nicht vollständig öffnen ließ. Gut, dass sie so schlank war. Ein Erwachsener hätte hierbei mit Sicherheit einige Schwierigkeiten gehabt. Bei diesem Gedanken fielen ihr sogleich wieder ihre Eltern ein. Aber diese waren beide ebenfalls nicht gerade übergewichtig, beruhigte sie sich gleich darauf wieder.
Draußen konnte Sarah erst einmal überhaupt nichts erkennen, so sehr blendete sie das gleißend helle Tageslicht nach dem langen Aufstieg durch den dunklen Tunnel. Als sich ihre Augen endlich einigermaßen an die Helligkeit gewöhnt hatten, erkannte sie, dass sie sich offensichtlich auf einer kleinen Lichtung inmitten eines Waldes befand. Rings um sie herum ragten die Bäume bis hoch in den Himmel hinauf.
Von ihren Eltern fand sich keine Spur.
Sarah war erst einmal ratlos.
Hatten sie womöglich einen Fehler gemacht, indem sie nicht im Tunnel geblieben waren?
Alleine bei dem Gedanken, da unten in der stickigen Röhre womöglich stundenlang warten zu müssen, bis ihnen jemand zur Hilfe kam, wurde es ihr allerdings immer noch ganz anders…
„Wo sind Mama und Papa?“, fing Robert, der bereits seit einigen Minuten ganz merkwürdig still gewesen war, an zu schluchzen. Schließlich brach er in Tränen aus und ließ sich auf den Boden fallen. Sarah nahm ihren kleinen Bruder tröstend in die Arme und drückte ihn ganz fest an sich, etwas, was sie schon ganz lange nicht mehr getan hatte.
Sarah merkte, dass auch sie allmählich mit ihren Nerven am Ende war. Mit aller Kraft riss sie sich zusammen.
„Sicher haben sie einen Weg zu irgendeinem Haus oder Dorf gesucht, um Hilfe zu holen.“, erklärte sie und versuchte dabei, ihrer Stimme einen einigermaßen festen Klang zu geben.
Robert beruhigte sich daraufhin ein wenig und schluchzte schließlich nur noch leise vor sich hin. Sarah überlegte sich, wie müde er sein musste. Das Beste wäre es, wenn sie ihn irgendwo hinsetzte, wo er sich ausruhen oder ein wenig schlafen konnte. Sie selbst wollte sich auf der Lichtung umschauen. Vielleicht hatten ihre Eltern ihnen ja eine Nachricht hinterlassen. Wenigstens wollte sie nach dem Weg suchen, auf dem sie die Lichtung verlassen hatten.
Sarah setzte ihren kleinen Bruder in das weiche Moos neben einem großen Busch und erklärte ihm, dass er hier auf sie warten sollte.
Als erstes fiel Sarah auf, dass der Ausgang des Tunnels von außen so gut wie gar nicht zu erkennen war, so sehr war dieser von dichten grünen Ranken und dornigem Gestrüpp überwuchert. Dem üppigen Pflanzenbewuchs war es sicherlich vor allem zu verdanken, dass sie die Tür kaum öffnen konnten, dachte sich Sarah.
Bald hatten sie die kleine Lichtung komplett umrundet, ohne allerdings auch nur den kleinsten Hinweis auf eine Nachricht oder einen Weg entdeckt zu haben.
Sarah konnte es einfach nicht glauben.
Ihre Eltern hätten doch spätestens hier oben auf sie warten müssen. Sie mussten doch annehmen, dass ihre Kinder ihnen nach oben folgen würden. Sarah verstand das alles nicht. Es war von ihren Eltern eigentlich absolut verantwortungslos, sie alleine gelassen zu haben.
Sarah merkte, dass sich ihre Augen vor hilflosem Zorn mit Tränen zu füllen begannen.
Ärgerlich wischte sie sich mit dem Ärmel ihrer Jacke über das Gesicht. Jetzt zu flennen nützte ihr überhaupt nichts. Also konnte sie damit gefälligst auch aufhören.
Sie beschloss, den Kreis der Lichtung noch einmal ganz langsam abzuschreiten. Vielleicht hatte sie beim ersten Mal ja doch etwas übersehen.
Als sie fast schon wieder zum Ausgangspunkt ihrer Suche zurückgekehrt war und ihre Suche schon verzweifelt aufgeben wollte, sah sie im Dickicht zu ihrer Rechten plötzlich etwas aufblinken. Sie musste sich auf allen vieren niederlassen und ein Stück unter den Busch krabbeln, bis sie den Gegenstand zu fassen bekam. Dieser war fast völlig von herabgefallenen Ästchen und altem Laub bedeckt. Ein Wunder, dass sie ihn überhaupt bemerkt hatte.
Neugierig betrachtete ihren Fund. Er bestand offensichtlich aus Metall und sah recht alt aus. Offenbar hatte er schon ziemlich lange bei Wind und Wetter im Freien gelegen.
Vorsichtig kratzte Sarah mit ihren Fingernägeln die Rost- und Dreckschicht von dem flachen eckigen Gegenstand herunter. Eigentlich wusste sie selbst nicht so recht, warum sie sich soviel Mühe damit gab.
Als sie aber kurz darauf schließlich erkannte, was sie da in den Händen hielt, konnte sie einen leisen Aufschrei nicht unterdrücken.
Es war ein flaches metallenes Etui, wie es für die Aufbewahrung von Visitenkarten gedacht war. Und zwar genau so eines, wie sie ihrem Vater zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte! Es war ziemlich teuer gewesen und ihre Mutter hatte noch ein wenig Geld drauf legen müssen, da ihr bis dahin zusammengespartes Taschengeld nicht ganz ausgereicht hatte.
Dann entdeckte Sarah am rechten Unterrand des Deckels die eingravierten Initialen des Namens ihres Vaters.
Jetzt wusste sie mit Sicherheit, dass es ihm gehörte. Ihre Eltern, oder zumindest ihr Vater, mussten also hier gewesen sein!
Sie öffnete das Etui und sah zu ihrem nicht geringen Erstaunen, dass vom Inhalt nicht sehr viel mehr übrig war als eine ziemlich undefinierbare, weiße, schimmlige und faserige Masse, offenbar die Reste der Visitenkarten. Es sah ganz so aus, als hätte das Etui tatsächlich eine ziemlich lange Zeit im Freien gelegen.
Sarah schüttelte ungläubig mit dem Kopf. Das war doch völlig unmöglich. Ihre Eltern hatten sich schließlich gerade erst von ihnen getrennt. Mehr als vielleicht zwei Stunden dürften in der Zwischenzeit kaum vergangen sein.
Sarah war jetzt völlig verwirrt und ratlos. Ihre erste Freude über ein Lebenszeichen von ihren Eltern war so rasch wieder verflogen wie sie gekommen war. Dann kam ihr eine rettende Idee: Vielleicht hatte ihre Mutter das Etui vor kurzem versehentlich mal mit einem Kleidungsstück zusammen in die Waschmaschine gesteckt! Sie wusste nur zu gut, wie beispielsweise Papiertaschentücher, die man in der Hosentasche vergessen hatte, nach einer solchen Prozedur aussahen…
Sarah beschloss, die Umgebung ihres Fundes noch einmal genauer untersuchen. Tatsächlich entdeckte sie kurz darauf, nachdem sie sich geduldig und mühsam weiter in das Dickicht vorgearbeitet hatte, endlich den gesuchten Pfad. Dieser war allerdings weitgehend zugewuchert und wirklich nur mit viel Phantasie als solcher zu erkennen. Aber es handelte sich hier wenigstens um einen Weg, der von dieser blöden Lichtung wegführte. Und zwar (hoffentlich) genau um den Weg, den auch ihre Eltern zuvor benutzt hatten.
Sie kroch wieder zurück auf die Lichtung. Dabei musste sie sich immer wieder von den dornigen Ästen befreien, die sich in ihrem Sweatshirt und vor allem in ihrem langen Haar verfangen hatten. Vielleicht sollte sie sich doch lieber eine Kurzhaarfrisur zulegen, dachte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht, als sie gerade wieder eine lange Haarsträhne aus den Zweigen zog.
Sarah kehrte schließlich zu ihrem Bruder zurück, der in der Zwischenzeit fest eingeschlafen war. Sie bedauerte es aufrichtig, ihn aufwecken zu müssen. Aber sie hatte den Entschluss gefasst, dass sie den Weg, den sie gerade gefunden hatte, zumindest ein Stück weit gehen sollten. Sie hatten jetzt sicherlich schon über eine Stunde hier vor dem Tunnelausgang verbracht, ohne dass ihre Eltern zurückgekommen waren. Sicherlich war es das Beste, ihnen zu folgen. Besser auf jeden Fall, als womöglich noch die Nacht hier tatenlos und ganz alleine im Wald verbringen zu müssen! Und wenn ihre Eltern bereits wieder auf ihrem Weg zurück zu ihnen sein sollten, schadete es sicherlich nicht, ihnen ein wenig entgegenzugehen.
Sarah berührte ihren Bruder sanft an der Schulter, woraufhin Robert die Augen öffnete und seine große Schwester zunächst ganz verständnislos anblinzelte.
Bevor ihr kleiner Bruder wieder in Tränen ausbrechen konnte, präsentierte sie ihm rasch das soeben gefundene Etui. Das hatte sie zuvor soweit wie möglich wieder blank gewienert. Sie wollte nicht, dass Robert sah, wie merkwürdig alt und verwittert es ausgesehen hatte.
„Schau Robert, was ich gerade gefunden habe“, rief sie betont fröhlich und hielt ihm das Etui unter die Nase. „Sie müssen hier vorbei gekommen sein. Und ich habe auch einen Weg gefunden! Lass uns rasch von hier verschwinden. Ich habe mir gedacht, dass wir Papa und Mama einfach ein Stück entgegen gehen.“
Sie führte ihren Bruder an den Rand der Lichtung, und sie arbeiteten sich gemeinsam durch das dichte Gebüsch hindurch, bis sie schließlich auf den zuvor entdeckten Pfad stießen.
Anfangs kamen sie nur sehr langsam voran. Dann wurde der Pfad aber glücklicherweise etwas breiter.
Sie waren noch nicht weit gegangen, als Sarah etwas Rotes an einem kleinen Ast aufblitzen sah. Es war ein kleiner, ziemlich ausgeblichener Stofffetzen, der ursprünglich sicherlich von einem Kleidungsstück stammte. Ihre Mutter hatte ein rotes Sweatshirt getragen, aber Sarah konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob der Fetzen wirklich davon stammte. Als ein im Grunde sehr optimistischer Mensch entschied sich Sarah dafür, dies einfach als ein positives Zeichen dafür zu werten, dass sie sich wohl trotz allem auf dem richtigen Weg befanden.
„Wie spät ist es eigentlich?“, fragte ihr kleiner Bruder schließlich, nachdem sie eine ganze Weile schweigend nebeneinander her gelaufen waren. Sarah blickte auf ihre Armbanduhr. Seitdem sie in den Tunnel gefahren waren, hatte sie gar nicht mehr auf die Uhrzeit geachtet.
Seltsam, sie musste sich die Uhr irgendwie beschädigt haben, wahrscheinlich als sie in dem finsteren Schacht die enge Treppe hochgestiegen waren. Sicherlich war sie, ohne es gemerkt zu haben, mit der Uhr gegen die Wand gestoßen. Das Gehäuse sah zwar bis auf ein paar Schrammen noch völlig intakt aus. Sie war aber stehen geblieben.
Schade, Sarah war auf ihre Uhr, eine Funkuhr, die nie falsch ging und sich, egal wo sie waren, immer automatisch auf die richtige Uhrzeit einstellte, ziemlich stolz gewesen.
Sie schaute bedauernd auf ihre kaputte Uhr und überlegte, ob man diese nicht vielleicht doch irgendwie später in der Stadt wieder reparieren lassen konnte.
Spaßeshalber klopfte sie ein paar Mal gegen das verchromte Gehäuse und hielt überrascht den Atem an, als sich die Zeiger plötzlich doch wieder zu bewegen anfingen. Allerdings hatte sie sich zu früh gefreut: Die Zeiger taten dies nämlich falsch herum. Sie drehten sich eine Weile rückwärts, um dann erneut stehen zu bleiben. Schließlich bewegten sie sich wieder im Uhrzeigersinn, zunächst ganz langsam und ruckweise, dann immer schneller und schneller. Zuletzt konnte man die Zeiger kaum noch erkennen, so rasant drehten sie sich.
Schließlich gab es ein leises, metallisch klingendes Geräusch und die Zeiger lagen funktionslos unter dem Uhrglas. Sie hatten sich aus ihrer Achse gelöst. Jetzt war die Uhr wohl endgültig kaputt.
Robert hatte seine Uhr leider zu Hause gelassen, so dass sie über die genaue Uhrzeit weiterhin im Unklaren waren. Sarah schaute nach oben. Die Sonne stand ziemlich hoch am Himmel, was dafür sprach, dass jetzt ungefähr Mittagszeit sein musste.
Moment mal. Sarah stutzte und wäre dabei um ein Haar über eine dicke Wurzel gestolpert. Mittagszeit? Als sie vorhin auf der Raststelle losgefahren waren, war es bereits schon Mittag gewesen, und seitdem waren einige Stunden vergangen.
Sie schüttelte ratlos mit dem Kopf.
Egal. Jetzt mussten sie erst einmal ihre Eltern finden. Sicherlich führte der Weg sie schnurstracks in den nächsten Ort, wo ihre Eltern hoffentlich bereits auf sie warteten.
Der Pfad hatte sich in der Zwischenzeit zu einem recht bequemen Waldweg erweitert. Leider gelangten sie schon bald an eine Gabelung, wo der Pfad, dem sie bisher gefolgt waren, auf einen anderen Weg stieß. Nach kurzer Überlegung entschieden sie sich für den Weg, der nach links führte, da dieser etwas breiter war und nach unten ins Tal führte.
Hoffentlich war dies nicht die falsche Entscheidung, dachte sich Sarah im Stillen. Sich im Wald zu verirren wäre das letzte, was ihnen jetzt noch gefehlt hätte. Auch wenn ihr jetzt eigentlich ganz und gar nicht nach Lachen zumute war, musste doch ganz gegen ihren Willen schmunzeln, als ihr das Märchen von Hänsel und Gretel in den Sinn kam. Wenn sie ein Brot dabei gehabt hätten, hätten sie jetzt Brotkrumen auf dem Weg verstreuen können…
Bald zeigte sich, dass sie die richtige Entscheidung getroffen zu haben schienen: Der Weg sah jetzt so aus, als würde er häufig benutzt werden. Tiefe Wagenspuren waren in den Boden eingegraben. Es waren allerdings keine Abdrücke von Reifen zu erkennen, sondern nur schmale Furchen. Dazwischen fanden sich auch Spuren von Schuhen und jede Menge Hufabdrücke. Offensichtlich waren hier Pferdegespanne entlanggefahren. Das war ja durchaus sehr romantisch und Sarah liebte Pferde wirklich über alles, aber man musste sich jetzt höllisch vor den Pferdeäpfeln in Acht nehmen. Gut dass es hier trocken war. Bei Regen wäre der Weg sicherlich im Nu kaum mehr passierbar gewesen.
Sarah seufzte leise. Wenn ihnen das Missgeschick im Tunnel nicht widerfahren wäre, wären sie jetzt schon längst bei ihren Großeltern angekommen.
Dann säße sie jetzt an dem großen ovalen Tisch im Esszimmer, das laute Ticken der großen Standuhr im Wohnzimmer als vertrautes Geräusch im Hintergrund -und hätte sicherlich bereits das zweite oder dritte Stück von Großmutters legendärem Apfelkuchen vor sich auf dem Teller liegen.
2
„Igitt“, Robert war stehen geblieben, um voller Ekel auf seinen linken Fuß zu blicken. Dieser steckte bis weit über den Knöchel in einer braunen ekligen Masse, bei der es sich wohl um eine unappetitliche Mischung aus Pferdeäpfeln, Kuhfladen und reichlich Matsch handelte, wie Sarah fachmännisch feststellte. Es machte ein lautes quatschendes und schmatzendes Geräusch, als er es schließlich mit einiger Mühe schaffte, seinen Fuß aus der Pfütze zu befreien. Der Schuh mitsamt Strumpf war ganz braun und nass.
„Es ist hier alles so furchtbar dreckig“. Robert schaute sich missbilligend um und rümpfte schließlich seine Nase. „Außerdem stinkt es hier, und das nicht zu knapp!“
Sarah musste ihrem kleinen Bruder Recht geben. Es roch hier tatsächlich alles andere als angenehm. „Ländlich“ war dafür noch eine charmante Untertreibung.
Der Weg, den sie jetzt bereits seit einer geraumen Zeit entlang gingen, war weiterhin unasphaltiert und jetzt auch noch voller heimtückischer Schlaglöcher und Pfützen.
Hier und da war er notdürftig und ziemlich unzureichend mit Kies oder Stroh ausgebessert.
Sarah blickte angewidert auf ihre ehemals weißen Schuhe und seufzte. Wenn sie sich wenigstens sicher sein könnte, dass es nur Schlamm wäre… Schade um die schönen neuen Turnschuhe, auf die sie zu Anfang so stolz gewesen war. Sie hatte sie extra für diesen Urlaub bekommen. Ihre alten Latschen, von denen sie sich nur ungern getrennt hatte, waren nämlich mittlerweile nicht mehr trag- und vor allem nicht mehr vorzeigbar gewesen, zumindest nicht nach Ansicht ihrer Mutter.
Es war schon ziemlich seltsam: Sie waren jetzt schon eine ganze Weile unterwegs, aber sie waren weiterhin weder auf eine richtige Straße noch auf eine Ansiedlung gestoßen.
Dabei war es hier zuvor auf der Fahrt doch gar nicht so einsam gewesen.
Auch von der Autobahn, die doch hier irgendwo in der Nähe verlaufen musste, war weder etwas zu sehen noch zu hören. Sie dachte an die Notrufsäulen, die dort in regelmäßigen Abständen installiert waren.
Sarah schlug sich gegen die Stirn. Bei diesem Gedanken fiel ihr ein, dass sie doch versuchen konnte, ihre Eltern mit ihrem Handy anzurufen! Dass sie daran nicht früher gedacht hatte! Den an sich nahe liegenden Gedanken, dass ihre Eltern ja auch hätten versuchen können, sie anzurufen, verdrängte sie lieber wieder rasch. Stattdessen nahm sie ihren Rucksack von der Schulter, um ihn mit flatternden Händen zu durchwühlen. Hoffentlich hatte sie ihr Handy auch wirklich eingepackt…
Erleichtert hielt Sarah es schließlich in den Händen. Sie war jetzt so aufgeregt, dass sie sich bei der Eingabe der Codenummer zweimal vertippte. Vor dem nächsten Versuch atmete sie erst einmal tief durch. Noch ein Fehler und ihr Handy würde gesperrt werden!
Diesmal gab sie die richtige Nummernkombination ein.
„Netzsuche….“ Sarah starrte ungeduldig auf das Display. So lange dauerte es doch sonst nicht.
„Kein Netz gefunden!“
So ein Mist! Hier gab es keinen Empfang. Es war auch keine SMS angekommen. Die Notruffunktion zu versuchen war ohne Empfang natürlich auch völlig sinnlos.
Sarah betrachtete kritisch die Batterieladeanzeige, die ungefähr auf der Hälfte stand. Sie schaltete das Handy lieber wieder aus. Sie hatte zwar das Aufladegerät mit dabei, aber das nutzte ihr ohne Steckdose auch nicht viel.
Die Stimme ihres Bruders riss sie aus ihren Gedanken.
„Du, Sarah.“ Robert klang quengelig und ziemlich erschöpft. „Meinst du, wir müssen noch weit laufen? Ich habe ziemlichen Hunger. Und auch Durst.“
Jetzt merkte Sarah, dass auch sie hungrig war. Das war auch kein Wunder. Ihre letzte Mahlzeit lag schließlich schon eine ganze Zeit zurück.
Auf einer Obstbaumwiese am Wegesrand machten sie erst einmal eine kurze Rast. Sarah breitete ihre Jeansjacke auf dem trockenen Gras aus, so dass sich beide einigermaßen bequem darauf setzen konnten. Aus ihrem Rucksack holte sie ihre letzten beiden Marsriegel hervor. Sarah überlegte kurz, ob sie sich vielleicht doch lieber einen Schokoriegel gemeinsam teilen sollten, um den anderen für später aufzuheben, verwarf diesen Gedanken aber sogleich wieder. Sicherlich würden sie bald in ein Dorf kommen oder zumindest eine Tankstelle finden, wo sie etwas zu essen und zu trinken kaufen konnten.
Sarah zog ihre Geldbörse hervor und zählte ihr Geld. Zum Glück hatte sie vor der Reise etwas von ihrem eigenen Sparkonto abheben dürfen. Ihre Eltern waren da manchmal etwas zu streng mit ihr, wie sie fand. Aber so konnte sie sich wenigstens im Urlaub etwas kaufen, ohne ständig um Geld betteln und sich dann anhören zu müssen: „Was? Für diesen Mist (Kleidung, CD, Kosmetik, Buch,…, die Liste ließe sich leicht verlängern) willst du dein Geld ausgeben. Spar doch lieber auf etwas Schönes, Vernünftiges hin….“
Sie verdrehte die Augen.
Eltern konnten schon ganz schön nervig sein.
Die Schokoriegel waren leider viel zu rasch vertilgt. Robert schaute ganz wehmütig auf die leere Hülle in seiner Hand und seufzte leise.
Er hatte seinen Rucksack (mitsamt dem ziemlich beeindruckenden Vorrat an Sahnebonbons und Karamellen, den er immer mit sich führte, und der auf wundersame Weise eigentlich nie zur Neige zu gehen schien) leider im Auto vergessen.
Sarah pflückte noch rasch ein paar der reifen roten Äpfel, die direkt über ihren Köpfen an den Ästen hingen. Die Äpfel sahen zwar ein wenig klein und nicht so makellos aus wie daheim im Supermarkt, schmeckten aber erstaunlich gut. Zu ihrem nicht geringen Erstaunen aß sogar Robert seinen Apfel mit sichtlichem Vergnügen. Ihn konnte man normalerweise mit „gesunden Dingen“ (Originalton Bruder: „Ökofraß“) buchstäblich jagen.
So pflückte sie sicherheitshalber noch ein paar weitere Exemplare und steckte sie in ihren Rucksack. Nur für alle Fälle. Auch wenn sie fest davon ausging, dass sie sicherlich schon bald wieder etwas Anständiges zum Essen vorgesetzt bekommen würden, sobald sie erst ihre Eltern wieder gefunden hatten.
Schließlich machten sich beide Kinder wieder auf den Weg.
Das Landschaftsbild änderte sich rasch. Waren sie bislang hauptsächlich durch ausgedehnte Waldstücke gekommen, die ab und an durch kleinere Wiesen und Felder unterbrochen wurden, so liefen Sarah und Robert jetzt durch eine sanft abfallende, eigentlich recht hübsche, Wiesen- und Hügellandschaft. Es waren auch immer mehr Obstbäume zu sehen. Das stimmte Sarah ein wenig zuversichtlicher, da dies doch dafür sprach, dass sie sich endlich einer menschlichen Siedelung näherten. Das wurde schließlich ja auch langsam Zeit.
Sarah dachte dran, wie dicht im Vergleich doch dagegen die Gegend besiedelt war, in der sie mit ihrer Familie wohnte. Das hatte zwar sicherlich einige Vorteile, konnte einem aber manchmal auch ganz schön auf die Nerven gehen.
Schließlich standen sie auf einem kleinen Hügel, von dem aus man einen schönen Blick auf die dahinter liegende Landschaft hatte. Zu ihrer großen Erleichterung waren unten im Tal endlich Häuser zu sehen. Es handelte sich um ein richtiges kleines Dorf mit einem Teich und einer putzigen kleinen Kirche in der Mitte!
Na endlich.
Hier und da rauchte in dem kleinen Dorf ein Schornstein und zahlreiche Fensterscheiben blinkten im Sonnenlicht. Gedankenversunken betrachtete Sarah die Bilderbuchidylle vor ihren Augen, bis sie plötzlich stutzte.
Hm. Irgendetwas schien hier nicht zu stimmen. Sie kam nur nicht darauf, was es war.
Schließlich wandte sie sich kopfschüttelnd ab. Es war ja auch völlig egal. Die Hauptsache war, dass sie endlich ihre Eltern wieder fanden. Wer weiß, was das jetzt wieder schon für ein Hirngespinst war… Sicherlich waren ihre Sinne völlig überreizt, was bei den ganzen Aufregungen an diesem Tag schließlich auch kein Wunder war.
Sarah kam ohnehin nicht mehr dazu, weiter nachzudenken, da ihr Bruder sie bereits an der Hand genommen hatte, um sie ganz aufgeregt hinter sich her zu zerren.
„Worauf wartest du denn, Sarah? Komm schon, da unten warten sie bestimmt schon auf uns….Oder stimmt etwa irgendwas nicht?“ Seine Stimme klang verunsichert, so dass Sarah sich sogleich nach Kräften bemühte, ihren kleinen Bruder zu beruhigen.
„Wie? Natürlich ist alles in Ordnung… Moment mal, mein Freund: Wetten, dass ich schneller im Tal bin als du?“
Sarah rannte los, ihr Bruder folgte ihr, quietschend vor Vergnügen.
Sie verlangsamte ihren Lauf nach einigen Metern, so dass Robert sie einholen konnte. Gemeinsam rannten sie lachend weiter, bis sie beide völlig außer Puste waren und erst einmal einen Moment verschnaufen mussten. Sarah begann zu ahnen, dass sie den Weg ins Dorf vielleicht doch ein wenig unterschätzt hatte.
Erst einmal mussten sie ein ziemlich ausgedehntes Waldstück durchqueren. Als sie den letzten Baum passiert hatten, spürte Sarah, dass sie dringend mal musste. Sie ließ Robert ein Stück vorangehen und lief ein kleines Stück in den Wald hinein. Nachdem sie sich erleichtert hatte, beschloss sie, nicht den gleichen Weg zurück, sondern eine Abkürzung durch die angrenzende Wiese zu nehmen.
Das Gras auf der Wiese war ziemlich hoch. Als Sarah ihrem Bruder zuwinkte, der am Wegesrand auf sie wartete, passte sie einen Augenblick nicht auf ihre Füße auf und blieb mit dem rechten Schuh an irgendetwas hängen. Zum Glück fiel sie einigermaßen weich, ohne sich dabei weh zu tun.
Ärgerlich schaute Sarah nach, was sie da gerade eben so unsanft zu Fall gebracht hatte. Verwundert entdeckte sie daraufhin ein dickes, unter dem hohen Gras verborgenes Drahtseil.
Sie folgte dem Verlauf des Seiles ein Stück weit bis sie auf ein sehr großes und ziemlich rostiges Metallgestell stieß, das ebenfalls fast vollständig von hohem Gras und Büschen verdeckt war. Sarah brauchte eine kleine Weile, um zu begreifen, was es war, was da vor ihr auf dem Boden lag und offensichtlich seit einiger Zeit schon traurig vor sich hin rostete.
Es war ein umgestürzter Strommast.
Im ersten Augenblick bekam sie einen gewaltigen Schreck. Sie hätte sich ja eben ohne weiteres einen Stromschlag holen können! Instinktiv sprang sie ein Stück vom Kabel weg und wäre dadurch fast wieder hingestürzt.
Im nächsten Moment fiel ihr aber ein, dass ein offensichtlich schon seit sehr langer Zeit am Boden liegender Strommast sicherlich keinen Strom mehr führen dürfte. Etwas schlampig war es aber schon von den Bewohnern der Gegend hier, den Schrott einfach auf der Wiese liegen und verrotten zu lassen.
Kopfschüttelnd ging sie weiter, wobei sie jetzt etwas mehr auf ihren Weg durch das hohe Gras achtete. Wenige Meter weiter blieb sie jedoch abermals erstaunt stehen.
Direkt neben dem unbefestigten Weg, den sie bislang entlanggegangen waren, konnte sie die Reste der Asphaltdecke einer Straße sehen, wobei an einigen Stellen noch der schon reichlich verblasste weiße Mittelstreifen erkennbar war. Ansonsten war der Belag an vielen Stellen aufgerissen, durch die sich bereits zahlreiche Pflanzen, Büsche und Gräser ihren Weg ans Tageslicht gebahnt hatten.
Der Feldweg, auf dem sie gekommen waren, zerschnitt die asphaltierte Straße quasi in zwei Teile.
Das war aber sehr merkwürdig! Wer baute denn, bitteschön, einen Feldweg über eine moderne asphaltierte Straße hinweg?
Ihrem kleinen Bruder erzählte sie lieber nichts von ihrer Entdeckung. Was hätte sie ihm auch schon groß sagen können? Sie verstand das, was sie da gerade gesehen hatte, ja schließlich selbst nicht.
Die Wiesenlandschaft wurde jetzt abgelöst von kleineren Getreidefeldern, die aber größtenteils schon abgeerntet waren. Überall konnten sie das bereits zu großen Ballen zusammengebundene Stroh sehen. Offenbar war hier die Natur schon etwas weiter als bei ihnen daheim, aber sie waren hier ja auch schon viel südlicher als zuhause, so dass Sarah sich nichts weiter dabei dachte.
In der Ferne konnten sie ein paar Männer und Frauen bei der Feldarbeit beobachten. Dann kamen sie an eingezäunten Wiesenflächen vorbei, auf denen braune Kühe und Ziegen aber auch einige Pferde und Schafe weideten. Schließlich hatten sie ihr Ziel erreicht: Der Weg führte in einem weiten Bogen um einen bewaldeten Hügel herum, hinter dem auch schon die ersten Häuser des Dorfes lagen.
Es schien nur eine breitere Straße zu geben, an der die meisten Häuser der Ortschaft lagen. Es handelte sich überwiegend um kleinere Gehöfte mit angrenzender Scheune und großen Holztoren, die wohl auf die Innenhöfe führten. Gleich das erste Tor zu ihrer Linken war geöffnet, und Sarahs Blick fiel direkt auf einen großen qualmenden Misthaufen, auf dem stolz ein Hahn stand und argwöhnisch auf zahlreiche braune Hühner hinabblickte, die derweil emsig auf der Suche nach irgendwelchen Körnchen oder Würmern auf dem Boden herumpickten.
Vor einigen der Bauernhöfe standen Wagen, Kutschen oder Transportkarren mit großen hölzernen Speichenrädern. Hier und da waren Pferde oder Ochsen vorgespannt, die in der Sonne vor sich hin dösten, Stroh und Hafer aus geflochtenen Körben fraßen und Sarah und ihren kleinen Bruder ziemlich gleichgültig, oder, was speziell die Ochsen betraf, reichlich blöde anblickten.
Den Mittelpunkt des offensichtlich nicht sehr großen Ortes bildete die schmucke Fachwerkkirche, die sie zuvor schon von weitem gesehen hatten.
Es war eine richtige Idylle, wie aus dem Bilderbuch.
Trotzdem verspürte Sarah jetzt wieder dieses merkwürdige Gefühl, dass hier irgendwas nicht richtig war. Dann begriff sie plötzlich, was hier nicht stimmte und ihr schon komisch vorgekommen war, als sie das Dorf erstmals von weitem gesehen hatte. Es betraf aber nicht, wie sie zuerst vermutet hatte, die Dinge, die sie gesehen hatte. Es war vielmehr das, was sie nicht gesehen hatte und jetzt auch weiterhin nirgends entdecken konnte…
Hier fehlten Autos, Mofas, Busse und Lastwagen.
Aber es war nicht nur so, dass sie keine sehen konnte. Nein, sie konnte auch nichts hören, was auf ihre Anwesenheit hätte schließen lassen. Überhaupt war es hier schon fast ein wenig zu still. So war weder ein Radio oder ein Fernsehgerät zu vernehmen, das irgendwo im Hintergrund lief.
Und am Himmel fehlte das Dröhnen irgendwelcher Flugzeuge.
Sicherlich gab es für all das eine vernünftige Erklärung, beruhigte sich Sarah sogleich wieder. Im Urlaub traf man ja häufiger auf Orte, in denen kein Autoverkehr und keine Mofas oder Motorräder erlaubt waren, um den Touristen eine möglichst perfekte und erholsame Umgebung zu bieten.
Wenn sie sich allerdings so umschaute, geriet ihre Theorie sogleich wieder ein wenig ins Wanken: Irgendwie entsprach das alles hier nicht unbedingt Sarahs Vorstellungen von einem solchen Fremdenverkehrsort. Im Gegenteil.
Sarah suchte in Gedanken nach dem richtigen Ausdruck.
Ja das war es: Ihre Umgebung machte auf sie einen viel zu echten, ja viel zu wirklichen Eindruck.
So standen sie auf einer Straße, die mehr schlecht als recht mit Kopfsteinpflastern bedeckt war und zudem jede Menge bedenklich tiefer Schlaglöchern aufwies. Für die Stöckelschuhe irgendwelcher Touristinnen wäre das hier, weiß Gott, wenig geeignet.
Außerdem lief, wie Sarah gerade zu ihrem nicht geringen Ekel feststellen musste, genau zwischen ihren Füßen ein ziemlich verdächtiges braunes Rinnsal hindurch, das nicht nur nach Jauche roch, sondern offenbar tatsächlich von einem weiteren, prächtigen dampfenden Misthaufen her stammte, der sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand. Einem Misthaufen, vor dem zu allem Überfluss auch noch ein richtig dreckiges Schwein stand und mit seinem Rüssel im Matsch herumwühlte. Dabei quietschte und grunzte es überaus vergnügt vor sich hin. Dass direkt hinter ihm, am langen Querbalken einer Toreinfahrt, ein halbes Dutzend frischer Schweinehälften an großen Metallhaken hingen, schien dem Borstenvieh offenbar nicht sonderlich viel auszumachen.
Als sie sich weiter umschaute, fielen Sarah noch andere merkwürdige Dinge auf: So fehlten irgendwelche Schaufenster und Reklametafeln, aber auch Straßenlaternen, wenn man von den komischen Laternen an den Häuserwänden einmal absah, die eher wie museumsreife Petroleumlampen aussahen. Außerdem glänzten auch Strom- oder Telefonmasten durch ihre völlige Abwesenheit. Sarah erinnerte sich wieder an das Handy in ihrem Rucksack, musste aber gleich darauf feststellen, dass sie weiterhin keinen Empfang hatte.
Eine Gruppe von kleinen Kindern, die spielend die Straße entlang gerannt kamen, lenkte Sarah von ihren düsteren Gedanken ab. Vielleicht konnten ihnen die Knirpse ja irgendwie weiterhelfen. Erwachsene Personen hatten sie zuletzt auf den Feldern gesehen. Das ganze Dorf schien ansonsten ziemlich ausgestorben zu sein…
Sarah nahm ihren Bruder bei der Hand und setzte ein freundliches Lächeln auf.
Sie hatten sich den Kleinen kaum genähert, als sie alle, bis auf ein blondes Mädchen, blitzschnell im nächst gelegenen Hof verschwanden. Das Mädchen war so sehr damit beschäftigt, Sarah und ihren Bruder anzustarren, dass sie wahrscheinlich noch gar nicht mitbekommen hatte, dass ihre Spielkameraden sie zwischenzeitlich im Stich gelassen hatten.
Der Mund des Mädchens, das kaum älter sein durfte als Robert, stand offen und ließ die Zungenspitze erkennen. Von der Nase lief eine frische Rotzspur hinunter.
Na großartig, dachte sich Sarah, das kann ja heiter werden…
„Hallo, wie heißt du denn, Kleine? Mein Name ist Sarah, und das hier ist mein Bruder Robert.“
Keine Reaktion.
Nur die Rotzspur wurde immer länger und drohte jetzt jeden Moment, in den geöffneten Mund zu laufen, wie Sarah angeekelt feststellte.
„Kannst du uns vielleicht weiterhelfen? Wir suchen nämlich unsere Eltern, musst du wissen. Die müssten vor kurzem hier vorbei gekommen sein.“
Sie beschrieb mit einfachen Worten ihre Eltern und das, was sie an Kleidung trugen.
Bei ihrem Gegenüber schien das Gesagte leider weiterhin nicht so recht anzukommen. Nur der Rotzfaden suchte sich jetzt glücklicherweise einen anderen Weg und lief in einem kleinen Bogen um den Mund herum, um dann schließlich vom Kinn herab auf den Boden zu tropfen. Sarah atmete erleichtert auf.
„Wo kommt ihr denn her?“
Die Stimme kam von einem kleinen braunhaarigen Jungen, der vorsichtig hinter dem Torpfosten der Hofeinfahrt hervorlugte. Seinem Beispiel folgend, kamen auch die anderen Kinder wieder hinter dem Torbogen hervor.
Ehe sie es sich versahen, waren Sarah und ihr Bruder von fünf Kindern umringt, die sie neugierig anstarrten. Die drei Mädchen, trugen Kleider und lange Zöpfe, die zwei Buben kurze Hosen. Vor allem die letzteren sahen nicht gerade so aus, als wären sie soeben aus der Badewanne gestiegen.
Sarah wendete sich an den Jungen, der sie gerade angesprochen hatte und erzählte ihm, dass sie aus einer anderen Stadt kämen, unterwegs zu ihren Großeltern, eine Autopanne erlitten hatten und jetzt nach ihren Eltern suchten, die sicherlich hier im Dorf nach Hilfe Ausschau gehalten hatten.
Der Junge schaute sie einen Moment mit seinen großen braunen Augen an und fragte dann ganz neugierig: „Was ist das denn, eine Autopanne?“
Das verschlug Sarah erst einmal die Sprache. Etwas ärgerlich erwiderte sie: „Na eben eine Autopanne. Genauer gesagt, es war so, dass unser Auto kein Benzin mehr hatte und stehen geblieben ist. Ich weiß, dass ist ziemlich dämlich, wenn einem so etwas passiert, aber unser Vater hatte nun einmal vergessen zu tanken! Gibt es denn hier vielleicht irgendwo eine Tankstelle?“
Sarah spürte einen kurzen Hoffnungsschimmer bei dem Gedanken. Vielleicht wollte ihr Vater hier ja nur rasch Benzin holen, damit sie weiter fahren konnten.
Das Erstaunen des kleinen Jungen hätte kaum größer sein können. Er überlegte kurz und stellte dann ziemlich feierlich und sichtlich beeindruckt fest: „Ich glaube, ihr kommt wirklich von ganz, ganz weit her.“ Er schaute dabei seine Kameradinnen und Kameraden mit wichtigem Gesichtsausdruck an.
Die anderen, offenbar nicht minder fasziniert, nickten stumm. Bei dem blonden Mädchen schloss sich sogar vorübergehend der Mund, als es ebenfalls zustimmend kräftig nickte.
Sarah schaute ratlos von einem Kind zum anderen und blickte schließlich ihren kleinen Bruder fragend an. Der zuckte nur mit den Schultern.
Die Kinder sprachen doch offensichtlich ihre Sprache. Warum, bitteschön, konnte sie sich dann nicht verständlich machen?
War sie etwa an besonders dumme Kinder geraten?
Sie war ja einiges gewohnt. Schließlich hatte sie ja einen jüngeren Bruder. Aber das hier ging doch etwas zu weit.
Na gut. Sie seufzte. Einen Versuch konnten sie ja noch starten.
„Ihr habt recht“, sprach sie, weiterhin betont freundlich und herzlich die Kleinen an, „Wir kommen aus einer wirklich ganz, ganz weit entfernten Stadt.“
Sie konnte förmlich spüren, wie jetzt rings um sie herum die Luft angehalten wurde.
„Trotzdem. Es stimmt, was wir euch gerade erzählt haben: Wir suchen wirklich nach unseren Eltern. Habt ihr tatsächlich niemanden gesehen?“
Die Kinder schauten sich an und schüttelten dann alle mehr oder weniger gleichzeitig mit dem Kopf. Wenn Sarah nicht so entnervt und besorgt gewesen wäre, hätte sie sicherlich herzlich über den Anblick lachen müssen. Der kleine braunhaarige Junge schien wirklich aufrichtig darüber betrübt zu sein, ihnen nicht weiterhelfen zu können.
„Hier kommen selten fremde Leute vorbei, die wir nicht kennen. Manchmal Händler oder Leute, die so lustige Sachen vorführen oder die Musik machen.“ Er begann, ganz aufgeregt an seinen Fingernägeln zu kauen.
„Manchmal kommen aber auch böse Leute in das Dorf. Die dürfen wir aber nicht sehen. Unsere Eltern schicken uns dann sofort ins Haus, und wir dürfen dann eine ganze Weile nicht draußen spielen.“
Sarah verdrehte entnervt die Augen: Wo waren sie denn da bloß hingeraten?
Allerdings hatte der Kleine das richtige Stichwort gegeben: „Sag mal, mein Kleiner, vielleicht können uns eure Eltern vielleicht weiterhelfen?“
„Schon, aber die sind doch um diese Zeit alle auf dem Feld.“ Der Junge schaute sie etwas verwundert an, fast so, als hätte sie gerade etwas unerwartet Dummes gesagt.
„Schau mal, da kommt deine Schwester.“ Ein Mädchen aus der Gruppe deutete auf ein schlankes Mädchen mit ziemlich unbändigen roten Haaren, das gerade aus dem Hof gegenüber trat. Es hatte einen Korb im Arm und schaute sichtlich erstaunt zu ihnen herüber.
Sarah spürte ein Gefühl der Erleichterung. Das Mädchen schien ungefähr in ihrem Alter zu sein.
Das rothaarige sommersprossige Mädchen gesellte sich schließlich zu ihnen und stellte sich Sarah erst einmal vor: „Ich heiße Jennifer. Aber meine Freunde nennen mich alle nur Jenny.“ Sie lächelte die Geschwister freundlich an.
Sarah erzählte Jenny rasch in kurzen Worten, was ihr Problem war. Zu ihrer Enttäuschung schien das große Mädchen aber kaum weniger erstaunt darüber zu sein, als die anderen Kinder. Sichtlich verwirrt starrte sie zunächst Sarah und dann Robert an.
Dann hellte sich ihre Miene auf:
„Wir könnten die Beiden ja mit zu meiner Großmutter nehmen. Die ist ja den ganzen Tag daheim und bekommt eigentlich immer alles mit, was hier bei uns im Dorf so alles geschieht. Die kann euch sicherlich weiterhelfen!“
Diese Idee fand bei ihren Kameraden begeisterten Zuspruch.
Die Kinder nahmen Sarah und Robert in ihre Mitte, und gemeinsam marschierten sie los in Richtung Dorfmitte.
„Wir leben zusammen mit meiner Großmutter in einem Haus am Ende des Dorfes. Das heißt meine Eltern, ich und mein großer Bruder. Der ist aber zu Zeit nicht da. Der geht nämlich jetzt schon das zweite Jahr in unserem Nachbardorf bei einem Schmied in die Lehre. Da sind meine Eltern natürlich ganz mächtig stolz drauf, ich natürlich auch, denn ein Schmied zu sein, das ist schon was. Schmiede braucht man überall.“
Das war Sarah allerdings neu. Aber sie war zu höflich und gut erzogen, um ihre neue Freundin zu unterbrechen oder ihr gar zu widersprechen.
Jenny schnatterte derweil fröhlich weiter. „Meine Eltern sind ja nur Bauern, wie fast alle hier. Aber das ist ja auch ein wichtiger Beruf. Irgendjemand muss das ja alles machen. Säen, Ernten, Tiere züchten und so. Mein Großvater war auch Bauer. Aber der lebt schon lange nicht mehr. Ich kann mich eigentlich gar nicht mehr so richtig an ihn erinnern, so klein war ich damals.“
Sarah musste bei ihrer neuen Gefährtin unwillkürlich an eine gute Freundin daheim denken. Auch bei der hatte man immer den Eindruck, dass sie beim Sprechen wohl niemals Luft holen musste.
Auf ihrem Weg durch das betätigte sich das rothaarige Mädchen als Fremdenführerin und ließ dabei kaum einen Hof und kaum ein Haus unkommentiert. Sarah hörte allerdings nur mit halbem Ohr hin, da es sie nicht wirklich interessierte, dass hier der Bauer soundso wohnte, der im Übrigen mit dem und dem verwandt war.
„Das da ist übrigens unsere Schule, das Gebäude gleich neben unserer Kirche!“
Sarah warf einen höflichen Blick auf das lang gestreckte Fachwerkgebäude, das ihr eigentlich viel zu klein für eine Schule vorkam. Es erinnerte sie an eine Schule in einem Museumsort, in der sämtliche Klassen in einem einzigen Raum unterrichtet wurden.
Sie waren schon fast an der Schule vorbeigegangen, als Sarah ein Schild auffiel, das vor dem Gebäude stand:
Vergesst niemals: Der König liebt fleißige Kinder
Sarah wunderte sich. Einen König gab es in ihrem Land bereits seit Jahrzehnten nicht mehr. Vielleicht handelte es ja sich um die Ankündigung für ein Theaterstück.
Ihr Bruder hatte sich in der Zwischenzeit offensichtlich mit den anderen jüngeren Kindern angefreundet. Gemeinsam spielten sie mit einem winzigen Hund, der ganz aufgeregt und wild mit dem Schwanz wedelnd zwischen den Kleinen hin und her sprang.
Der Hund folgte ihnen auf ihrem weiteren Weg durch das Dorf, bis er schließlich in einem der Höfe verschwand
„Schau Sarah, da vorne wohne ich!“ Jenny zeigte auf ein ziemlich großes Fachwerkhaus, das an der nächsten Straßenecke stand. Genau wie die Gehöfte, die sie bisher auf ihrem Weg durch den Ort gesehen hatten, wies es ein großes Tor auf, das das Wohnhaus mit einem Nebengebäude, wahrscheinlich einer Scheune, verband.
Kurz bevor sie das Haus erreichten, fiel Sarahs Blick auf ein weiteres großes Plakat, das an einem der Häuser hing. Auf dem Plakat war ein älterer Mann mit langem weißen Bart, einem langen Mantel und einem spitzen Hut abgebildet, der mit zwei dicken roten Linien durchgestrichen war. Daneben fand sich das Bild einer hässlichen alten Frau in schwarzem Umhang mit langer spitzer Nase, die auf einem Besen ritt. Darunter war in großen schwarzen Lettern zu lesen:
Zur Erinnerung:
Das Zaubern und die Ausübung von Magie sind bei Strafe verboten!!! Der König
Neben diesem Plakat hingen noch weitere, kleinere Zettel. Sarah las etwas von „amtlichen Bekanntmachungen“. Unter anderem wurde hier angekündigt, dass „der Regen diese Woche um fünf Uhr fünfunddreißig nachmittags“ stattfinden würde.
Sarah blieb mit offenem Mund davor stehen.
Was wurde hier denn, bitteschön, gespielt?
Jenny war in der Zwischenzeit schon weitergegangen und öffnete gerade das Tor zu dem Hof ihrer Eltern. Sarah eilte ihr hinterher. Sie musste jetzt endlich wissen, wo sie hier gelandet war! Und wenn sie ihre neue Freundin schütteln musste, um die Wahrheit zu erfahren!
Mit einem Mal blieb sie stehen. Ihr war da gerade ein ungeheuerlicher Gedanken in den Sinn gekommen: Ihr Bruder und sie mussten durch irgendeine Zeitfalte oder ein Zeittor in die Vergangenheit geraten sein, ganz wie in einem schlechten Film. Der Schreck dieser plötzlichen Erkenntnis jagte ihr einen Kälteschauer den Rücken hinunter. Womöglich befanden sie sich jetzt hunderte von Jahren in der Vergangenheit, ohne die geringste Aussicht darauf, jemals wieder in ihre Zeit zurück zu gelangen….
Eine grässliche Vorstellung!
Andererseits war so etwas doch ausgemachter Blödsinn! Und im gleichen Moment fiel Sarah auch wieder ein, dass sie vorhin auf der Wiese doch eindeutig eine asphaltierte Straße und einen Strommasten gesehen hatte.
Aber vielleicht hatte sie sich da auch getäuscht. Auch in der Vergangenheit hatte man aus Metall sicherlich irgendwelche Gestelle bauen können. Und in dem hohen Gras hatte sie eigentlich gar nichts Genaues sehen können. War sie sich denn wirklich sicher, dass der Weg asphaltiert gewesen war? Je länger sie darüber nachdachte, desto unsicher wurde sie.
„Kommst du endlich?“ Die Stimme des rothaarigen Mädchens schreckte sie aus ihren düsteren Gedanken auf. Jenny stand im geöffneten Tor und winkte Sarah ungeduldig zu. Ihr Bruder war gemeinsam mit den anderen Kindern offenbar bereits im Hof verschwunden. Sie hörte das laute und ausgelassene Gelächter der Kleinen.
Sarah schüttelte mit ihren Kopf. Egal, sie würde es sicherlich gleich erfahren, wo und vor allem in welcher Zeit sie hier gelandet waren.
Sie betrat den Hof, der ziemlich groß und nach allen Seiten von Gebäuden umschlossen war. Direkt dem Hofeingang gegenüber stand eine große Scheune. Durch deren geöffnetes Tor konnte sie allerlei Gerätschaften erkennen, darunter einen Pflug und so etwas wie eine große Egge. Im oberen Geschoß der Scheune wurde offensichtlich Stroh gelagert, das jetzt durch die teilweise geöffneten Holzläden hervorquoll. Zu ihrer rechten fand sich der hier im Dorf wohl unvermeidliche, fröhlich vor sich hin dampfende Misthaufen. Irgendwo in der Nähe hörte sie das Grunzen von Schweinen.
Im Hof spazierte eine Schar von Hühnern umher, die hier und da etwas vom Boden aufpickten. Die meisten der Hühner befanden sich allerdings gerade auf der Flucht vor den Kindern, die sich einen Spaß draus machten, die gackernden und schimpfenden Vögel hin und her zu jagen. Erst als Jenny energisch in die Hände klatschte, hörte der Spaß auf. „Wenn die Hühner vor Schreck morgen keine Eier mehr legen wissen wir, wem wir das zu verdanken haben“, schimpfte sie.
„So, ich denke ihr geht jetzt am besten alle Heim. Eure Eltern werden jeden Moment vom Feld heimkommen, und ich will keinen Ärger bekommen.“
Die Kinder machten sich leise murrend und protestierend auf den Weg nach draußen. „Moment, Fred, Du bleibst natürlich hier!“ Jenny eilte mit raschen Schritten den Kleinen hinterher und zog einen kleinen Jungen aus der Gruppe hervor. Dieser hatte die gleichen roten und etwas unbändigen Haare wie Jenny, und Sarah konnte unschwer erkennen, dass es sich hier wohl eindeutig um den Bruder ihrer neuen Freundin handeln musste.
Fred grinste breit und schüttelte die Hand seiner großen Schwester ab. „Komm Robert, ich zeig` dir was. Das hast du bestimmt noch nicht gesehen!“ Er gab Sarahs Bruder einen Klaps auf die Schulter, und die beiden Kinder verschwanden im Stall zu ihrer Rechten.
„Brüder!“ Jenny blickte Sarah an und verdrehte theatralisch die Augen. Sarah nickte zustimmend.
Mit einem Mal fing es kräftig an zu regnen, was Sarah ein wenig verwunderte, da der Himmel bisher eigentlich blau und ziemlich wolkenlos gewesen war. Sie beeilte sich, dem rothaarigen Mädchen in den Hausflur zu folgen.
Jenny ging den Flur entlang bis zu einer Tür direkt an dessen Ende, die in ein großes Wohnzimmer führte. Sarah betrat den Raum, der im Übrigen ziemlich gemütlich eingerichtet war mit dunklen massiven Holzmöbeln, einem großen steinernen Kamin, vielen dicken Teppichen und mehreren gepolsterten Stühlen, die um einen Holztisch herum gruppiert waren. Direkt vor dem Kamin, in dem ein kleines Feuer brannte, stand ein geblümter Sessel. In diesem saß jemand, mit dem Rücken zu ihnen.
Sarah konnte die weißen Locken einer alten Frau erkennen.
„Hallo Oma! Ich habe jemanden mitgebracht. Bestimmt kannst du ihr helfen. Sie sucht nämlich ihre Eltern, die hatten eine Panne mit ihrem Artus, weil ihnen irgendetwas ausgegangen ist, und außerdem will sie unbedingt wissen, wo die nächste Dankstelle ist.“
„Ach, ich bin ja völlig unhöflich!“ Jenny schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. „Ich muss Sarah ja erst einmal vorstellen: Oma, das ist Sarah. Sie kommt aus einer großen Stadt, ganz weit weg. Du siehst, dort trägt man ganz andere Sachen als bei uns. Die sehen übrigens wirklich großartig aus. Hast du sie selbst genäht? Sarah, das ist meine Oma!“
„Oma hat schon immer hier gelebt. Es gibt nichts, was sie nicht weiß!“, fügte Jenny stolz hinzu.
Sarah hatte bereits mehrmals vergeblich zu einer Erwiderung angesetzt. Sie dachte sich, dass es jetzt sicherlich zwecklos wäre, Jenny auf ihre zahlreichen Irrtümer und falsch verstandenen Worte aufmerksam zu machen.
Stattdessen ging sie lieber auf die alte Frau in ihrem Sessel zu. Sie streckte artig ihren Arm aus, um ihr die Hand zu schütteln und war etwas irritiert, als Jennys Großmutter nicht darauf reagierte. Sie schaute Sarah bei ihrer Begrüßung auch gar nicht richtig an. Ihr Blick schien irgendwo in die Ferne zu gehen. Jenny merkte die Verwirrung ihrer Freundin. Im gleichen Moment, wie diese zu einer Erklärung ansetzte, hatte Sarah aber schon begriffen, dass die alte Frau blind war.
Sie ergriff kurzerhand deren Hand und drückte sie. Die alte Dame erwiderte den Händedruck und lächelte in Sarahs Richtung.
„Hallo, mein Kind. Du musst verzeihen, meine Enkelin spricht manchmal ein wenig schnell. Ich freue mich, dass Jenny eine neue Freundin mitgebracht hat. Sei willkommen in unserem Haus!“
Jenny holte nacheinander zwei Stühle, so dass sie sich beide zu der alten Frau vor den Kamin setzen konnten.
Sarah war ganz begierig darauf, zu erfahren, wo sie und ihr Bruder hier eigentlich waren, aber sie war viel zu höflich und wohlerzogen, als dass sie einfach drauflos gefragt hätte. Auch wenn sie vor Ungeduld ganz zappelig war, ließ sie es erst einmal geschehen, dass Jenny zunächst ihre Version der Begegnung mit Sarah und ihrem Bruder zum Besten gab. Schließlich, als das rothaarige Mädchen tatsächlich einmal Luft holen musste, unterbrach die alte Frau zu Sarahs großer Erleichterung die Erzählung ihrer Enkelin.
„Das ist ja wirklich sehr interessant, meine Liebe. Aber jetzt würde ich doch gerne ein paar Worte an unseren Gast richten.“
„Ich kann an deiner Sprache hören, dass du tatsächlich nicht aus dieser Gegend stammst. Ich kenne hier niemanden, der so spricht. Trotzdem kommt sie mir aber doch ein wenig bekannt vor…. Auch diese merkwürdigen Ausdrücke, die Jenny gerade gebraucht hatte… Ich bin mir fast sicher, dass das, was sie da erwähnt hatte, eigentlich Tankstelle heißen muss. Aber was das sein soll und wo ich den Ausdruck schon einmal gehört haben mag, das weiß ich leider nicht mehr…“
Die alte Frau schwieg eine Weile nachdenklich. Als Sarah schon sie wäre eingeschlafen, sprach sie endlich weiter.
„Nein, mein liebes Kind. So leid es mit auch tut: Ich kann mich einfach nicht mehr erinnern. Ach, das Alter. Ich weiß manchmal selber nicht mehr so recht, was ich tatsächlich erlebt habe und was ich womöglich nur geträumt oder von anderen erfahren habe.“
Sie schüttelte langsam mit dem Kopf.
„Weißt du, ich bin in meinem langen Leben nie groß aus dieser Gegend herausgekommen. Aber trotzdem träume ich manchmal von Dingen, ganz seltsamen Dingen, die mir wie eine Erinnerung aus einem früheren Leben vorkommen und die ich mir nicht einfach nur einbilden kann! Schließlich bin ich nur eine einfache Bäuerin…“
Sie schaute wieder ganz verträumt in Richtung des Kamins und schien ganz vergessen zu haben, dass sie nicht alleine war.
Sarah war mittlerweile zu dem Schluss gekommen, dass die alte Dame offenbar doch schon recht seltsam und womöglich gar nicht mehr richtig bei Verstand war.
Trotzdem wollte sie noch einen letzten Versuch wagen. Wer weiß, wann Jennys Familie endlich vom Feld zurückkam. Sie hatte ohnehin schon viel zu viel kostbare Zeit verloren!
„Bitte, versuchen Sie sich doch zu erinnern! Meine Eltern müssen hier vorbeigekommen sein! Sie haben sicherlich nach dem Weg gefragt. Oder gibt es womöglich noch einen anderen Ort, in den sie gegangen sein könnten?“ Sie beschrieb den Weg, den sie und Robert von der Lichtung im Wald aus genommen hatten.
Doch die blinde Frau schüttelte mit dem Kopf.
„Nein, mein Kind. Der nächste Ort ist einen guten halben Tagesmarsch von hier entfernt. Und es gibt von hier aus nur den einen Weg in den Wald. Wir benutzen ihn, um Holz zu holen, musst du wissen. Deine Eltern müssten wirklich hier vorbeigekommen sein… Und ich habe heute eigentlich den ganzen Tag auf der Bank vor der Dorflinde verbracht… Wenn hier heute ein Fremder vorbeigekommen wäre, hätte ich es erfahren. Jetzt zur Haupterntezeit befinden sich tagsüber kaum Erwachsene im Dorf. Sogar die Alten sind heute mit herausgefahren. Nur so eine unnütze Schachtel wie ich bleibt an einem solchen Tag zurück…“
Sie deutete mit einem traurigen Lächeln auf ihre trüben Augen.
„Allerdings erinnere ich mich jetzt tatsächlich an zwei Fremde… Das ist allerdings schon lange her…“, sprach die alte Frau schließlich nach einer langen Pause des Nachdenkens nachdenklich weiter. „Ich war damals noch nicht völlig blind, weißt du? Wie sahen deine Eltern noch gleich aus?“
Sarah, die durch die letzten Worte der alten Frau ganz verwirrt war, wollte gerade antworten, als hinter ihnen plötzlich die Tür aufgerissen wurde.
„Was hat der Junge hier zu suchen. Wo kommt er her? Jenny, ich habe dich etwas gefragt!“
Die beiden Mädchen schauten sich um: In der Tür stand ein kräftiger Mann, etwas jünger vielleicht als Sarahs Vater. Er hatte rotblonde Haare, ein sonnengebräuntes Gesicht -und sah alles andere als erfreut aus. Mit der rechten Hand hielt er den Arm von Robert fest umklammert. Dieser sah ganz eingeschüchtert und verschreckt aus. Als er seine große Schwester erkannt, riss er sich aus der Umklammerung los und rannte zu ihr hin. Sarah nahm ihren kleinen Bruder beschützend in die Arme und blickte den Mann ärgerlich an.
Dieser schaute jetzt ganz verdutzt in Sarahs Richtung.
„Wer ist das denn?“, verlangte er zu wissen, als er seine Fassung wieder gewonnen hatte. Jenny hatte zunächst erschrocken zwischen Sarah und dem Mann in der Tür hin und her geblickt. Jetzt erhob sie sich so heftig von ihrem Platz, dass der Stuhl fast umkippte. Sie stürmte in die Mitte des Raumes und stampfte energisch mit dem Fuß auf.
„Papa! Wie sprichst du mit meinen Freunden? Wenn du es genau wissen willst: Ich habe die beiden hierher gebracht. Sie brauchen nämlich unsere Hilfe. Und du hast mir selber beigebracht, dass man Menschen in Not immer beistehen muss!“
Jennys Vater wurde daraufhin sichtlich verlegen. Er kratzte sich seinen rotblonden Kinnbart und brummelte: „Tut mir leid, ich wollte niemanden erschrecken. Aber Ihr seid fremd hier! Jenny und auch du, Mutter, ihr wisst beide, dass das großen Ärger bedeuten kann! Die Zeiten sind jetzt nun einmal so, ich habe mir das doch nicht ausgesucht….“
Etwas freundlicher wandte er sich an Sarah: „Wie du dir sicherlich bereits gedacht haben wirst, bin ich der Vater dieses temperamentvollen Mädchens hier. Natürlich seid ihr bei uns willkommen. Als Ortsvorsteher habe ich allerdings eine große Verantwortung für unsere Sicherheit. Und das letzte, was wir hier gebrauchen können, wäre es, Ärger mit denen da oben zu bekommen! Das verstehst du doch sicherlich.“
Sarah, die überhaupt nichts verstand, nickte höflich. Sie hatte mittlerweile eingesehen, dass man hier mit Ungeduld nicht allzu weit kommen würde.
Nachdem Jenny zur Begrüßung einen großen Krug mit frisch gekeltertem Apfelsaft gebracht hatte, schilderte Sarah noch einmal geduldig ihr Problem. Jetzt hatte sie endlich einen Erwachsenen vor sich. Wenn der ihnen nicht weiterhelfen konnte, wer dann?
Jennys Vater hörte ihr zu und unterbrach sie nicht.
Als sie schließlich verstummte und den rothaarigen Mann erwartungsvoll anblickte, schüttelte dieser sichtlich verwirrt mit seinem Kopf.
„Nein, nein. Das kann nicht sein. Ihr irrt euch. Hier ist niemand vorbeigekommen. Und ich weiß überhaupt nicht, wovon du sprichst, diese ganzen Ausdrücke, ich kenne sie nicht…“
Zunehmend verzweifelt wandte sich Sarah jetzt an Jennys Großmutter und ergriff deren Hand: „Bitte, sagen Sie doch wenigstens, dass sie mir glauben! Hatten Sie nicht gerade von zwei Fremden gesprochen?“
Die alte Frau lächelte Sarahs an und wandte sich dann an ihren Sohn.
„Während eurer Unterhaltung hatte ich Zeit nachzudenken. Es ist lange her… Paul, du musst dich doch auch daran erinnern. Es muss so vor ungefähr zwei oder drei Jahren gewesen sein, in dem Jahr, als der Sommer so heiß und trocken war, dass die Scheune hinten im Feld von ganz alleine Feuer gefangen hatte, weißt du noch? Die Fremden, die sie draußen im Wald gefunden hatten. Komische Geschichten waren das, die damals im Umlauf waren….“
Vor zwei oder drei Jahren? Sarah merkte, wie die aufkommende Enttäuschung sie zu überwältigen drohte. Das konnten natürlich nicht ihre Eltern gewesen sein.
„Sie müssen sich irren. Das Ganze kann doch nur wenige Stunden her sein!“
Sie konnte jetzt ihre Tränen nur noch mühsam zurückhalten. Konnte ihr denn hier überhaupt niemand helfen?
„Wir müssen zur Polizei. Dort kann man uns bestimmt helfen. Ja, das ist es, wir müssen eine Vermisstenanzeige aufgeben!“
„Ich weiß nicht, was eine Polizei ist, aber hier in diesem Haus bestimme immer noch ich“, rief der rothaarige Mann jetzt laut aus und hieb mit der Faust auf den Tisch, dass sie Gläser wackelten und alle Anwesenden vor Schreck zusammenzuckten.
„Seht doch selbst“, fügte der Mann etwas ruhiger, hinzu: „Ihr seid hier doch völlig fremd. Und glaubt mir, es ist besser, wenn ihr erst einmal bei uns bleibt. Ich werde mir in der Zwischenzeit überlegen, wie ich euch weiter helfen kann.“
„Und noch etwas: Es ist wirklich wahr, dass hier in den letzten Tagen niemand Fremdes vorbeigekommen ist. Ich lüge euch ganz sicher nicht an. Warum sollte ich auch?“
Sarah schaute traurig zu Boden. Sie fühlte sich so elend wie noch niemals zuvor in ihrem Leben. Lediglich die Tatsache, dass sie ihren kleinen Bruder im Arm hielt, hielt sie davon ab, in Tränen auszubrechen.
Sie sah, dass es draußen allmählich dunkel zu werden begann.
Als hätte der rothaarige Mann ihre Gedanken gelesen legte er ihr in einer versöhnlichen Geste die Hand auf die Schulter.
„Sieh doch wenigstens ein, dass ihr nicht alleine in der Dunkelheit weiterziehen könnt…“
Sarah nickte schließlich widerwillig. In dieser Hinsicht hatte er sicherlich Recht.
Jenny klatschte begeistert in die Hände.
„Fein, du kannst sicherlich mit in meinem Zimmer schlafen. Aber zuerst sollten wir alle etwas essen. Ich muss nur rasch Tantchen in der Küche Bescheid sagen, dass wir heute zwei Esser mehr sein werden. Na ja, eher ein bis anderthalb Esser mehr…“
Sie blickte Sarahs Bruder an, der jetzt tatsächlich im Sitzen eingeschlafen war.
Kurz darauf saßen sie alle in der geräumigen Küche des Hauses. Auf dem großen Holztisch vor ihnen standen allerlei dampfende Schüsseln. Es gab eine kräftige Suppe, zu der selbstgebackenes Brot gereicht wurde. Danach wurde ein Schweinebraten serviert. Sarah langte kräftig zu, was Jennys Tante, einer freundlichen älteren kugelrunden Person sichtlich gefiel. Sogar Robert war beim Anblick des Essens wieder munter geworden.
Auch wenn sie die meiste Zeit mit Kauen und Schlucken beschäftigt gewesen war, hatte sie doch ganz genau mitbekommen, wie Jennys Vater geschickt alle weiteren Fragen unterband, die sich auf Sarahs und Roberts Herkunft bezogen. Er schien im Haushalt wirklich eine große Autorität zu haben.
Während des Essens hatte sie sich ein wenig in der Küche umgeschaut und bemerkt, dass hier keinerlei moderne Geräte vorhanden waren. Auch elektrisches Licht gab es keines. Der Raum wurde durch mehrere Petroleumlampen und einige Kerzen erhellt. All das wirkte auf sie wie ein Film, der vor hundert Jahren spielte oder wie in einem Museumsdorf.
Sarah überlegte, ob sie vielleicht bei einer Art von Sekte gelandet waren.
Und wirklich, je länger sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher schien ihr diese Erklärung zu sein. Sie erinnerte sich an einen Bericht im Fernsehen, in dem die Mitglieder einer solchen Sekte porträtiert worden waren, die irgendwo mitten in Amerika ein Leben wie vor einhundert Jahren lebten, alle modernen Maschinen und Technologien ablehnten und nur wenn es unbedingt nötig war mit der modernen Welt Kontakt aufnahmen.
Und wenn die Kinder hier vielleicht wirklich noch nie aus ihrem Tal herausgekommen waren? Dann wussten sie sicherlich tatsächlich nichts von Autos, Tankstellen und ähnlichen Dingen. Und die Erwachsenen leugneten natürlich alles, was ihr Weltbild und damit auch ihre Autorität irgendwie in Frage stellen würde!
Sarah beschloss, sehr vorsichtig zu sein. Wer weiß, ob diese Leute nicht sogar gefährlich sein konnten? Hielten sie womöglich ihre Eltern gefangen?
Auf einmal schien ihr alles möglich zu sein!
„So Kinder, es ist Zeit ins Bett zu gehen!“ Jennys Tante, deren Namen sie gar nicht mitbekommen hatte, klatschte in die Hände und riss Sarah aus ihren Gedanken.
„Sarah kann mit in Jennys Zimmer schlafen, da steht noch ein zweites Bett. Und du junger Mann, kommst gleich mit mir mit. Dich quartieren wir nebenan bei Jennys Bruder ein!“
Zu Sarahs nicht geringem Erstaunen fremdelte Robert überhaupt nicht. Er gab seiner Schwester einen Gutenachtkuss auf die Wange und ging folgte der dicken Frau brav. Sarah wollte eigentlich nicht von ihrem Bruder getrennt werden. Aber sie wollte nicht unhöflich sein.
Schweren Herzens folgte sie Jenny in das obere Stockwerk des Hauses, wo sie ein geräumiges Zimmer vorfand, in dem zwei Betten standen.
„Hier, das kannst du anziehen.“ Das sommersprossige Mädchen reichte ihr ein Nachthemd.
„Deine Sachen kannst du hier über den Stuhl legen. Frisches Wasser ist dort:“
Sie zeigte auf eine Waschschüssel, die auf einer Spiegelkommode stand.
„Und das andere, du weißt schon, steht unter deinem Bett.“
Zu Sarahs nicht geringem Entsetzen deutete sie auf einen großen Topf mit Henkel. Ein Nachttopf! Das durfte doch nicht wahr sein. Niemals würde sie in einen Nachttopf pinkeln, da war sie sich sicher.
Peinlich berührt zog sich aus und streifte sich das Nachthemd über. Was die Abendtoilette anging, folgte sie Jennys Beispiel und beschränkte diese darauf, sich das Gesicht abzuwaschen.
Schließlich lag sie in ihrem weichen und erstaunlich bequemen Federbett. Jenny löschte das Petroleumlicht, das auf ihrem Nachttisch stand.
In der Dunkelheit, die sie jetzt umhüllte, fiel Sarah auf, wie still es hier war. Obwohl das Fenster geöffnet war, drangen kaum Geräusche von draußen in ihr Zimmer. Sie konnte eine Grille zirpen hören. Ab und zu blökte ein Schaf und eine Amsel schimpfte ein wenig vor sich hin.
„Du Jenny, was ist denn eigentlich mit deiner Mutter?“ Ihr war aufgefallen, dass diese beim Abendessen nicht dabei gewesen war.
„Oh, die ist schon bei meiner Geburt gestorben. Mein Vater hat dann wieder geheiratet. Du musst wissen, dass mein Bruder eigentlich mein Halbbruder ist. Und meine Stiefmutter pflegt zur Zeit gerade ihre Großtante hier im Dorf und schläft dort auch. Die Frau, musst du wissen, ich meine natürlich die Großtante, ist schon uralt und ziemlich krank. Wir können sie mal besuchen gehen. Sie freut sich sicherlich über ein wenig Abwechslung.“
Sarah hörte, wie Jenny herzhaft gähnte.
„Und morgen erzählst du mir ein wenig mehr von der Stadt, aus der du kommst. Meinst du, dass ich dich dort vielleicht mal besuchen kann? Ich meine, wenn du deine Eltern wieder gefunden hast. Du musst dir keine Sorgen machen. Mein Vater ist wirklich in Ordnung. Auch wenn er manchmal etwas unfreundlich sein kann. Er hat ziemlich viel Sorgen, musst du wissen. Der König und seine vielen Gesetze, jeden Tag ein neues. Kein Wunder, dass alle unzufrieden sind. Du weißt schon…“
Nein, dachte sich Sarah, davon weiß ich nichts! Und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich davon überhaupt etwas erfahren möchte! Ein König? Sicherlich meinen die hier damit ihren Sektenanführer…
Schließlich hörte Sarah, wie die Atemgeräusche ihrer Gefährtin gleichmäßiger wurden. Auch sie selber merkte jetzt, wie müde sie war. Auch wenn sie noch so viele Fragen hatte, morgen war auch noch ein Tag.
Bevor sie endgültig einschlief, überwand sie aber doch noch ihren Ekel vor dem Nachttopf unter ihrem Bett. Wenn es hier nun einmal so üblich war, na schön….
3
Als Sarah am nächsten Morgen erwachte, schien ihr durch das geöffnete Fenster die Sonne warm ins Gesicht. Sie hatte die Nacht tief und fest durchgeschlafen und war jetzt im ersten Moment ganz verwirrt, in einer ihr fremden Umgebung aufzuwachen.
Zunächst dachte sie, im Haus ihrer Großeltern zu sein. Dann fiel ihr mit einem Mal plötzlich alles wieder ein: Die Autopanne im Tunnel, ihre Eltern, die auf so geheimnisvolle Weise verschwunden waren und schließlich das seltsame, so mittelalterlich anmutende Dorf…
Sie blickte herüber zu dem leeren Bett an der gegenüber liegenden Wand des Raumes: Jenny, ihre neue Zimmergenossin, schien bereits aufgestanden zu sein.
Sarah wollte gerade ebenfalls aus dem Bett steigen, da erinnerte sie sich an einen seltsamen Zwischenfall, der sich am Vortag während des Abendessens noch ereignet hatte.
Nach dem Hauptgang hatten alle dabei geholfen, den Tisch abzuräumen. Als Sarah an ihren Platz zurückkehren wollte, hatte sie bemerkt, dass Jennys kleiner Bruder mit einem Mal ganz quengelig geworden war. Offensichtlich war ihm sein Spielzeug, irgendein aus Holz geschnitztes Tier, heruntergefallen und ein Stück weit unter die Anrichte gerutscht. Sarah wollte es gerade aufheben, als etwas ausgesprochen Merkwürdiges passierte: Mit einem Mal setzte sich das Holzspielzeug in Bewegung. Ganz von alleine… Mit offenem Mund hatte sie zuschauen können, wie sich das Ding unter dem gebannten Blick des kleinen Jungen Zentimeter für Zentimeter unter dem Schrank hervorbewegte. Es war gerade auf der offenen Fläche zwischen Anrichte und Tisch angekommen, als Jennys Tante zu ihnen zurückkehrte.
Mit einem lauten Aufschrei hatte sich die beleibte Frau auf das Holzspielzeug zugestürzt und es ihrem Neffen in die Hände gedrückt. „Er hat es schon wieder getan…“, hatte sie sich flüsternd an Jenny gewandt und dann erschrocken in ihre, Sarahs, Richtung geblickt, als wäre ihr deren Anwesenheit erst jetzt wieder eingefallen. Wahrscheinlich, weil sie so furchtbar müde und erschöpft gewesen war, hatte Sarah den Zwischenfall daraufhin wieder vergessen und dachte erst jetzt wieder daran. Wirklich seltsam… Allerdings war sie sich jetzt am helllichten Tage nicht mehr sicher, ob sie sich das Ganze nicht vielleicht doch nur eingebildet hatte.
Sarah schaute sich im Zimmer um, das für ihren Geschmack ein wenig zu altmodisch aber ansonsten durchaus ganz nett und gemütlich eingerichtet war. Auch hier fehlte allerdings alles, was auch nur im Entferntesten darauf hingewiesen hätte, dass sie mittlerweile im 21. Jahrhundert lebten. Jenny hatte ihr die kurze handschriftliche Mitteilung hinterlassen, dass sie etwas früher aufgestanden war, um die Hühner und Schweine zu füttern.
Als sich Sarah anziehen wollte, stellte sie mit Schrecken fest, dass sämtliche Kleidungsstücke, die sie gestern Abend über den Stuhl gelegt hatte, verschwunden waren! Und nicht nur das: Auch ihren Rucksack konnte sie nirgends finden!
An Stelle ihrer alten Sachen lagen jetzt andere Kleidungsstücke auf dem Stuhl. Hatte Jenny sie für sie dahin gelegt? Sarah entdeckte ein geblümtes Kleid, das zu allem Überfluss auch noch kleine Rüschen an den Ärmeln hatte. Sie hasste Kleider! Man konnte sich doch wirklich nichts Unpraktischeres vorstellen. Wann hatte sie zuletzt freiwillig eines von diesen Dingern getragen? Es muss der 70. Geburtstag ihrer Großmutter vor zwei Jahren gewesen sein. Sie konnte sich nur zu gut an die lange Diskussion erinnern, die sie mit ihrer Mutter am Morgen vor der Feier über die Kleidungsfrage geführt hatte.
Zu ihrer Freude entdeckte sie tief unter dem Bett ihre eigenen Schuhe. Dann musste sie wenigstens nicht diese hässlichen Treter anziehen, die neben dem Stuhl lagen und offenbar ebenfalls für sie bestimmt waren.
Sarah war gerade dabei, ihr Bett aufschütteln, als ihr eine kleine Unebenheit in der Wand neben dem Bettpfosten auffiel. Dort hatte sich die Tapete ein wenig von ihrem Untergrund gelöst. Sie beugte sich vor, um sie wieder zu befestigen. Sicherlich war sie gerade beim Bettenmachen daran hängen geblieben.
Zu ihrem großen Erstaunen fand sie unter der teilweise abgelösten Tapete eine Steckdose! Diese war offensichtlich einfach zutapeziert worden!
Wie sollte sie das verstehen?
Ihre erste Theorie vom Vortag, auf unerklärliche Weise in der Vergangenheit gelandet zu sein, konnte sie hiermit, Gott sei Dank, wohl endgültig vergessen. Dafür erschien ihr jetzt ihre Idee mit der Sekte umso wahrscheinlicher.
Sie setzte sich nachdenklich auf den Rand ihres Bettes. Was sollte sie bloß als nächstes tun?
Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als plötzlich die Zimmertür aufflog und Jenny hineingestürmt kam.
„Guten Morgen, Sarah! Schön, dass du schon auf bist. Die Sachen stehen dir im Übrigen sehr gut. Die sind von mir. Ich hatte mir gleich gedacht, dass wir die gleiche Größe haben. Ich hoffe, sie gefallen dir auch ein wenig. Jetzt aber los, nicht dass wir zu spät zum Frühstücken kommen. Dein Bruder ist übrigens schon unten ….“
Sarah versuchte mehrmals vergeblich, den Redeschwall zu unterbrechen und nutzte jetzt eine kurze Atempause des Mädchens aus, um endlich auch einmal zu Wort zu kommen.
„Danke für die frischen Sachen zum Anziehen, Jenny. Aber ich würde doch gerne wissen, wo meine alten Sachen hingekommen sind….“
„Ach die! Keine Angst. Die haben wir in die Wäsche getan. Auch dein Rucksack war ganz schön schmutzig. Du kriegst alles ganz sauber wieder, versprochen.“
„Jenny, schaust du dir bitte das hier noch schnell an?“ Bevor Jenny wieder aus dem Zimmer verwinden konnte, zeigte Sarah ihr noch die versteckte Steckdose an der Wand. Nachdem sich das rothaarige Mädchen die Stelle angesehen hatte, wirkte sie aufrichtig verwirrt und meinte schließlich ganz ratlos:
„Komisch, das habe ich bisher noch nicht entdeckt. Keine Ahnung, was das Komisches sein soll. Ich werde später Papa danach fragen…“
Sarah schaute Jenny prüfend an. Es sah aber nicht so aus, als würde das rothaarige Mädchen sie anlügen.
In der Küche angekommen, saß Robert dort bereits vergnügt am Tisch und wurde von Jennys Tante gerade mit einem riesengroßen Pfannkuchen versorgt. Er fing sogleich mit vollem Mund an zu erzählen, was er an diesem Morgen schon alles erlebt hatte: Er hatte beim Hühner füttern geholfen und alle möglichen Tiere im Stall gesehen.
Sarah war erleichtert, dass Robert nicht nach ihren Eltern fragte. Sie hätte nicht gewusst, was sie ihm hätte antworten sollen.
Jennys Vater war schon längst auf dem Feld und auch die Tante brach gleich darauf auf, um irgendwelche Besorgungen zu machen.
Darüber war Sarah nicht unbedingt unglücklich. Sie hatte nämlich vor, ihrer neuen Freundin ein paar Fragen zu stellen, bei denen sie keinen der Erwachsenen dabei haben wollte. Sie wollte herausfinden, ob sie mit ihrer Vermutung, in die Fänge einer religiösen Sekte geraten zu sein, Recht hatte.
„Ihr habt eine schöne Kirche hier im Dorf. Da geht ihr sicherlich häufig hin, ich meine zum Gottesdienst und so?“, fragte sie beiläufig und beobachtete dabei ihr Gegenüber aus dem Augenwinkel.
Jenny schien sich an der Frage nicht weiter zu stören.
„Stimmt, die Kirche ist wirklich hübsch. Wir gehen aber nicht sehr häufig dorthin. Mir wäre es ja eigentlich egal, aber mein Vater verträgt sich nicht besonders mit dem Pfarrer, und überhaupt macht er sich wohl nicht allzu viel aus Religion, denke ich. Zumindest redet er manchmal ganz schön abfällig darüber. Das alles wäre nur dafür da, das einfache Volk klein und gefügig zu halten und so. Das ist mir dann vor meinen Freundinnen manchmal richtig peinlich. Ich glaube, es hat mit dem Tod meiner Mutter zu tun. Den hat er bis heute nicht verkraftet… Ich dagegen denke schon, dass es einen Gott geben muss.“
Sarahs Theorien purzelten förmlich wie ein Kartenhaus zusammen. Eine Sekte, die nicht streng religiös ist? Mit Mitgliedern, die offen darüber sprechen, dass sie sich nicht allzu viel aus Religion machen? Das passte nicht gerade zu dem, was sie sich vorgestellt hatte.
Vielleicht machte es den Leuten hier ja einfach nur Spaß, wie im Mittelalter zu leben? Wie Aussteigertypen sahen die hier alle zwar nicht gerade aus. „Aber es gibt nichts, was es nicht gibt“, wie ihr Vater immer wieder zu sagen pflegte. Womöglich war das hier so eine Art von Ökodorf? Aber konnte man wirklich so isoliert leben und seine Kinder dermaßen von der wirklichen Welt abschotten? Es gab da doch so etwas wie eine Schulpflicht mit Lehrplänen…
Ihr fiel die Sache mit den Kleidungsstücken ein.
„Übrigens Jenny, mir ist aufgefallen, dass hier die Mädchen und die Frauen alle Kleider und Röcke tragen. Ist das irgendwie Vorschrift? Ich meine, ist es für Frauen eigentlich verboten, Hosen zu tragen?“
„Verboten?“ Jenny schaute sie ein wenig irritiert an. „Nein, nicht, dass ich wüsste. Auch wenn es ja wirklich für alles Mögliche Vorschriften und Verbote gibt. Aber über die Kleidung? Viele Frauen tragen manchmal durchaus Hosen. Beim Reiten zum Beispiel. Aber warum sollten wir sonst welche tragen? Den Männern würde doch auch nicht einfallen, plötzlich Röckchen zu tragen!“
Jenny lachte bei der Vorstellung und biss herzhaft in ihr Marmeladenbrot.
„Was ist los, Sarah? Schmeckt es dir nicht? Soll ich dir vielleicht etwas anderes bringen?“
Nach dem Essen lud Jenny Sarah dazu ein, ihr mehr von ihrem Dorf und seiner Umgebung zu zeigen. Sie würde heute nicht weiter auf dem Hof helfen müssen, so dass sie den ganzen Tag dazu Zeit hätten. Ihre Brüder würden sie der Obhut der Tante überlassen, wo sie sicherlich bestens aufgehoben waren.
4
Ein paar Stunden später saßen die beiden Mädchen am Rande des Dorfteiches und ließen ihre nackten Füße im kühlen Wasser baumeln. Es war ein heißer sonniger Tag, und sie hatten sich eine schattige Stelle unter einer großen Weide gesucht.
Die Besichtigung des nicht sonderlich großen Dorfes hatte erwartungsgemäß nicht allzu viel Zeit in Anspruch genommen.
Sarah hatte auf ihrem Rundgang nichts besonders Auffälliges mehr entdecken können, sofern man ein Dorf, in dem die Zeit irgendwann im 19. Jahrhundert stehen geblieben war, als unauffällig bezeichnen wollte. Jenny hatte ihr alles gezeigt und war sogar mit ihr in das einzige Gasthaus des kleinen Ortes gegangen. Aber auch dort hatte niemand etwas von Sarahs Eltern gesehen oder gehört.
Sarah gähnte. Sie merkte, wie die Hitze sie ganz schläfrig machte. Plötzlich stutzte sie, als sie im Gras neben ihren Schuhen etwas in der Sonne aufblitzen sah. Erst dachte sie, ein Lichtreflex hätte sie genarrt.
Als sie den kleinen Gegenstand neugierig in die Hand nahm, sah sie, dass es sich um ein reichlich verwittertes Plastikteil handelte. Dieses war ursprünglich wohl einmal rot gewesen, war jetzt aber fast vollständig ausgeblichen. Sie nahm an, dass es ursprünglich zu irgendeinem technischen Gerät gehört hatte, vielleicht zu einem Radio oder einem Mobiltelefon, genau konnte man es nicht mehr sagen.
Auf einen Schlag war sie wieder hellwach und zeigte das Teil aufgeregt ihrer Freundin. Diese schaute nur kurz hin und meinte gelangweilt:
„Ach, von diesen bunten Abfällen findet man immer mal wieder etwas. Ich weiß auch nicht, woher sie alle stammen, aber es gibt eine Anweisung, sie im Rathaus abzugeben. Komischerweise ist es nicht erlaubt, ihn zu behalten. Eine komische Regelung, nicht wahr? Was, bitteschön, sollte man denn damit auch anfangen...?“
Sarah wusste darauf nichts zu erwidern. Sie war langsam am Ende ihrer Weisheit angelangt.
Zuvor, als beide Mädchen am Rande des kleinen Ortes auf einen kleinen Hügel gestiegen waren, um einen besseren Überblick über das Tal zu haben, hatte Sarah ihre Gefährtin ganz beiläufig nach der nächstgelegenen größeren Stadt gefragt und erfahren, dass diese mehr als drei Tagesmärsche von hier entfernt war. Ja, sie sei auch schon einmal dort gewesen. Das sei aber bereits gut zwei Jahre her. Damals hatte ihr Vater verschiedene Gerätschaften für den Hof anschaffen müssen, die man in ihrem kleinen Ort nicht erhielt.
„Und wie ist es dort so?“, wollte Sarah beiläufig wissen. Sie musste sich fast auf die Zunge beißen, um das rothaarige Mädchen nicht direkt zu fragen, ob es dort Autos, Eisenbahnen oder elektrischen Strom gab, kurz gesagt, ob dort wenigstens alles normal war!
„Oh, dort ist alles ganz anders als hier bei uns!“, hatte Jenny geantwortet, woraufhin Sarah die Luft angehalten hatte.
„Du kannst dir kaum vorstellen, wie groß dieser Ort ist. Als ich das letzte Mal dort war, habe ich mich erst einmal hoffnungslos verlaufen. Diese vielen Menschen. Und auf den Straßen herrscht ein unglaublicher Verkehr. Man muss sich vorsehen, nicht einfach umgefahren zu werden…“
Wie groß war dann Sarahs Enttäuschung gewesen, als sie gleich darauf erfuhr, dass es sich hierbei nur um Kutschen, Pferdefuhrwerke und Ochsenkarren gehandelt hatte.
Auch die Stadt schien also von dieser seltsamen Krankheit befallen zu sein…
Sarah schüttelte bei der Erinnerung an das gerade Erlebte so energisch mit dem Kopf, dass Jenny erstaunt zu ihr herüber blickte.
Aber sie hatte hier doch überall ganz eindeutige Spuren der modernen Welt entdeckt!
Jetzt schaute sie zu, wie die Bewegung ihrer Füße im klaren Wasser des Dorfteiches kleine Wellen verursachte. Sie, die sonst nur so sprühte vor Einfällen, hatte einfach keine Ideen mehr.
Jede ihrer Hoffnungen waren bisher enttäuscht worden.
Einen schrecklichen Moment lang hatte sie sogar gedacht, ihre bisherigen Theorien wären vielleicht deshalb falsch, weil sie nicht etwa in der Vergangenheit, sondern vielmehr in der Zukunft gelandet waren. Ganz so wie in einem billigen Science Fiktion. Eine Zukunft, in der alle Errungenschaften der modernen Welt schon lange in Vergessenheit geraten waren…
Aber an eine so völlig absurde und unrealistische Möglichkeit wollte sie erst gar nicht denken!
Was weder Sarah noch Jenny bemerkten, waren drei große schwarze Krähen, die hoch über ihnen auf einem Ast einer mächtigen alten Eiche saßen. Die Vögel hielten ihre Köpfchen geneigt, als würden sie dem Gespräch der beiden Mädchen unter ihnen aufmerksam lauschen. Schließlich blickten sich die drei Vögel an, woraufhin sie sich alle zugleich in die Luft erhoben. Aber nur eine Krähe flog davon. Ihre Kameraden flatterten lediglich auf das Dach des gegenüberliegenden Gebäudes, von wo aus sie die Kinder sogleich weiter aufmerksam zu beobachten schienen…
5
Schließlich war es für die Mädchen an der Zeit zurückzukehren. Auf dem Rückweg hatte Sarah noch eine weitere fruchtlose Diskussion mit Jenny. Sie waren gerade wieder an einem dieser Plakate vorbeigekommen, auf dem geschrieben stand, dass die Zauberei verboten sei.
Sarah hatte bemerkt, dass es doch überhaupt gar keine Zauberei gäbe. Dem hatte Jenny sofort beigepflichtet, allerdings mit der Begründung, dass es sie nicht gäbe, weil sie verboten sei!
In diesem Zusammenhang hatte sich Sarah wieder an den merkwürdigen Zwischenfall mit dem Holzspielzeug erinnert. Darauf angesprochen tat Jenny zu Sarahs Verwunderung so, als würde sie sich an gar nichts erinnern können. Danach wechselte sie allerdings auffällig schnell das Thema…
Ein zweiter Punkt war der ominöse König gewesen, von dem hier immer wieder die Rede war. Sarah hatte erzählt, dass es bei ihr daheim keinen König mehr gäbe, sicherlich schon seit über 80 Jahren schon nicht mehr.
Jenny hatte sie daraufhin ganz verständnislos angeschaut. Es hätte hier schon immer einen König gegeben, und das würde mit Sicherheit auch weiterhin so sein. Das rothaarige Mädchen schien sich bei dem Gespräch sichtlich unbehaglich zu fühlen und meinte schließlich zu Sarah, dass sie über dieses Thema lieber nicht weiter reden sollten, zumindest nicht im Freien. Sie lernten in der Schule zwar, dass sie ihren König lieben sollten, und dass dieser sie auch alle ganz lieb habe. Aber dumm sie sie auch nicht, und sie hätte schon so manches Gespräch der Erwachsenen zu diesem Thema mitbekommen. Diese zumindest schienen manchmal sogar regelrecht Angst vor ihm zu haben, auch wenn sie dies ihren Kindern gegenüber natürlich nicht zugaben.
Andere Dinge waren aber wieder genauso wie bei ihr daheim. So schrieb man hier das gleiche Jahr, und dass sie beide die gleiche Sprache sprachen war auch nicht von der Hand zu weisen.
Sie hatten Jennys Zuhause fast erreicht, als es, genau wie am Vortag, plötzlich anfing, wie aus Kübeln zu schütten. Und auch das wieder, nachdem den ganzen bisherigen Tag über wunderschönes Sommerwetter geherrscht hatte.
„Na, ihr habt hier aber lustiges Wetter…“, bemerkte Sarah im Scherz zu ihrer Gefährtin, als sie beide im Treppenhaus ihre nassen Haare trockneten. Jenny schaute Sarah einen Moment lang ganz irritiert an und meinte nur: „Wieso? Es ist jetzt doch fünf Uhr fünfunddreißig, oder etwa nicht?“
Später saßen sie alle wieder beim Abendessen in der Küche zusammen. Sarah bemerkte gleich, dass die alte Großmutter fehlte. Es wurde während des Essens kaum etwas gesprochen aber Sarah merkte sehr wohl, dass Jennys Vater die ganze Zeit schon etwas unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte, ganz so, als wollte er die ganze Zeit etwas sagen, ohne recht zu wissen, wie er am besten damit beginnen sollte.
Gleich nach dem Nachtisch räusperte sich der rothaarige Mann und brach schließlich das Schweigen: „Ich denke, dass die Kleinen jetzt aufstehen dürfen, um noch ein wenig draußen zu spielen…“
Diese ließen sich das natürlich nicht zweimal sagen.
Jennys Vater holte tief Luft und blickte Sarah ernst an.
„Also, Sarah, ich habe lange darüber nachgedacht, was mit euch am besten geschehen soll. Das, was du mir über deine Eltern erzählt hast und diese anderen Dinge…Ich weiß immer noch nicht so recht, was ich davon halten soll. Tatsache ist auf jeden Fall, dass hier bei uns in der letzten Zeit sicherlich niemand vorbeigekommen ist, auf den deine Beschreibung zutreffen würde. Ich habe mehrere Leute aus unserem Ort gefragt und diese haben mir das allesamt bestätigt. Vieles von dem, was du uns erzählt hast kann einfach nicht stimmen.“
„Nein, ich meine damit nicht, dass du die Unwahrheit sagst…“, fügte er schnell hinzu, als er sah, dass Sarah widersprechen wollte. „Ich glaube euch, dass Ihr wirklich etwas Schlimmes erlebt habt. Und hier in unserem Land steht es in der letzten Zeit ja wirklich mit einigen Dingen nicht unbedingt zum Besten. Auch wenn man darüber eigentlich nicht sprechen sollte, ist dies doch sicherlich jedem von uns bekannt….Nun ist es ja so, wie wir alle wissen, dass man in bestimmten schlimmen Situationen, einem Unglück beispielsweise, verschiedene Dinge um sich herum vielleicht gar nicht richtig begreifen kann und somit völlig missversteht. Kurz und gut, was wirklich passiert ist, werden wir vielleicht nie herausfinden…“
Er seufzte und blickte Sarah unglücklich an. Wahrscheinlich war er es nicht gewohnt, so lange Ansprachen zu halten. Er räusperte sich und putzte sich mit einem karierten Stofftaschentuch erst einmal umständlich die Nase, bevor er fortfuhr:
„Also, Sarah. Ich habe nach reiflicher Überlegung beschlossen, dass ihr beide erst einmal hier bei uns wohnen bleibt, bis wieder jemand von der Stadt bei uns vorbeikommt. Der kann dann entscheiden, was weiter geschehen soll! Ihr werdet hier die Schule besuchen, wie die anderen Kinder auch. Euch wird es an nichts fehlen, das verspreche ich euch. Aber jetzt muss ich noch einmal raus auf das Feld.“
Er stand vom Tisch auf und machte Anstalten den Raum zu verlassen.
Sarah war ebenfalls aufgestanden. Ihr liefen jetzt die Tränen die Wangen hinab. Sie suchte verzweifelt nach den richtigen Worten:
„Aber alles ist wahr, was ich Ihnen erzählt habe. Ich habe es wirklich so erlebt! Warum glaubt mir hier keiner?“
Der Mann wandte sein Gesicht ab. „Nein Sarah, ich möchte jetzt keine Diskussionen führen!“ Doch Sarah dachte noch nicht daran, aufzugeben.
„Wo ist Jennys Großmutter? Die hat doch gestern etwas erzählt, von Fremden, die hier früher schon einmal in der Stadt waren! Sie schien doch irgendetwas zu wissen… Sicherlich würde sie mir glauben!“
„Meine Mutter? Die ist heute früh abgereist. Ich dachte, du wüsstest das. Sie will ihre Schwester in der Stadt besuchen. Sie wird nicht vor Schulbeginn wieder hier sein. Außerdem ist sie eine alte Frau. Ich fürchte, dass sie manchmal einiges durcheinander bringt. Und jetzt Jenny…“, er wandte sich an seine Tochter, „ …solltet ihr beiden besser ins Bett gehen. Morgen, wenn die Sonne erst einmal wieder scheint, sieht sicherlich alles wieder ganz anders aus!“
Er verließ eilig die Küche und ließ die todunglückliche Sarah mit seiner Tochter alleine zurück. Diese legte ihren Arm tröstend um Sarahs Schulter.
„Mach dir keine Sorgen. Es wird sicherlich wieder alles gut…“
Sarah trocknete sich ihre Augen mit dem Taschentuch, das ihr Jenny vorsorglich gereicht hatte. Sie fasste für sich im Stillen einen Entschluss: Sie würde nicht aufgeben, niemals!
„Ach noch etwas, Sarah.“ Jenny fasste sich an die Stirn. „Meine Tante lässt dir ausrichten, dass es ihr ganz furchtbar leid täte. Aber ihr sind deine Anziehsachen beim Waschen versehentlich eingegangen. Sie seien nicht mehr zu retten gewesen, und sie musste sie wegwerfen.“ Jenny war es sichtlich peinlich, ihr das ausrichten zu müssen.
Schließlich hellte sich ihre betrübte Miene aber ein wenig auf. Sie beugte sich zu Sarah vor und flüsterte ihr ins Ohr:
„Aber deinen Rucksack habe ich für dich retten können. Eigentlich komisch, sie hatten gesagt, er wäre auch kaputt gegangen. Dabei sieht er eigentlich noch völlig in Ordnung aus. Er lag neben dem Küchenausgang und muss wohl aus dem Müll gefallen sein, als sie ihn heute früh abgeholt haben. Ich habe ihn für dich in meinem Schrank versteckt.“
„Mein neues Zuhause!“, dachte Sarah, als sie gleich darauf die Treppe nach oben stieg. Ihr war ganz schlecht und sie fühlte sich elend. Oben im Zimmer angekommen, sah sie, dass für sie schon einige weitere Kleidungsstücke bereitlagen.
Damit würde sie wirklich hervorragend in diese Idylle hier passen, dachte sie verbittert. Als sie in Jennys Kleiderschrank nachschaute, entdeckte sie tatsächlich, ganz hinten, unter einem Stapel Wäsche versteckt, ihren Rucksack. Sie schaute gleich hinein und war eigentlich nicht sonderlich überrascht, dass er leer war. Ihr Handy, ihr Portemonnaie, kurz gesagt, alles was ihre Zugehörigkeit zu einer anderen Welt bewiesen hätte, war verschwunden….
Sie wusste sie, dass es sicherlich überhaupt nichts bringen würde, jemanden von Jennys Familie darauf anzusprechen. Wahrscheinlich würden sie leugnen, dass jemals etwas Besonderes in diesem Rucksack gewesen war. Und dieser würde den anderen Gegenständen dann sicher rasch folgen…
Als Sarah an diesem Abend schließlich zu Bett ging, fiel ihr auf, dass die Tapete hinter ihrem Bett wieder völlig intakt war. Von der darunter verborgenen Steckdose war nichts mehr zu erkennen, ja es war so, als wenn diese nie da gewesen wäre…. Lediglich ein wenig Tapetenkleister an der Kante, der noch nicht ganz getrocknet war, wies darauf hin, dass sich hier zuvor jemand zu schaffen gemacht hatte.
Aber morgen schon würde man davon sicherlich nichts mehr sehen…
Sarah konnte sich gut vorstellen, wie es jetzt weiterging: Es war sicherlich nur eine Frage der Zeit, bis man ganz leugnen würde, dass sie und ihr Bruder unter so seltsamen Umständen in das Dorf gelangt waren. Es schien ihr ganz so zu sein, als wenn man ihre Vergangenheit einfach ausradieren und neu überschreiben wollte. Mit ihrem kleinen Bruder konnte man das bestimmt machen, er war sicherlich noch jung genug dafür.
Und sie? Wer weiß, vielleicht glaubte sie ja selber irgendwann daran….
Mit diesen bitteren Gedanken legte sie sich in ihr Bett.
Ihren Rucksack hielt sie als letzte greifbare Erinnerung an ihre Welt fest an sich gedrückt.
Als sie schließlich vom einschlief, war ihr Kopfkissen vor lauter Tränen ganz nass.
3 Die Gaukler
1
Sarah schlief in der Nacht sehr unruhig. Später konnte sie sich allerdings nur noch bruchstückhaft an ihre Träume erinnern. Sie wusste noch, dass ihre Eltern darin vorgekommen waren. Sie und Sarah hatten einander sehen, aber nicht zueinander gelangen können. Eine Glasscheibe oder irgendeine andere unsichtbare Barriere hatte sie voneinander getrennt, so dass sie weder einander berühren noch verstehen konnten. Sarah erinnerte sich noch, wie ihre Mutter offenbar nach ihr rief. Sie konnte aber nur ihren weit geöffneten Mund und die vor Schreck geweiteten Augen sehen. Ihr Vater schien mit irgendetwas zu kämpfen, mit wem oder was, konnte sie nicht genau erkennen. Sarah wollte ihm verzweifelt zu Hilfe kommen, aber sie prallte immer wieder gegen die unsichtbare Wand.
Als Sarah schließlich erwachte war sie schweißgebadet, und sie spürte, wie ihr Herz raste.
Es musste noch ziemlich früh am Morgen sein. Draußen begann es gerade zu dämmern, so dass die Konturen der einzelnen Möbelstücke im Zimmer allmählich zu erkennen waren.
Wieder einzuschlafen versuchte sie erst gar nicht. Stattdessen nutzte sie die Zeit bis zum Frühstück, um nachzudenken.
Sarah war felsenfest dazu entschlossen, sich nicht einfach widerstandslos in ihr Schicksal zu fügen. Sie würde versuchen zu fliehen. Wo immer sie hier auch gelandet sein mochte, es musste einen Weg zurück in eine „normale“ Umgebung geben!
Sarah dachte nach. Wenn sie und ihr Bruder wieder den Tunnel aufsuchten und dann einfach die gleiche Strecke zurückgingen, die sie zuvor mit dem Auto gefahren waren? Dann müssten sie irgendwann wieder nach draußen gelangen und einen Autofahrer auf sich aufmerksam machen oder eine Notrufsäule finden können.
Je länger sie darüber nachdachte, desto vernünftiger erschien ihr dieser Plan. Natürlich konnten sie auch versuchen, in die nächste Ortschaft zu gelangen. Aber wenn diese ebenfalls von dieser komischen „Krankheit“ befallen war, hatten sie ein Problem…
Eine Schwierigkeit bei ihren Plänen gab es natürlich noch: Nämlich ihren kleinen Bruder. Nicht nur, dass sie zusammen nicht allzu schnell vorankommen würden. Ihr war auch aufgefallen, dass er sich verdächtig schnell hier in seiner neuen Umgebung einzuleben schien. Er hatte den ganzen gestrigen Tag nicht einmal nach seinen Eltern gefragt! Gut, er war noch klein und begriff sicherlich vieles noch nicht so richtig. Außerdem waren ja wirklich alle hier sehr freundlich zu ihnen. Aber trotzdem, seltsam war es schon. Irgendwie kam er ihr verändert vor…
2
Beim Frühstück, Jennys Vater war bereits außer Haus, sicherlich wollte er einer erneuten Diskussion mit ihr aus dem Weg gehen, erfuhren die Mädchen von Jennys Tante Neuigkeiten:
Eine Gruppe von Gauklern wollte heute in ihrem Dorf eine Vorstellung geben. Sie waren auf der Durchreise in die nächste Stadt und übernachteten hier im Gasthof des Ortes. Es sollte der einzige Auftritt sein, bevor sie morgen früh wieder weiter zogen.
Jenny war ganz begeistert und fragte ihre Tante, ob sie dorthin gehen dürften.
„Warum nicht? Dein Vater hat sicherlich nichts dagegen. Er kommt heute ohnehin sicherlich erst spät heim. Aber nehmt die Kleinen mit. Denen wird das Spektakel sicherlich gefallen.“
Sie selber hatte allerdings keine große Lust mitzukommen. Sie machte sich nichts aus diesem „Zirkuskram“ und wollte lieber daheim bleiben und ein wachsames Auge auf Haus und Hof haben. Man könnte ja nie wissen, ob nicht jemand aus der Gauklertruppe sein Salär aufbessern wollte, indem er während der Vorstellung ein wenig im Dorf herumspazierte und dem einen oder anderen Haus einen Besuch abstattete. Man hätte ja schließlich schon einiges erlebt…
Auf dem Platz vor der Schule angekommen, stellte Sarah wenig später fest, dass schon etliche Zuschauer vor ihnen eingetroffen waren. Offenbar hatte man zuvor die Schulbänke aus der Schule geholt, und auch einige Stühle und Bänke aus dem nahe gelegenen Gasthaus standen schon bereit. Unter der Dorflinde war mit einigen rohen Balken und Brettern eine primitive Bühne gezimmert worden. Mehrere zusammengebundene Besenstiele gaben einem Vorhang Halt, durch den die Sicht auf die Bühne noch versperrt war.
Sarah und die anderen Kinder suchten sich einen möglichst weit vorne gelegenen Platz. Jenny übernahm die Aufgabe, für alle zu bezahlen. Sarah hatte erkennen können, dass die Münzen ganz anders aussahen als das Geld bei ihr daheim. Das war wieder so eine merkwürdige Sache… Das Geld nahm eine dicke, griesgrämig dreinblickende Frau in einer Kittelschürze entgegen, die Gastwirtin, wie Sarah von Jenny hinterher erfuhr. Na, die passt ja prächtig zu ihrem Ehemann, dachte sich Sarah, dessen Bekanntschaft sie ja bereits gemacht hatte, als sie zuvor im Gasthaus nach ihren Eltern gefragt hatte.
Schließlich waren alle Sitzplätze belegt. Viele der Zuschauer mussten jetzt sogar stehen. Robert war schon ganz aufgeregt und schaute gebannt auf den Vorhang, hinter dem sich bereits etwas bewegte.
Dann wurde es in der Menge still, als unter den Klängen eines Trommelwirbels ein Mann auf die Bühne trat.
Dieser bot einen reichlich komischen Anblick. Er war ausgesprochen hager und ziemlich groß. Sicherlich musste er jedes Mal Angst haben, mit dem Kopf gegen den oberen Rahmen zu stoßen, wenn er durch eine Tür ging, dachte sich Sarah im Stillen. Das erklärte sicherlich auch seine krumme Haltung. Der Mann trug einen kunterbunten Anzug, der aus unzähligen Stofflappen zusammengesetzt war, die fröhlich in allen Farben des Regenbogens leuchteten. Der hagere Mann räusperte sich und begrüßte mit einer erstaunlich tiefen Stimme, die man bei seiner Figur gar nicht erwartet hätte, das Publikum:
„Meine Damen und Herren, liebe Kinder! Ich bin glücklich, dass uns unser Weg in euren schönen Ort geführt hat. So haben wir die großartige Gelegenheit, euch eine kleine Kostprobe unseres bescheidenen Könnens zu präsentieren! Ich und meine Partner werden euch in den folgenden zwei Stunden in eine Welt der Akrobatik, der Magie und der Illusion entführen, wie ihr sie mit Sicherheit noch nicht gesehen habt! Auf unseren Fahrten durch das wunderschöne Reich unseres geliebten Königs haben wir so manche ungewöhnliche Begegnung gehabt, die uns bei unserem Programm inspiriert hat. Aber, seht selbst:“
Er vollführte mit seinem Arm eine ausladende Geste, woraufhin sich der Vorhang hinter ihm öffnete und den Blick auf die Bühne freigab.
Dort stand bereits ein zweiter Mann, der gleich darauf in einer schier affenartigen Geschwindigkeit gleichzeitig mit zahlreichen bunten Bällen jonglierte. Immer wieder warf er dabei einen der Bälle hoch in die Luft, um ihn gleich darauf mit einer geschickten Bewegung wieder einzufangen. Er jonglierte auch hinter seinem Rücken und warf die Bälle zwischen seinen Beinen hindurch, ohne einen einzigen fallen zu lassen.
Die Menge applaudierte begeistert.
Im Gegensatz zu seinem Partner war der Jongleur ziemlich klein und kugelrund. Auch er hatte den gleichen bunten Flickenanzug an, unter dem sich ein beeindruckender Bauch abzeichnete. Trotz seiner Leibesfülle war er aber erstaunlich behände. Als er dann noch eine kleine Tanzeinlage vorführte, während der er weiter jonglierte, sah dies keineswegs lächerlich aus, wie Sarah anerkennend feststellen musste.
In den folgenden ein, zwei Stunden, verging die Zeit wie im Fluge. Die Gaukler waren wirklich gut, und Sarah war ganz erstaunt, was die beiden so ganz ohne Zuhilfenahme moderner Technik alles auf die Beine stellten. Es gab ausgesprochen lustige Einlagen, dann hielten alle wieder den Atem an, wenn einer der beiden Gaukler über Glasscherben lief oder sich mit der brennenden Fackel über den nackten Oberkörper rieb, ohne dass es ihm etwas auszumachen schien.
Schließlich wurde für ein Zauberkunststück ein freiwilliges „Opfer“ gesucht. Natürlich meldete sich niemand aus freien Stücken, so dass der hagere Gaukler von der Bühne hinab ins Publikum stieg und damit begann, die Zuschauerreihen abzugehen. Einige aus der Menge schauten betreten zu Boden und wären wohl gerne in eben diesem versunken, andere wiederum blickten den Mann ganz erwartungsvoll an. Sarah konnte hören, wie einige der Frauen hinter ihr ganz hysterisch kicherten.
Schließlich war der Mann in ihrer Reihe angelangt. Plötzlich beugte er sich über Sarahs kleinen Bruder und griff ihm ans linke Ohr. Triumphierend hielt er gleich darauf ein Hühnerei in der Hand, das er zuvor scheinbar aus Roberts Ohr gezogen hatte. Alles um sie herum applaudierte, und Robert lachte laut auf vor Vergnügen. Sarah konnte hören wie er Jennys Bruder leise zuflüsterte, dass er so etwas vor kurzem im Fernsehen gesehen habe und furchtbar gerne wüsste, wie die das eigentlich machten und ob sie nicht doch vielleicht wirklich zaubern könnten.
Sarah bemerkte, dass der hagere Gaukler, der schon im Weggehen begriffen war, mit einem Mal stutzte und sich zu ihrem kleinen Bruder umdrehte. Der Blick des Mannes wirkte für einen kurzen Augenblick ganz erstaunt. Gleich darauf hatte der Gaukler sich aber offensichtlich wieder gefangen und lächelte den Jungen freundlich an.
„Was hast du da gerade gesagt, mein Freund?“, wollte er wissen, während er sich vor ihn auf den Boden hockte.
Robert, dem die ganze Situation wohl etwas unheimlich war, rückte näher an seine Schwester heran, die ganz instinktiv ihren Arm schützend um ihren kleinen Bruder legte.
Der Gaukler wandte sich jetzt direkt an Sarah.
„Die große Schwester des jungen Mannes, nehme ich an. Wie ist es, hätte die junge Dame nicht Lust, uns ein wenig bei dem nächsten Zauberkunststück zu assistieren?“ Er wartete erst gar nicht ab, bis Sarah antwortete, sondern ergriff gleich ihre Hand.
„Einen Extraapplaus für die hübsche junge Frau!“
Die Menge klatschte. Sarah bemerkte, dass einige der Frauen ihr neidische und zum Teil ein wenig feindselige Blicke zuwarfen.
„Keine Angst!“, rief der Gaukler in die Menge, „Ihr bekommt die junge Dame wohlbehalten und in einem Stück wieder zurück. Nun…, sofern das Kunststück heute einmal ausnahmsweise gelingt.“
„Mein Partner hat immer eine etwas unruhige Hand, wenn er am Vortag nichts zu Trinken bekommen hat“, fügte er noch erklärend hinzu und machte mit der Hand eine Geste, als wollte er sich eine Flasche an den Mund setzen. Einige in der Menge lachten, andere schauten etwas unsicher drein.
Während sie gemeinsam zur Bühne schritten, flüsterte der Gaukler Sarah zu: „Ich würde mich gerne nach der Vorstellung noch ein wenig mit dir unterhalten, wenn es dir recht ist. Ihr scheint nicht aus dieser Gegend zu stammen, oder irre ich mich?“
Sarah verneinte stumm.
„Wir haben später noch genug Zeit, mein Kind. Sag mir jetzt bitte nur eines: Habe ich mich verhört oder hat der Junge eben gerade vom Fernseher gesprochen?“
Sarah nickte etwas irritiert. Worauf wollte der seltsame Mensch hinaus?
Da waren sie auch schon auf der Bühne angekommen, wo der dicke Gaukler bereits auf sie wartete. Die beiden Männer sprachen flüsterten miteinander. Sarah konnte sehen, dass der dicke Gaukler sie daraufhin anstarrte, wobei sich sein zunächst ungläubiger Gesichtsausdruck rasch in eine ausgesprochen zufriedene Miene verwandelte.
In der folgenden Viertelstunde musste Sarah den beiden Gauklern bei einem Zaubertrick helfen, bei dem diese vorgaben, sie von der Bühne verschwinden zu lassen. Es war ein einfacher Trick mit einer versteckten Falltür im Boden, der von den Zuschauern gleichwohl mit einem brausenden Applaus quittiert wurde.
Als sich Sarah anschließend mit den beiden Gauklern zusammen auf der Bühne verbeugte, flüsterte ihr der kleinere der beiden leise ins Ohr, dass sie sie später im Gasthaus erwarten würden.
„Wir wissen genau, dass ihr nicht von hier stammt, meine Kleine. Und damit meine ich nicht nur unbedingt dieses reizende kleine Dorf hier… Ich weiß nicht, was euch hierher verschlagen habt, aber ich bin mir sicher, dass ihr unsere Hilfe gut gebrauchen könnt…“
3
Zwei Stunden später stand Sarah vor der Eingangstür des Gasthauses. „Zum fröhlichen Ochsen“ war auf dem großen emaillierten Schild über dem Eingang zu lesen. Ein selten dämlicher Name für eine Gaststätte, befand sie. Zumindest hatte sie bisher noch keine grinsenden Kühe gesehen. Aber vielleicht lag das ja auch daran, dass sie in der Stadt aufgewachsen war.
Sie hatte lange überlegt, ob sie überhaupt zu diesem Treffen gehen sollte. Dann war sie zu dem Entschluss gekommen, dass es sicherlich nicht schaden würde, den beiden komischen Vögel wenigstens zuzuhören. Vielleicht konnten sie ihr ja wirklich weiterhelfen.
Und Hilfe hatte sie wirklich bitter nötig.
Erst vorhin auf dem Heimweg von der Vorstellung hatte ihr kleiner Bruder sie erstmals seit fast zwei Tagen wieder nach ihren Eltern gefragt. Wann sie denn endlich kommen würden, um sie zu besuchen.
Ob er dachte, sie würden hier so eine Art „Ferien auf dem Bauernhof“ machen? Sie wusste es nicht.
Jetzt nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und öffnete die Tür zum Gasthaus. In der geräumigen Stube saßen bereits einige Männer vor ihren Bierkrügen. Sie schauten kaum auf, als sie den Raum betrat. Weiter hinten im Raum entdeckte sie die beiden Gaukler, die sich wohl absichtlich ein wenig abseits hielten. Obwohl die beiden Männer ihre kunterbunten Anzüge gegen eine weitaus unauffälligere Kleidung eingetauscht hatten, waren sie trotzdem weiterhin ein merkwürdiges Paar.
Der Dicke sprang sofort von seinem Platz auf und bot ihr höflich einen Stuhl an. „Auch einen Krug Bier?“, fragte er sie freundschaftlich, woraufhin ihn sein Partner mit gespieltem Tadel streng anblickte. Schließlich einigte man sich auf ein Glas Apfelsaft für Sarah, womit sie sehr einverstanden war. Der lange Hagere nahm einen großen Schluck aus seinem Krug, wischte sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund und schaute Sarah mit ernster Miene an.
„Sarah, so war doch dein Name, nicht? Du hast deine Sache auf der Bühne so gut gemacht, dass wir dich für unsere nächste Tournee engagieren möchten!“
Sarah blickte die Männer ganz entgeistert an. Sollte das etwa der einzige Grund gewesen sein, weshalb sie hierher bestellt worden war? Bevor sie allerdings protestieren konnte, brachen beide Männer gleichzeitig in Gelächter aus.
„Nicht böse sein, Mädchen. Aber dein Gesicht hättest du gerade wirklich sehen sollen.“
Der Dicke wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
„Schade, dass es hier keine Photoapparate gibt, nicht wahr Partner?“, fügte er beiläufig hinzu, wobei er allerdings Sarahs Reaktion auf seine Worte genau zu beobachten schien.
„Wer seid Ihr, und woher kommt Ihr?“, fragte diese nach einer kurzen Pause und schaute die beiden Männer mit großen Augen an.
„Wir? Wir sind nur zwei bescheidene Künstler, die allerdings schon sehr viel gesehen haben in ihrem Leben. Man kann sagen, dass wir in diesem Land schon ganz gut herumgekommen sind, nicht?“
Der dicke Gaukler schaute seinen Kollegen an, der bestätigend nickte.
„Aber jetzt, mein Kind, erzählst du uns am besten erst einmal deine Geschichte! Ich denke, dass die unsere noch ein wenig warten kann. Ich habe das ziemlich sichere Gefühl, dass wir noch viel Zeit miteinander verbringen werden…“
Sarah zögerte kurz. Sollte sie den beiden Männern wirklich alles erzählen? Sie hatte in der kurzen Zeit, die sie hier im Dorf verbracht hatte, schließlich schon so ihre Erfahrungen gemacht…
Andererseits, was konnte sie schon verlieren? Also holte sie tief Luft und fing an zu erzählen:
Sie begann bei der Autofahrt, berichtete über ihre Erlebnisse im Straßentunnel, der nicht enden wollte und schließlich über ihre Ankunft im Dorf, wo sie auf der Suche nach ihren Eltern überall nur auf Unverständnis stieß…
„Und jetzt will mich Jennys Vater nicht von hier fortgehen lassen. Ich soll hier in die Schule gehen und warten bis irgendwann jemand in den Ort kommt, ein Beamter oder so, der vielleicht weiß, was man weiter mit uns anfangen soll…“
Sie merkte, wie ihre Stimme anfing zu zittern.
„Und meine Eltern sehe ich vielleicht nie wieder…“, fügte sie leise hinzu.
Es wurde erst einmal eine ganze Weile still am Tisch.
Schließlich räusperte sich der dicke Gaukler und beugte sich zu Sarah vor: „Wir haben gleich geahnt, dass du und dein Bruder nicht aus dieser Welt stammt. Mit den Jahren bekommt man so ein gewisses Gespür dafür.“
Sarah blickte den Mann an: „Was meinen Sie damit, dass wir nicht aus dieser Welt stammen? Soll das heißen, dass wir doch irgendwie in einer anderen Zeit gelandet sind? Aber, ich meine… das kann doch einfach nicht sein…“ Sie verstummte hilflos.
„Tja, mein Kind, das ist alles reichlich kompliziert, musst du wissen. Und das hier“, er schaute sich im Gastraum um, „ist sicherlich nicht gerade der geeignete Ort, um über solche Dinge zu reden!“
Jetzt meldete sich der dünne Gaukler zu Wort:
„Ich dränge ja wirklich ungern. Aber wir haben nicht furchtbar viel Zeit.“
Er schaute auf eine große goldene Taschenuhr, die er aus seiner Tasche zog.
„Du musst uns jetzt einfach vertrauen, mein Kind. Wir können dir und deinem Bruder helfen. Und ich bin mir sicher, dass wir auch eure Eltern wieder irgendwo auftreiben können. Nein, stelle jetzt bitte keine weiteren Fragen, das können wir später noch alles besprechen.“
Sarah klappte ihren Mund wieder zu, den sie gerade geöffnet hatte, um etwas zu sagen.
„Also: Wir werden schon heute Nacht bald nach Anbruch der Dunkelheit aufbrechen und diese Gegend auf dem schnellsten Weg verlassen.“
„Und du…“, er deutete mit dem Zeigefinger auf Sarah, „…und dein kleiner Bruder, ihr werdet mit uns kommen! „Allerdings darf niemand davon erfahren, sonst wird man bestimmt versuchen, euch zurückzuhalten!“
Sarah zerbrach sich auf dem Rückweg zu Jennys Haus den Kopf. Sollte sie den beiden Männern wirklich vertrauen? Außerdem war es ihr nicht Recht, einfach so von hier zu verschwinden, ohne wenigstens ihre neue Freundin einzuweihen.
Allerdings: Wenn Jennys Vater irgendwie Wind von der Sache bekäme, dann konnte sie wohl vergessen, jemals wieder von hier weg zu kommen. Und diese Entscheidung hatte sie eigentlich schon längst gefällt. Sie wollte so schnell wie möglich aus dem Ort verschwinden und sich endlich wieder auf die Suche nach ihren Eltern machen.
Wenn ihr jemand vor wenigen Tagen noch gesagt hätte, dass sie bald in einem Gasthaus mit zwei fremden Männern am Tisch sitzen und gemeinsam mit ihnen Fluchtpläne schmieden würde, sie hätte denjenigen für komplett bescheuert erklärt. Aber es schien eine gute Gelegenheit zu sein, und sie würde es sicherlich bitter bereuen, sie einfach verstreichen zu lassen. Wenigstens hatte sie jetzt zwei Erwachsene als Verbündete.
4
Durch den Mond war es zum Glück nicht ganz so finster, als Sarah und ihr Bruder sich später in der Nacht auf den Weg zu dem vereinbarten Treffpunkt vor dem Eingang zum Dorf machten. Die Straßen waren unbeleuchtet, und auch hinter den Fenstern sämtlicher Häuser war es um diese Uhrzeit schon völlig dunkel.
Bevor sie am Abend zu Bett gegangen war, hatte sie noch etwas erlebt, was sie fast noch dazu veranlasst hätte, ihre Fluchtpläne in letzter Sekunde zu ändern. Sie war zum Fenster gegangen, um es für die Nacht zu öffnen, als sie unten im Hof Jennys Vater bemerkte. Dieser kam offenbar gerade vom Feld zurück. Auf dem Hof stand ein Wagen, der über und über mit Heuballen beladen war. Jennys Vater machte sich gerade daran, die Ballen mit Hilfe einer Seilwinde auf den Speicher des Gebäudes zu transportieren, eine reichlich mühselige Aufgabe. Sie wollte sich gerade wieder abwenden, als ihr auffiel, wie sich der Mann auf einmal verstohlen nach allen Seiten umdrehte, ganz so, als wollte er sichergehen, dass ihn niemand beobachtete.
Sarah glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als sich Jennys Vater gleich darauf gemütlich auf eine Bank setzte, wie beiläufig den rechten Arm hob –und die Strohballen daraufhin, wie von Geisterhand getragen, von der Ladefläche des Wagens in die geöffnete Luke des Speichers schwebten! Wenig später öffnete sich das Hoftor und jemand, ein Nachbar vermutlich, betrat den Hof. Sie konnte gar nicht so schnell hinschauen, so schnell war Jennys Vater schon wieder auf den Beinen, um die Strohballen, wie es sich gehörte, mühselig mit der Seilwinde an ihren Bestimmungsort zu transportierten!
Sarah überlegte. Sollte sie den Mann einfach zur Rede stellen? Aber sicherlich würde er alles abstreiten. Und Zeugen hatte sie auch keine. Nein, sie würde nichts an ihren Fluchtplänen ändern. Dafür war es jetzt zu spät. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen.
Sie hatten das letzte Haus des Dorfes gerade hinter sich gelassen, als Sarah vor sich im Dunkeln schemenhaft einen großen Gegenstand ausmachen konnte. Erst als sie schon ganz nah herangekommen waren, konnten sie erkennen, dass es sich hierbei um einen großen Wagen handelte, vor den zwei schwarze Pferde gespannt waren, die bereits ganz ungeduldig mit den Hufen scharrten. Aus der Dunkelheit hinter dem Wagen lösten sich hintereinander zwei Gestalten.
„Wunderbar, da seid ihr zwei ja!“ Es war der dickere der beiden Gaukler, der sie mit gedämpfter Stimme begrüßte. Sein Partner kümmerte sich inzwischen um die beiden Pferde und machte sich an ihrem Geschirr zu schaffen.
„Wir sollten gleich aufbrechen. Steigt in den Wagen. Dort könnt ihr euch hinlegen und ein wenig weiter schlafen, wenn ihr wollt. Später können wir dann etwas essen. Zunächst sollten wir aber zusehen, dass wir ein wenig Land gewinnen…“
„Ich hoffe, es hat euch niemand gesehen?“, fügte er noch fragend hinzu, während er Robert auf den Wagen hob. Sarah verneinte und spürte, dass sie immer noch ein ganz furchtbar schlechtes Gewissen hatte, sich einfach so davongestohlen zu haben.
Wenigstens hatte sie noch Zeit dafür gefunden, einen kurzen Brief für Jenny zu verfassen, den sie beim Weggehen auf ihrem Bett zurück ließ. Darin hatte sie ihrer Freundin lediglich mitgeteilt, dass sie jemanden getroffen habe, der etwas vom Verbleib ihrer Eltern wusste, und dass sie sich wirklich keine Sorgen um sie zu machen brauchte. Nachdem sie sich noch einmal herzlich für alles bedankt hatte, beschwor sie Jenny zum Schluss noch, ihrem Vater bloß nichts von alledem mitzuteilen.
Ihrem kleinen Bruder hatte sie vor dem Zubettgehen übrigens gesagt, dass sie heute eine Nachtwanderung unternehmen würden, und dass dies aber eine Überraschung sein sollte und er deswegen niemandem davon erzählen darf. Sie selber hatte sich dann, von Jenny unbemerkt, vollständig bekleidet in ihr Bett gelegt. Dort hatte sie dann abgewartet, bis es draußen ganz dunkel war.
Wie durch ein Wunder hatten sie es dann tatsächlich geschafft, das Haus unbemerkt zu verlassen. Noch nicht einmal die hölzernen Dielen im Flur und auf der Treppe hatten geknarrt. Glücklicherweise besaß Jenny Familie keinen Wachhund, so dass sie auch den Hof ungestört überqueren konnten.
Und jetzt lag sie einigermaßen bequem im Planwagen der beiden Gaukler. Robert, der neben ihr lag, war sofort wieder eingeschlafen, und auch Sarah merkte jetzt, wie müde sie war. Kaum hatte sich der Wagen schaukelnd in Bewegung gesetzt, da waren ihr auch schon die Augen zugefallen.
Irgendwann wurde sie unsanft aus dem Schlaf gerissen, als sie von der Sitzbank rutschte. Offensichtlich war der Wagen gerade durch ein tiefes Schlagloch gefahren. Sie musste einige Stunden geschlafen haben, da es jetzt bereits dämmrig zu werden begann.
Sie richtete sich auf und betrachtete kopfschüttelnd ihre Umgebung.
Schlicht gesagt: Es herrschte ein heilloses Durcheinander im Inneren der Kutsche. Dass überhaupt noch ein wenig Platz für Sarah und ihren Bruder vorhanden war, grenzte fast schon an ein kleines Wunder.
Überall standen und lagen Truhen, Koffer und Taschen herum, und zu beiden Seiten und von der Decke hingen alle möglichen bunten Kostüme, Fahnen und etliche Masken, nebst einiger falscher Nasen und Bärte, beide in allen nur vorstellbaren Längen und Farben.
Außerdem kullerten einige weiße Bälle auf dem Boden herum. Sarah erkannte in ihnen die Bälle wieder, mit denen der dickere der beiden Gaukler gestern noch jongliert hatte. Der Korb, in dem sie aufbewahrt wurden, war umgestürzt. Sarah hob einen der Bälle auf.
Als sie ihn in der Hand hielt, verspürte sie sogleich ein ganz eigentümliches Gefühl, das sich von ihren Fingern aus bis zu den Schultern ausbreitete. Es juckte sie förmlich, den Ball in die Luft zu schleudern, ja sie konnte ihn kaum festhalten.
Das brachte sie auf eine Idee: Sie hob einfach einen zweiten Ball auf und versuchte zu jonglieren, etwas, was sie bis dahin noch nie versucht hatte.
Und als wenn sie es geahnt hätte: Sie musste sich überhaupt keine Mühe geben. Die Bälle fanden wie von alleine wieder den Weg zurück in ihre Hände, um dann gleich darauf wieder hoch in die Luft zu fliegen. Sogar mit geschlossenen Augen klappte es!
Die Bälle in den Korb zurückzulegen stellte sich hingegen als deutlich schwerer heraus: Immer wieder flog einer von ihnen in die Luft, so dass Sarah einige Mühe hatte, den Deckel endgültig zu verschließen.
Irgendein Trick musste dahinter stecken. Sarah fragte sich nur, welcher. Vielleicht waren die Kugeln einfach nur perfekt ausbalanciert? Sie erinnerte sich an einen Spielwürfel, den sie einmal besessen hatte. Dieser hatte immer nur Sechser gewürfelt.
Aber eine leise Stimme in ihrem Inneren sagte ihr, dass hier irgendetwas nicht ganz mit rechten Dingen zuging.
Da ihr kleiner Bruder immer noch friedlich in seiner Ecke schlummerte, beschloss Sarah durch den Wagen nach vorne zu den beiden Gauklern zu steigen.
Was sie dort sah, verschlug ihr den Atem.
Sie waren in einem schier aberwitzigen Tempo unterwegs, weitaus schneller als mit einem Pferdegespann eigentlich möglich sein sollte.
Die Landschaft sauste nur so an ihnen vorbei, und die Hufe der beiden schwarzen Pferde schienen beim Laufen den Boden kaum zu berühren. Was sie aber am meisten erschreckte waren die beiden Gaukler: Diese saßen direkt vor ihr auf -und schliefen. Der dicke Gaukler hielt die schlaffen Zügel in seinem Schoß und schnarchte mit weit geöffnetem Mund, den Kopf seines ebenfalls selig schlummernden Partners an die rechte Schulter gelehnt.
Der dünne Gaukler musste Sarahs Anwesenheit bemerkte haben. Er hob seinen Kopf und stieß seinem dicken Partner in die Seite. Dieser schreckte auf und zog heftig an den Zügeln.
Daraufhin passierte etwas sehr Merkwürdiges. Ohne dass Sarah eine merkliche Verzögerung verspürt hätte, war die Kutsche jetzt mit einem Mal in einem ganz normalen Tempo unterwegs. Es war ungefähr so, wie wenn man einen Videofilm, der sich im schnellen Suchlauf befand, plötzlich wieder in normaler Geschwindigkeit betrachtete.
Als wäre überhaupt nichts geschehen, drehte sich der dünne Mann lächelnd zu Sarah um und fragte sie, ob sie denn gut geschlafen habe.
„Wir werden gleich eine kurze Rast machen, so dass wir ein wenig frühstücken können. In der Tasche unter deinem Schlafplatz findest du für dich und deinen Bruder ein paar Sachen zum anziehen.“
Sarah war so verdutzt, dass sie nur nicken konnte. Vielleicht hatte sie sich das eben ja nur eingebildet. Schließlich war sie gerade erst aufgewacht.
Im hinteren Teil des Wagens fand sie tatsächlich eine große Tasche, die mehrere Kleidungsstücke enthielt. Zu ihrer Überraschung passten diese ihr fast wie angegossen. Auch für ihren Bruder, der mittlerweile aufgewacht war und sich ganz verschlafen die Augen rieb, waren einige passende Sachen dabei.
Sie wunderte sich, woher die beiden Gaukler die Kleidungsstücke so schnell her hatten. So etwas wie ein Geschäft hatte es in dem armseligen Dorf zumindest nicht gegeben.
Jetzt merkte Sarah, dass sie angehalten hatten.
„Frühstück!“ Der dicke Gaukler klatschte vergnügt in die Hände. Robert machte weiterhin einen durchaus vergnügten Eindruck, als handele es sich hier nur um eine Art von Abenteuerurlaub. Na ja, das war wenigstens besser, als wenn er sie ständig mit Fragen nach ihren Eltern nerven würde…
Sarah sprang vom Wagen und schaute sich mit großen Augen um. Sie parkten am Ufer eines kleinen Flusses. Was sie aber am meisten wunderte war, dass die beiden Männer bereits an einem lustig brennenden Lagerfeuer saßen. Auf einer großen Decke waren allerlei leckere Sachen zum Essen und Trinken ausgebreitet. Wie hatten die zwei denn das so schnell geschafft?
Ihr kleiner Bruder verschwendete seine Zeit offensichtlich nicht mit derartigen Gedanken. Ganz vertrauensvoll setzte er sich zwischen die beiden Männer und griff sogleich nach einem belegten Brot.
Nach dem Essen suchte sie sich eine Stelle am Fluss, die etwas dichter mit hohem Schilf bewachsen war und wo sie sich ungestört etwas waschen konnte. Das mit der freien Natur war ja ganz idyllisch, aber eigentlich bevorzugte sie ja eher eine schöne warme Dusche… Sie biss die Zähne zusammen. War das Wasser kalt!
Auf dem Weg zurück zu ihren Gefährten blieb sie erst einmal bewundernd bei den Pferden stehen. Es waren wirklich zwei ganz außergewöhnliche Tiere, tiefschwarz, fast so als wären sie mit Pech überzogen. Sarah wunderte sich, dass so edle Tiere als Zugpferde dienten. Allerdings waren sie schon ein wenig unheimlich, mit ihren ebenfalls rabenschwarzen Augen, die sie aufmerksam und klug anblickten….
In der Zwischenzeit waren ihre Gefährten vom Frühstück zurückgekehrt. Robert schwatzte fröhlich mit dem dicken Gaukler, der währenddessen eine nicht enden wollende Kette von
zusammengeknoteten bunten Tüchern aus seinem linkem Ärmel zog.
Als Robert seine große Schwester erblickte, rannte er freudestrahlend auf sie zu und rief: „Sarah, der dicke Mann hat gesagt, dass wir jetzt zu Mama und Papa fahren. Ist das nicht toll?“
Jetzt war für Sarah der Zeitpunkt gekommen, wo sie endlich erfahren wollte, was hier gespielt wurde! Sie schickte ihren kleinen Bruder in den Wagen zurück und stellte sich dann mit verschränkten Armen vor die beiden Gaukler.
„Bevor ich vielleicht wieder in diesen Wagen steige, möchte ich endlich erst einmal wissen, wohin wir fahren! Und es wäre schön, wenn mir endlich einmal jemand sagen könnte, wo wir hier überhaupt sind!“
„Dass das hier nicht das Land ist, wo wir herkommen, geschweige denn, das, wo wir eigentlich hin wollten, das ist mir ja mittlerweile klar geworden… Es ist hier alles so anders…“, fügte sie noch ein wenig hilflos hinzu.
Es ließ sich nicht so einfach in klare und verständliche Worte fassen, was ihr alles durch den Kopf ging. Waren sie in die Vergangenheit gereist, hatten sie einen Zeitsprung nach vorne gemacht oder war hier womöglich irgendwo eine versteckte Kamera aufgebaut?
Vielleicht trat ja im nächsten Moment einer dieser durchgeknallten Fernsehmoderatoren hinter dem nächsten Busch hervor und eröffnete ihnen, dass sie bereits einen festen Platz in seiner nächsten Samstagabendshow hätten. Das allerdings würde sie ihm nicht geraten haben…
Die beiden Gaukler schauten sich fragend an und nickten beide schließlich. Es war der dicke Gaukler, der sich schließlich an Sarah wandte:
„Du hast Recht, mein Kind. Du sollst endlich alles erfahren. Trotzdem“, er schaute sich etwas unbehaglich um, „sollten wir uns lieber nicht hier unterhalten. Lass uns auf der Fahrt miteinander sprechen. Setzt dich doch einfach zu uns nach vorne.“
Sarah wunderte sich ein wenig über die plötzliche Eile der beiden Männer. Aber was blieb ihr anderes übrig, als ihrem Vorschlag zuzustimmen?
„Na gut, aber ich will jetzt wirklich alles wissen!“
Sie sprang auf den Kutschbock und machte es sich dort bequem. Die beiden Gaukler kletterten ebenfalls auf den Wagen und nahmen sie in ihre Mitte. Der Dicke ergriff sogleich die Zügel und schnalzte laut mit der Zunge worauf die schwarzen Hengste gleichzeitig ihre Köpfe hoben und laut wieherten.
Und los ging die Fahrt, allerdings zunächst in einem ganz normalen Tempo. Die Gaukler schauten sich unschlüssig an. Dann schienen sie stillschweigend einen Entschluss gefasst zu haben.
„Vorhin, als du zu uns nach vorne gestiegen bist… Ich denke, dass du da etwas gesehen hast, was dir wahrscheinlich ein wenig merkwürdig vorgekommen ist…“ Der dünne Gaukler schaute Sarah von der Seite an. Diese nickte bestätigend, woraufhin der Mann lächelte.
„Nun, das haben wir uns eigentlich schon gedacht, dass du etwas gemerkt hast… Du musst wissen, unsere beiden Freunde da vorne“, er deutete auf die Pferde, „sind zwei ganz besondere Exemplare, die es normalerweise immer eher etwas eiliger haben. So ein Tempo wie jetzt gerade, na ja, das langweilt sie im Grunde genommen ganz furchtbar, und wenn sie sich langweilen, dann können sie manchmal ganz schön biestig sein, nicht wahr Partner?“
Der Angesprochene nickte zustimmend.
„Also, wenn du nichts dagegen hast, dann beschleunigen wir unsere Fahrt vielleicht ein klitzekleines bisschen!“
Der dicke Gaukler holte daraufhin eine kleine Flöte aus seiner Jacke und setzte sie an den Mund. Er blies kräftig hinein, wobei allerdings nicht der leiseste Ton zu hören war. Aber die beiden Pferde spitzten sofort ihre langen Ohren. Den Bruchteil einer Sekunde später beschleunigten die beiden Tiere auch schon wieder ihr Tempo.
Sarahs Haare wehten heftig im Fahrtwind, während die Landschaft nur so an ihnen vorbeiraste… Sie konnte einen erstaunten Ausruf nicht unterdrücken.
Der dicke Gaukler lächelte sie an.
Im nächsten Moment wurde sein Gesichtsausdruck wieder ernst.
„Schon an unseren beiden Freunden da vorne kannst du unschwer erkennen, dass hier tatsächlich so manches ein wenig anders ist, als du es von daheim her wahrscheinlich gewohnt sein magst…“
„Trotzdem, ich behaupte jetzt einfach, dass du dich im Moment eigentlich genau dort befindest, wo du eigentlich sein solltest.“
Sarah schaute ihren Nebenmann ganz ungläubig an, der in der Zwischenzeit mit seinen Ausführungen unbeirrt fort fuhr.
„Das meine ich jetzt allerdings nur im rein geographischen Sinne, also all das, was die Himmelsrichtung, den Längs- und die Breitengrad deines Standorts betrifft. Du weißt schon, was ich meine. In einem anderen Sinne sieht es allerdings leider etwas komplizierter aus…“
Er kratzte sich am Kopf und schien einen Moment lang nachdenken zu müssen.
„Schau Mädchen, in eurer Welt ist alles so wunderbar wissenschaftlich erklärbar, alles passt immer genau so zusammen, wie es sich gehört. Was bei euch allerdings niemand weiß, besser gesagt niemand mehr weiß, ist, dass es sozusagen parallel zu eurer Welt noch eine zweite gibt, nämlich die unsere, wobei parallel eigentlich nicht ganz der richtige Ausdruck dafür ist.. Sie befindet sich, wie ich vorhin schon zu erklären versucht habe, eigentlich genau an der gleichen Stelle. Um ein paar Zentimeter Abweichung wollen wir uns jetzt nicht streiten. Glücklicherweise stören sich die beiden Welten dabei nicht aneinander, meistens zumindest nicht… Nur zeitlich gesehen läuft das alles nicht unbedingt synchron.“
Der Mann hielt in seiner Erzählung kurz inne.
„Also, was ich hauptsächlich sagen wollte, ist folgendes: Du kannst deine oder unsere Welt vollständig umrunden, ohne dass du auch nur den geringsten Hinweis auf die jeweils andere Welt erhalten würdest. Normalerweise, sollte ich besser noch hinzufügen…Schließlich lässt es sich ja nicht leugnen, dass du jetzt im Moment gerade zwischen uns sitzt und durchaus real erscheinst.“
Er kniff Sarah unvermittelt ins Bein, woraufhin diese empört aufschrie.
„Damit wollte ich nur beweisen, dass wir tatsächlich ganz und gar real hier zusammensitzen. Du darfst mich jetzt auch kneifen, wenn du möchtest…“, fügte er mit würdevoller Miene hinzu. Sarah ließ sich das nicht zweimal sagen. Wenn sie schon einen reellen blauen Fleck bekam, dann sollte seiner mindestens ebenso wirklich aussehen!
„So, jetzt wo wir das geklärt hätten…“, der dicke Gaukler rieb sich eifrig seinen rechten Oberschenkel, „kommen wir zu einem weiteren, nicht ganz unwichtigen Punkt: Manchmal ergeben sich ganz unverhofft Möglichkeiten, aus der einen Welt in die andere zu gelangen und umgekehrt natürlich auch. Diese Verbindungspunkte sind allerdings zumeist nur temporär, das heißt im Klartext nur von kurzem, häufig sehr kurzem Bestand.“
Sarah schwieg eine Weile lang nachdenklich, bevor sie ihre nächste Frage stellte:
„Und Sie glauben, dass ich und mein Bruder versehentlich auf diese Art und Weise hierher gelangt sein könnten? Aber was ist dann mit meinen Eltern? Wenn die kurz vor uns hier angekommen waren, warum haben wir sie dann nicht angetroffen? Und warum wusste von den ganzen Leuten im Dorf niemand etwas davon?“
Sie war völlig verwirrt. Warum konnte das Ganze hier nicht einfach ein blöder Traum sein, aus dem sie irgendwann wieder erwachte?
Jetzt war es der dünne Gaukler, der das Wort ergriff.
„In eurem Fall stand das „Tor“, so will ich es jetzt der Einfachheit halber Mal nennen, etwas länger als gewöhnlich offen. Oder es hat sich vielleicht auch wieder erneut geöffnet, an genau derselben Stelle, was auch sehr ungewöhnlich ist.“
Der Mann räusperte sich.
„Ich fürchte, meine junge Freundin, da kommt das Problem mit der Zeit ins Spiel, das mein Freund vorhin schon kurz angedeutet hatte… Soweit wir wissen, sind tatsächlich zwei Erwachsene aus eurer Welt in dieser Gegend aufgetaucht. Allerdings liegt das schon ein paar Jahre zurück…“
Sarah schrak zusammen. Ein paar Jahre? Sie erinnerte sich wieder an das, was die blinde alte Frau gesprochen hatte.
„Nein, nein, keine Angst!“, beeilte sich der dicke Gaukler zu ergänzen. „Es handelt sich vielleicht um zwei oder auch drei Jahre, auf gar keinen Fall mehr… Du musst wissen, dass es gerade in dieser Gegend wohl gewisse zeitliche Instabilitäten gibt. Das ist in den Grenzbereichen zwischen den beiden Welten gar nicht mal so selten. Die Zeit faltet sich dann sozusagen manchmal ein wenig zusammen, um sich dafür an einer anderen Stelle auszubuchten: Da können leicht aus ein paar Minuten Wochen oder durchaus auch Monate und Jahre werden…“
Bei den nächsten Worten des Mannes hielt Sarah die Luft an.
„Also, mein Kind, ich denke, wir wissen, wo wir eure Eltern finden können. Du musst wissen, dass diese Bewohner in dem armseligen Dorf nur das sehen, was sie sehen wollen… Kein Wunder, dass sich niemand erinnern konnte. Tiefste Provinz, sage ich…“
Der dicke Mann schüttelte verächtlich mit seinem Kopf.
„Wir allerdings haben unsere Beziehungen zu den wirklich wichtigen Leuten!“ Sarahs Gesprächspartner warf sich stolz in die Brust. „Ich glaube nicht, dass ich übertreibe, wenn ich dir sage, dass es dein Glückstag war, gerade uns getroffen zu sein! Nicht wahr, Partner?“
Er senkte seine Stimme zu einem leisen Flüstern:
„Wir kennen da einen sehr mächtigen und äußerst einflussreichen Mann, musst du wissen. Man kann durchaus sagen, dass wir sein Vertrauen genießen, was sicherlich nur wenige Menschen von sich behaupten können. Und dieser Mann, dessen Namen wir allerdings unter keinen Umständen verraten, hat ein ausgesprochen großes Interesse an eurer Welt…“
Sarah blickte den Gaukler fragend an.
„Und ich bin mir ziemlich sicher, ach was, ich würde jede Wette darauf eingehen, dass eure Eltern jetzt in diesem Moment die fast schon sprichwörtliche Gastfreundschaft dieses großartigen Mannes genießen!“
Er lächelte Sarah aufmunternd zu.
„Und ihr zwei, Sarah, ihr werdet Ihnen schon bald Gesellschaft leisten… Es ist allerdings noch ein ganzes Stück bis zu unserem Ziel. Deswegen musste ich im Dorf auch auf einen baldigen Aufbruch drängen.“
„Und wohin fahren wir jetzt genau? Und wer ist dieser mächtige Mann? Was macht er, was für eine Aufgabe hat er hier bei euch in eurem Land?“
Sarah stürmte mit ihren Fragen auf den dicken Gaukler ein, der schließlich mit einer hilflosen Geste seine Hände erhob.
„Gemach, gemach, junge Dame, nicht so stürmisch… Leider ist es uns nicht erlaubt, dir diese Fragen zu beantworten. Aber du wirst schon bald eine Antwort auf deine Fragen erhalten… Tagen noch genug Gelegenheit haben, miteinander zu sprechen…“
Mehr Informationen waren aus den beiden Gauklern nicht herauszuholen, so sehr sich Sarah auch darum bemühte.
Als sie später hinten im Wagen lag, dachte sie vor dem Einschlafen noch lange über das Gespräch mit den Gauklern nach. So freundlich die beiden Männer zu ihr und ihrem kleinen Bruder auch waren, irgendwie hatte sie den Eindruck, dass sie ihr etwas verschwiegen. Zum Teil waren es die schnellen Blicke, die sich die beiden Gaukler immer wieder zuwarfen, die ihr verdächtig vorkamen. Und dann ihr komisches Verhalten, als hätten sie Angst vor irgendwelchen Verfolgern…
Eigentlich sollte sie sich ja freuen, jemanden gefunden zu haben, der sie mit ein wenig Glück zurück zu ihren Eltern bringen konnte. Trotzdem hatte sie ein gewisses misstrauisches Gefühl, das sich hartnäckig hielt…
Nun, das war ja eigentlich auch kein Wunder. Schließlich hatte sie gerade erfahren, dass sie versehentlich in einer anderen Welt gelandet war. So etwas passierte einem schließlich nicht alle Tage…
Entsprechend durcheinander waren dann auch ihre Träume in dieser Nacht.
5
Sie stand daheim vor der Tür zu ihrem Zimmer, verspürte aber eine unbestimmte Angst, einzutreten. Man konnte einen schmalen Lichtschein sehen, der aus dem Zimmer in den dunklen Flur trat. In diesem Lichtstreifen tanzten dunkle Schatten. Schließlich öffnete Sarah die Tür und stand mit einem Mal mitten in ihrem Zimmer, das aber gleichzeitig auch eine große Bühne zu sein schien. Überall flogen Bälle durch die Luft und vollführten ganz von alleine allerlei merkwürdige und komplizierte Kunststücke. Mitten in ihrem Zimmer war eine Falltür im Boden eingelassen. Plötzlich standen die zwei Gaukler neben ihr. Zumindest dachte sie, dass es sich bei den zwei geschminkten Gestalten im Clownskostüm um die beiden Gaukler handeln musste. „Du musst jetzt ganz schnell da unten hinein springen“, sprach einer der Männer mit einer merkwürdig tiefen Stimme zu ihr und deutete auf die Falltür, die mit einem Mal offen stand. „Schnell! Sonst müssen wir dich von der Bühne zaubern!“
Ehe sie es sich versah, hatten die beiden Clowns sie schon in ihre Mitte genommen und sie sie trotz ihrer Gegenwehr zu dem Loch in der Mitte des Raumes geschleift. Bei dem Gerangel löste sich die Pappnase vom Gesicht eines der Männer, und Sarah blickte plötzlich in das Gesicht von Jennys Vater, der sie höhnisch angrinste. „Ich habe dir doch gesagt, dass du für immer bei uns bleiben wirst!“ Dann stieß sie jemand in den Rücken und sie stürzte in das Loch.
Tiefer und immer tiefer fiel sie…
…und fand sich auf dem Boden des Wagens liegend wieder. Sie rieb sich ihren rechten Ellenbogen, den sie sich bei ihrem Sturz irgendwo angeschlagen hatte. Es war noch stockdunkel um sie herum. Trotzdem konnte sie eine ganze Weile nicht wieder einschlafen. Sie wunderte sich erneut, dass die beiden Gaukler keine längere Rast einlegten. Wenigstens die Pferde mussten doch irgendwann einmal müde werden…
Als sie am nächsten Morgen zum Frühstück anhielten, wirkten die beiden Pferde so frisch und ausgeruht, als hätten sie ihre Reise gerade erst begonnen. Im Gegensatz zum Vortag waren die beiden Gaukler heute Morgen ziemlich wortkarg. Sarah erfuhr lediglich, dass ihr nächstes Ziel ein Gebirge war, das sie zu überqueren hatten. Die Gaukler schienen darüber irgendwie nicht ganz glücklich zu sein, ohne dass Sarah in Erfahrung bringen konnte, warum.
Als sie vom Waschen zurückkam, hatte sie lediglich die letzten Worte eines Gesprächs mitbekommen, das die beiden Männer leise miteinander führten.
„…warum wir unbedingt den Weg über das Gebirge nehmen müssen…?“
„Das ist mir ebenfalls weder Recht noch verständlich. Aber wenn er es so haben möchte… Was bleibt uns da anderes übrig?“
Dann hatten die Gaukler die Anwesenheit von Sarah bemerkt und rasch das Thema gewechselt.
Während sie später durch eine ausgesprochen eintönige Landschaft fuhren, hatte Sarah viel Zeit zum Nachdenken. Ihr war schon bald aufgefallen, dass die beiden Gaukler Städte und Dörfer zu vermeiden schienen. Sobald ein Haus in der Ferne auftauchte oder auch nur eine dünne schwarze Rauchsäule am Horizont auf eine Ansiedlung hinwies, wechselten die Gaukler jedes Mal sofort ihre Fahrtrichtung. Auf ihre Frage hin, warum sie das taten, erfuhr Sarah lediglich, dass sie möglichst rasch vorwärts kommen wollten
„Du willst doch sicherlich möglichst schnell wieder zu deinen Eltern kommen, oder?“, bekam sie zu hören, ein Argument gegen sie schlecht etwas vorbringen konnte…
Sie wurde aber das seltsame Gefühl nicht so recht los, dass ihre beiden Gefährten vielleicht noch andere Gründe dafür haben mochten, menschliche Ansiedlungen zu vermeiden.
So hatte sie, unbemerkt von den beiden Gauklern, mitbekommen, wie eine Gruppe von Menschen, die am Wegesrand auf einem Feld arbeitete, in offensichtlicher Panik geflohen war, als sie die Kutsche sahen.
6
Sie brauchten noch eine ganze Weile bis sie endlich am Fuß des Gebirges angelangt waren, dessen Gipfel kahl und abweisend steil vor ihnen aufragten. Sarah konnte erkennen, wie sich der weitere Weg in unzähligen steilen Serpentinen nach oben wand und fragte sich ernsthaft, wie sie denn bitteschön mit dem schweren Wagen da hinauf kommen sollten.
Das schienen sich wohl auch die beiden schwarzen Pferde zu fragen, die auf einem Mal stehen blieben und durch nichts zum Weitergehen zu bewegen waren. Einer der Hengste schnappte schließlich sogar ärgerlich nach dem dünnen Gaukler, als dieser versuchte ihn am Zügel hinter sich her zu ziehen.
Der Gaukler machte ein ausgesprochen verdrießliches Gesicht.
„Genau, wie ich es befürchtet habe. Das bedeutet für uns leider, dass wir von hier ab wohl zu Fuß weiterziehen müssen!“
Sarah war über diese Entscheidung nicht gerade glücklich. Schließlich wollte sie so schnell wie möglich zu ihren Eltern gelangen.
„Es gibt leider nur diesen einen Weg“, erklärten ihr die Männer mit einem bedauernden Schulterzucken. Dass dies nicht die ganze Wahrheit war, wusste Sarah, die schließlich das Gespräch zwischen den beiden Gauklern belauscht hatte.
Der dicke Gaukler deutete Sarahs zweifelnden Blick falsch und zeigte in Richtung ihres kleinen Bruders, der derweil recht vergnügt mit einem Ast in der Glut des Lagerfeuers herumstocherte, das sie für das Mittagessen entfacht hatten.
„Tja, den jungen Mann hier werden wir wohl abwechselnd tragen müssen…“ Der dicke Mann seufzte. „Ich denke jeder von uns sollte jetzt das Allernötigste zusammenpacken. Ich würde heute gerne noch ein Stück Weg hinter uns bringen…“
Gesagt, getan. Sarah packte für sich und ihren Bruder ein paar Sachen zum Wechseln in den Rucksack. Sie fragte sich, was wohl mit den Pferden und dem Wagen geschehen würde.
Diese Frage wurde wenig später beantwortet, als sie beobachtete, wie der dicke Gaukler die Pferde vom Geschirr losmachte und ihnen etwas ins Ohr flüsterte. Die beiden Tiere wieherten daraufhin zweimal laut und galoppierten davon. Kurze Zeit später konnte Sarah von ihnen nur noch eine rasch kleiner werdende Staubwolke sehen.
„Die zwei finden ihren Weg nach Hause. Mach dir keine Sorgen.“, erklärte ihr der dünne Gaukler.
Der dicke Gaukler nahm Robert auf seine Schulter, dem das sichtlich gefiel. Sarah schulterte ihren Rucksack und folgte ihrem Gefährten, der strammen Schrittes auf dem Pfad voranging.
Sie hatten die erste Kehre erreicht, als Sarah noch einen letzten Blick hinunter auf den Lagerplatz warf. Merkwürdigerweise konnte sie nichts mehr von dem Wagen sehen. So sehr sie auch schaute: Die Kutsche war wie vom Erdboden verschluckt.
Wenig später hörten sie Schritte hinter sich, die sich rasch näherten. Es war der dünne Gaukler, der ein wenig zurückgeblieben war.
„Was haben sie mit dem Wagen gemacht?“, fragte Sarah, als der Mann sie eingeholt hatte. Dieser lächelte sie nur geheimnisvoll an und erhob warnend seinen Zeigefinger. „Das darfst du einen Magier nicht fragen, mein Kind…!“
Auf ihre neugierige Frage, warum die Pferde eine solche Angst vor dem Weg durch das Gebirge hatten, bekam sie nur eine ausweichende Antwort:
„Es sind sehr sensible Tiere, musst du wissen. Überhaupt spüren Tiere häufig sehr viel früher als wir Menschen, wenn irgendetwas nicht stimmt. Denk doch nur an Erdbeben, Vulkanausbrüche oder andere Naturkatastrophen. Nicht, dass wir hier etwas in dieser Richtung erwarten dürften. Nein, es ist etwas völlig anderes. Allerdings weiß ich nicht, ob es unbedingt besser ist…“ Nach diesen düsteren Andeutungen wechselte der Gaukler rasch das Thema.
Wie Sarah kurz darauf von ihren Gefährten erfuhr, hatten sie noch einen langen Weg vor sich, bis sie auf einen geeigneten Rastplatz für die Nacht treffen würden.
Der Aufstieg war ziemlich anstrengend. Man musste ganz schön aufpassen, um nicht auf dem lose herumliegenden Geröll auszurutschen oder sich den Fuß zu verstauchen. Die Sonne schien erbarmungslos von einem wolkenlosen Himmel auf sie herab und es gab nirgendwo auch nur den geringsten Schatten.
Abgesehen davon war ihre Umgebung dabei auch noch ziemlich eintönig und langweilig. Pflanzen schienen auf dem gelblichen Fels kaum zu gedeihen, von ein paar wenigen dornigen Sträuchern und halb vertrockneten Gräsern einmal abgesehen. Weit über ihnen kreisten einige große schwarze Vögel. Sarah musste an einen Western denken, den sie kürzlich im Fernsehen gesehen hatte. Dort hatten sich ein paar Leute in der Wüste verlaufen. Während sie vor Durst kaum noch weitergehen konnten, kreisten über ihnen bereits die Aasgeier. Hier schien es sich zwar nur um ein paar Krähen zu handeln, aber auch das hob Sarahs Laune nicht unbedingt.
Abgesehen von den Rabenvögeln konnte sie nichts Lebendiges entdecken, von ein paar hässlichen schwarzen Käfern abgesehen, die hier und da den Pfad überquerten.
Die beiden Gaukler wechselten sich dabei ab, ihren keinen Bruder zu tragen. Jetzt saß er gerade wieder auf den Schultern des dünnen Gauklers und war offensichtlich eingenickt. Sie konnte sehen, wie sein Kopf beim Laufen sanft hin und her wippte.
Die beiden Männer waren zuletzt ziemlich schweigsam gewesen. Sarah hatte immer wieder versucht, ein Gespräch anzufangen. Schließlich hatte sie noch unendlich viele Fragen. Aber nachdem sie nur einsilbige und ausweichende Antworten erhalten hatte, hatte sie e schließlich irgendwann aufgegeben und stolperte, in ziemlich düstere Gedanken versunken, den beiden Männern hinterher.
Gerade hatten sie einen Hohlweg betreten, zu dessen Seiten die Felswände nahezu senkrecht in die Höhe ragten, als Sarah hörte, wie einer der Männer vor ihr einen lauten Schrei ausstieß.
Sie war ein wenig hinter ihren Kameraden zurückgeblieben, weil ihr mal wieder der Schnürsenkel ihres Schuhs aufgegangen war, etwas, das ihr bei den neuen Schuhen ständig passierte.
Erschrocken richtete sich Sarah auf. Sie konnte zunächst nur sehen, dass die beiden Männer vor irgendetwas zurückwichen. Was es war, konnte sie nicht genau erkennen. Es war irgendetwas großes schwarzes, das sich ihnen langsam zu nähern schien. Als einer der Gaukler im nächsten Augenblick ein wenig zur Seite wich, konnte auch sie die Kreatur sehen, die ihnen den schmalen Weg versperrte.
Vor Schreck blieb sie wie angewurzelt stehen, völlig unfähig, auch nur einen weiteren Schritt zu tun.
Es war eine riesige Spinne, die sicherlich so groß war wie ein ausgewachsenes Rind. Sarah schaute voller Ekel auf die langen behaarten Beine und auf den Kopf mit seinen starren schwarzen Facettenaugen und den Mundwerkzeugen, die sich unaufhörlich bewegten.
Sie wollte vor Entsetzen und Angst am liebsten laut schreien, aber ihre Kehle war so trocken, dass sie keinen Laut herausbrachte. Schritt für Schritt wichen sie langsam zurück, wobei sie es nicht wagten, das Ungeheuer auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen.
Ohne dabei stehen zu bleiben setzte der dicke Gaukler seinen Rucksack ab und öffnete ihn. Sarah hoffte, dass es eine Waffe war, nach der er suchte.
Ihr kleiner Bruder saß wie durch ein Wunder, trotz der ganzen Aufregung die um ihn herum herrschte, immer noch friedlich schlafend auf der Schulter des dünnen Gauklers. Dieser stolperte allerdings im nächsten Moment versehentlich über einen Stein und stieß gegen die Felswand. Das riss Robert aus seinem Schlaf.
„Was ist denn los?“, hörte Sarah ihn mit ganz verschlafener Stimme fragen. „Sind wir endlich da?“
Sarah wollte sich gerade auf ihren Bruder stürzen, um ihn schützend in die Arme nehmen. Er sollte die ekelhafte Spinne nicht sehen müssen, die sie sicherlich gleich angreifen würde. Dann sah sie, dass die beiden Gaukler stehen geblieben waren und mit offenen Mündern nach vorne starrten.
Dann begriff auch sie, warum ihre Gefährten ihre Flucht vor dem Monster unterbrochen hatten:
Die riesige Spinne, die bereits fast zum Greifen nah gewesen war, schien plötzlich wie vom Erdboden verschluckt zu sein!
Der dicke Gaukler, der bis auf ein krächzendes Geräusch keinen vernünftigen Ton herausbekam, bedeutete seinen Gefährten, stehen zu bleiben und näherte sich vorsichtig der Stelle, wo die Spinne eben noch zu sehen gewesen war. Er hielt einen seltsamen Gegenstand in der Hand, den er schützend vor sich hielt. Sarah konnte zwar nicht genau sehen, um was es sich handelte, aber wie eine ernstzunehmende Waffe wirkte der dünne Stock nicht gerade.
Hoffentlich wusste der dicke Mann, was er da tat…
Während der Gaukler aus ihrem Blickfeld verschwand, drängte sich Sarah, Robert fest in den Armen haltend, neben den dünnen Gaukler an die Felswand. Sie hielt die Luft an und erwartete, dass jeden Moment irgendetwas Schreckliches passieren würde.
Dann tauchte der dicke Gaukler wieder vor ihnen auf. Die halbe Minute, die, die vielleicht vergangen waren, kam ihr vor wie eine halbe Ewigkeit.
Der Gaukler winkte ihnen beruhigend zu:
„Alles in Ordnung. Keine Spur mehr von der Spinne zu sehen!“
Zögerlich näherten sie sich ihrem Gefährten, der am Ausgang des Hohlweges stehen geblieben war und auf sie wartete. Dort angekommen schaute sich Sarah misstrauisch um und atmete schließlich erleichtert auf.
Es war tatsächlich nichts mehr von dem Untier zu sehen. Seltsam war dabei nur, dass es hier kein Versteck gab, wo sich ein Tier dieser Größe so schnell hätte verstecken können.
So merkwürdig dies auch war: Die Hauptsache war jetzt erst einmal, dass das Ungeheuer verschwunden war (und hoffentlich nie wieder auftauchte)!
Sarah merkte, dass sich ihr Puls langsam wieder zu normalisieren begann. Zuletzt war er so rasend schnell gewesen, wie nach einem Fünfhundertmeterlauf.
Der dicke Gaukler, der das soeben Geschehene wohl auch nicht begriff, grummelte kopfschüttelnd vor sich hin:
„Das kann doch alles gar nicht sein… So häufig bin ich hier schon gewesen… Noch nie habe ich so etwas gesehen… Plötzlich verschwunden… Na so was… Wie vom Erdboden verschluckt…!“
Sein hagerer Partner machte daraufhin den vernünftigen Vorschlag, eine kurze Rast einzulegen, damit sich die Nerven aller Anwesenden wieder ein wenig beruhigen konnten.
Sicherheitshalber wollten sie aber noch ein Stück weiterziehen, da man sich ja nicht völlig sicher sein konnte, dass das Untier auch wirklich endgültig verschwunden war.
Sarah fragte sich im Stillen, ob diese Begegnung gerade zu den Dingen gehört hatte, weswegen sich die beiden Pferde zuvor so vehement geweigert hatten, weiter mit ihnen zu gehen.
Nach einem kurzen Marsch, auf dem der Weg rasch an Höhe gewann, gelangten sie an eine geeignete Stelle, wo sie sich alle erst einmal erschöpft fallen ließen. Der Platz war durch hohe Felswände einigermaßen geschützt und trotzdem gut einsehbar.
Einer der beiden Männer entnahm seinem Gepäck eine große Tafel Schokolade, die er unter seinen Gefährten verteilte.
Robert, schlief kurze Zeit später, auf dem Boden zusammengerollt, wieder ein, und Sarah nahm ihm vorsichtig den angebissenen Schokoriegel aus der Hand.
Sie beschlossen, ein paar Minuten auszuruhen. Sarah lehnte sich mit dem Rücken an die Felswand und war gleich darauf ebenfalls eingeschlafen.
Sie wusste nicht, wie viele Minuten sie geschlummert hatte. Auf jeden Fall tat ihr das Genick durch die unbequeme Haltung ziemlich weh. Als sie die Augen aufschlug, erkannte sie, dass die beiden Gaukler ebenfalls eingeschlafen waren. Sie reckte und streckte sich ein wenig, weil ihr das rechte Bein eingeschlafen war.
Plötzlich stutzte sie: Direkt neben ihrem rechten Fuß wuchs etwas aus der blanken Erde! Zunächst sah sie nur einen rötlichen Punkt, der sich durch den Untergrund bohrte. Bereits nach wenigen Augenblicken konnte man erkennen um was für eine komische „Pflanze“ es sich hier handelte: Es war eine rot-weiß gestreifte Zuckerstange, die hier gerade aus dem Boden gewachsen war! Sarah starrte erstaunt auf das Ding, als sie es mit einem Mal um sich herum leise rascheln hörte.
Und tatsächlich wuchsen überall Zuckerstangen aus dem Boden. Und zwar in allen möglichen Farben: Sarah erkannte grüne, gelbe, blaue, längsgestreifte, quergestreifte und auch ein paar gepunktete Exemplare!
Noch während sie sich ungläubig umschaute, fuhr Sarah plötzlich wie von einer Tarantel gestochen in die Höhe: Eine unverschämte Zuckerstange (gelb mit blauen Punkten) versuchte sich doch tatsächlich direkt unter ihrer rechten Pobacke aus dem Untergrund vorzuarbeiten! Ärgerlich nahm sie das Ding und war erstaunt wie mühelos es sich aus dem Boden ziehen ließ.
Kritisch betrachtete sie ihren Fund und schnupperte daran. Nun, riechen tat das Ding wirklich wie eine Zuckerstange. Schließlich leckte sie vorsichtig daran. Sie schmeckte eindeutig Banane heraus, wobei die blauen Punkte Pfefferminzaroma hatten. Es war eine merkwürdige Mischung, die aber gar nicht mal so übel schmeckte.
Vorsichtig rüttelte Sarah die beiden Männer wach. Gleich darauf schauten auch diese ziemlich ungläubig auf die bunte Zuckerwiese, in deren Mitte sie sich jetzt befanden.
Das musste natürlich auch Robert unbedingt zu sehen bekommen. Sarah beugte sich vor und berührte ihren kleinen Bruder sanft an der Schulter. Dieser schlug verschlafen die Augen auf. „Schau Bruderherz, was hier Schönes wächst!“
Sarah deutete auf den Boden -und sah nichts weiter als Erde und Felsen. Keine Spur mehr von irgendwelchen merkwürdigen Gewächsen!
Gut, dass sie die beiden Gaukler vorher geweckt hatte. Diese waren jetzt ebenso erstaunt wie sie und bestätigten ihr eifrig, dass sie sich das alles gerade nicht nur eingebildet hatte.
„Ich dachte im ersten Moment schon, ich hätte das mit den Zuckerstangen nur geträumt. Dabei habe ich eine davon doch gerade noch in der Hand gehalten und an ihr geleckt.“ Sarah schüttelte ungläubig ihren Kopf.
Der dicke Gaukler schaute sie mit großen Augen an: „Mein Kind, was hast du da gerade gesagt?“
„Ich habe gerade noch eine der Zuckerstangen in der Hand gehalten und…“
„Nein, das meinte ich nicht!“, unterbrach sie der dicke Mann ungeduldig „Vorher, was hast du vorher gemeint?“
Sarah musste einen Moment lang nachdenken. „Hm. Ich habe gesagt, dass ich schon gedacht habe, das alles nur geträumt zu haben…Aber…“
„Das ist es!“ Der Gaukler sprang unter den erstaunten Blicken seiner Gefährten auf.
„Begreift ihr denn nicht? Geträumt hat sie gesagt!“
Er kniete sich jetzt neben Sarahs Bruder auf den Boden und legte ihm freundschaftlich den Arm um die Schulter. Sarah schaute die beiden mit großen Augen an. Sie verstand momentan überhaupt nichts.
„Junger Sportsfreund! Erzähl doch mal. Was hast du denn gerade eben Schönes geträumt, na?“
Robert lächelte den Mann an: „Oh, ich war gerade spazieren und hab` gedacht es wäre schön, wenn es so wäre wie in dem Märchen, in dem überall Grießbrei herumsteht und Milch an Stelle von Wasser im Bach fließt und so…“
„Und da hast du auch gesehen, dass überall bunte Zuckerstangen aus dem Boden wuchsen, nicht wahr?“
Robert schaute seinen Gesprächspartner erstaunt an.
„Woher weißt du das?“
„Ich habe dich in meinem Traum nirgendwo gesehen!“ fügte er etwas misstrauisch noch hinzu.
Der dicke Mann rieb sich die Hände. „So ist das also… Jetzt verstehe ich…“
Sarah war immer noch ganz verwirrt. „Robert kann die Stangen doch gar nicht gesehen haben. Ich habe ihn die ganze Zeit über im Blick gehabt. Er hat wirklich tief und fest geschlafen!
„Das hat er tatsächlich, junge Dame. Überhaupt gar keine Frage.“
Jetzt setzte der Mann sich neben sie. „Und ich bin mir ziemlich sicher, dass dein Bruder vorhin auf dem Weg auch geträumt hatte. Und es war sicherlich kein schöner Traum gewesen. Und weißt du, wer die Hauptrolle in diesem Traum gespielt hatte? Na?“
Sarah fiel es mit einem Mal wie Schuppen von den Augen.
„Er hat von der riesigen Spinne geträumt. Robert hatte schon immer große Angst vor Spinnen gehabt.“
Sie überlegte einen Augenblick.
„Moment mal! Sie glauben, dass das, was er geträumt hat plötzlich Wirklichkeit geworden ist? Und in dem Augenblick, in dem Robert aufgewacht ist, ist alles sogleich wieder verschwunden!“
Der Gaukler bedachte sie mit einem Lächeln.
„Genau das denke ich auch.“
Sein Partner nickte nachdenklich.
„Ja. Ihr zwei habt zweifellos Recht. Es kann eigentlich keine andere Erklärung dafür geben.“
Er wandte sich an Sarah.
„Und du bist dir wirklich ganz sicher, eine von diesen Zuckerstangen angefasst zu haben?“
Sarah nickte eifrig. „Ich habe sie sogar probiert. Und sie war hundertprozentig echt.“
Der dünne Mann blickte seine Gefährten mit ernster Miene an.
„Das dürfte bedeuten, dass die ekelhafte Spinne von vorhin durchaus real gewesen war, auch wenn sie ursprünglich nur aus einem Traum stammte. Sie hätte uns also ohne weiteres töten können, wenn Robert nicht zufällig rechtzeitig aufgewacht wäre!“
„Du musst wissen, Sarah, dass in unserer schönen Welt manchmal Realität und Phantasie zuweilen recht eng beieinander liegen. Manchmal vermengen und vermischen sie sich geradezu, so dass man kaum noch zu sagen vermag, was echt und was nicht echt ist. Und das, was eigentlich gar nicht echt ist, kann im Übrigen ehe man sich versieht mit einem Mal durchaus sehr echt werden…“
Dann schaute er Sarah und ihren kleinen Bruder prüfend an.
„Das, was wir hier erlebt haben, ist nach meiner Meinung allerdings noch weitaus bedenklicher, ja ausgesprochen bedrohlich… Und dabei ist es gleichzeitig auch wirklich faszinierend…“
Er strich sich nachdenklich mit der Hand über das Kinn.
„Sarah, du musst wissen, dass es sogar unter den Menschen dieser Welt nur ganz wenige gibt, die dazu in der Lage sind, solche Träume zu haben. Die Gegend hier scheint wohl ziemlich empfänglich zu sein für so etwas. Ich frage mich allerdings, ob das alleine schon als Erklärung ausreicht für das, was wir gerade gesehen haben…“
Der Blick des Mannes ruhte jetzt so durchdringend auf Sarah, dass sie schließlich ihre Augen abwenden musste. Dann seufzte er schließlich und meinte:
„Aber sei`s drum: Als allererstes sollten wir zu unser aller Sicherheit erst einmal folgendes tun!“ Er fing an, in seinem Gepäck herumzusuchen, bis er schließlich er eine große Kanne in der Hand hielt. Er blickte triumphierend in die Runde und verkündete:
„Kaffee! Der Junge braucht jetzt einen starken Kaffee, damit er bloß nicht wieder einschläft!“
7
Fünf Stunden später wurde es zusehends dunkler, und die Gefährten mussten zusehen, rasch noch einen geeigneten Rastplatz für die Nacht zu finden. Schließlich fanden sie eine halbwegs geschützte Stelle, die etwas abseits des Pfades lag. Es handelte sich um ein flaches, von hohen Felsen umgebenes Plateau, auf dem sogar ein wenig Gras und ein paar Büsche wuchsen.
Die beiden Gaukler ließen sich erschöpft in das weiche Gras fallen. In den letzten Stunden hatten sie alles dafür getan, damit Robert ja nicht wieder einschlief und anfing zu träumen. Die Männer hatten wirklich sämtliche Register gezogen und ihn mit Clownerien und allen nur erdenklichen Zaubertricks bei Laune gehalten.
Sie wussten allerdings, dass ihnen die wahre Arbeit noch bevorstand: Da Robert ja wohl kaum daran gehindert werden konnte, wenigstens in der Nacht zu schlafen, musste einer von ihnen Wache halten, um den Jungen bei dem leisesten Anzeichen für einen gefährlichen Traum wachzurütteln. Sarah war froh, dass sie als Kind von dieser wirklich undankbaren Aufgabe ausgenommen war.
Sarahs Vorschlag, Robert doch einfach eine Weile von einem schönen gebratenen Filetsteak träumen zu lassen, wurde leider von den beiden Männern einstimmig abgelehnt, so dass es zum Abendessen nur eine warme Suppe gab.
Anschließend legte sie sich todmüde hin. Sie bekam gerade noch mit, dass der dünne Gaukler als erstes Wache schieben musste. Mittlerweile hatte sie zwar auch die richtigen Namen der Männer erfahren. Der hagere Mann nannte sich Erasmus und sein beleibter Gefährte Benediktus. Aber da sich die beiden Gaukler untereinander eigentlich nie beim richtigen Namen nannten und voneinander nur von dem Dünnen und dem Dicken sprachen, blieb auch Sarah bei diesen Bezeichnungen, zumal diese ja auch sehr zutreffend waren.
Sarah wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als ein Geräusch sie aufweckte. So schlaftrunken wie sie war, brauchte sie eine ganze Weile um zu sich zu kommen. Schließlich musste sie erst einmal herzhaft lachen: Der dicke Gaukler, der seinen Partner offensichtlich in der Zwischenzeit abgelöst hatte, saß ganz unglücklich im Gras und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu. Der Grund dafür war klein und grün, überaus zahlreich vertreten und ganz furchtbar laut: Auf dem Kopf und auf den Schultern des armen Menschen saßen sicherlich zwei Dutzend grüner Wellensittiche und schwatzten und schimpften um die Wette. Noch einmal mindestens ebenso so viele Vögel pickten an den Schnürsenkeln seiner Schuhe, flatterten durch die Luft oder stritten sich um irgendwelche Körnchen, die auf dem Boden lagen.
Als sich Sarah wieder einigermaßen im Griff hatte, fragte sie den Gaukler, warum er ihren Bruder denn nicht einfach aufwecken würde.
„Nun, liebes Kind, ich kann ihn doch nicht bei jedem Traum aus seinem wohlverdienten Schlaf reißen!“
„Nur bei den für uns gefährlichen Traumgespinsten...“, fügte er ziemlich kläglich hinzu und scheuchte einen vorwitzigen Vogel weg, der sich gerade an den Bartstoppeln an seinem Kinn zu schaffen machte.
„Noch eine Stunde…“ Er warf einen sehnsüchtigen Blick auf seinen Partner, der neben ihm ausgestreckt im Gras lag und laut schnarchte.
Auch Sarah machte die Augen wieder zu. Als sie das nächste Mal aufwachte, waren sämtliche Vögel verschwunden. Stattdessen hatte ein riesiges Kreuzfahrtschiff direkt neben ihnen Anker geworfen. Auf der Brücke, die offensichtlich gerade herunter gelassen worden war, konnte sie allerlei merkwürdige Passagiere sehen.
Obwohl diese noch ziemlich weit entfernt waren, war sie sich trotzdem ziemlich sicher, einige Bewohner der Sesamstraße ausmachen zu können. Allen voran aber schritt Supermann, Arm in Arm mit Micky Maus. Als die Gestalten näher gekommen waren, Sarah erkannte, wie Kermit, der Frosch, ihr eine Kusshand zuwarf, verblassten sie zusehends und wurden ganz unscharf. Dann kam ein leichter Wind auf und verwehte schließlich die letzten Reste des Schiffes mitsamt seiner seltsamen Gäste.
Daraufhin schien ihr kleiner Bruder offenbar wieder traumlos zu schlafen, denn es wurde wieder ganz ruhig und dunkel um sie herum.
Sarah wachte wieder auf, als sie jemand an der Schulter rüttelte. Im ersten Moment dachte sie, dass es wohl an der Zeit war, aufzustehen, denn es war schon ein wenig dämmrig geworden. Als sie sich jedoch umdrehte-
-sah sie sich selbst, neben sich im Gras kniend!
Die andere Sarah schaute mit einem belustigten Gesichtsausdruck auf sie herab.
„Steh auf und komm mit. Ich will dir etwas zeigen!“
Das Mädchen erhob sich und ergriff ihre Hand. Sarah stand ebenfalls auf und betrachtete ihr Gegenüber. Da gab es keinerlei Zweifel: Das Mädchen, dem sie jetzt gegenüber stand, war wie eine Zwillingsschwester. Sie hatte das gleiche schmale Gesicht mit der vielleicht ein wenig zu lang geratenen Nase, die gleichen dunkelbraunen Haaren, die sich genau wie die ihren in der feuchten Morgenluft ein wenig kräuselten. Allerdings trug ihr Gegenüber die engen Jeans und das Sweatshirt, die sie sich kurz vor ihrer Abreise noch gekauft hatte und die sich eigentlich immer noch in dem Koffer im Auto befinden mussten.
Die andere Sarah verschränkte ungeduldig ihre Arme. „Was ist jetzt. Kommst du nun mit oder nicht?“ Sarah nickte stumm, unfähig auch nur ein Wort herauszubekommen. Sie sah, dass sich bei ihrem Gegenüber die Nase ein wenig kräuselte, ganz genau wie bei ihr, wenn ihr Gesprächspartner ein wenig begriffsstutzig war.
Das schlanke Mädchen drehte sich kurzerhand um und ging los, ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen. Sarah sah, dass nicht nur ihr Bruder, sondern offensichtlich auch beide Gaukler fest schliefen. Sie zögerte kurz. Vielleicht sollte sie ja lieber jemanden von ihnen aufwecken? Aber dann siegte ihre Neugier. Und außerdem: Sollte sie sich denn etwa vor sich selber fürchten?
Sie eilte ihrem Traumzwilling hinterher. Sie konnte gerade noch sehen, wie dieser hinter der Felswand verschwand. Als sich Sarah kurz darauf der Stelle näherte, konnte sie erkennen, dass hier ein sehr schmaler Sims um die Felswand herumführte, den sie zuvor noch nicht gesehen hatte.
Der Pfad war kaum mehr als fußbreit, und unmittelbar vor ihren Füßen ging es mehrere Meter steil in die Tiefe. Sarah nahm all ihren Mut zusammen und ging vorsichtig weiter. Zum Glück kam sie nach wenigen Metern an einen Felseinschnitt. Sie erkannte, dass sie vor dem Eingang zu einer Höhle stand. Einige Meter von ihr entfernt und gerade noch als Schatten wahrnehmbar stand das Mädchen und winkte ihr ungeduldig zu.
Sarah atmete tief durch und betrat die Höhle. Vor sich hörte sie die Schritte des anderen Mädchens in der Dunkelheit. Eigentlich waren es ja ihre eigenen Schritte, wie sie mit einem unbehaglichen Gefühl feststellte.
Nach einigen Metern wichen die Wände der Höhle nach allen Seiten auseinander. Schließlich hatte sie das Gefühl, in einer riesigen Halle zu stehen. Das Innere der Höhle war jetzt von einem seltsamen smaragdgrünen Licht erfüllt. Staunend schaute sie sich um.
Das andere Mädchen war vor ihr stehen geblieben und blickte, ihr den Rücken zukehrend, auf einen großen unterirdischen See, der sich direkt vor ihren Füßen erstreckte.
Sarah stellte fasziniert fest, dass das diffuse Leuchten von dem Wasser auszugehen schien. Der See schien riesig groß zu sein.
„Ich möchte, dass du dir etwas ansiehst.“
Das Mädchen kniete sich am Ufer nieder und deutete auf die vollkommen glatte und ruhige Wasseroberfläche. Sarah tat es ihm gleich.
Zunächst konnte Sarah lediglich ihr eigenes Spiegelbild sehen. Sie war gar nicht sonderlich erstaunt, als sie feststellte, dass sich das andere Mädchen nicht im Wasser spiegelte.
Mit einem Mal wurde die Oberfläche des Sees ganz unruhig, und das Bild vor ihren Augen veränderte sich. Jetzt waren unscharf irgendwelche Personen zu erkennen.
Plötzlich stieß sie einen leisen Schrei aus. Es waren ihre Eltern. Sie schienen durch eine Waldlandschaft zu laufen und vor irgendwem auf der Flucht zu sein. Immer wieder schaute sich ihr Vater um, während er ihre Mutter, an der Hand haltend, mit sich zog.
Das Bild wurde vorübergehend wieder undeutlich. Als sie wieder etwas erkennen konnte, kämpfte ihr Vater. Mit wem oder was, konnte sie nicht erkennen. Sarah biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut aufzuschreien, als sie sah, dass hinter ihrem Vater eine regungslose Person auf dem Boden lag. Plötzlich stand ihr Vater ganz starr da und bewegte sich nicht mehr. Ehe das Bild wieder verschwamm, konnte sie die zwei reglosen Körper ihrer Eltern am Boden liegen sehen…
Erschrocken schaute sie das andere Mädchen an, das aber nur stumm nach unten zeigte: Im Wasser war jetzt ein riesiges Schlosses zu erkennen. Es war viel größer und prächtiger als alle Schlösser und Burgen, die sie in ihrem Leben bislang gesehen hatte.
Dann fuhr eine schwarze Kutsche vor. Sarah erkannte noch, dass zwei leblos erscheinende Körper aus der Kutsche heraus getragen wurden, als das Bild vor ihr zitternd wieder verschwand. Jetzt war wieder ihr Spiegelbild zu sehen.
„Waren das meine, ich meine unsere Eltern?“ Sarahs Stimme klang ganz heiser. Das andere Mädchen nickte kaum merklich. Zu ihrem Schrecken konnte Sarah Tränen in ihren Augen erkennen.
„Sind sie…? Nein, bitte sag nicht, dass sie...!“
Sie wagte es nicht, die Frage zu Ende zu stellen. Das Mädchen schüttelte seinen Kopf.
„Nein. Aber du hast nicht viel Zeit…“ Es war jetzt in der Höhle mit einem Mal ein kräftiger Wind aufgekommen, der die Wasseroberfläche ganz wellig machte und ihr die Haare ins Gesicht wehte. Sie stellte fest, dass das schulterlange Haar ihres Gegenübers davon ganz unbeeindruckt blieb. Nicht eine einzige Strähne flatterte im Luftzug.
Das Mädchen erhoben sich und stand auf. „Geh jetzt wieder zurück. Die anderen werden bald aufwachen.“
„Eines noch!“ Sie unterbrach Sarah, die gerade mit Fragen auf sie einstürmen wollte. „Nimm dich vor den beiden Männern in Acht. Sie sind nicht das, was sie vorgeben zu sein…“
„Wen meinst du? Die beiden Gaukler doch nicht etwa. Die wollen mir doch helfen…“ Sarah beeilte sich dem Mädchen zu folgen, das bereits mit großen Schritten in Richtung des Höhlenausgangs verschwand. Als sie das Mädchen endlich eingeholt hatte und es an der Schulter festhalten wollte, griff sie durch die Schulter hindurch ins Leere. Das Mädchen drehte sich daraufhin noch einmal zu Sarah um. Es wurde jetzt zunehmend blasser und durchscheinend, so dass Sarah die Felswand dahinter erkennen konnte.
„Hier, nimm das hier. Das wird dir auf deiner Suche helfen.“
Das Mädchen zog einen zusammengefalteten Zettel aus der Hosentasche und reichte ihn Sarah. Es war seltsam zu sehen, wie die zunehmend substanzloser erscheinende Hand ihres Gegenübers, mühelos durch ihren Arm hindurch ging. Ein komisches Gefühl war das, wie ein kalter Lufthauch, der direkt durch einen hindurch wehte…
Als Sarah dem Mädchen folgen wollte, das sich wieder umgedreht hatte, stolperte sie über irgendetwas....
... und wachte auf.
Ihre Gefährten und auch ihr Bruder saßen bereits am Lagerfeuer, über dem ein dampfender Teekessel hing.
Die Gaukler sahen ziemlich müde aus, während Robert ausgesprochen munter wirkte und ihr mit einem Stück Schokolade in der Hand fröhlich zuwinkte.
Sarah war noch ganz verwirrt und benommen von ihrem Traum. Dabei war ihr das alles so real vorgekommen. Sie streckte sich und stand auf. Sie tat so, als müsste sie sich erst einmal die Beine vertreten und ging sie an die Stelle an der Felswand, wo sie gerade noch auf den schmalen Pfad gestoßen war. Sie wunderte sich nicht sonderlich, dort jetzt nur noch eine glatte nackte Felswand vorzufinden, die direkt in die Tiefe abfiel. Keine Spur von einem Sims, auf dem sie hätte gehen können. Also doch nur ein Traum...
Sie zuckte mit den Schultern und ging zu ihren Gefährten, um zu frühstücken.
Sarah erzählte ihren Gefährten nichts von dem, was sie in der Nacht geträumt hatte und lauschte lieber dem Gespräch, das die beiden Gaukler beim Frühstück miteinander führten.
„Das Beste an der ganzen Sache ist, dass auch der Vogeldreck nach dem Aufwachen wieder verschwunden war!“ Der dünne Mann betrachtete prüfend seine Schultern und die Ärmel seines Hemdes. Offensichtlich zufrieden mit dem Resultat, nahm er einen großen Schluck aus seiner Teetasse.
Sein dicker Partner hatte nicht allzu viel erlebt. Auch er hatte Roberts Schlaf nicht unterbrechen müssen.
Robert machte einen ausgesprochen vergnügten Eindruck und Sarah dachte schon bald nicht mehr an ihren merkwürdigen Traum.
An diesem Tag hatten sie eine ziemlich weite und anstrengende Strecke vor sich. Wenn sie gut vorankamen, würden sie aber bis zum Abend wahrscheinlich endlich den höchsten Punkt ihres Aufstieges erreicht haben. Von da an würde der Weg dann stetig bergab führen und somit weitaus weniger beschwerlich sein.
Mit Erleichterung registrierte Sarah, dass ihr kleiner Bruder ganz aufgekratzt und putzmunter war und offensichtlich keinerlei Anstalten dazu traf, in absehbarer Zeit einzuschlafen.
Dies würde ihnen sicherlich so einiges an Scherereien auf dem langen Marsch ersparen ….
8
Einige Stunden später waren die Gefährten immer noch unterwegs, ohne bislang mehr als nur eine kurze Rast eingelegt zu haben. Die Umgebung war die ganze Zeit über entsetzlich langweilig und eintönig gewesen. Zu allem Überfluss war es auch wieder ausgesprochen heiß geworden. Sarah sehnte sich nach ein wenig Abkühlung.
Alle vier hatten bereits seit einiger Zeit nicht mehr miteinander gesprochen. Wahrscheinlich waren auch die Zungen ihrer Gefährten mittlerweile hoffnungslos am Gaumen festgeklebt, dachte sich Sarah und überlegte ernsthaft, ob einem die Zunge, beim Versuch etwas zu sagen, in einem solchen Zustand womöglich einfach abreißen könnte.
Ach, wenn es jetzt doch einfach anfangen könnte zu schneien. Mit offenen Augen fing Sarah an, von einer richtig schön verschneiten Winterlandschaft zu träumen, so wie sie es nur von ihren weihnachtlichen Besuchen bei ihren Großeltern her kannte.
Auch eine kühle Limonade, vielleicht eine Cola, wäre jetzt gar nicht mal so schlecht. Und zwar in einem großen Becher mit ganz vielen Eiswürfeln darin und einem dicken Strohhalm!
Allein der Gedanke daran verschaffte ihr schon ein angenehm kühles Gefühl, wie sie ganz überrascht feststellte.
Ja, sie hatte jetzt sogar ein wenig Gänsehaut auf ihren nackten Armen bekommen. Ein wenig fröstelnd, verschränkte sie ihre Arme ineinander.
Hm. Das war jetzt doch ein wenig merkwürdig.
Gleich darauf merkte sie, wie ihr irgendetwas Kühles ins Gesicht flog. Sie brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass es sich hierbei um dicke fette Schneeflocken handelte, die immer dichter und zahlreicher vom Himmel fielen, der jetzt ganz grau aussah.
Bereits nach wenigen Minuten war die Sicht so schlecht geworden, dass sie unsanft mit dem dicken Gaukler zusammenstieß, der unvermittelt vor ihr stehen geblieben war.
Robert schien der einzige zu sein, der von dem plötzlichen Wetterumschwung begeistert war. „Lass uns einen Schneemann bauen, bitte!“, quengelte er und zog seine Schwester ungeduldig am Zipfel ihrer Jacke. „Oder wenigstens eine Schneeballschlacht. Du darfst auch zuerst werfen!“
Die beiden Gaukler tauschten sichtlich verwirrte Blicke aus.
„So etwas habe ich hier noch nie erlebt. Seit Menschengedenken hat es hier nicht geschneit…“, meinte schließlich der dicke Gaukler.
„Und er hat nicht eine Minute die Augen zugehabt!“ Der dünne Gaukler deutete auf Robert, als wenn er sich für das, was sich da gerade um sie herum abspielte, entschuldigen müsste.
Fröstelnd holten alle ihre wärmsten Jacken hervor und gingen weiter.
Bereits nach wenigen Metern wurde ihnen allen klar, dass sie unter diesen Bedingungen nicht mehr allzu weit kommen würden. Es war nicht nur der Schnee, der sich immer höher vor ihnen auftürmte. Auch die Kälte nahm zu.
Sarah fragte sich gerade, wie sie um alles in der Welt vor wenigen Minuten noch von einer eisgekühlten Cola hatte träumen können, als sie ein ganzes Stück vor sich am Wegesrand ein Licht erkennen konnte.
Es war durch das dichte Schneetreiben ziemlich dunkel um sie herum geworden, so dass ihnen allen der Lichtschimmer sofort auffiel. Sogleich beschleunigten sie ihre Schritte, soweit das im tiefen Schnee überhaupt möglich war.
Mit einem Mal erkannte Sarah, was da vor ihnen am Wegesrand lag. Es war ein flaches Gebäude.
Sie blieb mit offenem Mund stehen, genau wie die beiden Gaukler, die ebenfalls ziemlich fassungslos zu sein schienen
Mit dem kleinen Unterschied allerdings, dass sie, Sarah und mit Sicherheit auch ihr kleiner Bruder, sehr wohl wussten, um was es sich hier handelte.
Es war eine McDonalds Filiale.
9
Das Gebäude sah eigentlich genauso aus, wie die anderen, die sie von ihrer Welt her kannte: Es war einstöckig mit vielen großen Fenstern und besaß ein mit roten Ziegeln gedecktes Walmdach. Neben dem Haus fand sich ein kleiner Spielplatz, auf dem Sarah eine bunte Rutsche erkannte. Daneben lag ein kleiner Parkplatz, auf dem auch einige Autos standen. Ein großes Schild verwies auf den Drive in“ Schalter, der sich hinter dem Gebäude befinden sollte. Das machte allerdings überhaupt keinen Sinn, da es hier zum einen überhaupt gar keine Straße gab und das Gebäude zum anderen direkt in den Felsen hinein gebaut zu sein schien.
Ihre Gefährten konnten mit alledem natürlich überhaupt nichts anfangen, und so beschloss Sarah kurzerhand, die Führung zu übernehmen, bevor sie alle vier in wenigen Minuten sicherlich vollends eingeschneit und in eine Gruppe von Schneemännern verwandelt worden waren.
„Kommt mit, da drin ist es sicherlich wenigstens warm und trocken!“ Sie ging voran und zog den dünnen Gaukler einfach an der Hand hinter sich her.
Dieser folgte ihr scheinbar willen-, sicherlich jedoch sprachlos.
Wenig später standen sie alle vier, triefend vor Nässe, im Inneren des Gebäudes. Innerhalb von kürzester Zeit hatte sich unter jedem von ihnen eine beachtliche Wasserpfütze angesammelt (die Pfütze unter dem dicken Gaukler war natürlich die größte).
Eine dicke Frau mit einem Wischmopp tauchte auf und blickte sie der Reihe nach tadelnd an, bevor sie sich daran machte, die nasse Bescherung auf dem Boden wieder zu entfernen.
Sarah blickte sich in dem großen Raum um. Viel schien hier nicht los zu sein. Außer den zwei gelangweilt wirkenden Mitarbeiter, die hinter ihrem Tresen standen, befand sich noch ein junges Pärchen in dem Restaurant, das gerade mit besorgter Miene auf das Schneetreiben draußen blickte. Gerade kam noch ein schnauzbärtiger Mann mittleren Alters aus der Toilette heraus. Er nickte ihnen flüchtig zu und trat an den Verkaufstresen. Sarah konnte hören, wie er etwas bestellte (ein BigMac-Menü mit Cola).
Sarah kam das alles hier völlig unwirklich und wie im Traum vor.
Sie merkte, wie das Pärchen am Fenster zunehmend unruhig zu werden begann. Die Frau, eine schlanke, stark geschminkte und offensichtlich gefärbte Blondine, sprach aufgeregt auf ihren Partner ein und sprang dann plötzlich von ihrem Platz auf. Sie verschwand nach draußen, kam aber einen Augenblick später auch schon wieder hereingestürzt. Sie wirkte völlig aufgelöst und fassungslos.
„Da draußen….“, sie sprach nicht weiter, sondern warf sich erst einmal ihrem Begleiter in die Arme.
„Was ist denn los, Schatz. Ist das Wetter denn wirklich so schlimm? Dann warten wir hier drinnen einfach noch ein wenig… Oder ist vielleicht etwas mit dem Wagen?“
Hatte er zunächst ganz ruhig wie zu einem kleinen Kind gesprochen, das sich wegen etwas völlig unwichtigem Sorgen machte, hörte er sich beim letzten Teil des Satzes plötzlich ernsthaft beunruhigt an. Der Mann warf einen alarmierten Blick in Richtung Parkplatz.
Jetzt war auch der schnauzbärtige Mann an eines der Fenster getreten.
„Das gibt es doch gar nicht!“ Er drehte sich zu dem Pärchen um. „Das sieht ja alles plötzlich ganz anders aus. Wo kommen denn die ganzen Berge her?“ Er rieb sich ungläubig die Augen und presste sein Gesicht noch einmal dicht an die Scheibe.
„Was wird hier gespielt?“ Er schaute in die Runde der Anwesenden. Man merkte seiner Stimme an, dass seine Nerven bis aufs Äußerte gespannt sein mussten.
Offensichtlich nahm er Sarah und ihre Gefährten jetzt zum ersten Mal richtig wahr:
Der Mann musterte jeden einzelnen von ihnen förmlich von Kopf bis Fuß. Sarah fiel erst in diesem Moment ein, daß sie und vor allem die beiden Gaukler für jemanden aus ihrer Welt sicherlich ziemlich auffällig wirken mussten.
Er baute sich schließlich vor den beiden Zauberern auf und blickte ihnen feindselig ins Gesicht.
„Bevor ihr beiden komischen Vögel hier hereingekommen seid, war noch alles in Ordnung gewesen. Ich weiß nicht, was ich von euch halten soll, aber ich denke, dass ihr mir sicherlich verraten könnt, was hier eigentlich los ist…“
Seine Stimme hatte einen drohenden Unterton bekommen, der Sarah überhaupt nicht gefiel. Sarah nahm rasch ihren kleinen Bruder bei der Hand, der in der Zwischenzeit neugierig im Raum umhergegangen und schließlich vor einer Vitrine mit Spielfiguren stehen geblieben war. „Kaufst du mir so eine?“, fragte er sie und deutete auf ein undefinierbares lilafarbenes Geschöpf in der zweiten Reihe.
„Gleich, Robert…“ Sarah überlegte krampfhaft, was sie jetzt bloß tun könnte, um den ansonsten unvermeidlich erscheinenden Kampf verhindern zu können.
Währenddessen hörte sie die blonde Frau hysterisch weinen. Das Geräusch kam ihr jetzt fast unwirklich weit weg vor.
„Bitte, bist du das Mädchen, das vorhin angerufen und ein großes Glas Cola mit Eiswürfeln bestellte hat?“ Es war das junge Mädchen hinter dem Tresen, das gerade gesprochen hatte und sie jetzt mit unsicherem Gesichtsausdruck anschaute.
Da fiel es Sarah auf einmal wie Schuppen von den Augen.
Sie selbst musste es gewesen sein, die dafür verantwortlich war, dass es diese armen Geschöpfe mitsamt dem Gebäude hierher verschlagen hatte!
Ohne lange darüber nachzudenken, schrie sie plötzlich mit aller Kraft „Stopp!“
Der schnauzbärtige Mann und die beiden Gaukler wandten sich ihr mit erstaunten Gesichtern zu.
Na toll, dachte Sarah. Und jetzt?
Fieberhaft versuchte sie nachzudenken.
Wenn wirklich sie es gewesen war, die das ganze hier verursacht hatte, dann musste sicherlich auch ein Weg zu finden sein, der alles wieder in Ordnung bringen würde.
Sarah schloss die Augen und konzentrierte ihre ganze Willenskraft auf einen einzigen Gedanken: Lass das alles hier nicht passiert sein. Erst als sie vor lauter Anstrengung schon einen ganz roten Kopf bekommen hatte, öffnete sie vorsichtig die Augen.
Nichts. Alles war noch genauso wie vorher. Nur dass sie es jetzt war, die von allen Anwesenden unverhohlen angestarrt wurde.
Vielleicht sollte sie sich lieber etwas Konkreteres wünschen, etwas, was eindeutiger war. Sarah dachte intensiv an die nackte eintönige Berglandschaft, in der sie sich vor kaum einer Stunde noch befunden hatten, an die Hitze und an ihren Durst. Schließlich hatte sie sogar wieder das Gefühl, ihre Zunge würde an ihrem Gaumen festkleben.
Sie fing an zu schwitzen.
Langsam öffnete sie die Augen.
Im ersten Moment sah alles noch völlig unverändert aus. Dann konnte sie mit einem Mal doch etwas Ungewöhnliches wahrnehmen: Nicht nur ihr, auch den anderen Menschen im Raum, schien es auf einmal ganz heiß geworden zu sein. Sarah konnte sehen, wie sich der kräftige Mann, der immer noch breitbeinig vor den beiden Gauklern stand, ein großes kariertes Taschentuch aus der Hosentasche zog, um sich damit die Stirn abzuwischen.
Hinter Sarah stöhnte jemand leise auf. Das junge Mädchen hinter dem Tresen schaute fassungslos erst auf ihre Arme und dann auf ihren Unterkörper und die Beine. Diese wurden immer durchsichtiger wurden und verschwanden kurz darauf ganz. Schließlich war nur noch das Gesicht des Mädchens zu erkennen. Zuletzt schwebten nur noch die beiden weit aufgerissenen Augen in der Luft, um dann ganz zu verschwinden.
Auch die ganze Umgebung begann jetzt damit, immer unwirklicher und blasser zu werden. Zuletzt veränderte sich auch der Boden unter ihren Füßen: Dort wo sie gerade noch auf den blankgeputzten Steinfließen gestanden hatte, wurde es mit einem Mal immer sandiger, bis zuletzt der blanke Fels zum Vorschein kam.
Sarah drehte sich zu dem jungen Pärchen am Fenster um und stellte fest, dass auch dieses nahezu vollständig verschwunden war. Sie konnte gerade noch einen Frauenschuh mit einem kleinen Stück Unterschenkel erkennen, der noch ein paar Mal ungeduldig auf dem Absatz umher wippte. Dann war er weg.
Zuletzt war nur noch der schnauzbärtige Mann zu sehen, dessen aggressiver Gesichtsausdruck mittlerweile einer überaus erstaunten Miene gewichen war.
Kurz bevor er ganz verschwunden war, holte der dicke Gaukler plötzlich mit seiner rechten Hand aus und versetzte seinem Gegenüber noch rasch eine schallende Ohrfeige.
Das Geräusch klang Sarah noch in den Ohren nach, als sie, ihr kleiner Bruder und die beiden Gaukler schon längst wieder unter sich waren.
Alle vier schauten sich mehr oder wenig erstaunt um.
Alles war wieder so, wie es sich gehörte: Der staubige steinige Weg, die nackten eintönigen Felsen und nicht zuletzt auch die sengende Sonne, die wieder erbarmungslos auf sie herunter brannte.
Wie unheimlich das ganze eben gewesen war! Wie ein Albtraum, aus dem man nur mit ganz viel Anstrengung wieder erwachte. Wobei der Vergleich ein wenig hinkte, da sie sich sogleich im nächsten Albtraum wieder fand. Es ließ sich schließlich nicht leugnen, dass sie und ihr Bruder immer noch in der anderen Welt geblieben waren.
Sarah fragte sich, ob die anderen Menschen mitsamt ihrem Gebäude wieder glücklich dorthin zurückgelangt waren, wo sie eigentlich hingehörten. Sie wünschte es ihnen von ganzem Herzen. Hoffentlich erholten sie sich möglichst rasch wieder von ihrem Schrecken…
Erst jetzt merkte sie, dass die Blicke der beiden Gaukler fragend auf sie gerichtet waren. An ihren Blicken konnte Sarah nur zu gut erkennen, was sie gerade denken mussten.
Sie wusste auch nicht so recht warum, aber sie beschloss in diesem Moment, nichts von ihrer Theorie zu verraten. Sollten die beiden doch ruhig ein wenig drüber herumrätseln, was geschehen war. Schließlich taten sie selber so geheimnisvoll und hatten ihr sicherlich bislang noch nicht einmal einen Bruchteil von dem erzählt, was sie alles über diese seltsame Welt und den Verbleib ihrer Eltern wissen wollte.
Sie schaute ihre Gefährten mit einem möglichst gleichgültigen Gesichtsausdruck an und zuckte mit den Schultern.
„Nun, ich weiß zwar nicht, in was wir da hineingeraten sind, aber dass das nicht hierher gehörte, das ist uns allen, auch dir mein Kind, doch sicherlich klar…“ Der dünne Gaukler lächelte sie schmallippig an.
Er wandte sich schließlich Robert zu, der vergnügt im Sand spielte.
„Na, Sportsfreund. Du kannst mir doch sicherlich sagen, wo wir gerade eben noch waren?“
„Klar doch, Mann, bei McDonalds!“
„Ah, natürlich. Da warst du sicherlich schon häufiger gewesen, nicht wahr?“
Robert schüttelte den Kopf. „Ne, leider nicht. Meine Eltern möchten nicht, dass ich da hingehe…Die sagen, es wäre nicht gut für uns.“
Der dicke Gaukler nickte verständnisvoll.
„Das kann ich nur zu gut verstehen… Ein gefährlicher Ort, dieser Donald, so viele aggressive Menschen, sicherlich nichts für kleine Kinder…“
Er blickte Sarah an, die sich die allergrößte Mühe gab, weiterhin ein möglichst unschuldiges Gesicht zu machen.
„Also hatte ich Recht: Diese komische Einrichtung stammt aus eurer Welt“, stellte er sichtlich befriedigt fest.
„Jetzt bleibt nur noch die unbedeutende Frage, wie dieses Ding bitteschön hierher gelangen konnte!“
Sarah lächelte höflich und zuckte erneut mit den Schultern.
Kurz darauf waren sie wieder unterwegs.
Kurz bevor sie hinter der nächsten Biegung verschwanden, schaute Sarah noch einmal zurück. Nichts deutete daraufhin, dass hier eben noch ein Gebäude gestanden hatte.
Sarah merkte sehr wohl, dass sowohl der dicke Gaukler als auch sein Partner sie dabei aus dem Augenwinkel heraus genau zu beobachten schienen.
Der weitere Marsch war anstrengend und ziemlich ereignislos.
Sie waren schon wieder eine ganze Weile unterwegs. Es hatte sich ergeben, dass Sarah und der dünne Gaukler ein wenig zurückgefallen waren, während sein dicker Partner mit Robert auf den Schultern die Vorhut übernommen hatte. Sarah unterhielt sich mit ihrem Gefährten gerade über mehr oder weniger belanglose Dinge, als ihr eine Idee kam.
Sie hatte in den Tagen, in denen sie jetzt mit den beiden Gauklern unterwegs war, sehr wohl gemerkt, dass der dickere der beiden Männer ihr gegenüber deutlich zurückhaltender und reservierter auftrat als sein Partner. Jetzt, nach dem letzten Erlebnis mit dem McDonalds-Restaurant, war diese Zurückhaltung ihr gegenüber sogar einem gewissen Misstrauen und Argwohn gewichen.
Ein Gefühl, das im Übrigen durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte…
Der dünne Gaukler hingegen trat ihr gegenüber unverändert fröhlich und unbeschwert auf. Allerdings gelang es Sarah jetzt trotzdem nicht, das Gespräch auf die für sie wirklich interessanten Dinge zu lenken. Sobald das Thema auf die Besonderheiten der Welt, in der sie sich befanden oder gar auf ihr eigenes Schicksal und das ihrer Eltern zu sprechen kam, lenkte er das Gespräch sogleich geschickt in eine andere Richtung.
Und wenn sie jetzt einfach versuchen würde, ihn dazu zu zwingen, auf ihre Fragen zu antworten?
Natürlich nicht mit der Androhung von Gewalt, oder indem sie ihren „Vorteil“ als junges Mädchen ausspielte (in Tränen ausbrechen, hysterisch werden oder so ähnlich).
Nein. Es sollte einfach durch Willensanstrengung gelingen. Genau so, wie sie es vorhin noch unbewusst getan hatte, als es ihr beim Wandern so heiß geworden war.
Während sie weiterhin über das Wetter und andere unverfängliche Dinge plauderten, versuchte sie gleichzeitig ihre gesamten Gedanken auf einen einzigen Punkt zu konzentrieren. Das war gar nicht so einfach.
Sie konzentrierte sich so lange und intensiv, bis ihr ganz schwindlig wurde.
Sarah dachte schon, es würde nicht funktionieren, als ihr Gesprächspartner, der sich gerade lang und breit über den trockenen Sommer und die ebenso trockenen Winter in dieser Region ausgelassen hatte, mit einem Mal mitten im Satz zu sprechen aufhörte.
Sie konnte erkennen, dass er für einen kurzen Augenblick einen ganz eigentümlich leeren Gesichtsausdruck bekam. Dann schaute er sie wieder ganz normal an und fragte etwas erstaunt:
„Hoppla. Jetzt habe ich doch irgendwie den Faden verloren. Über was haben wir denn noch gleich gesprochen?“ Er dachte kurz nach. Bevor Sarah ihm eine „Hilfestellung“ geben konnte, sprach er allerdings schon gleich wieder weiter:
„Ah, jetzt habe ich es wieder. Muss an der Hitze liegen… Also, ihr seid nicht die ersten aus eurer Welt, die unser schönes Land besuchen!“
Sarah hielt ganz gespannt die Luft an. Würde sie gleich etwas über ihre Eltern erfahren?
„Es ist, bis auf seltene, wirklich sehr seltene, Ausnahmen, allerdings schon sehr lange her… Früher, ja da war es fast so, als herrsche ein reger Austausch zwischen uns und euch. Das war natürlich lange vor meiner Zeit, so dass ich es auch nur noch aus den Erzählungen meiner Eltern und Großeltern weiß. Und diese haben es wiederum von ihren Eltern und Großeltern erfahren. Ob alles wahr ist, was da erzählt wurde? Ich weiß es nicht. Aber es schien eine interessante und faszinierende Zeit gewesen zu sein…“
Der dünne Gaukler lächelte versonnen vor sich hin.
„Weißt du eigentlich, dass viele hier der Meinung sind, dass die Zauberer und Hexen ursprünglich alle aus eurer Welt stammen? Man behauptet, dass sie dort nicht mehr erwünscht gewesen seien, ja sogar, dass sie Verfolgungen ausgesetzt waren und schließlich fliehen mussten, wollten sie nicht getötet werden. Aber das kann ich mir eigentlich kaum vorstellen. Wer hätte denn bitteschön Interesse an einer Welt ganz ohne Zauberei und Magie?“
Sarah sah, wie ihr Gefährte fassungslos den Kopf schüttelte.
Da fiel ihr wieder ein, was sie in Jennys Dorf auf den Hinweisschildern gelesen hatte:
„Aber ich dachte, dass Zauberei hier verboten sei!“, warf sie ein.
„Nun, das gehört zu den Dingen, wo ich unseren hochverehrten und geliebten König manchmal auch nicht so recht verstehe. Es war vor vielleicht drei oder vier Jahren, als praktisch von heute auf morgen diese Verbote erlassen hat. Es heißt, dass er gleichzeitig auch so manchen seiner langjährigen Berater, allesamt große und im ganzen Land bekannte Magier, von seinem Posten entfernt hat.“
„Allerdings…. “, hier warf sich der Gaukler ein wenig in die Brust. „… dieses Verbot kennt auch ein paar Ausnahmen, und dazu gehören wir!“
„Wir sind von persönlich ausgewählt worden und sozusagen in geheimer Mission unterwegs!“ Der Mann senkte seine Stimme und blickte Sarah verschwörerisch an.
Diese wagte es kaum noch zu Atmen. Sicherlich hatte sie den Mann gleich dort, wo sie ihn haben wollte! Sie durfte jetzt bloß kein Misstrauen erwecken.
Der dünne Gaukler bückte sich und näherte sich ihrem Ohr:
„Wir haben die Aufgabe, die Grenzen unseres Landes zu sichern und nach Besuchern Ausschau zu halten…“
In dem Moment drehte sich der dicke Gaukler zu den beiden um und erfasste offenbar blitzschnell die Situation. Gleich darauf stand der beleibte Mann schon zwischen ihr und dem dünnen Gaukler.
„Na, ihr beiden! Oh, habe ich etwa euer Gespräch gestört? Das tut mir wirklich aufrichtig leid…“
Obwohl sein Tonfall freundlich klang, konnte Sarah ein bösartiges Flackern in den Augen des dicken Mannes erkennen.
„Aber ich habe da noch etwas ganz wichtiges mit meinem Freund zu besprechen, unter vier Augen sozusagen, was leider keinerlei Aufschub duldet…“
Der dicke Gaukler ließ Sarah daraufhin einfach stehen und zog seinen Partner, ihn kurzerhand am Arm packend, ein paar Meter neben sich her, bis sie weit genug von ihr zu stehen kamen, so dass sie das Gespräch zwischen den beiden Männern nicht verstehen konnte.
Der dünne Gaukler schien erst einmal überhaupt nicht zu begreifen, warum sich sein Partner so aufregte und schaute diesen nur ganz entgeistert an. Dann fasste er sich an den Kopf und sah mit einem Mal ziemlich erstaunt und fassungslos aus.
Die nächste Wegstrecke trug jetzt der dünne Gaukler Robert auf den Schultern, wobei er peinlich genau darauf zu achten schien, einen ausreichenden Abstand zu Sarah zu wahren.
Der dicke Gaukler wiederum wich Sarah fortan nicht mehr von der Seite.
Sarah ärgerte sich, dass sie vorhin nicht direkter und schneller vorgegangen war. Dann hätte sie vielleicht noch ein paar mehr Informationen aus dem Mann herausholen können.
Allerdings… Sie dachte kurz nach. Wenn es mit dem einen der beiden Gaukler funktioniert hat, warum sollte sie es jetzt nicht einfach bei dem anderen versuchen?
Wieder gab sie sich alle Mühe, ihre Wünsche und Gedanken auf einen Punkt zu konzentrieren.
Das funktioniert bei mir nicht, meine Liebe!
Was war das? Sarah fasste sich an den Kopf. Ihr war so, als hätte direkt in ihrem Inneren auf einmal eine Stimme gesprochen, ohne zuvor den Umweg über ihre Ohren genommen zu haben. Das Gefühl war ausgesprochen unangenehm gewesen.
Sie schaute zur Seite. Der dicke Gaukler nickte ihr mit einem unverkennbar bösartigen Lächeln zu und kaute derweil weiter auf einem Zahnstocher herum.
Sarah überlegte einen Augenblick lang ernsthaft, ob sie vor lauter Frust und Ärger nicht einfach irgendetwas Schreckliches herbei denken sollte: Einen Bergrutsch oder ein Unwetter vielleicht? Nach einem Blick auf ihren kleinen Bruder ließ sie den Gedanken allerdings rasch wieder fallen.
Vielleicht fand sich ja später noch eine Gelegenheit, um sich dem dünnen Gaukler, der offensichtlich „empfänglicher“ für sie war, noch einmal ungestört zu nähern…
Aber daraus sollte nichts mehr werden.
Wenig später hatten sie den Gipfel erreicht. Auch wenn dieser genauso kahl und eintönig war wie die bisherige Umgebung, wehte hier oben wenigstens endlich ein kühler Wind, der ihnen allen ein wenig Abkühlung brachte.
Schweigend blickten sie alle auf die vor ihnen liegende Gebirgskette, die bereits bedeutend niedriger war. Man konnte in der Ferne die Fortsetzung ihres Wegs erkennen, wie er sich in engen Serpentinen das Tal hinab- und den nächsten Berghang wieder hinauf wand.
Es dürfte trotz allem sicherlich noch ein weiter Weg für sie sein.
Obwohl Robert auf den Schultern der beiden Gaukler immer wieder einnickte, kam es zu keinen weiteren ungewöhnlichen Ereignissen mehr. Aus den geflüsterten Gesprächen der beiden Gaukler entnahm Sarah, dass sich diese das auch nicht so recht erklären konnten.
„… nur noch ein ganz gewöhnliches Gebirge, ohne die kleinste Spur von Magie…“, hörte Sarah den dünnen Gaukler sprechen, bevor ihn ein scharfer Blick seines dicken Gefährten zum Verstummen brachte. Auch wenn die beiden Männer daraufhin das Thema wechselten, merkte Sarah, wie erleichtert die beiden waren.
„Ich denke, wir müssen wohl kein wachsames Auge mehr auf deinen kleinen Bruder haben…“, sprach schließlich der dicke Gaukler zu ihr und nickte zufrieden.
Sarah wusste genau, dass der Mann sicherlich nicht unbedingt nur Robert gemeint hatte. Aber sie ließ sich nichts anmerken.
Nach mehreren erfolglosen Versuchen gab sie es wenig später schließlich auf, eine kleine handliche Gewitterwolke „herbeizudenken“, die sie dann über dem Kopf des dicken Gauklers abregnen lassen wollte.
Die Männer hatten mit ihrer Vermutung wohl Recht gehabt.
10
Schließlich erreichten sie nach einem beschwerlichen Abstieg über den zuletzt durch das Dickicht und das herumliegende Geröll kaum noch als solchen erkennbaren Weg ihren Schlafplatz für die nächste Nacht.
Das Tageslicht war in den letzten Minuten immer schwächer geworden, so dass Sarah mehr als einmal über größere Geröllsteine gestolpert war und sich dabei die Fußknöchel blutig gestoßen hatte. Zwischen den rasch vorbeiziehenden Wolken war jetzt manchmal für einen kurzen Augenblick bereits die blasse schmale Sichel des Mondes zu sehen.
Mit einem tiefen Seufzer der Erschöpfung ließ sich der dicke Gaukler nieder und lud die anderen mit einer müden Handbewegung dazu ein, es ihm gleichzutun. Er setzte Robert ab, den er die letzte Stunde über getragen hatte.
Sarah setzte sich auf das weiche dünne Gras, das hier den Boden bedeckte und lehnte sich mit dem Rücken an einen glatten Felsen. Sie war todmüde und fast augenblicklich, nachdem sie es sich einigermaßen bequem gemacht hatte, drohten ihr auch schon die Augen zuzufallen. Obwohl sie fast genauso hungrig wie müde war, brachte sie es nicht fertig etwas von ihren Vorräten zu essen. Sie lehnte sogar das Angebot des dünnen Gauklers dankend ab, ihr noch rasch eine Suppe oder einen Tee am Lagerfeuer zu bereiten.
Bereits im Einschlafen fragte sie sich, warum es die beiden Gaukler zuletzt so furchtbar eilig gehabt hatten. Gerade der dicke Gaukler hatte seine Gefährten den ganzen Tag schon immer wieder zur Eile angetrieben und war ihr dabei zunehmend nervös und ungeduldig erschienen.
Sarah schlang fröstelnd ihre Decke fester um sich. Das Gras, auf dem sie lag, wurde allmählich feucht. Bevor sie die Augen zumachte, sah sie noch, wie es zu allem Überfluss auch noch nebelig zu werden begann. Na, das würde ja eine gemütliche Nacht werden…
Trotzdem war sie bereits nach wenigen Minuten eingeschlafen. Dann wachte sie aber wieder auf, ohne genau sagen zu können warum. Sie hatte irgendetwas geträumt, konnte sich aber nach dem Erwachen an nichts mehr erinnern. Um sie herum war es ganz still.
Wie es manchmal so war, wenn man mitten in der Nacht aufwachte, fing sie an, über alles Mögliche nachzudenken. Nach kurzer Zeit war Sarahs Müdigkeit wie weggeblasen, auch wenn sie eigentlich gleichzeitig so erschöpft war, wie selten jemals zuvor in ihrem Leben.
Sie lag eine ganze Weile grübelnd da. Fragen über Fragen. Wenn sie so weiter machte, konnte sie den Schlaf für heute Nacht mit Sicherheit vergessen!
Wenigstens sah es nicht nach Regen aus. Kalt genug war es so ohnehin schon. Die Decke wärmte sie heute nicht sonderlich gut.
Gerade als sie fast schon wieder eingeschlummert war, merkte sie, dass sie mal musste. Sie unterdrückte ärgerlich einen Fluch. Jetzt war sie wirklich zu munter, um wieder einschlafen zu können!
Sie erhob sich. Am Lagerfeuer, das ein paar Meter entfernt von ihr brannte, konnte sie die beiden Männer liegen sehen. Robert, der sich neben ihr fest in seine Decke eingerollt hatte, schlief offensichtlich tief und fest. Sarah war wieder aufs Neue erstaunt, wie gut der kleine Kerl das Ganze wegsteckte. Es war ja nicht nur die Trennung von ihren Eltern, sondern auch der anstrengende Marsch, auch wenn er den größten Teil der Strecke getragen wurde. Sie für ihren Teil merkte die Strapazen der letzten Tage ganz schön…
Sie schlang ihre warme Wolldecke fest um sich, als sie vorsichtig von ihrem Lagerplatz in Richtung der nächstgelegenen Felsen verschwand. Sie bemühte sich, nicht allzu viele Geräusche zu machen, um niemanden unnötig aufzuwecken.
Sarah war gerade fertig, als sie in der Nähe ein Geräusch vernahm. Hinter dem Felsen versteckt, konnte sie den dicken Gaukler sehen, der gerade mit ein paar Holzscheiten wieder zum Lagerfeuer zurückging, wobei er sich mit der Vermeidung von Geräuschen nicht unbedingt allzu viel Mühe gab. Nun ja, dachte sich Sarah, bei dem Gewicht war es sicherlich auch ganz schön schwer, einigermaßen leise und unauffällig durchs Leben zu marschieren…
Sie ging ihrem Gefährten hinterher und hatte den Lagerplatz schon fast erreicht, als sie hörte, wie sich die beiden Männer leise miteinander unterhielten.
Sarah verspürte mit einem Mal das Bedürfnis, die Gaukler bei ihrem Gespräch zu belauschen. Sie wusste zwar, dass das nicht unbedingt die feine Art war, aber andererseits war sie sich sicher, daß die beiden ihr irgendetwas verheimlichen.
Rasch entschied sie sich für einen anderen Weg zurück zu ihrem Lagerplatz. Sie hatte einen größeren Felsen ins Auge gefasst, der direkt hinter den beiden Männern lag, die jetzt am Feuer saßen und rauchten. Er war groß genug, dass sie sich bequem dahinter verstecken konnte.
Kurz darauf kauerte sie auch schon hinter dem großen Steinbrocken. Die beiden Männer hatten von ihrer plötzlichen Anwesenheit offensichtlich nichts mitbekommen.
Sarah spitzte die Ohren.
„…rechtzeitig zu unserem Treffen kommen.“ Der dicke Mann, der zuletzt gesprochen hatte, zündete sich eine neue Zigarre an und blickte dann eine ganze Weile gedankenverloren in die Glut des Lagerfeuers. Sarah überlegte schon, ob sie sich nicht lieber wieder rasch in ihr warmes Lager zurück schleichen sollte, als der dünne Gaukler das Wort ergriff:
„Wenn wir die beiden endlich los sind, werden wir erst mal eine Weile verschwinden. Zumindest sollten wir uns in diesem Teil des Landes eine ganze Zeit nicht mehr blicken lassen…“
„Denkst du, dass die beiden irgendetwas gemerkt haben? Der Junge sicherlich nicht, aber bei dem Mädchen bin ich mir nicht sicher… Sie scheint ziemlich aufgeweckt zu sein und stellt eine ganze Menge Fragen. Man muss wirklich höllisch aufpassen, nicht zu viel zu sagen…Trotzdem, ganz wohl ist mir bei der ganzen Sache nicht. Die beiden sind mir schon ein wenig ans Herz gewachsen…“
Der dicke Gaukler hob den Kopf. Sarah, die den Atem angehalten hatte, konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, da er mit dem Rücken zu ihr saß. Aber seine Stimme klang jetzt spöttisch und etwas verärgert. Gleichzeitig meinte sie aber auch, etwas anderes herauszuhören. Angst vielleicht? Sie war sich nicht sicher.
„Jetzt werde bloß nicht auf deine alten Tage hin noch sentimental! Soll ich dir mal aufzählen wen wir in den letzten Jahren so alles bei unserem großen Herrn und Meister abgeliefert haben? Wenn wir uns bisher keine größeren Gewissensbisse gemacht haben, dann soll es uns auch jetzt recht sein.“
Er stocherte mit einem Zweig in der Glut herum, bevor er weiter sprach. „Außerdem, denke an die Belohnung, die uns winkt!“
Der dünne Gaukler erwiderte nichts darauf.
Nach einem kurzen Moment des Schweigens, fügte er noch leise und etwas nachdenklicher hinzu:
„Den beiden wird schon nichts Schlimmes geschehen. Meine Güte, es sind doch noch Kinder! Er wird sie sich zwar irgendwie zu Nutze machen, gewiss… Gerade das Mädchen scheint tatsächlich eine echte Begabung zu haben. Ich frage mich wirklich, was er im Schilde führt… Erst die Eltern der beiden und dann die Kinder… Nun, morgen in der Stadt werden wir sicher mehr erfahren…“
Sarah merkte, wie es ihr ganz schwindlig wurde. Sie hatte also recht gehabt mit ihrem Verdacht… Was sollte sie jetzt um Himmels Willen bloß machen? Ein Gefühl der Verzweiflung und der Einsamkeit drohte sie zu überwältigen.
Schließlich riss sie sich zusammen. Das Beste würde es sein, wenn sie sich wieder möglichst unauffällig zu ihrem Schlafsack begeben würde. Morgen in aller Früh würde sie dann ihren kleinen Bruder aufwecken und sich mit ihm davonschleichen.
Die Männer schwiegen jetzt, so dass sie ganz vorsichtig um die Ecke des Felsens schaute. Beide Gaukler hatten sich wieder in ihre Decken gehüllt und hingelegt. Dummerweise lagen sie jetzt so, dass ihr der Rückweg zu ihrem Schlafplatz abgeschnitten wurde. Zumindest lief sie Gefahr, gesehen zu werden, wenn sie den gleichen Weg wieder einschlug.
So beschloss sie, sich ihrem Schlafsack lieber von hinten zu nähern. Dazu musste sie allerdings in einem weiten Kreis um die Felsen herum gehen. Ihre Augen hatten sich zwar recht gut an die Dunkelheit gewöhnt, aber es war eine besonders dunkle Nacht, so dass sie sehr aufpassen musste, um nicht zu stolpern oder auszurutschen. Nicht nur das Gras war recht feucht, sondern auch die Oberfläche der Steine, die dadurch ziemlich glatt und schlüpfrig geworden waren.
Nach wenigen Metern kam sie an eine Stelle, an der es auf der einen Seite ziemlich in die Tiefe ging, während sich auf der anderen Seite eine mehrere Meter hohe Felswand erhob. Hier gab es nur einen schmalen Absatz, den sie jetzt mit angehaltenem Atem, Schritt für Schritt, vorsichtig entlang ging. Sarah konzentrierte sich auf ihre Fußspitzen und vermied es dabei tunlichst, in den Abgrund zu schauen.
Schließlich sie es fast geschafft. Der Absatz wurde bereits etwas breiter und es ging auf der einen Seite auch nicht mehr ganz so steil nach unten. Sarah gestattete sich eine kurze Pause, bis sich ihr Puls wieder halbwegs normalisiert hatte.
Sie war gerade wieder ein paar Schritte weitergegangen, als sie plötzlich ein Geräusch hörte. Erschrocken drehte sie sich um. Dabei rutschte sie mit dem einen Schuh auf der glatten Oberfläche des Felsens aus. Vergeblich versuchte sie, sich an der Felswand festzuhalten, dann glitt ihr auch der andere Fuß aus.
Sich mehrfach überschlagend, kugelte sie den Abhang hinunter, wobei sie immer wieder schmerzhaft gegen irgendwelche Steine und Felsvorsprünge prallte. Schließlich wurde ihre unfreiwillige Rutschpartie durch die Äste eines Busches gebremst, der hier am Felsen sein kärgliches Dasein fristete. Sarah hatte es schon fast geschafft, sich wieder aufzurichten, als der Ast, auf den sie gerade den größten Teil ihres Gewichtes verlagert hatte, plötzlich nachgab und mit einem hässlichen Geräusch abbrach.
Sarah, ihrer einzigen Stütze beraubt, kippte mit einem spitzen Aufschrei nach hinten über und fiel in die Tiefe.
Das letzte, was sie wahrnahm, war ein dumpfer Schlag gegen ihre Stirn.
Dann wurde es schwarz vor ihren Augen.
11
Irgendetwas kitzelte sie an der Stirn. Ohne die Augen zu öffnen, hob Sarah ihren linken Arm und wischte sich unwillig mit der Hand über das Gesicht. Das Jucken machte sie fast wahnsinnig, so dass sie schließlich doch einen Versuch unternahm, ihre Augen zu öffnen, auch wenn ihr das seltsamer Weise ganz furchtbar schwer viel. Irgendwie schien ihr Kopf größer geworden zu sein. Zumindest fühlte er sich an wie eine riesig große Glocke. Dazu passte im Übrigen auch das dumpfe Dröhnen, das ihren Kopf bis in den entlegensten Winkel zu erfüllen schien und sie dabei hartnäckig am Nachdenken hinderte.
Als sie die Augen endlich einen Spalt weit geöffnet hatte, wurde sie erst einmal vom Sonnenlicht geblendet. In das grelle Licht blinzelnd, stellte sie fest, dass es sich bei dem kitzelnden Störenfried um einen langen Grashalm handelte, der ihr ins Gesicht hing.
Sarah drehte ihren Kopf ein wenig zur Seite. Sie lag am Fuße eines Felsens im weichen Gras, halb unter einem Busch.
So, das wäre also geklärt.
Aber, warum lag sie da?
Sie versuchte krampfhaft, sich zu erinnern. Das war gar nicht so einfach, da sie ganz furchtbare Kopfschmerzen hatte. Nach und nach kamen wieder einzelne Erinnerungsfetzen zurück. Sie war irgendwo heruntergestürzt. Unwillkürlich fasste sie sich an den Kopf, wo sie tatsächlich eine gewaltige Beule ertasten konnte. Irgendetwas Klebriges war jetzt an ihren Fingern. Sie hielt sich die Hand vor die Augen und konnte erkennen, dass diese voller Blut war.
Mit einem Mal kam die ganze Erinnerung an die letzte Nacht zurück.
Der Betrug der zwei Männer, denen sie sich und Robert anvertraut hatte. Und das für heute geplante Treffen mit dem unbekannten Auftraggeber der beiden.
Sarah blickte nach oben. Die Sonne stand schon relativ weit oben am Himmel. Folglich war es sicherlich schon mindestens später Vormittag. Sie zuckte vor Schreck zusammen, als ihr der Gedanke kam, dass die Männer womöglich bereits weiter gezogen waren und dabei auch ihren kleinen Bruder mitgenommen hatten.
Aber vielleicht suchten sie ja noch nach ihr.
Sie überlegte kurz. Trotz allem wäre es wohl doch das Beste für sie, von den Männern wiedergefunden zu werden. Sie konnte sich ja eine halbwegs glaubhafte Geschichte ausdenken. Zum Beispiel, dass sie mal musste und sich auf dem Rückweg verlaufen hatte. Sie brauchte ihnen ja nicht gleich auf die Nase zu binden, dass sie ihr verräterisches Gespräch belauscht hatte…
Das Schlimmste wäre es auf jeden Fall, jetzt von ihrem kleinen Bruder getrennt zu werden!
Sie richtete sich mühsam auf. Wenigstens konnte sie alles noch bewegen. Natürlich hatte sie sich zahlreiche Schürfwunden zugezogen. Sie blickte an sich herab. Die Hose war ziemlich zerfetzt, genau wie ihr Hemd.
Nach einer kurzen Atempause versuchte sie dann vorsichtig, ein paar Schritte zu laufen. Fast sofort überkam sie ein scheußlicher Schwindel und ihr wurde ganz hundeelend. Schließlich musste sich mehrmals übergeben. Dann ging es ihr wieder etwas besser.
Nach einer Weile versuchte sie es noch einmal mit dem Gehen. Diesmal klappte es recht gut, auch wenn sie sich noch reichlich unsicher auf den Beinen fühlte.
Sarah humpelte ein Stück am Felsen entlang, ohne dass sie eine Möglichkeit sah, wieder nach oben zu gelangen. Schließlich beschloss sie, laut um Hilfe zu rufen.
Einige Zeit später gab sie es wieder auf. Sie hatte keine Antwort bekommen. Sicherlich suchten sie an einer anderen Stelle nach ihr oder warteten oben am Rastplatz der letzten Nacht auf sie.
Es half also nichts, sie musste einen Weg finden, der sie wieder herauf führte.
Schließlich kam sie an eine Stelle, wo der Abhang nicht ganz so steil war.
An einem kleinen Wasserloch wusch sie sich erst einmal mit den Händen das ganze Blut aus dem Gesicht und kühlte sich den rechten Fußknöchel, den sie sich verstaucht haben musste.
Nach der kurzen Rast fühlte sie sich wieder einigermaßen erholt, um den Aufstieg zu wagen. Auf allen vieren krabbelte Sarah den Hang hinauf, was eine ganze Weile in Anspruch nahm. Als sie ihn schließlich bewältigt hatte, stand die Sonne schon ganz oben am Himmel.
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie den Rastplatz der vorigen Nacht wieder gefunden hatte. Bedrückt betrachtete sie das mittlerweile erloschene Lagerfeuer. Man konnte am niedergedrückten Gras die Stellen erkennen, an denen zuvor die Schlafsäcke gelegen haben mussten.
Von den beiden Gauklern und von ihrem kleinen Bruder fand sich keine Spur mehr.
12
Sie hatte versagt! Erst hatte sie ihre Eltern verloren und war nicht fähig gewesen, diese wiederzufinden. Und jetzt war sie auch noch von ihrem kleinen Bruder getrennt worden, für den sie, als große Schwester, die Verantwortung übernommen hatte…
Sarah hätte später nicht zu sagen vermocht, wie lange sie einfach dagestanden hatte, um auf den verlassenen Lagerplatz starrte. Schließlich schaffte sie es, sich aus ihrer Lähmung zu lösen. Sie durfte keine weitere Zeit mehr verlieren. Wer weiß, über wie viel Vorsprung die Männer, die ihren Robert mitgenommen hatten, mittlerweile schon verfügten. Sicherlich waren sie gleich nach Sonnenaufgang noch eine Weile damit beschäftigt gewesen, nach ihr zu suchen. Trotzdem dürften ihnen einige Stunden verblieben sein, in denen sie wer weiß wie weit gekommen sein konnten.
Sie schaute sich ein letztes Mal am Rastplatz um. Natürlich hatten ihre Gefährten bei ihrem Aufbruch auch Sarahs Schlafsack und den Rucksack mitgenommen, so dass sie jetzt ohne Vorräte und ohne Kleidung zum Wechseln dastand.
Bevor sie aufbrach ging Sarah noch einmal an die Stelle, wo ihr gestern das Unglück passiert war. Sie sah, dass sie trotz allem gewaltiges Glück in ihrem Unglück gehabt hatte. Wenn sie nur ein wenig früher oder später ausgerutscht wäre, hätte sie eine Stelle erwischt, an der es bedeutend steiler in die Tiefe gegangen wäre. Der Sturz wäre dann mit Sicherheit nicht so glimpflich abgelaufen, wenn sie ihn überhaupt überlebt hätte…
Eine zweite Sache stach ihr ebenfalls sofort ins Auge: Von hier oben aus hatte ein Betrachter nicht die geringste Chance, die Stelle einzusehen, wo sie nach ihrem Sturz schließlich zum Liegen gekommen war. Die Gaukler hatten sie also mit Sicherheit nicht sehen können.
Sarah fand den Weg problemlos wieder und folgte ihm weiter bergab. Immer wieder hielt sie Ausschau nach den Männern und ihrem Bruder, allerdings jedes Mal ohne Erfolg. Waren sie tatsächlich so schnell vorangekommen oder hatten sie womöglich einen anderen Weg genommen? Sie wusste es nicht. Es blieb ihr letztlich auch gar keine andere Wahl, als dem Pfad weiter zu folgen.
Wenigstens kam sie irgendwann an einem kleinen Bach vorbei, an dem sie ihren quälenden Durst stillen konnte. Sie stürzte sich gierig auf das kühle Nass. Dumm, dass sie keinerlei Gefäße besaß, um etwas Wasser als Vorrat mitnehmen können. Daran, dass sie irgendwann auch etwas zu Essen brauchen würde versuchte sie erst gar nicht zu denken…
Je tiefer sie kam, desto wärmer wurde es wieder. Zum Schutz vor der sengenden Sonne band sich Sarah ein Hemd um die Stirn.
Irgendwann sah sie am Horizont eine schmale Rauchsäule zum Himmel aufsteigen. Nicht viel später stand Sarah vor den Resten eines kleinen Lagerfeuers. Leider hatte sie keinerlei Vorstellungen darüber, wie lange es her sein mochte, dass jemand davor gesessen hatte. Da hätte sie schon einer der pfiffigen Indianer sein müssen, wie sie ihn aus ihren Büchern kannte.
Wenigstens war sie sich jetzt wieder sicher, dass sie sich auf der richtigen Fährte befand!
Nur dumm, dass es jetzt merklich dunkler zu werden begann…
Obwohl sie mittlerweile völlig erschöpft war, beschloss Sarah weiter zu gehen. Das war schließlich ihre einzige Chance, den Vorsprung der Gaukler vielleicht wieder aufzuholen.
Später kam sie an eine Stelle, die ihr erstmals einen Blick auf die Gegend hinter dem Bergmassiv ermöglichte.
Die Landschaft, die vor ihr lag, war ziemlich flach und grün. Am Fuße des Berges konnte sie das breite Band eines Flusses erkennen. Hier und da glitzerten auch kleine Teiche oder Seen im Licht der untergehenden Sonne. Diese stand jetzt schon so tief, dass sich der Himmels bereits rosa zu verfärben begann.
Allzu viel Zeit blieb ihr also nicht bis zum Einbruch der Nacht.
Sarah kniff die Augen zusammen, um etwas besser sehen zu können. Ganz in der Ferne meinte sie schließlich etwas ausmachen zu können, bei dem es sich um eine Stadt handeln könnte. Leider blendete sie die Sonne, so dass sie sich nicht ganz sicher war.
War es die Stadt, die die Gaukler aufsuchen wollten?
Sie mobilisierte ihre letzten Kräfte und marschierte weiter. Der Weg führte jetzt zunehmend steiler nach unten, und Sarah rutschte mehr als einmal auf irgendwelchen lose herumliegenden Steinen aus. Dafür wurde die Landschaft um sie herum allmählich etwas freundlicher. Überall wuchs jetzt Gras, und die Büsche und die kleinen Bäume am Wegesrand waren nicht mehr ganz so verdorrt.
Als Sarah schließlich den Fuß des Berges erreicht hatte, konnte sie ihre Beine kaum noch spüren. Sie wagte es aber nicht, sich zu einer kleinen Rast niederzulassen, weil sie genau wusste, dass sie dann sicherlich nicht mehr hochkommen würde. So stolperte sie auf ihren schmerzenden Füßen weiter in die zunehmende Dunkelheit hinein.
Schließlich lief der Weg durch einen dichten Wald aus übermannshohen Schilfpflanzen. Sicherlich näherte sie sich jetzt dem Fluss, den sie von oben gesehen hatte. Es wurde immer feuchter und schwüler. Das, was von ihrem Hemd und der Hose nach ihrem Sturz übrig war, klebte ihr unangenehm am Leib. Das schlimmste waren aber die vielen lästigen Fliegen, die sie unaufhörlich umschwirrten und sich überall dort, wo sie nackte Haut sahen, niederließen.
Kaum hatte sie ein paar von den Plagegeistern verscheucht, als schon die nächste Staffel im Anflug war. Wenn sie so richtig darüber nachdachte, konnte sie die Fliegen durchaus verstehen. Wann hatte sie zuletzt die Kleidung gewechselt, geschweige denn sich richtig gewaschen? Das musste bereits Tage her sein… Ihr Körpergeruch war mit Sicherheit nicht gerade unbedingt das, was man als gesellschaftsfähig bezeichnen würde. Sie hatte sich schon früher, wenn sie im Fernsehen irgendwelche Abenteuerfilme oder Western angesehen hatte, immer wieder gefragt, wie ihre „Helden“ denn bitteschön bei ihren ganzen Abenteuern so duften mochten. Zumindest verschwiegen es die Filme hartnäckig, wo und wann sich Indianer Jones und Co. denn frisch machten und ihre Klamotten wechseln. Und aufs Klo mussten sie scheinbar auch nie…
Nachdem es in den Bergen, bis auf das Rauschen des ständigen Windes natürlich, eigentlich immer sehr still gewesen war, konnte sie jetzt alle möglichen Geräusche vernehmen: Das Rascheln des Schilfes, das Plätschern von irgendwelchen, für sie allerdings unsichtbaren, Wasservögeln und viele andere unbekannte Laute.
In der rasch hereinbrechenden Dunkelheit wurde ihr all das zunehmend unheimlich. Was wusste sie denn, ob hier nicht vielleicht auch irgendwelche Tiere lebten, die für sie gefährlich werden konnten? Krokodile vielleicht? Schlangen?
… oder Spinnen?
Wer konnte schon wissen, was sie da gerade in diesem Moment womöglich alles beobachtete, durch das dichte Schilf am Wegesrand getarnt?
Vielleicht war es ja auch das Beste, sie wusste es nicht…
Plötzlich und ganz unverhofft hatte sie wenig später das unheimliche Dickicht hinter sich gelassen und fand sich direkt am schmalen sandigen Ufer des Flusses stehend wieder.
Trotz der zunehmenden Dunkelheit konnte sie rasch feststellen, dass sich außer ihr niemand mehr am Ufer befand. Vorsichtig trat sie aus dem schützenden Schilf hervor. Eine Brücke konnte sie nirgends entdecken, auf der die Gaukler den Fluss hätten überqueren können.
Allerdings erkannte Sarah jetzt direkt zu ihren Füßen Schleifspuren auf dem Boden. Es sah aus, als wenn dort erst kürzlich ein großer Gegenstand ins Wasser gezogen worden wäre.
Als die Wolkendecke aufriss erhellte der Mond das gegenüberliegende Ufer: Sarah konnte ein Boot erkennen, das dort, halb vom Schilf verdeckt, am Ufer lag.
Es war gar nicht einmal so weit von ihr entfernt aber dennoch unerreichbar für sie…
Sarah sah ein, dass es an Selbstmord grenzen würde, versuchte sie, jetzt in der Dunkelheit an das andere Ufer zu schwimmen. Die Strömung des Flusses schien nicht gerade gering zu sein.
Völlig erschöpft und ziemlich frustriert, ließ sie sich dort, wo sie gerade stand, zu Boden fallen. Keinen Schritt würde sie mehr laufen können… Ihr war mit einem Mal alles völlig egal.
Alles, was sie jetzt brauchte war Schlaf, ganz viel Schlaf…
13
Als Sarah am nächsten Morgen erwachte, fiel es ihr schwer, sich zu erheben, so steif waren ihre Gelenke. Kein Wunder. Sie hatte gestern sicherlich ihren bisherigen persönlichen Rekord im Dauerwandern ohne Nahrungsaufnahme aufgestellt. Auch jetzt sah es, wenn sie sich so umschaute, mit dem Frühstück ziemlich mau aus.
Sarah ging die paar Schritte zum Ufer hinab, wo sie gestern die Schleifspuren am Boden entdeckt hatte. Auf der anderen Flussseite lag das Holzboot. Sie hatte sich gestern in der Dunkelheit also nicht getäuscht. An einem gerade vorbei treibenden dicken Ast konnte sie erkennen, dass tatsächlich eine recht starke Strömung herrschen musste.
Es blieb ihr aber trotzdem nichts anderes übrig, als den Fluss watend oder schwimmend zu durchqueren.
Sarah setzte sich ans Ufer. Sie war enttäuscht und fühlte sich unsagbar einsam. Die beiden Gaukler mit ihrem kleinen Bruder konnten jetzt bereits sonst wo sein. Sie hatte aber auch viel zu lange geschlafen. Andererseits hatte sie den Schlaf bitter nötig gehabt.
Sie merkte, wie ihr vor lauter Hunger mittlerweile der Magen wehtat. Und Durst hatte sie auch. Sie warf alle Vorsicht über Bord und trank von dem Wasser aus dem Fluss. Es war herrlich kühl und unglaublich erfrischend. Bei ihr zu Hause wäre sie mit Sicherheit niemals auf die Idee gekommen, aus irgendeinem Fluss zu trinken. Bei den ganzen Fabriken und der Umweltverschmutzung...
Dann zog sie sich bis auf die Unterwäsche aus und knotete ihre Klamotten zu einem dicken Knäuel zusammen, den sie sich schließlich wie einen Turban auf den Kopf setzte.
Vorsichtig ging sie ins Wasser. Sie war schon ein Stück vom Ufer entfernt, als sie mit einem Mal den Boden unter den Füßen verlor. Hustend tauchte sie einen Augenblick später wieder auf. Vor Schreck hatte sie eine ordentliche Portion Wasser verschluckt. Sie war in ein tiefes Loch getreten. Dahinter war es dann wieder so flach, dass sie erneut laufen konnte.
Dann wurde es jedoch allmählich immer tiefer, so dass Sarah schließlich doch noch schwimmen musste. Wenigstens war sie eine gute und sichere Schwimmerin.
Jetzt musste sie allerdings feststellen, dass sie die Kraft der Flussströmung unterschätzt hatte. Als sie schließlich völlig erschöpft am anderen Ufer angekommen war, sah sie, dass sie ein ganzes Stück von der Stelle abgetrieben worden war, an der das Boot am Ufer lag.
Da kein hier kein Weg erkennbar war, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich selbst einen Pfad durch das dichte Gestrüpp zu bahnen.
Nachdem ihre Kleidung wieder halbwegs getrocknet war, brach sie auf.
Es war nicht gerade einfach, sich durch das dichte Pflanzengewirr zu arbeiten. Immer wieder blieb sie mit den Füßen in irgendwelchen Schlingen oder Wurzeln hängen. Außerdem war es nahezu unmöglich, die einmal eingeschlagene Richtung sicher einzuhalten. Dann wieder stand Sarah vor einer undurchdringlichen grünen Blätterwand oder vor einer sumpfigen Stelle, die sie sich nicht zu überqueren traute.
Dazu kam eine fast unerträglich schwüle Hitze. Sarah war noch nie in einem tropischen Land gewesen, aber genau so hatte sie es sich in ihrer Phantasie eigentlich immer vorgestellt. Ob es hier nicht doch wilde Tiere gab?
Zum ersten Mal auf ihrer Flucht durch dieses seltsame Land, kam ihr der Gedanke, dass sie vielleicht nicht nur nie wieder in ihre alte Welt zurückfinden würde, sondern, dass ihre Reise womöglich schon hier, in diesem feuchten grünen Labyrinth, enden könnte.
Glücklicherweise wurde das Dickicht um sie herum bald etwas lichter. Dummerweise wurde sie dadurch ein wenig unaufmerksamer und achtete nicht mehr so sehr darauf, wohin sie ihre Füße setzte.
So machte es plötzlich ein feuchtes quatschendes Geräusch, und sie stand erst mit dem einen und dann mit dem anderen Fuß im Sumpf.
Voller Schrecken merkte sie gleich darauf, dass sie immer tiefer in dem morastigen Boden zu versinken drohte. Bevor sie vollends in Panik geriet, bekam sie glücklicherweise einen dicken Ast zu fassen, der direkt über ihrem Kopf hing.
Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung schaffte sie es schließlich, sich aus dem Sumpfloch herauszuziehen.
Als sie kurz darauf wieder glücklich auf festem Boden saß, stellte sie allerdings fest, dass sie ihren rechten Stiefel im Sumpf verloren hatte. Da half ihr der linke Schuh auch nicht viel weiter, so dass sie ihn kurzerhand fortwarf.
Sie war zwar schon immer recht gerne barfuß gelaufen, aber so ganz ohne Schuhe durch das Dickicht zu laufen war ganz schön schmerzhaft, wie sie schon bald feststellen musste. Wenigstens war der Boden jetzt wieder trocken, und der Schilfwald wich immer mehr einem ganz normalen lichten Wald mit Laub- und Nadelbäumen.
Begeistert blieb Sarah schließlich vor einem Strauch stehen, der voller reifer Brombeeren hing! Gierig stopfte sie sich mit beiden Händen den Mund voll und hörte erst wieder auf, als ihr Bauch bedenklich zu gluckern anfing.
Schließlich stieß sie auf einen Weg. Auch wenn sie nicht wusste, ob es der richtige war, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
Es dauerte nicht mehr lange, und sie stand auf einem flachen Hügel, von dem aus sie auf ein kleines Dorf herabblicken konnte. Dieses bestand zwar nur aus einer guten Handvoll Häusern, aber immerhin. Außerdem konnte Sarah erkennen, dass das Dorf offensichtlich an einer Straßenkreuzung lag. Der Weg, den sie bisher gegangen war, endete dort an einer bedeutend breiteren Straße. Auf dieser konnte sie sogar einige Fuhrwerke erkennen, die von Pferden oder Ochsen gezogen wurden. Dazwischen waren auch vereinzelt Reiter auf ihren schnellen Pferden zu sehen.
Sie war wirklich in einer Welt gelandet, die auf den ersten Blick wie aus einem Bilderbuch über das Mittelalter zu stammen schien. Hier sah sie eine Mühle, dessen Mühlrad von einem kleinen Bach angetrieben wurde und vor der zahlreiche Säcke mit Getreide darauf warteten, gemahlen zu werden. Dort war eine Werkstatt, aus der hämmernde Geräusche ertönten, die Arbeitsstätte eines Schmiedes vielleicht. Wie um die Idylle perfekt zu machen, trieb weiter hinten ein Mann eine Herde von wolligen Schafen über die Wiese. Zwei große schwarze Hunde sprangen dabei um die Schafe herum und achteten darauf, dass die Tiere auch brav zusammenblieben.
Als Sarah in das Dorf hinab stieg, empfand sie plötzlich Hemmungen, jemandem zu begegnen, da sie so verlumpt aussah. Sie hatte sich zwar vorhin im eiskalten Wasser eines Waldsees noch einmal etwas gewaschen, aber ob ein sauberer Landstreicher hier so viel besser gelitten war als ein dreckiger?
Die erste Begegnung, die sie in dem Dorf hatte, bestätigte ihre Befürchtungen: Eine jüngere Frau, die vor ihrem Häuschen gerade frisch gewaschene Wäsche auf eine Leine hing, ließ sie erst gar nicht zu Wort kommen, sondern scheuchte sie sogleich davon.
„Sieh zu, dass du weiter kommst, Mädchen. Wir haben selber gerade genug zum Überleben…“ Daraufhin verschwand sie in ihrem Haus, ohne sich noch einmal nach Sarah umzusehen, die wie ein begossener Pudel auf der Straße stehen geblieben war.
Ähnliches widerfuhr ihr vor einem der nächsten Häuser, wo eine beleibte Bauersfrau sogleich die Haustür zuwarf, als sie das zerlumpte Mädchen vor ihrem Gartentor sah.
Mit hängenden Schultern lief Sarah weiter. Sie war den Tränen nah, als sie plötzlich von jemandem angesprochen wurde.
„Es sind schwere Zeiten für uns alle, meine Kleine. Du darfst den Menschen hier im Dorf nicht böse sein…“
Es war eine ältere Frau, die eine Kittelschürze trug und sie mitleidig anblickte. Schließlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.
„Warte hier auf mich, Mädchen. Will doch mal sehen, ob ich nicht eine Kleinigkeit für dich auftreiben kann. Du hast doch sicherlich Hunger, oder?“
Sarah nickte verschämt und wartete vor dem Hoftor, bis die freundliche Frau wiederkam.
Als diese kurz darauf wiederkam trug sie ein großes Stück Brot und eine Handvoll Äpfel in den Armen.
Sarah nahm die Gaben dankbar entgegen und biss sogleich in das Brot. Sie konnte sich kaum daran erinnern, jemals etwas so gutes gegessen zu haben.
Als sich die Frau mit einem Kopfnicken wieder abwenden wollte, nahm Sarah all ihren Mut zusammen und fragte sie, ob hier zwei Männer mit einem Jungen vorbeigekommen waren.
Der Blick der Frau wurde misstrauisch und sie schaute Sarah erst einmal prüfend an, bevor sie zu einer Antwort ansetzte.
„Du müsstest es selber wissen, meine Kleine: Es ist besser, wenn man Fremde nicht weiter beachtet. Besonders, wenn es sich um so vornehme Herrschaften handelt… Ja, es sind tatsächlich zwei Männer hier entlang gegangen. Von dem Jungen habe ich allerdings nichts gesehen. Einen großen Beutel voller Gold hatten sie dabei und behaupteten, Pferde und nach Möglichkeit eine Kutsche kaufen zu wollen…“
Die Frau schüttelte mit dem Kopf.
„Ich habe sie zu dem einzigen Pferdehändler des Dorfes weitergeschickt. Er würde für Geld alles tun. Ich für meinen Teil will in Frieden gelassen werden… Ich mache mir nichts aus Reichtum. Es war sicherlich kein ehrlich erworbenes Gold, darauf würde ich wetten…“
Sie spuckte angewidert aus und verabschiedete sich von Sarah.
Diese lief nachdenklich weiter.
Wenn es wirklich die beiden Gaukler gewesen waren, wo hatten sie dann ihren Bruder gelassen? Vielleicht wollten sie ja nicht zusammen mit ihm gesehen werden und hatten ihn irgendwo außerhalb des Dorfes gelassen? Bei diesem Gedanken wurde sie ganz traurig. Ihr armer kleiner Bruder…
Schließlich kam sie an einem großen Gebäude vorbei, das bedeutend vornehmer und reicher wirkte als die übrigen bescheidenen Häuser des Dorfes. Ein schmiedeeisernes Schild wies darauf hin, das hier ein Schmied und Pferdehändler wohnte. Hinter dem Haus erklangen laute Hammerschläge. Sarah folgte dem Geräusch und fand sich in einer Werkstatt wieder, wo ein rotgesichtiger dicker Mann mit Lederschürze gerade damit beschäftigt war, ein rotglühendes Stück Eisen zu bearbeiten.
Als er Sarahs Anwesenheit bemerkte legte er die Arme an die Seite und schaute sie unfreundlich an.
„Was willst du hier? Bettler haben bei mir nichts zu suchen. Das sollte sich mittlerweile in der Gegend herumgesprochen haben. Und Arbeit habe ich auch nicht für dich! Also verschwinde gefälligst!“
Als Sarah daraufhin ihr wahres Anliegen vorbrachte und den unfreundlichen Schmied nach den beiden Gauklern fragte, lief dessen Gesicht noch dunkler an. An seiner Schläfe trat eine Ader heraus, die gefährlich zu pulsieren begann.
„Wie kannst du herbeigelaufenes Ding es wagen, mich über meine Geschäftspartner auszufragen? Warte nur! Ich werde dir Beine machen, Mädchen!“
Als der Mann Anstalten machte auf sie loszugehen, nahm Sarah ihre Beine in die Hand und rannte so schnell sie konnte aus der Werkstadt heraus. Der Schmied lief brüllend hinter ihr her, blieb aber irgendwann, als sie die Straße erreicht hatte zurück. Irgendetwas traf sie schmerzhaft an der rechten Schulter. Offenbar hatte der schreckliche Mann ihr etwas hinterher geschleudert.
Sarah wagte es aber nicht, sich noch einmal umzudrehen. Sie rannte hinter dem Haus in einen kleinen Feldweg und blieb nach wenigen Metern und völlig atemlos im Schutz von ein paar dichten Büschen stehen. Erleichtert stellte sie nach einigen Minuten fest, dass der Schmied sie wohl nicht weiter zu verfolgen schien.
Mit zitternden Beinen trat sie wieder aus ihrem Versteck hervor. Auf die Straße traute sie sich nicht wieder. Hinter den Häusern lief ein schmaler Pfad entlang, den sie stattdessen nahm. Von hier aus konnte sie auf die Rückseite des Gebäudes blicken, aus dem sie gerade so schmählich verjagt worden war.
Als sie die Wäscheleine sah, die voller Kleidungsstücke hing, kam ihr eine Idee.
Nachdem sie sich noch einmal vorsichtig umgeschaut hatte, stieg sie über den flachen Zaun und lief im Schutz von ein paar Beerensträuchern zu der Leine hin. Dort nahm sie sich rasch ein paar Kleidungsstücke, die ihr auf den ersten Blick halbwegs passend zu sein schienen.
Dann sah sie zu, dass sie so rasch wie möglich aus dem Dorf verschwand.
Wenig später stieß sie auf ein kleines Waldstück, wo sie sich erst einmal in das weiche Moos fallen ließ. Als sie wieder halbwegs zu Atem gekommen war, meldete sich sogleich ihr schlechtes Gewissen. Sie hatte die Kleidungsstücke gestohlen, das stand völlig außer Frage.
Allerdings hatte der unfreundliche Mann es nicht anders verdient!
Außerdem befand sie sich sozusagen in einer Notsituation, bei der man so etwas eigentlich durchgehen lassen müsste, stellte sie schließlich fest und entledigte sich ihrer alten Klamotten.
Dann inspizierte sie erst einmal ihre Schulter. Dort hatte sich bereits ein großer Bluterguss gebildet, der ziemlich schmerzte. Gut, dass sie wenigstens nicht am Kopf getroffen wurde.
Die neuen Sachen passten ihr erstaunlich gut. Sicherlich gehörten sie einem Lehrling des Schmiedes. Als Sarah in einer der Jackentaschen eine Mütze fand, zögerte sie kurz.
Warum eigentlich nicht?
Sie setzte sich die Kopfbedeckung probehalber auf und stellte zufrieden fest, dass sie ihre langen Haare darunter bequem verstecken konnte.
Mit diesen Kleidungsstücken würde sie mit ein wenig Glück als Junge durchgehen. Das würde sicherlich nicht schaden, falls die beiden Gaukler doch noch versuchen würden ihrer habhaft zu werden.
Sarah wollte ihre alten Klamotten schon in einen nahe gelegenen Tümpel werfen, als sie sah, dass etwas Weißes aus ihrer Hosentasche herausschaute.
Es war ein Zettel, wie sie gleich darauf feststellen konnte.
Sarah starrte auf das Stück Papier. Dann erinnerte sie sich wieder.
Der seltsamer Traum, in dem sie sich selber begegnet war! Ihr Traum-Ich hatte ihr doch noch etwas gegeben, bevor es endgültig verschwand.
Aber nein, das konnte doch nicht sein. Es war doch nur ein Traum gewesen…
Sie musste sich hinsetzen, bevor sie dazu in der Lage war, ihren Fund genauer zu betrachten.
Der Zettel sah ziemlich mitgenommen aus, was ja auch kein Wunder war. Sie faltete das Papier vorsichtig auseinander. Auf der Innenseite war etwas geschrieben. Leider war die Schrift ziemlich verblasst, und zum großen Teil war die Tinte verlaufen, so dass nur noch einzelne Worte lesbar waren. Das wenige, was sie entziffern konnte, ergab keinen rechten Sinn. Trotzdem lief ihr ein kalter Schauer den Rücken herunter:
Dann kam eine längere Passage, die leider völlig unleserlich war.
>… Gefahr!!!... vorsichtig… Illusion… (nichts?) wie es… Schloss(?)…<</font>
Warum hatte sie nicht früher in ihre Hosentasche geschaut. Jetzt konnte sie mit alledem nicht mehr viel anfangen.
Das, was sie bei dieser Nachricht am meisten erschütterte und verunsicherte, war allerdings nicht der Inhalt, den sie ohnehin nicht verstand.
Nein, das Schlimmste war die Schrift auf dem Zettel.
Sarah war sich absolut sicher, dass es ihre eigene war…
4 In der Stadt
1
Sarah hatte es auf ihrem weiteren Weg vermieden, noch einmal in die Nähe des Dorfes zu kommen. Sie war schließlich auf einen etwas breiteren Weg gestoßen, dem sie weiter gefolgt war. Da sie nicht sicher war, ob sie die richtige Richtung in die Stadt eingeschlagen hatte, sprach sie schließlich einen Bauern an, der vor einem einsam gelegenen Bauernhof gerade mühsam damit beschäftigt war, Kartoffeln zu ernten.
„In die Stadt möchtest du gehen, junger Mann? Da bist du hier auf dem richtigen Weg. Suchst wohl Arbeit, was?“
Sarah nickte flüchtig und bedankte sich. Als sie wieder außer Sichtweite des Gebäudes war, machte sie vor Freude einen Sprung. Ihre Verkleidung hatte funktioniert!
Sie hatte auf ihrem bisherigen Weg aber auch tüchtig geübt. Denn sie war zu dem Schluss gekommen, dass es sicherlich nicht reichen würde, einfach nur ihre langen Haare zu verstecken und Hosen anzuhaben, um als Junge durchzugehen. Wie unterschieden sich Jungen und Mädchen noch? (Mit dieser Frage hatte sie natürlich nicht die, unleugbar vorhandenen, anatomischen Besonderheiten im Sinn. Schließlich hatte sie ja nicht vor, sich hier vor irgendjemandem auszuziehen!) Sie dachte da eher an die Unterschiede im Auftritt. Und im Benehmen. Vor allem letzteres ließ ihrer Ansicht nach ziemlich zu wünschen übrig. Überhaupt taten die Jungs, die sie kannte, zumeist so, als gehörte ihnen die ganze Welt.
Ein etwas mürrischer Gesichtsausdruck und die Hände in den Hosentaschen: Das hatte hier eben gerade offensichtlich völlig ausgereicht.
Übermütig holte sie mit dem rechten Bein weit aus, um einen Stein vom Weg zu kicken-
-und landete dabei prompt auf dem Hosenboden.
Sie rieb sich den schmerzenden Hintern und fluchte laut. Wenigstens das beherrschte sie perfekt wie ein Junge, dachte sie sich und musste trotz allem laut loslachen.
Je mehr sich Sarah der Stadt näherte, desto belebter wurde es auf dem Weg. Es schienen vor allem Bauersleute und Händler zu sein, die in der Stadt offensichtlich ihre Waren anbieten wollten. Neben den zahlreichen Fußgängern waren es auch einzelne Reiter und einige Fuhrwerke, die sich den nicht sonderlich breiten Fahrweg teilen mussten. Gerade musste Sarah wieder einem Ochsen ausweichen, der eine schwer beladene Karre hinter sich herzog, als sie in der Ferne endlich die in einem weiten Tal gelegene Stadt auftauchen sah.
Die Stadt sah eigentlich genau so aus, wie sie es von Abbildungen her kannte, die mittelalterliche Stadtansichten zeigten. Wenn sie noch Zweifel daran gehabt hatte, in einer fremden und altertümlichen Welt gelandet zu sein, waren diese spätestens jetzt endgültig verflogen.
Die dicht aneinander gedrängten Häuser der Stadt waren von einem hohen zinnengekrönten Mauerring umgeben, der in regelmäßigen Abständen Türme aufwies. Hier und da war der Turm einer Kirche zu erkennen, der die anderen Gebäuden überragte. Um die Stadtmauer herum gab es einen tiefen wassergefüllten Graben. Der Weg, auf dem sie sich befand, schien direkt auf das Stadttor zuzuführen.
Zu beiden Seiten des Weges waren die ganze Zeit schon ausgedehnte Felder und Wiesen zu sehen, zwischen denen einzelne Scheunen und auch ein paar größere Gehöfte lagen.
Später kam sie an einer großen Mühle vorbei, die zu ihrer Rechten an einem kleinen Bach lag. Vor dem großen Gebäude warteten zahlreiche Fuhrwerke, die mit Säcken beladen waren, in denen sich sicherlich das Getreide befand, das noch gemahlen werden musste.
Dann hatte sie auch schon das Stadttor erreicht. Zuvor musste sie allerdings noch den Graben überqueren, über den eine große hölzerne Zugbrücke führte.
Bereits vor der Brücke herrschte ein unbeschreibliches Gedränge. Sarah musste höllisch aufpassen, dass ihr nicht irgendein Wagenrad über den Fuß rollte. Mehr als einmal wurde sie fast umgeritten. Die Reiter, die hoch oben auf ihren Pferden saßen, nutzten ihren Vorteil rücksichtslos aus, und dem armen Fußvolk blieb nichts anderes übrig, als zur Seite zu treten.
Schließlich wurde sie einfach nur noch von der Menschenmenge mitgerissen, die durch das Tor strömte. Sarah fühlte sich jetzt ähnlich hilflos wie zuvor auf dem Fluss, den sie überquert hatte. Es herrschte ein heilloses Durcheinander und sie wurde von allen Seiten geschubst und gestoßen.
Im Tordurchgang, der von zwei mächtigen Türmen flankiert wurde, waren mehrere Wächter in farbenprächtigen Uniformen postiert, die alle Personen, die die Stadt betraten aufmerksam musterten. Immer wieder wurde einer der Passanten angehalten und befragt oder sogar durchsucht.
Sarah schaffte es zu ihrer großen Erleichterung, in die Stadt zu gelangen, ohne angehalten zu werden. Der ihr am nächsten stehende Wächter gähnte gerade herzhaft, als sie von der Menschenmenge an ihm vorbei getrieben wurde.
Sie kam zu einem weiteren Tor. Hier waren überall Plakate aufgehängt, die mit großen Buchstaben vor allen möglichen Dingen warnten oder irgendetwas bei Strafe verboten. Das war ja noch weitaus schlimmer als am Aushängebrett ihrer Schule daheim, fand Sarah. Allerdings warnte dieses, soweit sie sich erinnern konnte, nicht vor der Ausübung von Hexerei oder dem Verkauf von echten magischen Amuletten. Es wurde dazu aufgerufen, jeden sofort bei den Behörden anzuzeigen, der gegen diese Bestimmungen verstieß. Schließlich hingen auch mehrere Steckbriefe an den Mauern, die allesamt den gleichen bärtigen Mann zeigten.
> Hohe Belohnung für denjenigen, der zur Ergreifung dieses gefährlichen Mannes beiträgt! Der Zauberer Arthur wird wegen Hochverrats gesucht! Vorsicht: Er macht hemmungslos von seinen Zauberkräften gebrauch! Gemäß dem Beschluss des königlichen Rates wird folgendes festgestellt:
Erstens: Drachen existieren nicht!
Zweitens: Wer trotzdem einen Drachen sieht, hat dies unverzüglich der entsprechenden
Behörde zu melden!
Drittens: Die Meldepflicht gilt nicht für Drachen, die kleiner sind als 10cm. Diese sind unverzüglich einzufangen und bei einer entsprechenden Sammelstelle abzugeben (bitte nur feuerfeste Behältnisse verwenden).
Sarah schüttelte verständnislos mit dem Kopf, als irgendetwas ihre Haare streifte. Sie schaute nach oben und sah eine Taube, die gleich drauf auf dem Schreibtisch in der Mitte des Raumes landete. Dort entfernte das dünne Männchen etwas vom Fuß des Vogels, der daraufhin sofort wieder wegflog. Offensichtlich handelte es sich hier um eine Brieftaube.
Überhaupt war über den Köpfen der Wartenden einiges los in der Halle, Sarah hatte es nur nicht gleich bemerkt. Überall flogen und flatterten Tauben umher, die aus irgendwelchen Ecken des Raumes zu kommen schienen und in einer anderen Ecke wieder verschwanden. Einige landeten auf dem Schreibtisch und lieferten eine Nachricht ab, andere wiederum bekamen einen Zettel an das Bein geheftet. Viele landeten überhaupt nicht, sondern durchquerten lediglich den Raum. Das ganze verursachte ein stetiges Rauschen und Flattern in der Luft. Sarah kam zu dem Schluss, dass es sich hierbei wohl um die Telefonleitung des Gebäudes handelte.
Das dünne Männchen übte offenbar eine Art von Verteilerfunktion für die Besucher aus. Zumindest hielten alle Personen, die den Raum anschließend nach hinten zu verließen, einen großen Zettel in den Händen.
Endlich war Sarah selbst an der Reihe.
„Ich möchte eine Entführung melden!“, sprach sie mit leiser Stimme, da sie nicht unbedingt wollte, dass es die Umstehenden mitbekamen.
„Also eine Entführung…“ Der Mann griff in eine seiner Schubladen, suchte ein wenig darin herum und zog schließlich ein großes Formular heraus.
„So, lass mal sehen,…..Da hätten wir folgendes: Eingebildete Entführungen, vorgetäuschte Entführungen, halt hier ist es: Echte Entführungen, ich will mal unterstellen, dass es sich um eine solche handelt?“
Sarah nickte eifrig.
„Wer wurde denn entführt: Erstgradig Verwandte, zweitgradig Verwandte und so weiter? War es vielleicht eine gewünschte Entführung? Möchtest du die Entführten überhaupt wieder sehen? Wenn ja, in welchem Zustand? Da hätten wir mehrere Möglichkeiten zur Auswahl, also….“
„Nein, ich möchte sie alle furchtbar gerne wieder sehen!“, unterbrach Sarah hastig. „Es handelt sich nämlich um meine Eltern und meinen kleinen Bruder.“
„Verstehe….“ Das Männchen zog erneut einen Zettel hervor. „Da haben wir den richtigen…“
„Jetzt muss ich nur noch wissen, ob es sich bei den Tätern um normale Menschen gehandelt hat.“
„Nun, es waren zwei Gaukler, ich meine Männer, die durch die Gegend ziehen, in den Dörfern vor Publikum auftreten und ihr Geld mit allen möglichen Zaubertricks verdienen.“
„Hmm, Gaukler….Da: Kapitel >Übersinnliches<, Rubrik >Zauberei<, Untergruppe >Mieser oder falscher Zauber<, Abteilung,… lass mal sehen…Hier, ich habe es: Nimm diesen Zettel. Dieses Gebäude , dritter Stock, erster Flur geradeaus.“
Sarah nahm den Zettel entgegen.
„Ah, Herr Gastwirt, haben Sie wieder einen Drachen mitgebracht. Na, wo Sie die immer finden…Bringen Sie ihn doch am besten direkt in die Sammelstelle. Ich schicke schon einmal eine Taube los, damit die da unten Bescheid wissen. Schönen Tag noch. Der Nächste bitte!“
Sarah, die schon am Gehen war, drehte sich noch einmal um. Ein kräftiger Mann mit rot geäderter Nase eilte hastig an ihr vorbei. In den Händen hielt er einen Korb, in dem ein Einweckglas, stand. In diesem bewegte sich irgendetwas Grünliches…
Von dem Korb ging ein stechender Geruch nach Schwefel aus. Außerdem stieg dichter weißer Qualm in die Luft….
„Vorsicht, heiß!“ Der Mann eilte zwischen zwei älteren Damen hindurch, die ganz entsetzt zur Seite sprangen. Kurz darauf war er im hinteren Teil der Halle verschwunden. Sarah konnte nur noch eine weiße Rauchwolke sehen, die langsam in die Höhe stieg.
Sie blickte auf ihren Zettel, auf dem noch einmal eine kurze Wegbeschreibung stand. Der Skizze nach musste sie am Ende der Halle durch eine Tür hindurch, um in das Treppenhaus zu gelangen.
Das zu finden war kein Problem.
Sie war froh, dass sie in eines der oberen Stockwerke zu gehen hatte, da aus dem Keller des Gebäudes der gleiche stechende Schwefelgestank aufstieg, wie sie ihn eben gerade in der Halle gerochen hatte. Außerdem konnte sie ganz komische Geräusche hören…. Sie wollte lieber gar nicht wissen, wer oder was dort so alles in der „Sammelstelle“ abgegeben und aufbewahrt wurde…
Der Skizze in ihrer Hand folgend, lief sie die drei Stockwerke hoch und dann einen langen Flur entlang. Überall begegneten ihr andere Besucher, die, ebenfalls ihre Wegbeschreibungen vor sich haltend, nach ihrem Ziel suchten.
Endlich stand sie vor der gesuchten Tür und klopfte an. Nachdem sie keine Antwort erhielt, trat sie schließlich ein.
4
Sarah betrat den Raum, bei dem es sich im Grunde genommen nur um einen langen und schmalen Flur handelte, an dessen Ende sich wiederum eine Tür befand. An den seitlichen Wänden, die ansonsten weiß und völlig kahl waren, standen jeweils in einer schier endlosen Reihe unzählige Stühle.
Bis auf Sarah war dieser Raum völlig menschenleer.
Als sie den langen Flur entlang schritt, hallten ihrer Schritte auf dem glatten Kachelboden unnatürlich laut wider.
Schließlich gelangte sie an die andere Tür. Sie sah, dass in diese eine Luke eingelassen war. Unterhalb der Luke war ein Türklopfer in Form eines ziemlich gelangweilt dreinblickenden dicklichen Mannes angebracht, der einen Eisenring im weit geöffneten Mund trug. Irgendwie hatte sie den Eindruck, als würde der Mann gerade herzhaft und völlig ungeniert gähnen.
Sarah zögerte kurz, dann ergriff sie den schweren Ring und ließ ihn gegen die Tür schlagen. Nachdem einige Zeit verstrichen war, hörte sie hinter der Tür schwere schlurfende Schritte und ein Ächzen und Seufzen, gefolgt von einem lauten knarrenden Geräusch. Das hörte sich ungefähr so an, wie wenn sich jemand nach einer langen Wanderung endlich auf einen bequemen Stuhl setzen durfte.
Nach einer halben Ewigkeit öffnete sich die Luke schließlich mit einem quietschenden Geräusch, und sie blickte direkt in das runde Gesicht einer unglaublich fetten Frau. Diese saß, soweit es Sarah durch den kleinen Ausschnitt in der Tür erkennen konnte, an einem Schreibtisch, der direkt hinter der Tür stand und ließ gerade etwas unter die Tischplatte in eine Schublade verschwinden. Sarah war sich ziemlich sicher, dass es sich hierbei um einen Teller mit einem beeindruckend großen Stück Torte gehandelt hatte.
Die dicke Dame kaute noch ein paar Mal, bevor sie laut vernehmlich schluckte und sich, bevor sie Sarah endlich Beachtung schenkte, noch rasch mit einer erstaunlich flinken Bewegung ihrer Zunge ein fette Portion Sahne aus dem rechten Mundwinkel holte.
„Ja?“ Die Frau blickte Sarah gar nicht richtig an und gähnte demonstrativ. Dabei kratzte sie sich mit der linken Hand ausgiebig an ihrem fetten rechten Oberarm.
„Ich möchte bitte meine Eltern und meinen kleinen Bruder als vermisst melden.“ Sarah versuchte trotz allem höflich zu bleiben, was ihr allerdings nur mit einiger Anstrengung gelang.
„So?“ Die fette Frau gähnte noch einmal, wobei sie sich diesmal noch nicht einmal mehr die Mühe gab, die Hand vor den Mund zu halten.
„Welche Nummer?“
Sarah blickte ihr Gegenüber verständnislos an.
„Na, welche Nummer?“ Die Frau erhob sich ächzend ein kleines Stück weit aus ihrem Stuhl und deutete mit einer unbestimmten Geste ihrer rechten Hand neben Sarah.
Diese erblickte einen kleinen Kasten an der Wand, den sie zuvor übersehen haben musste. Aus diesem hing etwas heraus, was wie ein Papierstreifen aussah. Sie betrachte die seltsame Konstruktion näher und erkannte, dass auf dem Papierstreifen Zahlen aufgemalt waren. Man zog hier also eine Nummer und wartete ab, bis man aufgerufen wurde. So ähnlich war es bei ihr daheim beim Metzger.
Sarah seufzte leise und riss die Nummer vom Ende des Papierstreifens ab.
>999<, konnte sie auf ihrem Zettel lesen.
Sie reichte das Papierstück durch die Luke.
Die fette Frau schaute kurz darauf und meinte nur: „Tut mir leid. Dann musst du noch warten.“ Sie deutete wage in Richtung der langen Stuhlreihe hinter Sarah.
Sie wollte gerade gähnend wieder die Luke schließen, als Sarah noch rasch fragen konnte, welche Nummer denn jetzt, bitteschön, dran wäre.
„Nummer >9<“, kam die gelangweilte Antwort, und die Luke begann sich wieder zu schließen.
„Moment mal,……bitte!“, fügte Sarah noch rasch hinzu und versuchte mit ihrer Hand die Luke offen zu halten. Einen Moment lang kam es zu einem stillen Kampf zwischen ihr und der dicken Frau, bei dem die eine versuchte, die Klappe zu schließen und die andere ihr Bestes gab, ihre Gegnerin daran zu hindern.
Schließlich gab die dicke Frau mit einem tiefen Seufzer auf und fragte: „Was gibt es denn noch?“ Dabei schaute sie Sarah mit einem Blick an, mit dem sie sicherlich auch ein lästiges haariges kleines Insekt betrachtet hätte, das sich gerade auf ihrer Lieblingstorte niedergelassen hatte.
„Aber…..“ Sarah suchte verzweifelt nach Worten. „Hier wartet doch gar niemand!“ Dabei deutete sie hilflos auf den weiterhin völlig menschenleeren Raum hinter sich.
„Na und?“ Die Frau schien völlig ungerührt. „Jetzt ist nun einmal erst die Person mit der Nummer >9< an der Reihe. Es muss alles seine Ordnung haben!“
„Stopp!“ Sarah schrie jetzt fast, als sich die Luke wieder zu schließen begann. „Wie lange warten Sie denn schon auf die Person mit dieser Nummer?“
Die Luke war schon fast zu, als noch einmal die gleichgültige Stimme der Frau zu hören war: „Vielleicht zwei Monate oder auch drei…“
Und mit einem lauten Geräusch war die Klappe wieder zu.
Drei Monate! Sarah musste sich erst einmal hinsetzen. Ratlos betrachtete sie den Zettel in ihrer Hand.
Was mag wohl mit den anderen 989 Leuten passiert sein, die vor ihr da gewesen waren? Waren sie genauso abgewiesen worden, wie es ihr gerade ergangen war?
Dann fiel ihr Blick nach unten. Neben ihren Füßen, unter den Stühlen, ja zum Teil auch auf deren Sitzflächen, überall lagen Zettel und Papierschnipsel auf dem Boden herum. Sarah konnte alle möglichen Zahlen darauf erkennen.
Sie hatten alle aufgegeben!
Sarah konnte es einfach nicht fassen.
Und was sollte sie jetzt machen? Wieder nach unten an die Anmeldung gehen?
Niemals!
Mit einem Mal kam ihr ein Gedanke. Es war zwar ausgesprochen frech, ja eigentlich schon eine ausgewachsene Unverschämtheit. Aber, was hatte sie schon zu verlieren…. Sarah betrachte den Zettel in ihrer Hand. Eigentlich war es sogar ein regelrechter Glücksgriff gewesen, genau diesen Zettel gezogen zu haben!
Sie nahm das Papier, faltete es ein paar Mal und riss es dann sorgfältig hindurch.
Fertig!
In ihren Händen hielt sie jetzt einen Zettel, auf dem deutlich die Zahl >9< zu lesen war. Das Papierstück, das sie gerade abgetrennt hatte, ließ sie zu Boden fallen, wo sich die >99< zu den anderen Zetteln gesellte, um auf eine Putzfrau zu warten, die vielleicht nie kommen würde.
Die >9< triumphierend vor sich haltend, trat Sarah erneut vor die Tür und klopfte an.
Die fette Frau gähnte gerade wieder herzhaft, als sie Sarah erkannte. Ihre Miene verfinsterte sich deutlich: „Kindchen, ich bin ja kein Unmensch. Aber, wenn du mich noch weiter von meiner Arbeit abhältst, dann kann ich auch böse werden!“
Sarah schob buchstäblich im letzten Moment den Zettel durch die Luke, die sich gerade wieder zu schließen begann. Dieser schwebte langsam auf die Tischplatte und blieb direkt auf einem Teller mit Pudding liegen –Vanillepudding mit Erdbeersoße, soweit Sarah das erkennen konnte-, den die fette Frau vor sich stehen hatte.
Die Frau blickte kurz auf die Zahl und dann auf Sarah, die sich bemühte, ein einigermaßen unbeteiligtes Gesicht zu machen.
„Na, das wurde aber auch Zeit….“ Die dicke Frau kramte etwas aus einer Schublade hervor, ein reichlich zerknittertes Etwas aus Papier, das sie erst einmal (vergeblich) versuchte, einigermaßen glatt zu streichen. Daraufhin entnahm die Frau aus der gleichen Schublade einen abgekauten Bleistift, an dem eine kandierte Kirsche klebte, die sie erst einmal entfernte und genießerisch im Mund verschwinden ließ.
Sarah fürchtet jeden Moment, dass sich ihr der Magen umdrehten könnte. Sie schluckte ein paar Mal und atmete tief durch.
„So, erste Frage: Wie viele Drachen waren an der Entführung beteiligt? Dann zweitens: Um was für Drachen handelte es sich? Farbe, Größe, Schuppung, …halt das übliche….“
Sie blickte kurz auf, wobei der Bleistift erwartungsvoll über der ersten Zeile schwebte.
„Nun,…..eigentlich war da überhaupt kein…, ich meine…“ Sarah stotterte, ganz aus dem Konzept gebracht.
„Na, du wirst doch noch wenigstens irgendetwas in Erinnerung haben?“
Die Dame schaute Sarah ganz erstaunt an.
„Wenigsten wie groß das Vieh war, kannst du mir doch sagen? So wie eine Ratte oder eher doch wie eine Scheune, na?“
Jetzt reichte es Sarah.
„Verdammt noch mal! Meine Eltern und mein kleiner Bruder sind entführt worden. Nicht von einem Drachen, sondern von zwei Zauberern, ich meine es waren nicht wirklich Zauberer, sondern zwei Gaukler, die alle möglichen Zaubertricks auf Lager hatten…..“
„Nun, dann bist du hier wohl falsch….“ Die fette Frau legte den Bleistift mit einem erschöpften Seufzer vor sich hin und schaute Sarah mit müden Augen an. „Das hier ist die >Abteilung für übersinnliche Entführungen<. Und dazu gehört nun einmal wenigstens ein kleiner Drache. Eigentlich fordern die Bestimmungen auch eine Jungfrau als Opfer, aber das sehen wir nicht so bürokratisch: Eine Familie geht auch….“
„Gaukler sind im Gegensatz zu Drachen, Lindwürmern und anderen Geschöpfen dieser Art absolut diesseitige Geschöpfe. Eigentlich müsste ich dich ja wieder zum Empfang schicken….“
„Aber, ich gebe dir hier die Nummer eines Zimmers, an das du dich wenden solltest“, fügte sie noch rasch hinzu, als sie sah, wie Sarah gerade protestieren wollte.
„Hier:“, sie reichte Sarah einen Zettel, den sie aus ihrer Schublade nahm, „Am besten, du gehst gleich los, damit du nicht noch in die Mittagpause gerätst.“
„Äh... danke schön….“, murmelte Sarah und verließ den Raum. Sie hörte, wie hinter ihr die Klappe mit einem energischen „Rumms“ geschlossen wurde.
Sie schaute im Gehen auf den Zettel: >14b< stand darauf geschrieben. Die Zahl war allerdings ziemlich schlecht zu erkennen, da auf dem Papier zahlreiche Flecken in allen möglichen Farben schimmerten. Außerdem klebte der Zettel ziemlich, so dass Sarah Probleme hatte, ihn aus der Hand zu nehmen und ihn in die Tasche zu stecken.
Schließlich hatte sie den Zettel in ihrer Jackentasche verstaut. Den Weg hatte sie sich vorher einigermaßen gut eingeprägt. Wer weiß, ob sie das Papier noch einmal aus ihrer Tasche herausbekam….
Sie roch an ihren Fingern: Erdbeere, Kaffee und Vanille konnte sie mit Sicherheit heraus riechen. Bei Schokolade, Zitrone und Himbeere war sie sich schon weniger sicher.
Ob die fette Dame überhaupt noch aus ihrem Büro herauskam? Der Türausschnitt war jedenfalls nach ihrer Meinung zu schmal dafür.
Wahrscheinlich lebte die Frau in diesem Zimmer und wurde regelmäßig gefüttert?
Sarah beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken. Womöglich würde sie dann für den Rest ihres Lebens den Appetit verlieren und allmählich verhungern….
Im Treppenhaus begegnete ihr noch einmal der Mann, der vorhin seinen gefangenen Drachen in den Keller gebracht hatte. Er lächelte ihr freundlich zu und winkte zum Abschied mit der rechten Hand. Sie konnte eine große Brandblase an seinem Zeigefinger sehen. Außerdem war sie sich ziemlich sicher, dass seine Augenbrauen fast vollständig versengt waren…
Auf ihrem weiteren Weg begegnete ihr dann niemand mehr.
5
Sarah folgte den Anweisungen auf der Skizze und stand schließlich vor einem weiteren scheinbar endlos langen Korridor. Von beiden Seiten gingen in regelmäßigen Abständen Türen ab, eine sich ebenfalls scheinbar ins Unendliche erstreckende Vielzahl von Türen.
Im Übrigen war der vor ihr befindliche Korridor völlig leer. Keine Menschenseele war zu sehen. Auch sonst tat sich nichts: Keine Tür wurde geöffnet, überhaupt war kein Laut zu vernehmen.
Sarah atmete tief durch und betrat den Korridor.
„Ich muss nur rasch das Zimmer mit der Nummer 14b finden. Hoffentlich sind die Türen wenigstens mit Nummern versehen“, sprach sie leise zu sich selbst.
Die erste Tür auf ihrer linken Seite trug ein kleines emailliertes Türschild, auf dem fein säuberlich die Nummer „1“ zu lesen war. Die gegenüberliegende Tür war mit der Ziffer „2“ gekennzeichnet.
Fein, dachte sich Sarah, das schient genauso zu sein, wie mit den Hausnummern in einer Straße: Auf der einen Seite finden sich die geraden Nummern und auf der anderen die ungeraden. Die Nummer 14 kann also nicht so weit weg sein.
Die nächste Tür auf ihrer linken Seite zeigte dann auch brav die Nummer „3“, während ihr Gegenüber mit der Nummer „4“ gekennzeichnet war. Die nächste Tür allerdings führte ins Zimmer „113“ und die ihr gegenüberliegende ins Zimmer „220“. Sarah beschleunigte ihre Schritte und eilte, zunehmend fassungslos, weiter von Tür zu Tür: „34“, „1051a“, „0“, „333“, „10001,5“ las sie, wobei sich die von der linken Gangseite abgehenden Zimmer weiterhin die ungeraden Nummern und die der rechten Seite die geraden Nummern teilten.
Immer schneller rannte Sarah weiter und überflog die an ihr vorbeieilenden Zahlen.
Schließlich musste sie ganz außer Atem stehen bleiben.
Auf diese Art und Weise würde sie das gesuchte Zimmer ja niemals finden…. Wenn es hier wenigstens jemanden gäbe, den sie nach dem Weg fragen könnte.
Vielleicht fand sie ja hinter einer der Türen eine Person, die ihr weiterhelfen könnte. An der nächsten Tür, die im Übrigen in das Zimmer „77.8“ führte, lauschte sie einen kurzen Moment und klopfte zaghaft an. Dann, als sie keine Antwort bekam, pochte sie zunehmend kräftiger gegen die Tür.
Schließlich öffnete sie die Tür kurzerhand…
…. und blickte wiederum in einen endlos langen Korridor, von dem abermals unendlich viele Türen abgingen. Nur, daß diese Türen jetzt nicht mehr dunkelgrün, sondern hellrot gestrichen waren.
Sarah betrat den Korridor und öffnete aufs Geradewohl die übernächste Tür auf der rechten Seite, es handelte sich um den Raum „336677“, wie sie nebenbei lesen konnte,…. und stand erneut am Beginn eines langen Ganges, der den vorigen haargenau glich, allerdings bis auf die jetzt himmelblauen Türen.
Das ganze wiederholte sich noch ein paar Mal bis Sarah irgendwann voller Schrecken feststellen musste, daß sie sich in dem Labyrinth der Gangsysteme hoffnungslos verlaufen hatte.
Sie setzte sich schließlich ganz mutlos auf den Boden, mit dem Rücken zu einer schneeweiß gestrichenen Tür. Hungrig und einsam saß sie da und hatte beim besten Willen keine vernünftige Idee mehr, was sie jetzt tun sollte.
Während sich ihre Augen langsam mit Tränen zu füllen begannen, blickte sie zufällig auf die gegenüberliegende Tür… und sprang im nächsten Augenblick wie elektrisiert auf die Beine: Auf der Tür stand unmissverständlich die Zahl „14b“ und darunter auf einem kleineren Schild „Eintritt nur nach Aufforderung“.
Sie klopfte sachte an die Tür, konnte aber keine Antwort vernehmen. Schließlich klopfte sie energischer an, ebenfalls ohne Erfolg.
Schließlich langte es ihr, und sie öffnete die Tür einfach unaufgefordert und trat ein.
Sie fand sich in einem nicht sonderlich großen, recht dunklen, nach Staub und alten Akten riechenden Raum wieder. Ihr direkt gegenüber stand eine Art von großem Schreibpult, der sicherlich fast doppelt so hoch wie Sarah war und der nahezu die gesamte Rückseite des Raumes einnahm.
Rechts und links von ihr waren die Wände lückenlos und bis zur Decke mit Regalen zugestellt, die eine Unzahl von verstaubten Aktendeckeln und Büchern trugen. Die Regalböden bogen sich durch ihre Last gefährlich durch, und Sarah befürchtete, dass die ganze Konstruktion jeden Moment in sich zusammenstürzen könnte.
Zunächst hatte Sarah den Eindruck, dass sie sich ganz alleine in dem Raum befand. Mit einem Mal hörte sie aber ein leises Kratzen.
Schließlich entdeckte sie hinter dem großen Arbeitstisch eine kleine Gestalt mit schrumpeligem Gesicht, welche sich in emsiger Schreibarbeit über die Tischplatte beugte.
Das Männchen griff mit seinen dünnen Ärmchen unaufhörlich nach immer wieder neuen Papieren, die es irgendwelchen unordentlichen Aktenstapeln entnahm, beschriftete sie mit seltsam hastigen krakeligen Bewegungen und legten sie wiederum auf andere Stapel ab.
Das Männchen war so in seine Arbeit vertieft, dass es offensichtlich nicht bemerkt hatte, dass es in seinem Büro nicht mehr alleine war.
Sarah räusperte sich mehrmals, um auf sich aufmerksam zu machen. Ohne auch nur einmal von seiner Arbeit aufzublicken schrieb das seltsame Männchen hastig immer weiter.
Schließlich musste Sarah von dem ganzen Staub in dem Raum niesen, was die kratzenden Schreibgeräusche unmittelbar darauf endlich verstummen ließ.
Das kleine Männchen stützte sich auf seine spitzen Ellenbogen und blickte mit einem ziemlich ungnädigen Gesichtsausdruck auf sie herab. Dabei rückte es seine Brille, die ihm beim Schreiben fast bis auf die Nasenspitze gerutscht war, wieder zurecht. Die Gläser der Brille waren ziemlich dick und vergrößerten die dahinter liegenden Augen auf ein Mehrfaches. Der Anblick erinnerte Sarah irgendwie an eine halb verhungerte Eule.
„Ich kann mich nicht daran erinnern, dich aufgefordert zu haben, einzutreten, junger Mann.“, sprach das Männchen, nachdem es sie einen langen Augenblick kritisch gemustert hatte, endlich mit einer hohen und ziemlich unfreundlichen Stimme.
Daraufhin begann das Männchen, als wäre Sarah mit einem Mal nicht mehr vorhanden, wieder seine emsige Schreibarbeit aufzunehmen.
Sarah räusperte sich noch einmal: „Entschuldigen Sie, ich hatte mehrmals angeklopft und dachte, Sie hätten mich vielleicht nur nicht gehört“, rechtfertigte sie sich. „Bitte, Sie müssen mir einfach helfen.“
„>Eintritt nur nach Aufforderung<, steht an der Tür, oder? Also musst du gefälligst draußen warten, bis du von mir aufgefordert wirst, einzutreten. Ich denke, dass das nicht allzu schwer zu begreifen sein sollte, Junge!“, erwiderte das Männchen mit einem drohendem Unterton und beugte sich wieder über seine Arbeit.
Sarah hatte schon wieder die Türklinke in der Hand, als sie sich noch einmal umdrehte. Nein, sie würde sich in dieser dämlichen Behörde nicht mehr so einfach abwimmeln lassen!
Durch die halb geöffnete Tür rauschte mit einem Mal ein starker Luftzug durch den Raum und wirbelte, wie ein lustiger Herbstwind es mit einem Haufen trockener Blätter tat, die gestapelten Papiere und Aktenberge auf dem Schreibtisch auf. Die Blätter erhoben sich, eines nach dem anderen, von ihren angestammten Plätzen und wirbelten fröhlich durch die Luft.
Aufgeregt begann das Männchen mit den Armen zu fuchteln. Es beugte sich weit vor und versuchte verzweifelt die Blätter, die ihn wie ein aufgescheuchter Schmetterlingsschwarm umflatterten, wieder einzufangen.
Das ganze bot einen derart komischen Anblick, dass Sarah laut loslachen musste. Kaum hatte das Männchen ein Blatt seiner kostbaren Akten zu fassen bekommen, so verlor es dieses bei dem nächsten Versuch, ein weiteres zu fangen, sogleich wieder.
Die Blätter flogen durch den ganzen Raum und wirbelten schließlich auch um Sarah herum. Sarah erkannte, dass sie allesamt eng mit Zahlenreihen und Tabellen beschrieben waren.
Einer der Zettel flatterte zu Boden und blieb direkt zu ihren Füßen liegen.
Sie bückte sich und hob ihn auf. Sie wollte dem armen Männchen wenigstens dabei behilflich sein, die Ordnung in seinem Büro wieder herzustellen. Schließlich war sie an dem ganzen Malheur nicht ganz unschuldig.
Dann stutzte sie und starrte ungläubig auf das Blatt Papier in ihren Händen, auf dessen Vorderseite vier Gesichter abgebildet waren, die ihr jetzt fröhlich lächelnd entgegenblickten.
Sie erkannte die Gesichter sofort. Denn es waren die ihrer Eltern, ihres kleinen Bruders und ihr eigenes!
Allerdings waren ihre Eltern und Robert mit fetten schwarzen Kreuzen dick durchgestrichen, während ihr Gesicht mit einem schwarzen Kreis umrandet und mit einem Ausrufezeichen versehen war.
Es handelte sich eindeutig um einen Steckbrief!
Sarah Herz begann wie wild zu klopfen.
Fassungslos las sie den kurzen Text, der unter den Bildern stand. Dieser rief in wenigen Worten dazu auf, diese vier Gestalten, die sich verschiedenster schwerster Verbrechen gegen den König und das Land schuldig gemacht hatten, unverzüglich bei den Behörden anzuzeigen oder aufzugreifen. „Auf jeden Fall lebendig!“, stand doppelt unterstrichen darunter. Und von einer hohen Belohnung war auch noch die Rede….
Schließlich überkam Sarah eine heiße Wut. Es war so, als wenn all die Sorgen und Ängste, die sich in ihrem Inneren in den letzten Tagen aufgestaut hatten, mit einem Mal wie ein Vulkan überkochen würden. Sie erhob sich vom Boden, zerknüllte mit der einen Hand den Steckbrief und nahm Anlauf auf den Schreibtisch am Ende des Raumes.
Dabei musste sie unwillkürlich an den Leichtathletikunterricht in ihrer Schule denken. Im Hochsprung war sie, dank ihrer langen Beine, schon immer recht gut gewesen….
Sarah war so in Rage, dass sie es tatsächlich schon beim ersten Versuch schaffte und mit einem Satz mitten auf der Tischplatte landete, von wo aus sie sich sogleich mit einem heiseren Wutschrei auf das Männchen stürzte, das von dem plötzlichen Angriff ganz und gar überrumpelt war.
„Wa-, wa-, was…?“, konnte es gerade noch erschrocken stammeln, als es schon mitsamt seinem Stuhl mit einem lauten Krachen zu Boden ging. Sarah hatte sich, um ihn tüchtig durchzuschütteln, an seinen Schultern festgeklammert und fiel ebenfalls in die Tiefe.
Ganz benommen blieb Sarah einen kurzen Augenblick liegen, während sich um sie herum eine Staubwolke erhob und dann langsam wieder zu Boden sank.
Sie hatte sich nicht weiter verletzt, und auch das Männchen schien sich von seinem ersten Schrecken erstaunlich rasch zu erholen, da es sogleich anfing, laut zu schimpfen. Dann hielt es in seiner Schimpfkanonade kurz inne, und starrte sie einen Moment lang prüfend an. Schließlich hellte sich sein zunächst etwas ratloser Blick plötzlich auf.
„Du bist das Mädchen, natürlich…!“, rief es schließlich triumphierend aus. „Warte nur, du Balg, jetzt haben wir dich endlich. Dann ist die ganze Verbrecherbrut schon bald sicher hinter Schloss und Riegeln, und die anständigen Leute können wieder beruhigt schlafen!“
Sarah griff sich rasch an den Kopf, was ihre Befürchtung bestätigte: Bei dem gemeinsamen Sturz war ihr die Kappe verrutscht und hatte ihr verräterisches langes Haar freigegeben. Mittlerweile war das Schimpfen des Männchens in zunehmend laute Hilfeschreie übergegangen, als habe es mit einem Mal erkannt, dass Sarah, als steckbrieflich gesuchte Verbrecherin, ja schließlich durchaus eine Bedrohung für ihn selbst darstellen dürfte!
Sarah wusste sich nicht anders zu helfen und stürzte sich erneut auf das Männchen, um ihm kurzerhand den Mund zuzuhalten.
Das Männchen zappelte und strampelte vergeblich, denn Sarah war nicht nur größer, sondern auch viel kräftiger und vor allen Dingen sehr wütend.
Seltsamerweise blieb das Männchen dabei weiterhin mit dem umgestürzten Stuhl verbunden, als wäre es darauf festgeklebt. Obwohl Sarah mit aller Kraft an ihrem Opfer zog und zerrte, löste es sich zu ihrer großen Verwunderung weiterhin nicht von seiner Sitzfläche.
Mit einem Mal fiel es Sarah wie Schuppen von den Augen: Das Männchen hatte überhaupt gar keine Beine! Dort wo diese eigentlich beginnen sollten, ging der Unterleib direkt in die Sitzfläche des Stuhles über….
Das war nun wirklich ein unheimlicher Anblick. Sarah wich erschrocken zurück und ließ das Männchen los, welches sogleich wieder ein großes Wehklagen und Geschrei anstimmte.
Schließlich hörte Sarah im Flur Schritte und Stimmen, die sich ihnen zu nähern schienen.
Sicherlich waren die Hilferufe des Männchens gehört worden.
Rasch schaute sie sich nach einem geeigneten Fluchtweg um.
In Frage kam eigentlich nur das Fenster über ihr. Das stand zwar weit offen, war aber zu hoch, um es durch einen Sprung erreichen zu können.
Da entdeckte Sarah eine Leiter, die an einem der Aktenregale lehnte. Während die Schritte draußen immer lauter wurden, stürzte sich Sarah auf die Leiter und schleppte diese in Richtung des Fensters, was bei dem schweren unhandlichen Ding gar nicht so einfach war. Sie war schon halb auf der Leiter, als sie spürte, wie sich plötzlich jemand an ihrem rechten Bein festhielt. Es war das seltsame Stuhl-Männchen, das ihr hinterher gestiegen war und jetzt ihren rechten Fuß fest mit beiden Armen umklammert hielt.
Dabei schrie es unablässig: „Schnell, schnell: Ich habe sie, so helft mir doch, schnell!“
Sarah zog verzweifelt an ihrem Bein.
Da hörte sie, wie die Tür zum Raum aufgerissen wurde. Sie blickte in Panik über ihre Schulter…
….und sah die unglaublichsten Gestalten, die sie je in ihrem Leben erblickt hatte: Als erster tauchte ein dicker Aktenschrank auf zwei stämmigen Beinen auf, blieb allerdings sogleich in der Tür stecken und ruderte hilflos mit seinen dünnen Armen, während gleichzeitig ein Kleiderständer hereinzukommen versuchte. An diesem hing eine schwarze Anzugjacke, die ebenfalls wie wild mit den Ärmeln fuchtelte und drohende Gebärden in Richtung Sarah machte. Dahinter konnte sie weitere, überaus skurrile Gestalten erkennen, die sich, allesamt halb Möbelstücke, halb Mensch, bedrohlich im Türausschnitt aufbauten.
Der Schrecken über diesen unglaublichen Anblick verlieh Sarah jetzt glücklicherweise die erforderliche Kraft: Sie versetzte ihrem Widersacher einen kräftigen Tritt gegen die Sitzfläche, woraufhin dieser empört aufschrie und sie endlich losließ.
Dann schwang sie sich mit einem Satz aus dem Fenster.
Im gleichen Moment fiel ihr ein, dass sie sich ja gar nicht mehr im Erdgeschoß befand, aber da war sie schon durch das Fenster hindurch und unaufhaltsam auf dem Weg nach unten.
6
Sarahs unvorhergesehener Sprung aus dem zweiten Stock wurde glücklicherweise durch einen großen Busch, der direkt unter dem Fenster wuchs, einigermaßen weich aufgefangen. Bis auf ein paar unbedeutende Kratzer, die sie sich dabei an den Beinen und Armen zuzog, passierte ihr nichts Ernstes.
Sie nahm sich jetzt aber verständlicherweise nicht die Zeit, um sich ausgiebiger auf etwaige Verletzungen hin zu untersuchen. Stattdessen rappelte sich sogleich wieder auf und rannte so schnell sie konnte über den schmalen Hof, in dem sie gelandet war, um auf der gegenüberliegenden Seite im nächsten Gebäudeteil zu verschwinden.
Sie fand sich in einem spärlich beleuchteten Treppenhaus wieder. Ohne groß darüber nachzudenken rannte sie die Stufen hinauf. Am obersten Absätze blieb sie kurz stehen und lauschte. Bis aus das heftige Pochen ihres eigenen Pulses in den Ohren konnte sie nichts hören. Ihre Verfolger schienen ihr noch nicht auf der Spur zu sein.
Sie hatte Glück, dass sie offensichtlich in einem weniger genutzten Teil des Gebäudes gelandet war.
Schließlich fand sie am Ende eines düsteren Flures einen kleinen Lagerraum, in dem sie sich erst einmal hinter ein paar großen Kisten versteckte. Sie war völlig außer Atem und musste erst einmal verschnaufen, bevor sie überhaupt dazu in der Lage war, über ihre weiteren Schritte nachzudenken.
Am liebsten hätte sie einfach drauflos geheult, so elend fühlte sie sich. Reichte es denn nicht, in dieser seltsamen fremden Welt gelandet zu sein und ihre Familie verloren zu haben?
Jetzt musste sie auch noch erfahren, dass nicht nur keinerlei Hilfe von den Behörden hier zu erwarten hatte, sondern, ganz im Gegenteil, auch noch als Verbrecherin steckbrieflich gesucht wurde!
Konnte es denn noch schlimmer kommen?
Wohin sollte sie sich denn jetzt noch hinwenden? Wer konnte ihr helfen, wem konnte sie überhaupt noch vertrauen?
Eines war ihr zumindest klar: Hier in diesem Gebäude konnte sie nicht bleiben. Es durfte nur eine Frage der Zeit sein, bis man sie fand.
Ihr Blick fiel zufällig auf eine Kiste, deren Deckel offen stand. Sie schaute hinein und stellte fest, dass diese bis zum Rand gefüllt war mit alten Akten.
Sie dachte kurz nach. Wenn sie sich einen Stapel dieser Akten nahm, vielleicht ging sie dann als Bürobote durch? Auf ihrem Weg durch das Gebäude war sie zumindest immer wieder irgendwelchen Frauen und Männern begegnet, die überaus geschäftig mit irgendwelchen Papieren durch die Flure liefen.
Mit ein bisschen Glück würde sie niemand aufhalten, während sie ungestört nach einem Ausgang aus dem Gebäude suchen konnte.
Sarah ging wieder in das Erdgeschoss zurück. Während sie den endlos langen Fluren folgte, wurde es allmählich wieder etwas belebter.
Zunächst hielt sie jedes Mal ängstlich den Atem an, wenn ihr jemand begegnete. Sie bemühte sich, möglichst beschäftigt und eilig auszusehen, damit ja niemand auf die Idee kam, sie anzusprechen. Als sie sah, dass sie von niemandem weiter beachtet wurde, wurde sie allmählich etwas ruhiger. Sie schien in ihrer Verkleidung wirklich niemandem aufzufallen.
Dummerweise war sie bisher an keinem Ausgang vorbeigekommen. Es konnte doch nicht sein, dass es nur den einen gab, durch den sie das Gebäude betreten hatte. Und wenn sie an einem Fenster vorbeigekommen war, war es jedes Mal vergittert gewesen.
Auf ihrer Suche kam Sarah durch die merkwürdigsten Abteilungen der riesigen Behörde. Zunächst durchquerte sie die >Abteilung zur Meldung wirklicher Begegnungen mit unwirklichen Personen<, an die sich die >Abteilung zur Meldung unwirklicher Begegnungen mit wirklichen Personen< und zu guter Letzt die >Abteilung zur Meldung unwirklicher Begegnungen mit unwirklichen Personen< anschloss.
Vielleicht lag es ja nur an der staubigen und leicht abgestandenen Luft in diesen Fluren, auf jeden Fall bekam Sarah schließlich Kopfschmerzen.
Schließlich erreichte sie eine Stelle, die ihr bekannt vorkam. Hier war sie auf der Suche nach der Abteilung mit der fetten Dame schon einmal gewesen!
Als sie sich gerade unauffällig in die Richtung der großen Eingangshalle begeben wollte, fiel ihr auf, dass in dem Flur davor zahlreiche Personen versammelt waren, die lebhaft miteinander diskutierten. Rasch zog sie sich in einen Nebengang zurück, wo sie mit wild klopfendem Herz erst einmal stehen blieb. Dort tat sie so, als würde sie geschäftig etwas in ihren Papieren suchen. Dabei schaute sie immer wieder vorsichtig über den Rand ihrer Akten. Schließlich traten einige der versammelten Personen ein wenig auseinander, so dass Sarah endlich erkennen konnte, was hinter der Tür los war.
Das, was sie dort sah, ließ sie ihren Mut vollends verlieren.
Eine ganze Gruppe von bewaffneten Wächtern hielt den Zugang zur Eingangshalle blockiert und kontrollierte jeden, der das Gebäude verlassen wollte.
Rasch drehte sich Sarah um. Ihr blieb nichts anderes übrig, als wieder in das Innere des Gebäudes zurückzugehen. Trotz ihrer Panik, zwang sie sich dazu, langsam zu gehen. Sie durfte keinesfalls Aufmerksamkeit erregen.
Offensichtlich hatte sich die Kunde, dass etwas nicht stimmte, bereits wie ein Lauffeuer ausgebreitet. In fast jedem Flur, durch den sie ging, waren unter den Beschäftigten und den Besuchern der seltsamen Behörde bereits rege Diskussionen im Gange.
Sarah hoffte jedes Mal inständig, dass sie nicht angesprochen wurde.
Als sie in einen der nächsten Flure kam, sah sie voller Schrecken, wie am anderen Ende des Ganges gerade zwei uniformierte Männer um die Ecke bogen.
Sie konnte sich gerade noch rechtzeitig umdrehen.
Man durchsuchte jetzt offensichtlich das ganze Gebäude nach ihr!
Sie hörte die lauten Schritte der Wachen, die hinter ihr durch die Flure hallten.
Hastig schaute sie sich nach einem Versteck um. Ohne groß überlegen zu können lief sie die nächste Treppe hinauf, die in einem kurzen Gang endete. Sarah erkannte gleich, dass sie einen großen Fehler gemacht hatte: Sie befand sich in einer Sackgasse.
Zurück konnte sie nicht mehr. Ihr würde also anderes übrig bleiben, als in einem der hier oben gelegenen Räume zu verschwinden.
Verwirrt las sie die Aufschrift auf den Schildern, an denen sie vorbei kam: >Abteilung zur Zensierung noch ungeschriebener Bücher< , >Büro zur Korrektur unerwünschter Verläufe in Romanen<, Sie sah einen großen Kasten an der Tür, der dazu aufforderte, die Bücher, mit deren Ende man nicht einverstanden war, außerhalb der Geschäftszeiten einfach hineinzuwerfen.
Dann war sie auch schon am Ende des Flurs angelangt. Sie konnte schon die schweren Schritte der Wachen auf der Treppe hören, als sie sich kurzerhand für die letzte Tür entschied.
Es handelte sich um das >Institut für Bücher, die nicht zu Ende gelesen wurden<, wie sie dem großen messingfarbenen Türschild noch rasch entnehmen konnte.
7
Sarah fand sich in einem großen Raum wieder, in dem zahlreiche Menschen ungemein geschäftig hin und her eilten.
Sarah blieb zunächst hinter der Tür stehen, um nach den Schritten ihrer Verfolger zu lauschen. Sie hielt die Luft an, als sie die eiligen Schritte mehrerer Personen vernehmen konnte, die sich aber zu ihrer unendlichen Erleichterung gleich wieder entfernten.
Sie hatte zumindest ein wenig Zeit gewonnen!
Einer plötzlichen Eingebung folgend zog sie sich die Kappe vom Kopf, so dass ihr die Haare wieder über die Schulter fielen. Schließlich suchten ihre Verfolger irritieren ja ein verkleidetes Mädchen.
Sarah mischte sich jetzt mit ihrem Aktenstapel unauffällig zwischen die Bediensteten. Sie erkannte, dass diese mit dem Auspacken von Paketen beschäftigt waren. Bei deren Inhalt schien es sich samt und sonders um Bücher zu handeln, Bücher in allen möglichen Größen und Farben, dicke und dünne Bücher, riesig große und winzig kleine.
In den meisten der Bücher steckten irgendwelche bunten Zettelchen, die wie Lesezeichen aussahen.
Es sah ganz so aus, als wäre sie in einer Art von Bücherei, vielleicht einer Leihbücherei, gelandet.
Zufrieden stellte Sarah fest, dass sich hier offensichtlich niemand um sie scherte.
„Vielleicht ist hier ja irgendwo ein Ausgang? Von irgendwoher müssen diese ganzen Pakete ja hergekommen sein“, sprach sie leise vor sich hin, als plötzlich eine schwere Hand auf ihre rechte Schulter legte:
„Ah, da bist du ja schon. Ich muss mich wohl im Datum geirrt haben. Eigentlich habe ich dich ja erst morgen Mittag erwartet. Passiert mir in der letzten Zeit immer wieder. Aber egal, je früher desto besser! So, dann führe ich dich jetzt schon einmal ein wenig in unserer Abteilung herum, damit du heute schon anfangen kannst!“
Der Mann, der ihr gerade einen solchen Schrecken eingejagt hatte, war sehr groß und furchtbar dünn. Seine schon leicht ergrauten Haare hingen ihm ziemlich wirr vom Kopf und standen nach allen Seiten ab. Er trug furchtbar dicke Brillengläser und einen dunklen Anzug, dessen Hosenbeine ihm allerdings etwas viel kurz waren. Alles in allem machte der Mann einen sehr gutmütigen und durchaus freundlichen Eindruck, so dass Sarah kurzerhand beschloss, ihn nicht über die offensichtliche Verwechslung aufzuklären.
Sie brachte ein Lächeln zustande und murmelte eine Entschuldigung, dass sie schon so früh gekommen sei.
Ihr Gegenüber schien ihr allerdings gar nicht zuzuhören, sondern zog sie sogleich hinter sich her, an großen Bücherregalen, die sich durch die Last unzähliger Bücher förmlich durchbogen, vorbei in Richtung einer weiteren Tür, die Sarah zunächst gar nicht aufgefallen war.
Der Mann, bei dem es sich vermutlich um den Leiter dieser seltsamen Abteilung handelte, führte sie in einen deutlich kleineren Raum, in dem, gelinde gesagt, das größte Durcheinander herrschte, das sie bisher in ihrem Leben gesehen hatte.
Vor lauter Bücherstapel, von denen die meisten bedenklich hoch und mindestens ebenso windschief waren, konnte sie zunächst kaum etwas anderes erkennen.
„Alles in den letzten drei Tagen gekommen! Haben es bisher noch nicht geschafft, das ganze abzuarbeiten!“
Ziemlich geschickt für seine Größe, wand sich der Mann zwischen den Stapeln hindurch und bedeutete Sarah mit einer ungeduldigen Geste, ihm zu folgen. Vorsichtig darum bemüht, die Buchtürme nicht in bedrohliche Schwankungen zu versetzten, kam diese hinterher und fand sich schließlich inmitten des Bücherwaldes vor einem großen Schreibtisch wieder.
Auch dieser war fast vollständig mit Büchern bedeckt.
Sarah hielt den Atem an, als der dünne Mann einen ziemlich hohen Stapel Bücher anhob, der sogleich damit anfing, bedrohlich hin und her zu schwanken. Immerhin kam darunter tatsächlich die Sitzfläche eines Stuhles zum Vorschein, auf dem sie sich niederlassen konnte. Nachdem der Bibliotheksleiter es auch irgendwie geschafft hatte, einen Stuhl freizumachen, ohne den Bücherwald zum Einsturz zu bringen, setzte er sich mit einem behaglichen Seufzer hin und verknotete kunstvoll seine langen Beine.
Er summte leise vor sich hin und musterte Sarah vergnügt, während er auf dem Bügel seiner Brille herumkaute.
„Na mit was lassen wir dich am besten anfangen?“, überlegte er laut, wobei er sich mit der Hand immer wieder durch sein Haar fuhr, was das Durcheinander auf seinem Kopf erklären durfte.
„Vielleicht etwas spannendes und abenteuerliches oder doch lieber etwas romantisches, wie?“ Er zwinkerte ihr zu. „Eine kleine Romanze…, eine herzerwärmende Liebesgeschichte? Natürlich muss sie gut ausgehen, das versteht sich von selbst… Hast selber sicherlich schon einen kleinen Freund, wie? Na sag selbst, was meinst du?“
Das Gespräch begann einen reichlich seltsamen, für Sarahs Geschmack zu seltsamen Verlauf anzunehmen.
„Vielleicht doch eher etwas spannendes und abenteuerliches?“, schlug sie vorsichtig vor.
„Gut!“, strahlte ihr Gegenüber sie an. „Haben wir, haben wir.“ Er rieb sich vergnügt die Hände.
„Am besten, du kommst gleich mit mir mit. Ich zeige dir jetzt deinen Arbeitsplatz und stelle dich noch rasch den anderen vor. Wir wollen ja keine Zeit verlieren, nicht war? Ich muss mich im Übrigen heute noch um Julia und ihren Romeo kümmern. Das arme Mädchen steht bereits seit Monaten auf ihrem Balkon. Die ganze Geschichte wird zwar auch diesmal wieder nicht gut ausgehen, aber ich finde die beiden haben trotzdem ein Recht darauf, die Sache zu einem Abschluss zu bringen. Diese ganze Ungewissheit ist schließlich auch nicht gerade schön…“
Meinte er etwa die Geschichte von „Romeo und Julia“? Sarah verstand weiterhin nicht im Geringsten, was hier überhaupt gespielt, geschweige denn von ihr erwartet wurde.
Sie musste sich beeilen, dem Mann zu folgen, der es jetzt wirklich ziemlich eilig hatte und aus seinem Zimmer stürmte, ohne mehr sonderlich viel Rücksicht auf die zahlreichen Bücherstapel zu nehmen, die ihm dabei im Wege standen.
Ehe Sarah es sich versah hatte er sie draußen vor der Tür schon wieder am Arm genommen und durch einen langen schmalen Flur gezerrt. Erst an dessen Ende blieben sie vor einer geschlossenen Tür stehen, auf der in großen schwarzen Lettern geschrieben stand: >Bitte Ruhe< sowie >Nicht anklopfen< und weiter unten: >Leise (!) eintreten und die Tür dann vorsichtig (!) wieder schließen<.
Der Mann hielt sich jetzt allerdings nicht lange mit irgendwelchen Höflichkeiten auf, sondern stieß die Tür einfach mit einem kräftigen Ruck auf.
„Da wären wir, meine Liebe!“, sprach der er und trat beiseite, so dass Sarah eintreten konnte.
Der Anblick, der sich ihr jetzt bot, war einfach unbeschreiblich.
Sie befanden sich in einer großen Halle. In dieser standen unzählige Stühle, Liegen, Sessel und Sofas in allen Größen, Farben und Mustern, sowie nicht zuletzt auch eine ganze Anzahl von Betten! Und nahezu auf jedem dieser Sitz- und Liegemöbel saß oder lag jemand und hielt ein aufgeschlagenes Buch vor sich in den Händen.
Neben jedem der Leser oder Leserinnen stapelten sich mindestens zwei oder drei mehr oder weniger hohe Büchertürme auf dem Boden, die ganz offensichtlich darauf warteten, ebenfalls gelesen zu werden.
Sie folgte dem Bibliotheksleiter auf seinem Inspektionsgang durch den Lesesaal. Ab und zu klatschte er laut in die Hände oder stampfte kräftig mit einem Fuß auf, woraufhin so mancher der Bücherleser reichlich unsanft aus seinem Schlaf gerissen wurde. Ab und an fiel dabei auch ein Buch auf den Boden, das dann mit hochrotem Kopf und verlegener Miene wieder aufgehoben wurde.
Allerdings konnte Sarah sehen, dass es einige der Anwesenden zwar ganz vorzüglich vorzugeben verstanden, sie seien eifrig am Lesen und Arbeiten.
In Wirklichkeit aber hatten es sich diese recht gemütlich gemacht und waren, verborgen hinter ihren Büchern, friedlich am Schlummern und Dösen. Einer hatte, Sarah sah es im Vorbeigehen ganz genau, ein besonders großes Buch vor sich stehen, hinter dem er gerade in aller Ruhe eine ausgiebige Mahlzeit verzehrte.
Im Übrigen war es in der großen Halle nahezu gespenstisch leise, einmal abgesehen von den Geräuschen, die durch das Umblättern der Seiten verursacht wurden und die sich fast so anhörten wie das Rauschen der Blätter in einem Wald. Nur ab und an störten ein halbherzig unterdrücktes Gähnen oder ein lautes Aufschnarchen die Idylle.
Ganz im hinteren Teil der Halle in einer Ecke wies der Mann Sarah schließlich einen freien Platz in einem alten, abgewetzten Sessel zu. Dieser trug ein wahrhaft scheußliches Muster aus großen bunten Blumen, die im Laufe der Jahre ein wenig verblasst waren.
„So da wären wir, mein Kind. Du kennst sicherlich die Arbeitszeiten. Standen alle in dem Brief, den du bekommen hast. Noch einmal kurz das Wichtigste: Nach jedem Buch gibt es 15 Minuten Pause. Eselsohren, Kaffee- und Schokoladenflecken auf den Seiten oder andere Verunreinigungen sind natürlich strengstens verboten!“
Ehe Sarah irgendetwas erwidern konnte, hatte der Mann bereits kehrt gemacht und eilte, immer mal wieder in die Hände klatschend, auf den Ausgang zu. Schließlich drehte er sich noch einmal kurz zu ihr um und rief: „Die Mitnahme von Büchern auf die Toilette ist selbstredend ebenfalls untersagt!“
Neben ihrem Sessel fand Sarah einen entmutigend hohen Bücherstapel.
Sie nahm das oberste Exemplar vom Stapel. Zunächst musste sie erst einmal die dicke Staubschicht herunterpusten, um überhaupt den Titel lesen zu können.
Es war >Robinson Crusoe< von Daniel Dafoe. Sie entdeckte ein Lesezeichen, auf dem stand: > Ab hier zu bearbeiten: Seite 78, Zeile Sieben, Zweites Wort <.
Sarah schlug das Buch folgsam an der markierten Stelle auf:
„….Oktober. Mein Floß schlug um und mit ihm meine ganze Ladung…“, konnte sie lesen.
Reichlich dämlich, mit einem Buch in der Mitte anzufangen! Als sie aber die erste Seite aufschlagen wollte, musste sie zu ihrer Verwunderung feststellen, dass dies nicht möglich war: Jemand hatte doch tatsächlich sämtliche Seiten des Romans bis zu der markierten Stelle zusammengeklebt!
Sie nahm ein weiteres staubiges Buch von dem Stapel herunter. Diesmal handelte es sich um >Moby Dick< (bei diesem dicken Wälzer waren nur die ersten 20 Seiten unlesbar gemacht worden), dann folgten ein Kriminalroman, bei dem lediglich die letzten beiden Seiten zugänglich waren (Sarah erfuhr beim Durchblättern, dass tatsächlich der Gärtner der Mörder war…) und mehrere Reiseberichte irgendwelcher Forscher. Schließlich musste sie von dem ganzen Staub erneut niesen, was ihr einige missbilligende Blicke einbrachte (sicherlich hatte sie den einen oder anderen der Leser gerade aufgeweckt…).
Bei den anderen Büchern handelte es sich dann ausnahmslos um Liebes- und Schicksalsromane. Sarah stöhnte leise auf, als sie die Titel las. Da waren wirklich buchgewordene Albträume darunter. Sie sollte unbedingt weiter an ihren Fluchtplänen arbeiten.
„Psst!“, hörte sie plötzlich jemanden leise flüstern. Die Stimme kam aus dem nächsten Lesesessel neben ihr. Sie erkannte einen blonden Jungen, der sich über die Lehne beugte und zu ihr herüber blickte. Er vielleicht zwei oder drei Jahre älter als sie.
„Neu hier, was?“, fragte er sie.
Sarah nickte zustimmend.
„Warte, ich komme grad` mal schnell rüber zu dir“.
Der Junge rückte seinen Sessel mit einiger Anstrengung etwas näher an den ihren heran, so dass sie sich bequem im Flüsterton unterhalten konnten, ohne die anderen Leser zu stören.
„Ich heiße Martin“, teilte er ihr mit. Sarah stellte sich ebenfalls vor.
Martin hatte ein freundliches Gesicht, das vor allem um die Nase herum von der Natur großzügig mit Sommersprossen ausgestattet worden war.
Er warf einen Blick auf die große Uhr, die hinter ihnen an der Wand hing. Sarah konnte auf ihr ein zusätzliches Ziffernblatt erkennen, auf dem abzulesen war, wie viele der Bücher schon zu Ende gelesen waren.
„Weißt du was? Wir machen einfach eine kurze Pause. Dann kann ich dir in aller Ruhe ein wenig von der Arbeit hier erzählen…“
Sarah ließ sich das nicht zweimal sagen und folgte dem blonden Jungen in einen Nebenraum, in dem ein paar Tische und Stühle standen.
„So, hier brauchen wir wenigstens nicht zu flüstern!“
Martin setzte sich ihr gegenüber und nickte ihr freundlich zu.
„Sicherlich kommt dir das alles noch ein wenig komisch vor. Aber du wirst sehen, es ist eigentlich ganz nett hier.“
Sarah, die sich immer mehr vorkam wie in einem nicht enden wollenden Albtraum, verdrehte sie Augen.
„Was soll das ganze hier überhaupt?“, wollte sie ungeduldig wissen. „Diese ganzen Bücher hier mit den zugeklebten Seiten!“
„Kannst du dir das denn nicht vorstellen?“, fragte Martin und blickte sie ziemlich erstaunt an.
„Eigentlich ist es ganz einfach: Wir erhalten Bücher, die von ihren Besitzern, aus welchen Gründen auch immer, nicht zu Ende gelesen wurden. Schließlich sind wir hier im Institut zur Rettung nicht zu Ende gelesenen Bücher! Unsere Aufgabe ist es, die Geschichte, die in den Büchern erzählt wird, zu einem Abschluss zu bringen!“
Sarah schaute ihren Gesprächspartner nur mit großen Augen an.
„Hier“, er hielt ihr das Buch hin, das er gerade gelesen hatte: „Als das Buch zu uns kam, hatte es mindestens 10 Jahre auf einem Dachboden gelegen. Nils Holgerson befand sich gerade in einer ziemlich blöden Situation. Akka, die Anführerin der Wildgänse, sollte gerade darüber entscheiden, ob er, ein Menschenkind, weiter mit ihnen ziehen dürfte. Diese ganze Ungewissheit, wie sie sich entscheiden würde, geschweige denn die Frage ob er irgendwann wieder als richtiger Mensch, er war ja, wie du sicherlich weißt zuvor von dem Wichtelmännchen verhext worden, wieder zu seinen Eltern zurückkehren würde! Zehn lange Jahre Unsicherheit! Wirklich unverantwortlich. Man sollte solchen Menschen am besten gleich verbieten, ein Buch in die Hand zu nehmen!“
„Aber entschuldige!“, warf Sarah, die das im Übrigen gut Buch kannte, kopfschüttelnd ein. Sie war ganz durcheinander.
„Es sind doch nur Bücher. Ich meine, es handelt sich hier doch nur um irgendwelche Geschichten, die jemand erfunden und aufgeschrieben hat!“
„Kannst du dir da wirklich ganz sicher sein?“, fragte Martin daraufhin nur und schaute sie fragend an.
„Stell dir nur einmal vor, wir beide, wie wir hier gerade sitzen und miteinander sprechen, wären ebenfalls Gestalten in einem Roman. Das, was wir in diesem Moment erleben, steht, sagen wir mal, auf der Seite 160 geschrieben, und derjenige, der gerade unsere Geschichte liest, verliert in diesem Moment den Gefallen an dem Buch und stellt es ins Regal zurück, wo es langsam Staub ansetzt. Und was passiert dann mit uns? Wir sitzen hier bis in alle Ewigkeit und labern die ganze Zeit den gleichen Mist!“
Sarah wollte widersprechen aber machte ihren Mund sogleich wieder zu. Wie konnte sie sich nach alledem, was sie in den letzten Tagen erlebt hatte, wirklich sicher sein, ob der Junge nicht vielleicht sogar Recht hatte?
Ihr wurde plötzlich ganz traurig zumute. Es war alles so fremd hier.
„Was ist eigentlich los mit dir?“ Martin hatte aufgehört zu lächeln und schaute ihr jetzt aufmerksam ins Gesicht. „Irgendetwas stimmt doch nicht, habe ich recht?“
Sarah konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Schließlich nickte sie kaum wahrnehmbar. Irgendwie hatte sie in der kurzen Zeit Vertrauen in den blonden Jungen gefunden. Auch wenn dies vielleicht die falsche Entscheidung sein sollte: Sie musste sich irgendwann jemandem anvertrauen. Sollte er sie doch anschließend für verrückt erklären oder von ihr aus bei den Wachen abliefern. Es war ihr jetzt eigentlich alles völlig egal…
Stockend erzählte Sarah dem Jungen ihre Leidensgeschichte. Sie fing bei ihrer Fahrt durch den Tunnel an und endete bei ihrer Flucht durch das Gebäude. Sie ließ nichts aus, da sie diese ganzen Verstellungen und Lügen einfach leid war.
Als Sarah schließlich geendet hatte, schwieg Martin zunächst eine ganze Weile nachdenklich.
Dann erhob er sich von seinem Platz, so dass Sarah schon dachte, er würde einfach hinausgehen. Verdenken konnte sie ihm das nicht.
Aber zu ihrer Überraschung setzte er sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schulter.
„Ich will nicht gerade behaupten, dass ich alles von dem verstanden habe, was du mir gerade erzählt hast“, sprach er schließlich. „Aber ich glaube dir, Sarah.“
Er blickte sie mit ernster Miene an.
„Und ich fürchte, dass du tatsächlich in großer Gefahr schwebst. Du musst wissen, dass sich in unserem Land in den letzten leider einiges zum Schlechten verändert hat. Leute verschwinden aus heiterem Himmel, wieder andere werden auf offener Straße verhaftet und tauchen ebenfalls nicht mehr auf. Man ertappt sich immer häufiger dabei, dass man sich genau überlegt, wem man überhaupt noch etwas Persönliches erzählt.“
Er verstummte nachdenklich. Schließlich hellte sich seine Miene ein wenig auf.
„Ich glaube, ich kann dir dabei helfen, von hier unbemerkt zu verschwinden! Außerdem denke ich, dass es da jemanden geben dürfte, der dir bei deiner Suche vielleicht behilflich sein könnte…“
8
Sarahs Flucht aus dem Gebäude konnte allerdings erst nach Anbruch der Dunkelheit in Angriff genommen werden. Als Stunden später die in der Abteilung Beschäftigten schließlich nach Hause strebten, nahm Martin Sarah eilig bei der Hand und führte sie in die entgegengesetzte Richtung durch eine Reihe von spärlich beleuchteten Korridoren tiefer in das Gebäude hinein, bis sie schließlich an eine Tür kamen, die in einen größeren, dunklen Raum führten. Sarah konnte im Dämmerlicht schemenhaft verschiedene, ziemlich große Behälter ausmachen. Gleich darauf erkannte sie, dass es sich um hölzerne Kisten handelte.
„So, hier können wir uns ungestört unterhalten.“ Sarah und Martin setzten sich hinter einen Wagen, auf dem eine der großen Kisten stand.
Sarah bemerkte jetzt erst, dass Martin ein großes Bündel bei sich trug.
„Ich fürchte, es wird jetzt eine ganze Weile ziemlich unbequem für dich werden…“, Martin deutete auf die Kiste, hinter der sie beide gerade saßen.
„Da sind Bücher drinnen, ausgelesene Bücher, die wieder an ihre früheren Besitzer zurückgegeben werden. Und das Beste daran ist: Die Kiste geht in eine kleine Stadt, in der Verwandte von mir wohnen! Ein Onkel und eine Tante, die mich ziemlich gut leiden können. Du solltest am besten zu ihnen gehen. Ich habe vorhin noch schnell einen kleinen Brief geschrieben, den du ihnen geben solltest. Ich denke aber, dass du ihnen nicht alles erzählen solltest, was du mir gesagt hast. Das wäre sicherlich zu viel für sie. Sie sind schließlich nicht mehr die jüngsten. Da sie aber wahrlich keine Freunde des Königs und seiner Politik sind, werden sie dir mit Freude helfen. Vielleicht sagst du ihnen einfach, dass deine Eltern aus dem gleichen Grund verhaftet worden sind…“
Sarah nickte. Ihr war der Gedanke daran, in einer Kiste eingesperrt zu werden nicht gerade angenehm, auch wenn sie einsah, dass dies wohl ihre einzige Fluchtmöglichkeit war.
„Martin, du hast vorhin gesagt, dass es da vielleicht noch jemanden gäbe, der mir helfen könnte…“
Der blonde Junge nickte langsam.
„Es gibt einen ziemlich bekannten Zauberer in unserem Land. Man erzählt sich, dass er und unser König sich irgendwann hoffnungslos zerstritten hätten, eine Tatsache, die vielen von uns schon ausreicht, um lieber den Zauberer auf dem Thron zu sehen. Das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass Arthur fliehen musste.“
Sarah schaute ihren Gefährten aufmerksam an.
„Ist es etwa der Zauberer, der überall auf den Plakaten erwähnt wird?“
„Du hast die Steckbriefe also auch schon gesehen. Ja, genau diesen Mann meine ich. Da gibt es noch etwas, was ich dir sagen muss: Der Zauberer ist ein Verwandter von mir, ein entfernter Onkel. Das darf aber in der jetzigen Zeit bloß niemand wissen, wie du dir sicher denken kannst… Ein Cousin von mir lebt übrigens bei diesem Zauberer. Im Gegensatz zu mir haben seine Eltern beschlossen, ihren Sohn aus Trotz erst recht zum Zauberer ausbilden zu lassen. Nun, die beiden waren schon immer ein wenig unkonventionell...“ Martin lachte leise.
„Und wo finde ich diesen Zauberer?“, flüsterte Sarah.
„Da kann ich dir jetzt leider auch nicht richtig weiterhelfen. Er ist die meiste Zeit wie von der Bildfläche verschwunden, taucht aber dann überraschenderweise mal hier und mal dort kurz auf, um dann rasch wieder unterzutauchen. Der König soll deshalb rasend vor Wut sein!“
Irgendwo schlug eine Uhr zwölfmal.
„Es tut mit leid, aber wir sollten die Kiste rasch ausräumen, damit du dich darin verstecken kannst. Wahrscheinlich wird der Transport schon bald losgehen. Der Weg ist ziemlich weit, und ich habe gehört, dass der Kutscher anschließend noch in einer anderen Angelegenheit weiter fahren muss.“
Martin hatte eine Petroleumlampe dabei. Sarah konnte sehen, dass die große Kiste durch Trennwände unterteilt war. Sie räumten das mittlere Fach rasch aus und versteckten die Bücher hinter ein paar anderen Kisten.
Martin half Sarah dabei, in das leere Fach zu steigen. Sie passte recht bequem hinein und hatte sogar ein wenig Platz, um ihre Beine ausstrecken zu können.
„Hier, ich habe dir etwas zum Essen und Trinken eingepackt.“
Martin drückte Sarah einen Beutel in die Hand.
„Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll“, sprach Sarah leise. Ihr war ziemlich traurig zumute. Endlich hatte sie einen Verbündeten gefunden, und schon musste sie wieder alleine weiterziehen.
„Das habe ich gerne getan! Pass auf dich auf. Vielleicht kannst du mir über meinen Cousin ja eine kleine Nachricht zukommen lassen, dass du gut bei ihm angekommen bist?“
Sarah versprach es ihm.
Als sie sich schließlich im Dunkeln der Kiste niederkauerte und der Deckel über ihr geschlossen wurde, überbekam sie für einen kurzen Augenblick ein Gefühl der Panik.
Als hätte Martin geahnt, wie ihr jetzt zumute war, klopfte er noch einmal leise zum Abschied an die Seitenwand der Kiste.
Sarah versuchte sich zu entspannen. Schließlich merkte sie, wie sie trotz der reichlich unbequemen Lage müde wurde. Und ehe sie es sich versah, war sie auch schon eingeschlafen.
9
Als Sarah wieder kurz aufwachte, merkte sie, dass sie bereits unterwegs waren. Sie hoffte, dass sie die schreckliche Behörde schon weit hinter sich gelassen hatten.
Die einzigen Geräusche, die sie gedämpft im Inneren der Kiste hören konnte, waren das Rumpeln der Räder auf dem Pflaster der Straße und die Stimme des Kutschers, der ab und zu beruhigend auf die Pferde einsprach.
Sarah war bald wieder eingeschlafen.
Als sie wieder aufwachte war es in ihrem Versteck ein wenig heller geworden. Durch kleine Ritzen in den Seitenwänden ihres Verstecks drang jetzt ein wenig Tageslicht in das Innere der Kiste.
Sarah durchsuchte den Beutel, den Martin ihr mitgegeben hatte. Sie fand darin mehrere Brötchen, eine große Wurst, hart gekochte Eier, mehrere Äpfel und zwei Hühnerschenkel.
Wo mochte Martin das alles wohl aufgetrieben haben? Ein Gefühl der Dankbarkeit durchströmte sie bei dem Gedanken an den Jungen. Hoffentlich bekam er für seine Hilfe nicht noch Ärger…
Nach einer ziemlich langen und reichlich unbequemen Fahrt, die sie halb dösend in ihrer Kiste verbracht hatte, kam der Wagen schließlich zum Halten.
Hatten sie ihr endgültiges Ziel bereits erreicht? Sarah hatte ihr Zeitgefühl verloren.
Sie hörte jetzt, wie der Kutscher herzhaft gähnte und zu seinen Pferden sprach: „Das wäre geschafft, meine braven Mädchen. Jetzt erst einmal ein anständiges Frühstück! Abladen kann ich später noch.“
Die Kutsche wackelte, als der Mann von seinem Sitz hinab stieg.
Daraufhin hörte Sarah ein plätscherndes Geräusch. Das Unangenehmste an dem Geräusch war, dass es sie daran erinnerte, wie nötig sie selbst mal musste!
Schließlich entfernten sich die Schritte des Kutschers.
Sarah wartete noch ein paar Minuten und machte sich dann daran, den Deckel der Kiste zu öffnen.
Erst einmal durchfuhr sie ein gewaltiger Schreck, als sich das Ding keinen Millimeter bewegen ließ. Eine kurze Schrecksekunde lang dachte sie, dass jetzt sicherlich ein Schloss vor der Kiste hing. Aber dann schaffte sie es doch, den Deckel anzuheben. Sie hatte es zuvor einfach nur an der falschen Seite versucht…
Sarah schaute vorsichtig über den Rand ihres Verstecks: Die Kutsche stand neben einer großen Scheune im Schutz einer mächtigen Weide. Die beiden Pferde vor der Kutsche fraßen seelenruhig von dem saftigen Gras am Rande einer Viehkoppel, auf der einige Kühe standen. Ansonsten war keine Menschenseele zu sehen.
So schnell es ging, kletterte sie aus ihrer Kiste heraus. Ihre Arme und Beine waren vom langen Sitzen schon ganz steif geworden. Sie vergaß nicht, hinter sich den Deckel wieder zu schließen. Noch sollte niemand etwas von dem blinden Passagier entdecken! Als letztes fiel ihr Blick auf eines der Bücher: > Auf der Flucht , stand da in geschwungenen großen Buchstaben geschrieben. Sarah setzte sich an den Rand ihres Bettes und schlug das Heftchen auf. Dieses bestand nur aus zwei Doppelseiten. Ein Text fehlte völlig. Stattdessen war auf einer der Seiten ein dichter Wald abgebildet. So sehr sie sich auch anstrengte, mehr Informationen waren aus diesem Bild nicht herauszuholen. Auf der letzten Seite war lediglich ein kleiner schwarzer Punkt am rechten unteren Rand erkennbar, sonst war sie völlig leer.
Seltsam, dachte sich Sarah.
Bei der Abbildung auf der Vorderseite hatte sie natürlich gleich an den Zauberer gedacht. Auch wenn sie in ihrem Leben bisher noch keinem Zauberer begegnet war, der Mann auf dem Bild entsprach ziemlich genau ihren Vorstellungen von einem solchen: Der lange Mantel, die geheimnisvollen Zeichen, der Zauberstab und nicht zuletzt natürlich auch der Zauberhut und der wallende weiße Bart.
Am Frühstückstisch musste Sarah zu ihrem Erstaunen feststellen, dass die beiden Alten nichts von einer Broschüre auf ihrem Nachttisch wussten.
„Nein, mein Kind, von uns beiden hat niemand etwas in dein Zimmer gelegt. Und gestern Abend, als ich dein Bett gemacht und frische Blumen hingestellt habe, war noch nichts auf dem Nachtisch gewesen.“
Martins Tante schaute ratlos und auch ein wenig beunruhigt aus.
„Am besten, wir schauen uns das Ding mal an!“
Gemeinsam gingen sie nach oben.
In ihrem Zimmer angekommen, hob Martins Onkel das Heftchen auf und blätterte es durch.
„Ach, das sind doch bloß wieder irgendwelche nutzlosen Bekanntmachungen, Gesetze, Verbote und ähnliches mehr…“ Er machte einen angewiderten Gesichtsausdruck
Sarah nahm ihm das Büchlein erstaunt aus der Hand:
Tatsächlich: Dort, wo vorher auf der Vorderseite noch der Zauberer abgebildet war, war jetzt nur noch Text erkennbar. Genau wie auf den Innenseiten. Diese waren jetzt so eng mit kleinen Buchstaben beschrieben, dass Sarah sich die Seiten dicht vor die Nase halten musste, um überhaupt etwas lesen zu können. Sie überflog rasch ein paar Zeilen und sah, dass Martins Onkel recht hatte: Es handelte sich in der Tat hauptsächlich um Verbote.
Wie hoch das Gemüse im Vorgarten wachsen durfte (höchstens 30cm, außer Schnittlauch, der auf eine maximale Höhe von 25cm beschränkt wurde), dass die Verwendung von Rosenkohl in der Küche strengstens untersagt wurde (wegen der Geruchsbelästigung), dass auf dem Küchenplan wenigstens einmal in der Woche Rote Beete stehen musste (wegen der Blutbildung) und vieles dergleichen mehr.
Sarah warf das Heftchen gelangweilt auf das Bett zurück.
Martins Onkel verließ den Raum, um weiter frühstücken zu gehen. Sarah versprach, gleich nachzukommen, da sie sich noch umziehen wollte. Als sie wieder nach unten gehen wollte, fiel ihr Blick noch einmal auf das Heftchen.
Nanu. Was war das denn?
Auf der Titelseite erblickte sie wieder den Zauberer. Nur dass dieser jetzt mit beiden Armen ein Spruchband zwischen seinen Händen hielt: , konnte sie lesen. Darunter stand etwas kleiner: .
Auf der nächsten Seite fand sie wieder die Abbildung des dichten Waldes, wobei sich jetzt so ziemlich in der Mitte eine kleine Lichtung zeigte, auf der irgendetwas stand, ein Gebäude wahrscheinlich. Leider war nicht zu erkennen, ob ein Weg dorthin führte.
Sie blätterte eine Seite weiter. Dort, wo zuvor nur ein kleiner Punkt erkennbar gewesen war, konnte Sarah jetzt eine kleine Skizze sehen. Es handelte sich zweifellos um die Luftansicht eines kleinen Dorfes. Irgendetwas winzig Kleines stand da geschrieben. Sie hielt das Blatt ganz dicht vor ihre Augen: stand da.
Na so was!
Von dem kleinen Dorf aus führte eine gestrichelte Linie zunächst die Hauptstraße entlang nach Norden, verließ diese aber nach einer kurzen Strecke in Richtung Westen. Dort brach sie irgendwann ab.
Sarah steckte sich das Büchlein sorgfältig in die Tasche ihres Kleides. Martins Tante hatte ihr in der Zwischenzeit natürlich frische Kleidung besorgt, wobei hierbei ihre Begeisterung und Leidenschaft für gerüschte Kleidchen mit großflächigen Blumenmustern leider ein wenig mit ihr durchgegangen war. So etwas hätte Sarah früher noch nicht einmal ihrer Lieblingspuppe angezogen!
Aber, was half es? Nackt konnte sie schließlich nicht herumlaufen.
Auf dem halben Weg nach unten zog sie das Heftchen noch einmal hervor: .
Sarah beschloss, das Geheimnis des Heftchens lieber für sich zu behalten. Jetzt war sie sich ziemlich sicher, dass es nur für sie gedacht war.
Sie fragte sich nur, wie es in ihr Zimmer gelangt war.
Am nächsten Morgen war der Blick auf das Büchlein das erste, was sie nach dem Aufwachen tat.
stand da jetzt in fetten Buchstaben. Ein Blick auf die letzte Seite verriet Sarah nun ein wenig mehr über den Weg, den sie offensichtlich einzuschlagen hatte, um zu dem Zauberer zu gelangen. Es waren jetzt mehrere Orientierungspunkte vermerkt: Zum Beispiel eine Eiche mit doppeltem Stamm, eine Brücke über einen Bach aber auch solche Dinge wie ein Ameisenhaufen und ein Esel. Bei letzterem fragte sich Sarah, wie dieser denn bitteschön als Orientierungsmarke dienen sollte. Ein Esel stand sicherlich nicht die ganze Zeit an der gleichen Stelle herum.
Sie dachte sich, dass es jetzt langsam an der Zeit sein dürfte, endlich ein paar Vorbereitungen für ihren Aufbruch zu treffen. Sarah bedauerte es sehr, nicht mit ihren Gastgebern darüber sprechen zu können. Sie hatte ein ganz schlechtes Gewissen, während sie anfing ein paar Anziehsachen und weitere nützliche Dinge in einen Beutel zu packen, den sie dann sorgfältig im hintersten Winkel ihres Kleiderschrankes versteckte.
Dann war wieder ein Tag vergangen, den Sarah voller Ungeduld, aber auch mit wachsender Unruhe verbrachte. Sie konnte es kaum erwarten, gleich nach Sonnenaufgang das Heft wieder in die Hand zu nehmen.
Die Buchstaben füllten jetzt die ganze Seite aus und standen als alarmierend große gelbe Lettern auf rotem Untergrund. > Morgen früh muss es losgehen (bei Sonnenaufgang) <</font> stand noch als kleine Notiz am Rand.
Na, das ist jetzt doch wenigstens mal eine genauere Anweisung. Sarah schaute erwartungsvoll auf die letzte Seite: Tatsächlich, jetzt endete der gestrichelte Weg am Rande eines Waldes. Das dürfte sicherlich das Waldstück auf dem Blatt davor sein, dachte sich Sarah. Diese Seite hatte sich im Übrigen noch nicht weiter entwickelt und zeigte nach wie vor nur die unscharf erkennbare Lichtung mit dem Gebäude. Das dürfte sicherlich ihr eigentliches Ziel sein, dachte sich Sarah. Na, die machen ja vielleicht ein Geheimnis daraus…
Sie schaute sich noch einmal die Skizze an. stand völlig unnötigerweise noch als Anmerkung auf der letzten Seite.
Später verfasste sie auf ihrem Zimmer noch einen langen Abschiedsbrief, in dem sie den beiden Alten herzlich für ihre Gastfreundschaft dankte und sich tausendfach dafür entschuldigte, sie nicht in ihre Pläne eingeweiht zu haben. Aber sie war sich sicher, in dieser Hinsicht eine richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Beim gemeinsamen Abendessen war ihr richtig traurig zumute, und es fiel ihr wirklich schwer, sich nichts anmerken zu lassen. Martins Tante hatte sich bei der Zubereitung des Essens wieder förmlich selbst übertroffen und der Tisch im Esszimmer bog sich förmlich durch, so sehr war er mit allerlei Köstlichkeiten beladen (natürlich alles selbst gemacht und aus dem eigenen Garten…).
Schließlich verabschiedeten sie sich voneinander, um ins Bett zu gehen. Die beiden Alten schauten erst ganz verdutzt und dann überaus erfreut drein, als Sarah sie nacheinander umarmte und jeweils einen dicken Schmatz auf die Wangen gab.
Auf dem Wag nach oben konnte Sarah noch hören, wie sich Martins Onkel lautstark die Nase schnäuzte.
stand jetzt auf der Titelseite des Heftchens. Der Zauberer hatte diesmal einen großen Rucksack auf dem Rücken und trug einen Spazierstock in der Hand. Weiter unten las sie
Es war noch mitten in der Nacht, als sie wohl von irgendeinem Geräusch wach wurde. Sie lauschte einen Moment und wollte sich wieder auf die Seite drehen, als sie es erneut hörte: Irgendetwas ganz in ihrer Nähe raschelte nervtötend laut. Fluchend richtete sie sich im Bett auf und wollte schon nach einer Kerze und Streichhölzern tasten, als sie neben sich auf dem Nachttisch einen Lichtschimmer sah.
Sie rieb sich die Augen.
Aber der Lichtschimmer blieb.
Er ging von dem kleinen Heftchen auf ihrem Nachttisch aus. Der Zauberer trug jetzt eine große Laterne in der Hand, von der das geheimnisvolle Licht ausging. Den Zeigefinger hielt er warnend in die Luft. konnte Sarah entziffern, was gar nicht so einfach war, weil das Heftchen immer wieder herumflatterte, als würde im Zimmer ein starker Durchzug herrschen. Dabei waren die Fenster fest verschlossen.
Mit einem unguten Gefühl nahm sie das Heft in die Hand, das sich sogleich beruhigte und jetzt ganz still auf ihrem Schoß lag.
Was sie auf der letzten Seite lesen konnte, ließ sie vor lauter Schreck vom Bettrand aufspringen:
stand in dicken Buchstaben neben einem dicken Punkt notiert, der sich mitten auf der Straße in Höhe des Ortseinganges befand und der am Vortag mit Sicherheit noch nicht da gewesen war. Dann erkannte sie, dass sich der dicke schwarze Punkt langsam von seiner ursprünglichen Position auf der Karte fortbewegte, immer weiter auf die Stelle zu, neben der jetzt geschrieben stand
.
Sie musste so schnell wie möglich von hier verschwinden!
Mit flatternden Händen zog sie sich in Windeseile an und verließ das Zimmer. Sie überlegte gerade noch, ob sie die beiden Alten wecken und warnen sollte, da stieß sie schon mit Martins Onkel zusammen, der gerade die Treppe hinaufgehen wollte. Er hielt eine Kerze in der Hand und konnte wohl schon an Sarahs Gesichtsausdruck erkennen, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Zumindest stellte er keine weiteren Fragen, als Sarah ihm hastig erklärte, dass die Männer des Königs jeden Moment hier sein würden und sie sofort gehen müsste.
„Es tut mir so leid…“, flüsterte sie mit Tränen in den Augen.
Der alte Mann nahm sie beruhigend in die Arme.
„Mach dir um uns keine Sorgen, mein Kind. Glaube mir, wir haben unsere Köpfe schon häufiger aus der Schlinge ziehen müssen…“ Er nahm ihre Hand und zog sie eilig hinter sich her. „Komm schnell mit, ich kenne einen Fluchtweg, der dich direkt aus dem Dorf herausführen wird!“
Sarah wunderte sich, als Martins Onkel sie nicht etwa zur Hintertür, sondern schnurstracks zur Kellertreppe und hinab in die Tiefe führte.
Am Ende des großen Gewölbekellers stand eines der vielen mit Marmeladen- und Einmachgläsern bis zum Rand gefüllten Regale. Der alte Mann schob das Möbelstück kurzerhand zur Seite, woraufhin dahinter eine schmale und niedrige Öffnung im Mauerwerk zum Vorschein kam. „Dieser Gang führt aus dem Dorf hinaus und endet in der Nähe eines Bauernhofes in einem alten Brunnen. Der dient natürlich nur als Tarnung und wurde noch nie als Brunnen benutzt. Wer weiß, warum dieser Gang früher gebaut wurde…“
„Hier, nimm diese Laterne. Und jetzt los! Ich muss gleich wieder nach oben gehen und schnell alles verschwinden lassen, was an deinen Besuch hier erinnern könnte. Ich möchte nur gerne wissen, wer dich verraten hat…“
Sarah bewunderte den alten Mann, wie ruhig und überlegt er auf die Situation reagierte. Sie musste gestehen, dass sie ihn ganz schön unterschätzt hatte. Rasch teilte sie ihm in kurzen Worten noch mit, dass sie mittlerweile wusste, wo sie den Zauberer finden würde. Martins Onkel drückte sie noch einmal fest an sich und schob sie dann kurzerhand in den Gang hinein.
Sarah schlug aus der Öffnung kühle, abgestandene Luft entgegen.
Sie hörte, wie hinter ihr das Regal wieder vorgeschoben wurde.
12
Die Laterne vor sich haltend lief sie los. Dar Gang war teilweise so niedrig, dass sie gebückt gehen musste, um sich nicht den Kopf anzuschlagen. Nach einer Weile blieb sie stehen und lauschte. Es waren nur das entfernte Tropfen von Wasser und ihr eigenes Atemgeräusch zu hören. Sie wurde nicht verfolgt.
Sie hastete weiter.
Schließlich kam Sarah an eine Weggabelung. Ein Gang sah wie der andere aus, nur dass der eine nach rechts und der andere nach links abging. Welcher war jetzt um Himmels Willen bloß der richtige Weg? Warum hat Martins Onkel ihr nichts davon gesagt? Wahrscheinlich hatte er es vergessen. Schließlich hatte er ihr gerade mitgeteilt, dass es bereits Jahre her war, dass er den Gang erforscht hatte.
Bevor sie vollends in Panik geriet, fiel ihr glücklicherweise das Heftchen in ihrer Tasche ein. Und tatsächlich: Auf der Titelseite sah sie den Zauberer, der jetzt, genau wie sie, vor einer Weggabelung stand. Mit seinem Zauberstab zeigte er ganz eindeutig nach links!
Sarah überlegte nicht lange und eilte weiter. Dummerweise achtete sie nicht mehr so sehr auf den Untergrund und übersah wenig später ein paar ausgetretene Treppenstufen. Mit einem Aufschrei stürzte sie und blieb benommen auf dem kalten Boden sitzen.
Es war mit einem Mal pechschwarz um sie herum.
Ihre Laterne war bei dem Sturz auf dem harten Lehmboden zerbrochen!
Da fiel ihr ein schwacher Lichtschimmer auf, der aus ihrer Tasche kam. Gott sei Dank: Der Zauberer auf dem Heftchen trug wieder seine Laterne in der Hand. Sie gab zwar nicht sonderlich viel Licht, aber es reichte aus, um weiter laufen zu können.
Ihr lief ein kalter Schauer den Rücken hinab, als sie wenig später an einem tiefen Loch im Boden vorbeikam. Ohne ihr Licht wäre sie hier mit Sicherheit hinuntergestürzt.
Als sie schon dachte, dass der unterirdische Weg nie enden wollte, spürte sie einen frischen Luftzug, der ihr entgegen blies. Dieser konnte nur von draußen stammen! Außerdem war sie sich sicher, dass es nicht mehr ganz so feucht und klamm in der Höhle war.
Plötzlich endete der Gang. Es schien ein gemauerter Brunnen zu sein, in dem sie sich jetzt befand.
Sarah schaute nach oben und hätte vor Freude fast laut aufgeschrien: Hoch über ihr war der Himmel mit der Mondsichel zu sehen. Direkt vor ihr führte eine rostige Eisenleiter nach oben. Sehr Vertrauen erweckend sah diese nicht gerade aus, aber sie stellte nun einmal die einzige Möglichkeit dar, nach draußen zu gelangen.
Vorsichtig hangelte sich Sarah nach oben.
Die Leiter ächzte und quietschte bedrohlich. Aber sie hielt Sarahs Fliegengewicht aus.
Hoffentlich mussten die beiden Dicken nicht noch auf dem gleichen Weg fliehen, dachte sie noch, dann war sie schon am Ende der Leiter angelangt.
Sie umfasste mit ihren Händen den oberen Mauerring der Brunneneinfassung und schwang sich nach draußen.
Wie schön es doch war, mit beiden Füßen wieder im weichen Gras stehen zu können!
Sarah schaute sich um und zog dann die Skizze zu Rate: Ihr gegenwärtiger Standort war wieder genau eingezeichnet. Sie sah, dass sie sich jetzt ein ganzes Stück außerhalb des Dorfes befand. Aber bis zu dem besagten Waldstück schien es immer noch ein ganz schön langes Stück zu sein.
Was sie aber noch weitaus mehr beunruhigte waren mehrere Punkte, die scheinbar wahllos in ihrer Umgebung verteilt waren: las sie entsetzt. Irrte sie sich, oder näherten sich drei dieser Punkte womöglich gerade langsam dem Weg, den sie laut Karte weiter einschlagen musste? Zu Fuß würde sie es sicherlich kaum schaffen, den Männern zuvorzukommen. Was sollte sie bloß machen?
Als sie zunehmend verzweifelt auf den Plan starrte, entzifferte sie eine kleine Notiz, die eben noch nicht da gewesen war.
stand da. Gleichzeitig hörte sie etwas ganz in ihrer Nähe schnauben. Da kam ihr eine Idee.
Warum denn eigentlich nicht?
Wenig später stand sie am Rande einer kleinen Koppel, auf der mehrere Pferde grasten. Direkt vor ihr am Zaun stand eine schöne braune Stute mit einer herrlichen langen Mähne und schaute sie neugierig an. Sarah schnalzte mit der Zunge, worauf das Tier näher kam. Es ließ sich von Sarah zutraulich kraulen. Deren Herz klopfte kräftig. Sollte sie es wirklich versuchen? Eigentlich konnte sie gar nicht richtig reiten. Die paar Male, die sie auf einem Pferd gesessen hatte zählten doch sicherlich gar nicht…
Andererseits… Was hatte sie denn schon zu verlieren?
Da sie mit ihrem langen Kleid erst gar nicht zu versuchen brauchte, über den Zaun zu steigen, nahm sie den Saum des Kleidungsstückes fest in beide Hände und zerriss ihn kurzerhand, so dass ein langer Schlitz entstand.
Jetzt kam aber das nächste Problem. Das Pferd hatte weder einen Sattel, noch war es aufgezäumt.
Ihr blieb wohl nichts anderes übrig, als tüchtig Anlauf zu nehmen und auf den Rücken des Pferdes zu springen.
Sie hatte Glück, dass es sich bei der Stute offenbar um ein ausgesprochen gutmütiges Wesen handelte. Zumindest schien es ihr nicht sonderlich viel auszumachen, dass sich das Mädchen an ihrer langen Mähne festkrallte, um sich das letzte Stück auf den Pferderücken heraufzuziehen.
Schließlich saß Sarah glücklich auf dem Pferd. Vorsichtig drückte sie dem Tier die Beine in die Flanken und schnalzte laut mit der Zunge.
Und tatsächlich, die Stute setzte sich in Bewegung. Und das nicht gerade langsam. Sie lief ein paar Mal im Kreis herum. Dann, als wüsste sie genau, was von ihr erwartet wurde, galoppierte sie im raschen Tempo auf den Zaun zu und sprang in einem mächtigen Satz hinüber. Sarah jauchzte laut auf vor Vergnügen, auch wenn sie dabei fast hinunter gefallen wäre.
Wenig später waren sie auf dem Weg, der sie in den Wald und hoffentlich zu ihrem Ziel, dem mächtigen Zauberer führen würde…
13
Bereits nach kurzer Zeit hatte Sarah das Gefühl, als hätte sie bereits jahrelange Übung als Reiterin. Die Landschaft flog nur so an ihr vorbei, und das Pferd schien ebensoviel Vergnügen an dem Ausflug zu haben wie seine junge Reiterin.
Sie versuchte sich, so gut es ging, an den Plan zu erinnern. Zu gerne hätte sie das Büchlein aus ihrer Tasche gezogen. Aber sie wagte es nicht während des schnellen Rittes, auch nur eine Hand vom Hals des Pferdes zu nehmen.
Gerade hatten sie eine Brücke über einen kleinen Bach passiert, genau wie es auf der Karte verzeichnet gewesen war. Nicht weit von hier waren die Männer des Königs verzeichnet gewesen. Sie schien ihnen zuvorgekommen zu sein. Gut, dass sie sich für das Pferd entschieden hatte!
Der Weg führte sie jetzt durch eine ziemlich wilde und hügelige Landschaft, die immer wieder durch kleine Waldstücke unterbrochen wurde. Die letzten Anzeichen irgendwelcher menschlichen Ansiedlungen hatte sie schon lange hinter sich gelassen.
Soweit sie den Plan richtig verstanden hatte, musste sie dem Weg viele Kilometer weit folgen, bis irgendwann mitten in einem Wald ein schmaler Pfad abging.
Wenn sie weiter so flott vorankam und ihr braves Pferd nicht irgendwann schlapp machte, wonach es zumindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht aussah, dürfte sie ihr Ziel sicherlich bald erreicht haben.
Schließlich erreichte sie einen dichten Tannenwald. Sie überlegte, ob sie lieber absteigen und noch einmal auf ihre Karte schauen sollte, als sie vor Schreck fast erstarrte:
Nicht allzu weit von ihr entfernt waren mehrere Gestalten am Wegesrand aufgetaucht. Voller Panik erkannte sie die Soldaten des Königs an ihren bunten Uniformen.
Verdammt, was sollte sie jetzt machen? Den Weg verlassen konnte sie schlecht. Dafür waren die Bäume hier überall viel zu dicht. Und um einfach umzukehren, war es sicherlich bereits zu spät.
Wie durch ein Wunder, schienen die Männer sie noch nicht entdeckt zu haben. Vielleicht lag das an dem starken Gegenwind, der ihr schon die ganze Zeit über beim Reiten zur Last gefallen war.
Ihr Herz klopfte wie wild, als sie einen Entschluss fasste: Sollten sich die Männer doch von ihr umreiten lassen, wenn sie es wagen sollten, sich ihr in den Weg zu stellen!
Es waren mindestens sechs Soldaten, die rauchend und schwatzend am Wegesrand saßen. Ihre Pferde konnte sie auf dem ersten Blick nicht sehen.
Ihre Stute schien die gleiche Entscheidung getroffen zu haben wie sie und rannte jetzt, auch ohne dazu angetrieben worden zu sein, noch schneller als zuvor.
Sie hatte die Männer fast schon erreicht, als sie entdeckt wurde. Es war ein Soldat, der gerade hinter seinen Kameraden zwischen den Bäumen auftauchte. Er schrie erstaunt auf und deutete in ihre Richtung, woraufhin die auch anderen Männer auf sie aufmerksam wurden und in wilder Unordnung aufsprangen.
Zwei der Soldaten standen jetzt mitten auf dem Weg. Sarah fürchtete schon, sie würden sich von ihr umreiten lassen, als sie buchstäblich im letzten Moment zur Seite sprangen. Einen kurzen Augenblick konnte sie in die vor Schreck geweiteten Augen der Männer blicken, dann war sie auch schon an den Soldaten vorbei.
Sie hörte, wie die Männer hinter ihr vor lauter Wut und Enttäuschung aufbrüllten. Noch im Vorbeireiten sah sie, wie sich einer von ihnen an den Gürtel griff.
Was hatte er da? Eine Waffe?
Ängstlich duckte Sarah sich möglichst tief auf dem Rücken ihres Pferdes.
Plötzlich spürte sie einen kräftigen Schlag an ihrer linken Seite. Es fühlte sich so an, als wenn einer der Soldaten einen Stein nach ihr geworfen hätte. Sie kümmerte sich nicht weiter darum und galoppierte weiter.
Sie betete stumm, dass die Männer zu Fuß waren und keine Pferde dabei hatten.
Irgendwann wurde ihr ein wenig schwindelig, und sie klammerte sich instinktiv fester an die Mähne der Stute.
Dann spürte Sarah, wie sich an ihrer linken Seite allmählich ein Schmerz bemerkbar machte, der zunächst nur ganz dumpf und unbestimmt war, aber im Laufe der nächsten Minuten stärker und brennender wurde. Sie ließ kurz den Hals des Pferdes los und fasste sich mit der linken Hand an die schmerzende Stelle, die sich merkwürdig warm und feucht anfühlte.
Als sie sich wieder an der blonden Mähne festklammerte, sah sie zu ihrem Entsetzen, dass sie dort mit ihren Händen blutrote Abdrücke hinterließ.
Der Soldat musste ihr eine Waffe hinterher geschleudert und sie getroffen haben. Jetzt wurde ihr plötzlich ganz schlecht.
Sie durfte jetzt bloß nicht ohnmächtig werden! Sie hielt sich so fest sie konnte fest und versuchte, ganz regelmäßig ein- und auszuatmen.
Sarah wusste nicht, wie lange sie halb bewusstlos und mit geschlossenen Augen weiter geritten war, als sie merkte, wie das Pferd allmählich langsamer wurde und schließlich ganz anhielt. Jetzt war sie ganz erstaunt, dass sie sich auf einer grünen Wiese wiederfand, durch die sich ein lustig vor sich hin plätschernder Bach schlängelte. Wo hatte das Tier sie bloß hingeführt? Wahrscheinlich war das Pferd nur seinem Instinkt gefolgt und hatte schon von weitem das Wasser gewittert. Sie wusste, dass Tiere so etwas konnten.
Sie glitt vom Rücken der Stute herunter und streichelte dem Tier dankbar den Hals. Das Pferd wartete nicht lange und trottete an den Bachlauf um seinen Durst zu löschen.
Sarah folgte ihrem vierbeinigen Gefährten und trank ebenfalls etwas von dem erfrischend kalten Wasser. Erst danach wagte sie es, ihre linke Seite näher zu untersuchen. Das Kleid war dort ganz rot vor Blut. Sie versuchte, den Stoff von der Haut zu lösen, was ziemlich schmerzhaft war, da das Kleid an der Wunde richtig festgeklebt war. Es war eine ziemlich tiefe Fleischwunde, die aber zum Glück wieder von alleine aufgehört hatte zu bluten.
Sie verband die Verletzung notdürftig mit einem sauberen Unterhemd aus ihrem Rucksack.
Ihr Pferd graste derweil in aller Seelenruhe unweit von ihr auf der Wiese.
Sarah wollte gerade wieder auf ihr Pferd steigen, das derweil in aller Seelenruhe auf der Wiese graste, als ihr mit einem Mal etwas Schreckliches auffiel:
Durch einen unglücklichen Zufall hatte die Waffe die Tasche ihres Kleides sauber aufgetrennt.
Leider war es genau die Tasche gewesen, in der sie das Heftchen aufbewahrt hatte:
Ihr unersetzlicher Begleiter auf der Suche nach dem Zauberer war unwiederbringlich verloren!
5 Der Zauberer
1
Ungefähr zur gleichen Zeit, als Sarah gerade ihre Wunde versorgte, hob einer der Soldaten, es war im Übrigen genau derjenige, der Sarah sein Schwert hinterher geschleudert hatte, ein kleines Heftchen auf, das sich am Wegesrand im dornigen Gestrüpp eines flachen Brombeerstrauches verfangen hatte. Er fluchte laut, als er sich dabei an einem scharfen Dorn am rechten Zeigefinger verletzte.
Die Soldaten hatten es bald aufgegeben, die fliehende Person weiter zu verfolgen, da ihre Pferde viel zu weit weg auf einer Lichtung angebunden standen. Die nächsten Minuten hatten sie dann damit verbracht, darüber zu debattieren, wer sie da so überrumpelt hatte. Zwei der Männer sagten, es wäre ein älterer Mann auf einem schwarzen Pferd gewesen, wobei drei andere nicht davon abzubringen gewesen waren, dass es sich um einen jungen Mann auf einem braunen Pferd gehandelt habe, der laut aufgelacht habe, als er sie fast umgeritten hatte. Einer schließlich, der noch nicht lange bei der Truppe war, hatte zur allgemeinen Erheiterung behauptet, bei dem unheimlichen Reiter habe es sich um ein junges Mädchen auf einer hellbraunen Stute mit prächtiger langer Mähne gehandelt. Sie hatten den Burschen natürlich sogleich laut ausgelacht und dann einstimmig beschlossen, über den Vorfall lieber Stillschweigen zu wahren, da eine Meldung ihnen allen mit Sicherheit doch nur Ärger einbringen würde.
Seinen blutenden Finger im Mund haltend, betrachtete der Soldat jetzt seinen Fund. Auf der Vorderseite konnte er die Zeichnung eines bärtigen älteren Mannes erkennen, der ihn ganz unverkennbar angrinste. Es war aber nicht dieses Lächeln, das den Soldaten schier zur Weißglut brachte und ihn schließlich dazu veranlasste, das Büchlein in mindestens zwei Dutzend kleine Schnipsel zu zerreißen. Der Zauberer, denn um einen solchen handelte es sich ohne Frage, hielt ihm nämlich in einer reichlich unverschämten und ganz eindeutigen Geste die rechte Hand mit ausgestrecktem Mittelfinger entgegen.
2
Sarah saß derweil wie ein kleines Häufchen Elend im Gras und konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen. Sie wusste beim besten Willen nicht, was sie jetzt machen sollte. Wie sollte sie den Zauberer jetzt bloß finden? Sie hatte zwar noch ein paar wenige Erinnerungen an die Skizze, aber, wie um sie zusätzlich noch zu ärgern, verschwammen diese Erinnerungsfetzen immer mehr und ergaben schließlich keinen rechten Sinn mehr. War da nicht irgendwo ein Pfad gewesen, der mitten im Wald abging? Sie wusste es einfach nicht mehr. Außerdem hatte sich der Plan gewissermaßen immer wieder von alleine „aktualisiert“ und sie zudem mit wichtigen Informationen versorgt.
Plötzlich spürte sie, wie sie etwas warmes Feuchtes im Nacken berührte und sogleich sanft anstupste, als sie nicht gleich reagierte.
Sarah drehte sich erstaunt um und blickte in die großen dunklen Augen der Stute, die sich mit dem Kopf über sie beugte. Sie hatte das Pferd ganz vergessen…
Dieses schien irgendwie ganz ungeduldig zu sein und stupste sie immer wieder mit der Nase in Nacken und Rücken. Schließlich, als Sarah immer noch keinerlei Anstalten traf, endlich aufzustehen, nahm es sogar den Träger ihres Kleides ins Maul und versuchte, sie daran hochzuziehen.
„Hey, was soll das denn werden?“ Sarah musste trotz allem laut loslachen. Die Bemühungen des Pferdes waren einfach zu komisch.
Schließlich erhob sie sich. Erst dachte sie, sie müsste sich gleich wieder hinsetzen, so sehr schmerzte ihr beim Aufstehen die verletzte Seite. Dann ging es aber doch.
„Nanu, heißt das, wir sollen weiterreiten?“ Das Pferd tänzelte auf der Wiese herum und schnaubte ungeduldig.
Sarah beschloss, dass sie sich eigentlich genauso gut der Führung ihres Pferdes anvertrauen konnte. Wahrscheinlich brachte es sie ohnehin auf direktem Weg wieder zurück zu seiner Koppel.
Aber der Gedanke daran konnte sie nicht mehr ängstigen. Es war jetzt doch sowieso alles gleich…
Wenig später saß sie wieder auf dem Rücken der Stute. Sie war furchtbar müde und ihr fielen immer wieder die Augen zu. Obwohl ihr die linke Seite durch das Reiten jetzt ziemlich wehtat, dauerte es nicht allzu lange und sie war in einen unruhigen Halbschlaf gefallen.
Als sie wieder auf ihre Umgebung achtete, stellte sie gleich fest, dass sie sich, ganz entgegen ihren Erwartungen, offensichtlich doch nicht wieder auf dem Rückweg befanden. Sie ritten weiterhin durch den Wald, der jetzt womöglich noch undurchdringlicher und dunkler wirkte. Die Bäume um sie herum waren sehr hoch und standen dermaßen dicht, dass man den Himmel gar nicht richtig sehen konnte.
„Na, mein Pferdchen, wo führst du mich denn hin?“, murmelte Sarah, während sie mit einem zunehmend unbehaglichen Gefühl ihre Umgebung musterte. „Das sieht hier ja nicht gerade freundlich und einladend aus…“
Sie wunderte sich, dass die Stute so ganz ohne Führung nicht einfach in ihren heimatlichen Stall zurückgelaufen war. Sie hatte immer gedacht, dass Tiere dies instinktiv so machten und dabei auch erstaunliche Navigationseigenschaften entwickelten.
Sie ritten weiter durch den finsteren Wald, der gar kein Ende nehmen wollte. Ihr Pferd schien gar nicht müde zu werden. Ganz im Gegensatz zu ihr. Sarah machte sich gar nicht weiter die Mühe, ihr Gähnen zu unterdrücken. Sie riss gerade wieder ihren Mund weit auf, als sie etwas sah, was sie mit einem Mal ganz vergessen ließ, ihren Mund wieder zuzumachen:
Auf einem großen Schild, das ganz unvermutet am Wegesrand aufgetaucht war, konnte sie klar und deutlich in großen schwarzen Buchstaben auf weißem Grund lesen:
.
Sie ließ ihre Stute anhalten und sprang von ihrem Rücken herunter. Sie wollte das Schild anfassen. Nicht, dass sie irgendwie halluzinierte. Wer weiß, schließlich war sie doch verwundet. Vielleicht lag sie ja in Wirklichkeit gerade irgendwo bewusstlos herum und träumte das Ganze gerade in ihrem Fieberdelir?
Das Schild fühlte sich durchaus echt an, genauso wie ihr schmerzender Hintern und die brennenden Innenseiten ihrer Oberschenkel.
Nachdem sie sich von der Echtheit des Wegweisers überzeugt hatte, schwang sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder auf ihr Reittier hinauf. Auch die Stute schien jetzt mehr auf der Hut zu sein, schaute unruhig hin und her und spitzte immer wieder die Ohren.
Sarah war gespannt, was als nächstes kommen mochte. Tatsächlich: Nach einigen hundert Metern kamen sie an ein weiteres Holzschild, das diesmal am Stamm einer großen Tanne befestigt war. Sie wunderte sich darüber, wie alt dieses Schild aussah, ganz verwittert und rissig war es. Die Farbe platzte bereits an verschiedenen Stellen ab. Befestigt war es mit einem rostigen Draht, der bereits ein wenig in den Stamm des Baumes eingewachsen war. Die Aufschrift, die trotz allem noch recht gut erkennbar war, passte allerdings keineswegs zu dem offensichtlichen Alter des Schildes: .
Das war ja alles sehr schön, aber auf dem richtigen Weg wohin?
Ob die Schilder irgendetwas mit dem alten Zauberer zu tun hatten?
Die Stute lief jetzt nur noch langsam und ausgesprochen vorsichtig, ja fast schon ängstlich, in den immer dichter werdenden Wald hinein, bis sie schließlich an einen Wegweiser kamen.
Von dem Hauptweg ging jetzt ziemlich unvermutet ein bedeutend schmalerer Pfad nach rechts ab, der in einen womöglich noch dunkleren Waldabschnitt hineinzuführen schien.
Sarahs Magen zog sich ein wenig zusammen, als sie las, was da auf dem verwitterten Wegweiser geschrieben stand. Dieser war nur noch mit größter Mühe zu entziffern:
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Na gut, was blieb ihr anderes übrig? Sie wollte ihre brave Stute gerade nach rechts auf den Pfad lenken, als diese mit einem Mal stehen blieb und auch durch gutes Zureden nicht mehr dazu zu bringen war, weiterzugehen. Sarah seufzte und stieg ab.
Bald darauf musste sie einsehen, dass sie ihr Pferd nicht dazu bewegen konnte, ihr auf den kleinen Pfad zu folgen. Als wäre es zufrieden damit, seine Aufgabe erfüllt zu haben, ließ es sich noch einmal von der dankbaren Sarah streicheln und rieb ein letztes Mal seinen Kopf an der Schulter des Mädchens. Dann schnaubte es laut und machte kehrt, um in die Richtung davon zu galoppieren, aus der sie zuvor gekommen waren.
Sarah war ganz traurig zumute. Sie hatte das Pferd richtig lieb gewonnen und hätte sich über einen Begleiter auf ihrem weiteren Weg sehr gefreut. „Sei vorsichtig, mein liebes Pferdchen!“, murmelte sie leise. Das Tier war mittlerweile aus ihrem Blickfeld verschwunden. Sie hörte nur noch die Geräusche der Hufe auf dem weichen Waldboden, die rasch immer leiser wurden und schließlich nicht mehr zu vernehmen waren.
Erst jetzt merkte Sarah, wie eigentümlich still es um sie herum jetzt war. Lediglich das Rauschen des Windes in den Baumkronen hoch über ihr war zu hören. Sie hätte sich im Grunde genommen auch gewundert, wenn sich irgendein Singvogel in diesen dichten Waldes verirrt hätte… Und wenn doch, dann wäre ihm die Lust am Trällern sicherlich rasch vergangen.
Sie ging zögerlich ein paar Schritte auf dem Pfad tiefer in den Wald hinein. Bis auf das Knacken irgendwelcher trockenen Hölzchen und Zapfen unter ihren Schuhen war nichts zu hören. Ihr war gar nicht wohl in ihrer Haut.
Als hätte das der unbekannte Schildermaler geahnt, kam sie nach wenigen Metern an eine weitere kleine Holztafel, die mit ihren fröhlichen Farben überhaupt nicht so recht in die triste Umgebung passen wollte: stand da in einer kindlichen Schreibschrift geschrieben.
Und wirklich: Schon nach wenigen Metern merkte sie, wie der Wald um sie herum allmählich freundlicher zu werden begann. Die Bäume wichen ein wenig auseinander und durch die Baumkronen drang immer mal wieder, wie ein Lichtfinger, ein Sonnenstrahl. Auf dem Boden wuchs endlich wieder Gras und als Farbtupfer waren hier und da ein paar gelbe Blumen und auch einige rote Fliegenpilze auszumachen. An einer dieser sonnenbeschienenen Stellen rastete sie ein wenig und verzehrte den Rest ihrer spärlichen Vorräte, in der Hoffnung bald irgendwo wieder etwas zu Essen zu bekommen.
Dann brach sie wieder auf. Trotz der etwas freundlicheren Umgebung kamen Sarah immer wieder düstere Gedanken. Warum war ihre Familie entführt worden? War es wirklich nur deshalb, weil sie alle fremd in diesem Land waren und nicht in diese seltsame Welt gehörten? Oder gab es womöglich einen ganz anderen Grund dafür…?
Schließlich waren sie allesamt doch wirklich nicht so wichtig, dass man ganze Heerscharen von Soldaten aktivieren musste, um ihrer habhaft zu werden. Sie, Sarah, ein kleines, kaum zwölf Jahre altes Mädchen…Sie wurde einfach nicht schlau aus alledem. Hoffentlich war ihr kleiner Bruder jetzt wenigstens wieder bei ihren Eltern. Ihr Herz krampfte sich zusammen, als sie sich ausmalte, wie ihm zumute sein mochte, wenn er irgendwo alleine war. So wie sie jetzt…
Der Weg endete ganz plötzlich und unerwartet auf einer nicht sonderlich großen Lichtung.
Sarah, die ganz in Gedanken versunken war, blieb ganz verdutzt stehen: Wo sie einen großen prächtigen Palast, eine trutzige wehrhafte Burg oder wenigstens ein anderes eindrucksvolles Gebäude erwartet hatte (insgeheim hatte ihr eigentlich ein schneeweißes Märchenschloss mit Türmen, Zinnen und wehenden Fahnen vorgeschwebt, hier in diesem seltsamen Land war ja schließlich alles möglich…), sah sie lediglich eine recht armselige kleine Holzhütte, die nicht sonderlich viel größer zu sein schien als das Wochenendhäuschen ihres Onkels. Und das war wirklich winzig klein. Eigentlich sah die Hütte eher so aus, wie Sarah sich das Pfefferkuchenhaus aus dem Märchen von Hänsel und Gretel vorstellte, nur eben ohne Lebkuchen (und hoffentlich auch ohne Hexe).
Sarah ging zunächst einmal um die Hütte herum, um sich zu vergewissern, daß sie nicht doch einen dahinter gelegenen, weiterführenden Weg übersehen hatte. Vielleicht war das hier ja nur die Wohnung des Hausmeisters oder des Försters, und das eigentliche Herrenhaus befand sich ein Stückchen weiter entfernt?
Nach ein paar Schritten war Sarah allerdings wieder an der Vorderseite der Hütte angekommen und musste feststellen, dass diese tatsächlich von allen Seiten von dichtem Wald und undurchdringlichem Gehölz umgeben war. Es ließ sich nicht leugnen, dass genau hier der Weg zu Ende war.
„Das soll nun also die Wohnung eines so berühmten und mächtigen Mannes sein? Eines Zauberers, vor dem sogar ein König Angst hatte?“, sprach Sarah leise zu sich selbst und fühlte gleichzeitig ein Gefühl der Enttäuschung in sich aufsteigen. Wie sie hier die erforderliche Hilfe zur Lösung ihrer Probleme finden sollte, und der Begriff „Probleme“ war sicherlich die Untertreibung des Jahrhunderts, war ihr wirklich schleierhaft.
Zumindest besaßen all die einflussreichen Leute in ihrer Welt wenigstens ein Haus aus Stein mit einer hohen Mauer drum herum, einem immer gut verschlossenen Tor davor und einer großen Garage, in die mindestens drei große Limousinen hinein passten. Gut, das mit den Autos konnte sie hier natürlich streichen, aber zumindest ein wenig Platz für Pferde und eine Anzahl von Kutschen musste doch wenigstens vorhanden sein, oder?
Sarah merkte jetzt, wie erschöpft und hungrig sie war. Außerdem ging die Sonne langsam unter, und wurde es merklich kühler. An eine Umkehr war auf jeden Fall nicht mehr zu denken, und sie beschloss, den Bewohner der armseligen Hütte, denn mehr als ein Mensch konnte hier nun wirklich nicht wohnen, kennen zu lernen.
Als sie wieder vor der Eingangstür stand und überlegte, was sie überhaupt sagen sollte, roch es mit einem Mal ganz köstlich nach Essen. Sofort krampfte sich ihr Magen zusammen, sicher um ihr unmissverständlich klar zu machen, dass er den ganzen Tag schon sträflich vernachlässigt worden war…
Ohne weiter zu zögern griff Sarah jetzt zum Türklopfer. Dieser passte in seiner messingglänzenden Pracht eigentlich ganz und gar nicht zu der schäbigen Holztür, in deren Mitte er angebracht war.
Sarah zog ihre rechte Hand allerdings sogleich wieder zurück, als wenn sie gerade auf eine heiße Herdplatte gefasst hätte.
Im gleichen Moment ließ sich nämlich eine etwas nuschelnde und ziemlich weinerliche Stimme ganz in ihrer Nähe vernehmen: „Untersteh dich, Mädchen, mich anzufassen!“
Erschrocken blickte sich Sarah um. Aber sie stand weiterhin ganz alleine vor der Hütte. Dabei hatte sich die Stimme ganz nah angehört, ja eigentlich so, als wäre sie direkt aus der Richtung der Tür gekommen. Diese war aber weiterhin verschlossen, ebenso wie das kleine Fenster daneben, das im Übrigen eine lustige, rot-weiß karierte Gardine trug.
Wollte sich hier jemand über sie lustig machen?
Entschlossen griff Sarah schließlich erneut nach dem Türklopfer. Sie hatte ihn kaum berührt, als sich die Tür auch schon von alleine öffnete.
Sarah schaute den Türklopfer genauer an: Dieser war wie ein Gesicht geformt, das sich jetzt doch tatsächlich zu einem klagenden Ausdruck verzog.
„Ich kann es einfach nicht ausstehen, angefasst zu werden! Ich hätte einen anständigen Beruf erlernen sollen, aber, ach, dafür ist es jetzt zu spät…“
Es war tatsächlich der Türklopfer, der da ärgerlich vor sich hin schimpfte, aber Sarah achtete gar nicht mehr auf ihn, auch wenn es sicherlich nicht unbedingt als alltäglich zu bezeichnen war, von einem solchen angesprochen zu werden.
Denn das, was sie jetzt sah, nachdem sie die Türschwelle betreten hatte, die sich im Übrigen nicht darüber beklagte, mit den Füßen getreten zu werden, dafür hätte Sarah durchaus Verständnis gehabt, verschlug ihr endgültig die Sprache:
Die Tür gab den Weg frei in eine große Eingangshalle, in die die kleine Hütte, die sie ja gerade im gleichen Moment betrat, mit Sicherheit mehrere Dutzend Mal hineingepasst hätte! Verdutzt trat Sarah zwei Schritte zurück…
… und stand wieder vor dem kleinen Holzhäuschen, das sich in der Zwischenzeit allerdings nicht, auch nicht ein kleines bisschen, vergrößert hatte. Sie beulte sich aber auch nicht etwa nach der einen oder der anderen Seite aus, kurzum, das was sie gerade im Inneren des winzigen Gebäudes gesehen hatte, konnte einfach nicht sein!
„Ähem“, räusperte sich der Türknauf vernehmlich:
„Würde die junge Dame vielleicht so liebenswürdig sein, sich irgendwann zu entscheiden, ob sie nun das Haus betreten, oder lieber draußen bleiben möchte? Auch ich habe schließlich Anspruch auf ein Privatleben. Da ich nun eigentlich bereits seit einer guten halben Stunde meinen freien Abend habe, würde ich jetzt gerne ordnungsgemäß abschließen!“
„Verzeihung“, sprach Sarah und trat ein zweites Mal durch die Tür, die sich daraufhin hinter ihr wieder selbstständig schloss.
3
Sarah stand erneut in der großen Eingangshalle. Sie hatte sich das alles also nicht eingebildet.
Gegenüber von ihr fand sich eine sicherlich übermannshohe Doppeltür. Beiderseits von den mächtigen Türflügeln stand jeweils eine Reihe von rot gepolsterten goldenen Sesseln an der Wand entlang. An den Wänden darüber hingen große Ölgemälde, in reich verzierten Rahmen, die, allesamt mehr oder weniger würdevoll dreinblickende ältere Männer mit unbequem aussehenden weißen Kragen und dicke blasse Frauen in altertümlicher Kleidung darstellten. Das Ganze sah in etwa so aus, wie bei einer der Schlossbesichtigungen, bei denen man diese lustigen Filzpantoffeln tragen musste, um den kostbaren Holzparkettboden nicht mit den Straßenschuhen zu verkratzen.
Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als Sarah beim Hinunterblicken tatsächlich einen vor Politur und Bohnerwachs nur so schimmernden Parkettboden erblickte. Und an der reich mit Stuck verzierten Decke hingen mehrere prachtvolle Kristallleuchter mit unzähligen brennenden Kerzen.
Sarah konnte sich gerade noch verwundert fragen, wer um alles in der Welt denn tagtäglich hinaufklettern musste, um all diese Kerzen anzuzünden, als es mit einem Mal einen gewaltigen Lichtblitz gab, der sie einen Augenblick lang völlig blendete. Begleitet war das Ganze von einem gewaltigen Donner und Getöse.
Als Sarah, die vor Schreck wie erstarrt war, wieder etwas erkennen konnte, sah sie vor sich eine weiße Wand aus Nebelschwaden aufsteigen, hinter der sich irgendetwas Dunkles, Unförmiges zu bewegen schien.
Schließlich konnte sie nach und nach die dunklen Umrisse eines großen Menschen ausmachen. Genauso, wie sich der Nebel allmählich lichtete, wurde es jetzt auch bedeutend leiser. Nur ab und an krachte noch etwas, das sich allerdings nicht mehr gar so eindrucksvoll anhörte und Sarah eigentlich eher an dem Lärm von Knallfröschen zu Silvester erinnerte.
Jetzt konnte Sarah auch jemanden ganz fürchterlich husten hören. Sie selbst verspürte durch den Nebel ebenfalls ein scheußliches Kratzen in ihrem Hals und in ihrer Lunge.
Bald waren die Gemälde an der Rückwand des Saales wieder zu erkennen, wobei die darauf abgebildeten Gesichter durch die Nebelschwaden etwas bedrohlich Lebendiges bekamen. Fast schien es Sarah, als würden ihr die Gesichter höhnische Grimassen schneiden.
Sie fuhr ganz erschrocken zusammen, als sich die unheimliche Gestalt vor ihrer vernehmlich räusperte. Es klang fast ein wenig ungeduldig, als wollte der Besitzer der Stimme auf sich aufmerksam machen. Das Räuspern löste allerdings sogleich einen weiteren gewaltigen Hustenanfall aus.
Sie stellte erstaunt fest, dass ihr Gegenüber eigentlich kaum größer war, als sie selber. Die wabernden Nebelschwaden hatten die Umrisse des in einen langen, mit silbernen Sternen bestickten Mantel gehüllten Mannes viel gewaltiger erscheinen lassen. Auf dem Kopf trug der alte Mann einen langen, spitz zu laufenden Hut. Dieser war ebenfalls mit allerlei Symbolen bedeckt, unter denen Sarah wiederum Sterne aber auch Monde und andere seltsame Zeichen erkennen konnte.
In der rechten Hand, die durch den wallenden Umhang fast vollständig verhüllt war, konnte Sarah einen langen goldenen Stab ausmachen, aus dessen Spitze noch vereinzelte Funken und Flammen schlugen. Das wirkte alles in allem ungefähr genauso beeindruckend wie eine verlöschende Wunderkerze an einem Kindergeburtstag.
Mit einem zischelnden Geräusch versiegte der Funkenregen plötzlich, und dann war es in dem großen Raum wieder ganz ruhig.
Der alte Mann räusperte sich noch ein weiteres Mal energisch und schaute Sarah dabei ganz erwartungsvoll an, wobei diese seine Augen nicht sehen konnte, so tief war der Hut in das Gesicht hinab gezogen.
Unter der schmalen Krempe des spitzen Hutes schaute eine große, etwas gebogene Nase hervor und darunter trug der Zauberer, denn um einen solchen handelte es sich nach Sarahs Meinung zweifelsohne, einen gewaltigen grauen Bart, der bis weit über den Bauch reichte.
Sowohl der Hut als auch der Umhang des Zauberers schien für seinen Träger allerdings wenigstens ein bis zwei Nummer zu groß ausgefallen zu sein.
„Sei willkommen im Schloss und auf den Ländereien des größten und mächtigsten Zauberers im ganzen Land…“, sprach der alte Mann feierlich und räusperte sich ein weiteres Mal.
„Wir haben Euer Kommen bereits erwartet“, fuhr er gleich darauf mit getragener Stimme fort. Diese klang allerdings ganz und gar nicht wie die eines alten Mannes, sondern eher wie die eines Jungen in ihrem Alter, der sich bemühte, möglichst tief zu sprechen, um wie ein Erwachsener zu wirken, wie Sarah erstaunt feststellte.
„Und dieser mächtige Zauberer sind Sie?“, fragte sie ungläubig, auch wenn dies sicherlich ein wenig respektlos klang
„Ähem, nicht direkt… Nun ich meine, ich bin…, äh, was wollte ich sagen, natürlich auch ein bedeutender Zauberer, junge Dame!“ Sichtlich aus seinem Konzept gebracht, verhaspelte sich der Mann und lief, soweit man das unter dem großen Hut zu erkennen vermochte, ganz rot an.
Die Stimme klang jetzt im Übrigen völlig unverstellt und tatsächlich wie die eines halbwüchsigen Jungen, der zudem inmitten des Stimmbruchs stand.
Als hätte er seinen Fehler erkannt trat der Mann einen Schritt zurück und warf sich eindrucksvoll in Pose. Leider stolperte er dabei über den Saum seines viel zu langen Mantels und plumpste rückwärts auf einen der hinter ihm stehenden Stühle.
Als er den jetzt noch tiefer in sein Gesicht gerutschten Hut wieder hochschieben wollte, blieb der seltsame Zauberer mit der Hand an seiner langen Nase hängen, die daraufhin abbrach und zu Boden fiel und schließlich vor Sarahs Füßen zu liegen kam.
Ohne weiter nachzudenken, hob diese die Nase auf und stellte fest, dass sie ganz leicht und offensichtlich aus Pappmache gefertigt war. Staunend betrachte sie die kunstvoll herausmodellierten Warzen und Altersflecken. Sogar an einige lange graue Haare, die aus den Nasenöffnungen herausragten, war gedacht worden, wie Sarah beeindruckt feststellte.
Trotz des anfänglichen Schreckens, oder vielleicht auch gerade deswegen, musste Sarah auf einmal einfach herzhaft loslachen. Und zwar so sehr, dass ihr schließlich sogar die Tränen kamen.
Derweil saß der gar nicht mehr so große Zauberer wie ein Häufchen Elend in seinem Stuhl und versuchte vergeblich wieder auf die Beine zu kommen, da er immer wieder auf die Falten seines viel zu weiten Umhanges trat und sich sogleich wieder unfreiwillig hinsetzte.
Irgendwie tat ihr der Junge dann doch leid. Er sah eigentlich ziemlich nett aus, mit seinen zahlreichen Sommersprossen und den etwas unbändigen rötlichblonden Haaren.
In diesem Moment ging Sarah ein Licht auf.
„Du bist doch ganz sicher der Cousin von Martin!“, rief sie aus.
Der Junge schaute erst sichtlich erstaunt auf, dann erhellte ein zunehmend breiter werdendes Grinsen sein vorher ziemlich unglücklich dreinblickendes Gesicht.
Sarah streckte dem Jungen ihre Hand entgegen. Dieser ergriff sie, und sie half ihm mit einiger Anstrengung wieder auf die Füße.
„Ganz recht!“, donnerte plötzlich eine mächtige Stimme durch den Raum, woraufhin sich Martins Vetter vor Schreck gleich wieder hinsetzte und Sarah erst einmal wie gelähmt stehen blieb.
„Das ist tatsächlich und ganz und gar unverkennbar der Cousin von Martin!“
4
Sarah hatte sich nach einem kurzen Moment wieder von ihrem ersten Schrecken erholt und drehte sich zu dem Besitzer der unheilverkündenden Stimme um.
Scheinbar aus dem Nichts gekommen, stand da die wohl so ziemlich eindrucksvollste Erscheinung vor ihr, die sie in ihrem Leben bislang gesehen hatte.
Dabei war es gar nicht so, dass der alte Mann, der jetzt mitten im Raum stand, jetzt außergewöhnlich groß oder besonders kräftig aussah. Auch hatte er es offenbar nicht nötig, seinen Auftritt mit Donner, Rauch oder anderen billigen Zaubertricks zu verstärken.
Nein, es waren vor allem seine Augen, die stechend unter den buschigen weißen Augenbrauen hervorschauten, die Sarah so beeindruckten und zugegebenermaßen auch ein wenig einschüchterten.
Diese Augen, Sarah hätte vorher nicht geglaubt, dass so etwas überhaupt möglich war, stießen kleine gelbe Blitze aus, die allerdings, Gott sei Dank, nicht gegen sie gerichtet waren.
Zwischen den Augen ragte eine gewaltige gebogene und etwas schiefe Nase hervor. Weiter unten lief das lange schmale, ja fast hagere Gesicht in einem langen grauen Bart aus, der dem alten Mann bis zum Bauch reichte.
Ja, genau so hatte sich Sarah einen Zauberer vorgestellt!
Um ihr Wunschbild eines Zaubermeisters komplett zu machen, trug der alte Mann einen langen, mit Sternen, Monden und Sonnen bestickten Umhang, im übrigen mehr oder weniger den gleichen, den auch der Junge anhatte, was wohl die Herkunft dessen Mantels hinreichend erklären durfte.
Und auf dem Kopf schließlich, ragten die Krempe und Spitze eines veritablen Zauberhutes empor.
Der alte Mann schien Sarah noch überhaupt nicht bemerkt zu haben, sondern konzentrierte sich in seinem Zorn ganz auf den unglücklichen Jungen, der jetzt beschämt zu Boden blickte.
„Dieses nichtsnutzige Exemplar von einem Zauberlehrlingsanwärter! Wenn ich nicht das Unglück hätte, über tausendunddrei Ecken mit ihm verwandt zu sein und wenn ich seinen Eltern nicht an diesem unseligen Tag versprochen hätte, auf ihn aufzupassen, ich hätte ihn schon längst in etwas Angemessenes verwandelt: Eine Küchenschabe, einen Weberknecht oder in eine Kellerassel!“
„Vielleicht sollte ich ja gerade das jetzt tun!“ Seine Stimme war bei dem letzten Satz wieder lauter geworden und donnerte durch die Halle.
Der Zauberer zog aus den Falten seines Vorhangs einen Zauberstab hervor und zielte mit dessen Spitze auf den Jungen, der sich hinter seinem Umhang zu verstecken versuchte.
Sarah wollte dem armen Kerl schon zu Hilfe kommen, als sich der alte Mann plötzlich zu ihr umdrehte und sie, jetzt mit ganz normaler Stimme, ganz und gar liebenswürdig ansprach:
„Ach, heben wir uns das lieber für einen anderen Zeitpunkt auf… Zunächst muss wenigstens ich unseren gastgeberischen Pflichten nachkommen und die junge Dame erst einmal bei uns herzlich willkommen heißen!“
Er reichte ihr die Hand, die Sarah ganz vorsichtig ergriff und schüttelte.
„Wir haben dich bereits erwartet!“
„Aber, was stehen wir hier in dieser ungemütlichen Halle herum? Ach übrigens…“, der Zauberer wandte sich an den Jungen, der jetzt unverkennbar ein wenig erleichtert ausschaute, da das große Donnerwetter offenbar ausbleiben würde.
„Sollte das hier unseren Besuch etwa besonders beeindrucken, oder was soll dieser ganze nutzlose Prunk bedeuten?“ Der alte Mann deutete mit einer unbestimmten Handbewegung auf die große Halle, in der sie alle standen.
Der Junge nickte verschämt und starrte weiter auf seine Füße.
„Ich für meinen Teil mag es allerdings lieber etwas gemütlicher!“
Der alte Mann erhob seinen Zauberstab, und ehe Sarah es sich versah, standen sie alle drei in mitten eines gemütlichen holzgetäfelten Raumes, der mit dicken flauschigen Teppichen ausgelegt war und in dem sich, neben drei überaus bequem ausschauenden Ohrensesseln, ein großer gemauerter Kamin befand. In diesem brannte bereits ein warmes Feuer.
„Komm hoch, du Lausbub.“ Nicht unfreundlich sprach der Zauberer den Jungen an, der immer noch etwas verloren auf dem Boden saß.
Allerdings waren jetzt Umhang und Hut verschwunden und einer normalen Kleidung, bestehend aus einer schon mehrfach geflickten und ausgebesserten Hose und einem Hemd, gewichen. Sarah hatte gar nicht mitbekommen, wann diese Verwandlung eingetreten war.
Der alte Mann half dem Jungen auf die Beine. Dann schaute er ihn einen kurzen Moment nachdenklich an: „Eigentlich sollte ich dir aber doch die Ohren lang ziehen.“
Der Zauberer zog den Jungen daraufhin am linken Ohr hinter sich her, um ihn in Richtung der Sessel zu bewegen, woraufhin dieses, Sarah traute ihren Augen nicht, plötzlich immer länger und länger zu werden begann. Bis der alte Mann bemerkt hatte, dass ihm der Junge gar nicht folgte, sondern an Ort und Stelle stehen geblieben war, war das Ohr sicherlich schon mindestens einen Meter lang geworden.
Ein zorniger Blick in Richtung Zaubererlehrlingsanwärter genügte, Sarah war schon gespannt darauf, hoffentlich schon recht bald zu erfahren, was das eigentlich Komisches sein sollte, und das Ohr schnurrt gehorsam wieder in seine alte Größe und Form zurück.
„Jetzt ist aber Schluss mit dem Unsinn!“ Der Zauberer erhob drohend die Stimme.
Sarah konnte aber genau sehen, dass er dabei hinter seinem langen Bart schmunzelte.
Sie setzten sich daraufhin alle vor den offenen Kamin, wo Sarah fast in dem bequemen Ohrensessel versank, der sie ein wenig an den Fernsehsessel im Haus ihrer Großeltern erinnerte. Dieser befand sich im Übrigen fest in der Hand ihres Großvaters, und es war ein großes Privileg ihn benutzen zu dürfen, was Sarah als heiß geliebtes Enkelkind natürlich bereits mit einem kleinen aber wohlüberlegten Augenaufschlag erreichen konnte.
Sie musste bei dem Gedanken daran wehmütig lächeln.
Der alte Zauberer hatte sie die ganze Zeit schon aufmerksam und, wie es ihr vorkam, auch ein wenig sorgenvoll angeblickt.
„Du vermisst deine Familie, mein Kind, ich weiß.“
Da der alte Mann nicht gleich weiter sprach, konnte Sarah vor Ungeduld nicht mehr an sich halten und platzte einfach heraus:
„Woher kennen Sie mich und meine Familie überhaupt? Und woher wussten Sie so genau, dass ich heute kommen werde? Und wie konnten Sie wissen, woher ich komme und wo ich mich gerade genau befand und…“
Hier unterbrach sie der Zauberer mit einem liebenswürdigen Lächeln: „Liebes Kind! Ich kann jede einzelne deiner Fragen nur zu gut verstehen. Aber alle auf einmal zu beantworten, das fällt selbst einem halbwegs fähigen Zauberer dann doch ein wenig zu schwer…“
„Um eine deiner Fragen vorweg zu nehmen: Ja, wir wissen hier über die meisten Dinge, die in diesem Land vor sich gehen, recht gut Bescheid. Du wirst noch rechtzeitig erfahren, warum und wie. Aber wir sind trotzdem auf weitere Informationen angewiesen. Alles können wir hier in unserem, nun man könnte es als Exil bezeichnen, leider auch nicht erfahren. Also wäre es das Beste, du würdest uns jetzt einfach alles von Anfang an erzählen.“
Sarah holte zweimal tief Luft und fing an zu erzählen. Obwohl sie bemüht war, sich halbwegs kurz zu fassen kam es ihr schließlich so vor, als hätte sie stundenlang erzählt. Sie hatte als letztes gerade noch von ihrem Erlebnis mit dem Türklopfer berichtet und sich gewundert, warum Martins Cousin plötzlich so verlegen dreinschaute.
Gleich darauf runzelte der Zauberer seine Stirn und blickte seinen Lehrling, oder genauer gesagt seinen Lehrlingsanwärter, scharf an. Das allein genügte im Übrigen schon völlig, um dessen Ohren von einem zarten Rosaton in ein kräftiges dunkelrot zu verfärben.
„Sag einfach nichts, Max. Lass mich raten: Der Philosphierzauberspruch, habe ich recht?“
Der Junge nickte kaum wahrnehmbar und blickte im Raum umher, als ginge ihn das Ganze überhaupt nichts an. Wenigstens wusste Sarah jetzt, wie der Unglücksrabe hieß…
„Und warum um Himmels Willen ausgerechnet der Türknauf?“ Die Stimme des Zauberers hatte einen drohenden Unterton bekommen, auch wenn sie dabei immer noch ganz ruhig und eigentlich recht freundlich klang.
„Nun, ich weiß es auch nicht so genau. Zumindest war es keine Absicht…“, begann Max stockend zu erzählen. „Vielleicht lag es ja daran, dass ich den Zauberspruch, um ihn nicht zu vergessen, immer wieder vor mich hin gesprochen habe. Da ich nicht wollte, dass mich dabei jemand hört“, dabei schielte Max in Richtung Zaubermeister, „habe ich halt die Hand ganz dicht vor meinen Mund gehalten.“
„Tja, dann habe ich, ich kam gerade aus dem Wald, wohl mit dieser Hand den Türgriff angefasst. Na ja, dabei muss es wohl passiert sein. Auf alle Fälle hat mich dann irgendjemand ziemlich angepflaumt, dass ich die Tür nicht immer so zudonnern sollte. Und dass ich mir gefälligst vor dem Eintreten die Schuhe abzuputzen hätte. Und dass meine Hand immer so furchtbar klebrig sei, weil ich zu viel nasche und…“
Hier unterbrach ihn der Zauberer. Er hatte seine Hände über dem Kopf zusammengeschlagen.
„Um Himmelswillen. Schluss jetzt!“
„Dadurch, dass du den Zauberspruch so häufig in deine Hand gesprochen hast, muss er in seiner Potenz um ein Vielfaches gesteigert worden sein. Denn, um einen leblosen Gegenstand, und auch noch so ein ausgesprochen dummes Ding wie einen Türöffner, soweit zu bringen, über sich selbst nachzudenken, braucht man mindestens die zehnfache, ach was sage ich, die zwanzigfache Menge an Zauberpotential. Wenn du jetzt ein lebendiges Wesen mit der Hand angefasst hättest….Nicht auszudenken, was alles hätte passieren können!“
Er schüttelte fassungslos mit dem Kopf.
„Ich kenne da einen Kollegen, der unter starkem Heuschnupfen litt und sich beim Niesen an seinem eigenen Zauberspruch verschluckt hat… Seitdem ist er so hilflos wie ein kleines Kind. Er kann noch nicht einmal mehr alleine essen, weil er dann anfängt über jede kleine Kartoffel oder Erbse zu philosophieren, wo sie wohl herkommen mag, ob es ihr nicht vielleicht doch etwas ausmachen könnte, gleich von ihm verspeist zu werden, ja ob sie denn überhaupt existiere oder, noch schlimmer, ob er selber womöglich gar nicht existiere, sondern nur die Kartoffel oder Erbse vor ihm! Einfach grässlich… „
Der Zauberer schwieg einen Moment, dann erhob er sich aus seinem Sessel.
„Wartet hier. Ich muss gleich erst einmal nachschauen gehen, ob ich das mit der Tür nicht irgendwie wieder in den Griff bekommen kann.“
Er stand schon in der Tür, die aus dem Raum herausführte, als er sich noch einmal zu den beiden Kindern umdrehte und meinte:
„Oh, wie unaufmerksam von mir. Sicherlich hast du nach dem langen Marsch Hunger und Durst, mein Kind…“
Der Zauberer zog seinen Stab aus einer Falte seines Umhanges, zielte im Hinausgehen auf das Tischchen vor dem Kamin
Es gab ein leises, puffendes Geräusch, und die Luft über dem Tischchen wurde mit einem Mal etwas undurchsichtig. Dann standen doch tatsächlich zwei hohe Gläser und ein großer Teller mit belegten Broten dort, wo vorher nur die blank polierte Tischoberfläche zu sehen gewesen war!
Allerdings waren die Gläser leer geblieben. Sarah wollte gerade eine Bemerkung darüber machen, als Max plötzlich „Vorsicht! Ducken!“ rief und im selben Moment ganz dicht über ihrem Kopf etwas durch die Luft flog, dabei ihre obersten Haarspitzen streifte und sich mit einem lauten platschenden Geräusch über den Tisch ergoss.
Sarah stellte fest, dass es sich hierbei um genau die Limonade zu handeln schien, die sich jetzt eigentlich in den Bechern befinden sollte.
„Mach dir nichts draus. Das passiert ihm manchmal, wenn er ein wenig durcheinander ist.“
Max grinste über beide Ohren. „ Sonst ist er wirklich in Ordnung, du wirst schon sehen!“
Er zog ebenfalls einen Zauberstab aus seinem Hemd, schwang ihn durch die Luft und schwups: Die Limonade befand sich mit einem Mal wieder in den Gläsern.
Nur ihre Haare waren noch genauso klebrig wie vorher, aber Sarah wollte nicht kleinlich sein und hielt lieber den Mund.
Die Limonade und die Brote schmeckten jedenfalls ausgezeichnet. Sie merkte erst beim Essen, wie ausgehungert und durstig sie war!
Schließlich lehnte sich Sarah erschöpft in den Sessel zurück. Sie hätte jetzt auf der Stelle einschlafen können. Aber dafür war sicherlich später noch Zeit genug. Erst einmal war sie ganz neugierig auf das, was ihr Max wohl noch alles über den Zauberer und seine komische Zauberhütte verraten könnte.
Ehe sie es sich versahen, war der alte Zauberer aber schon wieder zu ihnen zurückgekehrt. Er tauchte so plötzlich wieder auf, dass Max sich an seinem letzten Bissen verschluckte und ganz rot anlief.
„Ich habe dir doch schon tausendmal gesagt, dass du nicht so schlingen sollst…“ Der alte Mann schaute seinen Neffen tadelnd an. „Ich weiß leider nur zu gut, dass deine lieben Eltern meistens mit anderen Dingen beschäftigt waren und sich unglücklicherweise nicht ausreichend um deine Manieren kümmern konnten. Ach, diese zwei Unglückswürmer…“
Er machte eine nachdenkliche Pause.
„Sind deine Eltern etwa…“, Sarah sprach den Satz nicht zu Ende und bereute es schon, überhaupt den Mund aufgemacht zu haben.
„Nein, nein“, beeilte sich der Zauberer zu sagen, als er Sarahs besorgte Miene sah. „Max Eltern sind beide noch am Leben. Allerdings befinden sie sich derzeit nicht unbedingt in einem geeigneten Zustand, einen Sohn groß zu ziehen.… Was sich mit ein wenig Glück vielleicht bald wieder ändern könnte…“ Der Zaubere kratzte sich nachdenklich an der Wange.
„Nun, Max ist eine Zeitwaise, musst du wissen.“
„Eine „Zeitwaise“, was soll das denn um alles in der Welt sein?“ Sarah konnte sich darunter beim besten Willen nichts vorstellen. Und sie hatte ja eigentlich reichlich Phantasie.
Der Zauberer strich sich über seinen langen Bart und meinte, während er sich aus seinem Sessel erhob, nur: „Nun, dass kann dir unser Nachwuchszauberer sicherlich am besten erklären. Ich habe dazu jetzt leider keine Zeit. Ihr könnt mich später in meinem Arbeitszimmer finden. Wenn Max mit dem Bereiten des Abendessens fertig ist.“
Sarah sah, wie Max etwas sagen wollte, aber sogleich wieder den Mund schloss. Schließlich saßen sie alleine im Wohnzimmer. Max beugte sich zu Sarah vor. „Das ist wirklich nicht gerecht. Ich muss jetzt schon seit über einer Woche für das Abendessen sorgen.“
„Und so schlimm war es auch nicht, was ich vorher angerichtet habe. Vielleicht schlimm genug für zwei oder auch drei Abendessen....“
Sarah beschloss, darauf lieber nichts zu erwidern. Jetzt wollte sie erst einmal wissen, was es mit Max „Vergangenheit“ so auf sich hatte.
„Nun“, Max streckte sich gemütlich in seinem Sessel aus. „Du solltest wissen, dass ich aus einer Familie mit einer langen, langen Zauberertradition stamme. Mein Urururgroßvater väterlicherseits beispielsweise war lange Jahre als Unterminister zuständig für die Domestizierung von Poltergeistern und Klabautermännern. Du weißt schon: Poltergeister in Häusern, Klabautermänner auf Schiffen. Ziemlich unangenehme Untermieter, die nichts als böse Streiche im Kopf haben und ansonsten wirklich zu nichts aber auch gar nichts nütze sind.“
„Mein Vorfahr hatte eines Tages die geniale Idee, einen Austausch durchzuführen. Die Poltergeister sollten einen Monat auf die Schiffe gehen, und die Klabautermänner kamen dafür ins Haus. Das sollte ihren Horizont erweitern und ihnen Gelegenheit geben, sich zu bessern und nützliche Elemente unserer Gesellschaft zu werden…
Das Ganze ging leider völlig schief. Die Klabautermänner hingen die ganze Zeit auf den Schornsteinen und den Dachfirsten herum, betranken sich sinnlos, sangen traurige Seemannslieder und versuchten die Nachbarhäuser mit Enterhaken zu sich heran zu ziehen…, was ihnen in einzelnen Fällen leider auch gelang…“
„Und die Poltergeister, was war mit denen?“
„Nun, die hingen die ganze Zeit über der Reling und kotzten.“
Max grinste. „Schließlich wurde der Austausch vorzeitig beendet, woraufhin sich die Kerle so freuten, dass der Terror schlimmer wurde als jemals zuvor. Mein Urururgroßvater bekam zur „Belohnung“ für seine gute Idee dann eine ganz persönliche Poltergeistfamilie zugeteilt. Die lebte dann im Übrigen in seinem Haus und er und seine Familie fortan in der alten Scheune. Mein Vorfahr machte dann bis zu seiner Pensionierung noch viele Jahre im Ministerium sauber, übrigens zur vollsten Zufriedenheit sämtlicher Bediensteten. Als er dann schließlich in den Ruhestand versetzt wurde, ließ er sich nicht davon abhalten, unserer Poltergeistfamilie das Lesen, Rechnen und Schreiben beibringen zu wollen.“
„Und mit Erfolg?“, wollte Sarah wissen, als Max eine Pause machte.
„Nun, teils, teils: Das mit dem Rechnen klappte überhaupt nicht. Völlig hoffnungslos! Lesen ging so leidlich, aber die Kerle verlernten alles gleich wieder.“
„Und was war mit dem Schreiben lernen?“ Sarah blickte Max ungeduldig an. Musste sie ihm denn alles aus der Nase ziehen?
„Tja, um das festzustellen, solltest du mal die Wände in unserem Haus sehen!“ Max schien sich köstlich zu amüsieren und grinste über beide Ohren.
„Du solltest aber nicht zu empfindlich oder gar prüde sein. Ich würde zu gerne wissen, wer denen diese ganzen Vokabeln beigebracht hat.... Junge, Junge, wenn du das lesen würdest!“
„Vor dem Haus wurde auf Veranlassung des Ministeriums im Übrigen ein Schild aufgestellt: > Zutritt erst ab 18 <, steht darauf geschrieben.“
Jetzt war sich Sarah nicht mehr so ganz sicher, ob Max sie nicht vielleicht doch nur auf den Arm nehmen wollte. Sie sagte aber nichts.
„Das mit der „Zeitwaise“ passierte vor zwei Jahren. Meine Eltern sind natürlich beide auch Zauberer. Nun, eines Tages haben sie sich bei der Zubereitung eines magischen Trankes geringfügig vertan. Eigentlich war es nur eine einzige Zutat, die sie verwechselten. Hinterher haben alle gesehen, dass es an einem winzigen Kaffeefleck im Zauberbuch gelegen haben musste. Auf jeden Fall hieß es in dem Rezept an einer Stelle „man nehme einen Hauch von Bärenwurz“. Durch den Kaffeefleck sah nun aber das W leider aus wie ein F.
Ich würde im Übrigen zu gerne wissen, wie meine Eltern an diese Zutat gekommen waren… Tja, dann nahm das Unheil seinen Lauf. Der Trank sollte eigentlich eine Art von Verjüngung bewirken: Jedes Mal, wann man ein Bild von sich selbst ansah, das einen im jugendlicheren Zustand zeigte, sollte das gewissermaßen auf den Betrachter abfärben. Das Gesicht im Bild wurde das ältere eigene, und man selber sah jetzt so jung aus wie zuvor auf dem Bild. Eigentlich eine recht gute Idee, sie stammte übrigens von meiner Mutter.
Jetzt aber war es durch die fehlerhafte Zutat leider so, dass man sich sofort in das verwandelte, was man gerade im Moment ansah, egal, ob es sich um einen Menschen, ein Tier oder gar um einen Gegenstand handelte. Zum Glück passierte das nicht jedes Mal. Es war wohl so, dass einem das Lebewesen oder das Ding gefallen musste.
Unglücklicherweise konnte man aber nicht sagen, wann man gerade empfänglich für eine Verwandlung war. Auf jeden Fall, als ich an dem besagten Tag aus der Schule heimkam, war das Haus menschenleer. Schließlich wurde das Ministerium benachrichtigt, die gleich vermuteten, dass irgendetwas Schlimmes passiert sein musste.
Trotzdem dauerte es noch ganze drei Tage, bis sie endlich gefunden wurden…“
Max verdrehte ein wenig die Augen, bevor er weiter sprach.
„Meine Mutter hatte sich in unsere Kaffeekanne verwandelt. In der kann man sich nämlich so richtig schön spiegeln, was ihr dann wohl auch zum Verhängnis geworden war. Mein Vater zankte sich gerade, als er entdeckt wurde, mit dem Hofhund. Er hatte sich nämlich in unseren Kater verwandelt. Jeder wusste, dass mein Vater Katzen mochte, also wunderten wir uns darüber nicht besonders.“
„Leider ist es bisher keinem Zauberer des Ministeriums gelungen, ein Gegenmittel zu finden, das die Wirkung des magischen Trankes aufgehoben hätte. Da ich natürlich nicht weiter bei meinen Eltern leben konnte, die sich jeden Moment in irgendetwas anderes verwandeln konnten, hat man meinen Onkel zu meinem Vormund gemacht. Ich darf meine Eltern im Übrigen noch nicht einmal sehen.“
„Warum das denn nicht?“, wollte Sarah wissen, die der Geschichte ganz atemlos gefolgt war.
„Na, ganz einfach. Meine Eltern haben mich beide wirklich gern. Wenn sie mich zu sehen bekämen, dann würden sie sich womöglich, schwupp die wupp, in mich verwandeln. Und da momentan noch niemand sagen kann, was dabei eigentlich mit dem Gegenüber passiert, hat man es für sicherer gehalten, mich gleich aus dem Haus zu entfernen. Gott sei Dank scheint die Wirkung des Trankes aber so allmählich ganz von alleine nachzulassen. Zumindest haben sich beide schon lange nicht mehr verwandelt.
Meine Mutter hängt mittlerweile an der Wand im Badezimmer, als Schminkspiegel. Und mein Vater steht als Kriminalroman im Bücherregal.
Ich bin also zur Zeit gewissermaßen elternlos, was sich aber irgendwann wieder ändern wird.
Es haben übrigens nur wenige Zutritt zu unserem Haus. Da wäre beispielsweise meine Tante Amelia, die schon immer sagte, dass es mit meinen Eltern ein schlimmes Ende nehmen würde. In die würde sich sicherlich keiner von den Beiden verwandeln wollen…“
Max schwieg einen Moment, wobei er an etwas Lustiges zu denken schien, was er Sarah aber wohl leider nicht verraten wollte.
„Hier bei meinem Onkel ist es im Übrigen gar nicht so übel. Zunächst hat er mich sogar auf eine berühmte Zaubererschule geschickt. Leider wurde diese im letzten Jahr dicht gemacht. „Zaubern verboten“…du weißt schon. War eigentlich nicht sonderlich schade drum, viel zu viele verwöhnte Bälger dort…„Schau, was für einen tollen Zauberstab mir mein Vater zum Geburtstag geschickt hat, enthält als Kern doch tatsächlich ein echtes Nasenhaar von einem Yeti…!“, oder „Mein Besen fliegt viel schneller als deiner…“ Es war kaum auszuhalten, glaube mir. Jetzt unterrichtet mich mein Onkel hier zu Hause.“
„Apropos Onkel!“ Max schaute sichtlich erschrocken auf die große Standuhr neben dem Kamin. „Mist, vor lauter Erzählerei habe ich das Abendessen ganz vergessen…“ Sarah sah zu ihrem Erstaunen, dass das große Ziffernblatt der Uhr, das eben noch ganz sicher weiß gewesen war und lediglich die Uhrzeit angegeben hatte, jetzt in einem kräftigen Rot pulsierte. > Appetit des Zauberers <, stand jetzt deutlich erkennbar in der Mitte. Der Zeiger stand bei 5 vor 12, wobei über der 12 geschrieben stand: > Bedrohlicher Zustand, wird langsam unleidlich! , konnte Sarah auf dem Einband lesen. Der alte Zauberer tippte mit der Spitze seines Zauberstabes wie zufällig gegen den Buchdeckel, der sich daraufhin in eine Spülbürste und ein Geschirrtuch verwandelte.
Sarah wollte dem rothaarigen Jungen in die Küche folgen, um ihm zu helfen, aber der Zauberer hielt sie zurück.
„Nicht heute, meine Liebe. Das ist dein erster Abend als Gast in unserem Haus. Und außerdem dürfte der Abwasch unserem großartigen Nachwuchszauberer nicht allzu sehr schaden.“
„Kann er das denn nicht einfach mit Hilfe der Zauberei erledigen?“, fragte Sarah und dachte dabei an die Zubereitung des Abendessens, die ja nicht wirklich allzu viel Mühe gemacht hatte.
„Nicht, wenn ich die Küche vorher mit einem magischen Vakuum abgeriegelt habe, mein Kind!“ Der Zauberer lächelte und lehnte sich gemütlich in seinem Stuhl zurück. Er schnippte kurz mit seinem Zauberstab in die Luft, woraufhin scheinbar aus dem Nichts ein Cognacschwenker angeschwebt kam, der bereits recht großzügig mit einer goldgelben Flüssigkeit gefüllt war.
Sarah schaute ganz fasziniert zu und erschrak, als plötzlich etwas Kaltes ihre linke Wange berührte. Sie blickte sich um und entdeckte ein großes Glas, das randvoll mit einer bunten Limonade gefüllt war und ganz unruhig in der Luft hin und her wippte, wobei es sie immer wieder ungeduldig anstupste. Sarah ergriff das Glas und machte es sich gleichfalls bequem.
Eigentlich schade, dass es in ihrer Welt keine Zauberei gab. Sie konnte es sich eigentlich durchaus vorstellen, gut damit leben zu können…
6
Sarah war jetzt so müde, dass sie es noch nicht einmal mehr merkte, als sie schließlich im Sitzen tief und fest einschlief. Der alte Zauberer nahm ihr das Limonadenglas aus der Hand, bevor es auf den Boden fallen konnte und trug sie anschließend in ihr Zimmer und legte sie vorsichtig ins Bett. Einen Moment lang blieb er noch in der Tür stehen und schaute das Mädchen mit einer Mischung aus Besorgnis und Bewunderung an. Dann schüttelte er kaum merklich mit seinem Kopf, löschte die Lichter und verließ den Raum.
Als Sarah am nächsten Morgen erwachte, blinzelte sie ein paar Mal in dem hellen Licht, das durch die Fenster in ihr Zimmer fiel und setzte sich voller Erstaunen aufrecht hin: Es war ihr eigenes Zimmer, in dem sie lag!
Ganz unverkennbar: Das Bett mit der Bettwäsche, die sie sich selbst ausgesucht hatte. Das Bücherregal, von dessen oberstem Bord ihre alten Puppen und ihr Teddybär auf sie herabblickten. Daneben stand ihr Kleiderschrank und an der Wand hing der große alte Spiegel mit dem dicken goldenen Rahmen, den sie gemeinsam mit ihrer Mutter auf dem Flohmarkt erstanden hatte. Ja, er besaß sogar den kleinen Sprung in der linken oberen Ecke, der ihn für seinen Vorbesitzer offensichtlich unbrauchbar gemacht hatte.
Sarah stand vorsichtig auf, in der Erwartung, dass sich ihre Umgebung jeden Moment in etwas anderes verwandeln würde. Als dies nicht geschah trat sie vorsichtig ans Fenster und zog die Gardine zur Seite.
Sie blickte auf einen nicht allzu großen See, der inmitten eines Waldes zu liegen schien und dessen Oberfläche durch die ihn umgebenden Bäume ganz smaragdgrün schimmerte.
Nein, so sah es bei ihr daheim mit Sicherheit nicht aus, wenn sie aus ihrem Fenster blickte. Dort hätte sie auf den Garten des Hauses ihrer Eltern und auf die Seitenwand der Garage schauen können.
Also musste sie sich immer noch in der Hütte des Zauberers befinden.
Sarah schaute sich noch ein wenig im Raum um: Ein Blick auf den Inhalt des Bücherregals zeigte ihr, dass doch nicht alles so war, wie bei ihr daheim. Da standen ein paar Bücher, die sie überhaupt nicht besaß. Sie zog eines dieser Bücher heraus, einen Bildband über Pferde, wie ihr der Buchrücken verriet. Das war ein Buch, das sie sich schon immer gewünscht hatte, aber bisher definitiv noch nicht besaß. Sie schlug es spaßeshalber auf und stellte fest, dass fast alle Seiten leer waren. Nur auf einigen Blättern konnte sie Abbildungen von Pferden sehen. Als nächstes schaute sie in den Schrank: Dort hingen tatsächlich ihre Sachen. Sie nahm sich ein paar Kleidungsstücke heraus, die sie später anziehen wollte: Unterwäsche, Strümpfe, ein Sweatshirt, eine Jeans.
Zunächst musste sie sich aber erst noch frisch machen. Neugierig näherte sie sich der Tür neben dem Kleiderschrank. Daheim müsste diese nämlich in ihr Bad führen.
Vorsichtig öffnete sie die Tür und konnte einen kleinen Freudenschrei nicht unterdrücken: Sie blickte tatsächlich in ihr kleines Badezimmer!
Nicht lange fackelnd, sprang sie in die Dusche. Wie sehr hatte sie so etwas vermisst!
Allerdings, einen kleinen Wehrmutstropfen hatte die ganze Sache doch: Das Wasser wurde einfach nicht so richtig warm. Sie konnte an den Hähnen drehen wie sie wollte. Aber egal, schließlich stand sie auf dem flauschigen Teppich und trocknete sich ab. Dabei stellte sie fest, dass sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit endlich einmal wieder sauber fühlte…
Rasch zog sie sich an und machte sich auf die Suche nach ihren neuen Gefährten.
Als sie im Flur stand, überlegte sie, welche Tür sie zuerst probieren sollte.
Sie hatte sich gerade für die entschieden, die, zumindest gestern noch, in die Küche geführt hatte, als diese sich schon öffnete und Max heraustrat.
Sie wollte ihn gerade fröhlich begrüßen, als ihr Blick auf sein Gesicht fiel: Der rothaarige Junge stand wie vom Blitz getroffen da und starrte sie ein paar Sekunden mit offenem Mund an. Dann wendete er sich auf einmal von ihr ab. Sie konnte gerade noch sehen, dass Max ganz rot geworden war. Sein Gesicht hatte dabei fast die Farbe seiner Haare angenommen.
Sarah war ganz fassungslos. „Was ist los mit dir? Stimmt irgendetwas nicht?“
Max, der immer noch mit dem Rücken zu ihr stand, gab mit etwas heiserer Stimme zur Antwort: „Äh, Sarah, du hast ja überhaupt nichts an!“
Diese stand einen Moment lang da, ohne irgendetwas zu begreifen. Dann schaute sie an sich herab und schrie auf:
Tatsächlich, sie war splitternackt!
Mit hochrotem Kopf rannte sie in ihr Zimmer zurück und blickte in den Spiegel: Alles war so, wie es sein sollte! Sie trug ein etwas ausgeblichenes Sweatshirt mit dem Aufdruck irgendeiner amerikanischen Universität. Darunter hatte sie Bluejeans an. Seltsam.
Dann kam ihr eine Idee. Sie riss sich ihre Sachen vom Leib und zog sich daraufhin kurzerhand die Klamotten vom Vortag wieder an.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass draußen niemand war, trat sie einen Schritt vor sie Tür, wobei sie genau darauf achtete, was dabei mit ihrer Kleidung geschah.
Beruhigt stellte sie fest, dass sie weiterhin ordnungsgemäß angezogen war. Nur ihre Strümpfe fehlten mit einem Mal. Die hatte sie nämlich nicht ausgewechselt. Und offensichtlich hatte auch ihre Unterhose das Weite gesucht. Diese wollte sie zuvor nicht unbedingt wieder gegen die alte vom Vortag tauschen. Aber das war jetzt erst einmal nicht so wichtig, da man das von außen ja glücklicherweise nicht sehen konnte…
Kurz darauf lugte auch Max wieder vorsichtig um die Ecke und kam dann mit einem beschämten Gesichtsausdruck auf sie zu. Sie bemerkte, dass er immer noch ein wenig rot im Gesicht war und spürte gleichzeitig, dass ihr Kopf wahrscheinlich ebenfalls die Farbe einer reifen Tomate haben dürfte…
„Es tut mir echt leid…“, murmelte Max ganz verlegen. „Wir hätten dich warnen sollen. Aber du hast gestern bereits so fest geschlafen, und ich wusste ja nicht, dass du schon so früh aufstehen würdest…“
In der Küche erfuhr sie von Max dann ein wenig mehr von dem Geheimnis ihres Schlafzimmers. Es war das Gästezimmer des Hauses. Und damit sich die verschiedenen Gäste, die ja alle durchaus ganz unterschiedliche Vorstellungen darüber hatten, in welcher Umgebung sie am liebsten lebten, wie zu Hause fühlten, verwandelte sich dieses sogleich in ihre jeweilige Wunschumgebung.
Leider war das alles nicht wirklich echt. Zumindest außerhalb des Zimmers nicht. Zu den reinen Phantasieprodukten gehörten leider auch gerade die Anziehsachen in ihrem Schrank, die sie sich ausgesucht hatte. Sie hätte ja eigentlich auch darüber misstrauisch werden müssen, dass sie dort gerade ihre Lieblingsklamotten vorgefunden hatte.
„Jetzt verstehe ich auch das mit dem Buch!“, rief Sarah aus. Sie hatte nämlich nur die Seiten in dem Pferdebuch lesen können, die sie früher im Buchgeschäft beim Durchblättern auch wirklich angesehen hatte. Über den Rest des Buches konnte sie natürlich nichts wissen!
Nur, was es mit dem Badezimmer auf sich hatte, wollte Sarah jetzt gerne genauer erfahren. War sie jetzt eigentlich sauber und frisch geduscht oder nicht?
Zu ihrer Beruhigung erklärte ihr Max, dass sich in dem Nebenraum tatsächlich ein Bad befand. Allerdings war dieses bedeutend primitiver als das in Sarahs Phantasie. So stammte das Wasser der Dusche aus einem großen hölzernen Wassertank auf dem Dach der Hütte. Da es in der Nacht ziemlich abgekühlt hatte, war das Wasser darin nicht mehr so richtig warm gewesen. Ansonsten klärte Max sie darüber auf, dass der Raum nicht etwa leer sei, sondern selbstverständlich ein durchaus gemütliches Bett aufwies und auch einen Schrank und andere Möbelstücke. Nur das Aussehen dieser Gegenstände variierte nun einmal je nach Gast…
Wenig später hatte Sarah die peinliche Begebenheit schon wieder weitgehend verdrängt und sie folgte Max ins Esszimmer, wo der Zauberer schon auf sie wartete.
7
Sarah berichtete von dem umgestürzten Strommast, der alten verwitterten Straße und den anderen spärlichen Relikten ihrer Welt, auf die sie bisher gestoßen war.
Der alte Zauberer strich sich nachdenklich über seinen langen weißen Bart.
„Da hast du genau den Kern eines der Probleme angesprochen, die mich am meisten beschäftigen. Ich beobachte das Phänomen schon seit einigen Jahren und bin deswegen bereits mehrfach an die Grenzen unseres Landes gereist. Dabei habe ich genaue Vermessungen und Berechnungen angestellt. Zusätzlich habe ich meine Krähen losgeschickt, die aus der Luft natürlich einen noch weitaus besseren Überblick über das ganze Land haben. Es sind übrigens die gleichen Vögel, die mir schon früh Auskunft über ein seltsames Geschwisterpaar gegeben haben, das da plötzlich in unserer Welt aufgetaucht ist…“ Der alte Mann schaute Sarah über die Ränder seiner Brille an.
„Aber ich schweife gerade vom Thema ab. Die Ergebnisse meiner Nachforschungen waren auf jeden Fall ganz eindeutig: Unsere Welt dehnt sich seit Jahren unaufhörlich aus und das nach allen Seiten.“
„Diese Ausdehnung geschieht allerdings auf Kosten eurer Welt, die dabei Stück für Stück verschwindet. Das passiert aber interessanterweise nicht auf einmal, sondern ganz allmählich. Ich bin selber einmal Zeuge geworden, wie dort, wo vorher direkt neben mir noch eine steile Felswand aufragte, plötzlich eine Eisenbahnschiene scheinbar aus dem Nichts auftauchte. Es dauerte gar nicht lange und das Metall der Schienen begann anzulaufen und zu korrodieren. Bereits nach wenigen Stunden war dann alles ganz zerfressen von Rost, ganz so, als wenn die Schienen bereits seit Jahren nicht mehr benutzt worden wären. Schließlich war alles von Grünzeug überwuchert und kaum noch zu entdecken. Und das alles spielte sich in einem Zeitraum von vielleicht zwei oder höchstens drei Stunden ab!“
Sarah folgte den Erzählungen des Zauberers mit einem zunehmend unguten Gefühl.
„Ich bin dann wenige Wochen später noch einmal an die Stelle zurückgekehrt. Wenn ich sie nicht zuvor durch Magie markiert hätte, sie wäre nicht mehr auffindbar gewesen! Von dem Metall der Schienen war lediglich eine Spur rötlichen Staubes übrig geblieben.“
Sarah dachte kurz nach, bevor sie dem Zauberer eine Frage stellte:
„Aber, wenn sich diese Welt ausdehnt, was geschieht dann mit unserer? Es muss doch auffallen, wenn etwas verschwindet.“ Sie sucht nach Worten. Es war alles so unlogisch.
„Also, wenn irgendwo ein Baum verschwindet, dann kann ich ja noch glauben, dass es niemandem auffällt. Aber bei einem fehlenden Strommast, zum Beispiel: Die Leitung wird dadurch doch unterbrochen und irgendwo fällt der Strom aus. Oder eine Eisenbahnverbindung, eine Straße. Wenn die mit einem Mal unterbrochen sind, muss das doch bemerkt werden!“
„Moment, Moment, kleines Fräulein. Ich kann nicht alles auf einmal beantworten!“
Der alte Zauberer wirkte aufrichtig amüsiert, was Sarah nur noch mehr in Rage brachte:
„Es verschwinden doch auch ganze Häuser, Dörfer und Städte. Was geschieht dann mit den ganzen Menschen, die dort lebten?“
„Spaß beiseite, Sarah. Das ist natürlich alles durchaus ernst. Ich freue mich nur, dass du dir genau die Fragen stellst, auf die es ankommt!“
„Aber die Erklärung ist eigentlich ganz einfach. Versetze dich doch einfach in Gedanken zurück in deine Welt. Versuche all das zu vergessen, was du hier an Zauberei, Magie und anderen unmöglichen Dingen erlebt hast: Die Menschen in deiner Welt sehen nur das, was sie sehen möchten! Für alles andere finden sie rasch eine Erklärung, mag sie noch so an den Haaren herbeigezogen sein. Und das, was völlig unmöglich erscheint, ignorieren sie meistens einfach! Und diejenigen, die tatsächlich etwas bemerken und dies auch nicht einfach auf sich beruhen lassen, werden als Spinner abgetan.“
„Ich bin einmal an eine Stelle gekommen, an der eine Straße aus eurer Welt ein kleines Stückchen durch die unsere führte, um dann wieder ihren „regulären“ Verlauf zu nehmen. Wie ich so da stand und die Straße betrachtete, kam mit einem Mal ein Reisebus aus eurer Welt herangefahren. Die Grenze schien wohl noch ganz frisch und durchlässig zu sein. Auf jeden Fall hielt der Bus direkt neben mir an. Neben der Straße stand nämlich eine Ampel, musst du wissen. Diese war gerade auf Rot umgesprungen. Einige der Fahrgäste schauten aus dem Fenster und mussten mich genau gesehen haben. Ich war im Übrigen nicht alleine. Neben mir saßen zwei Dutzend meiner Krähen. Kurz gesagt, ich muss in den Augen der Fahrgäste einen mehr als nur merkwürdigen Eindruck gemacht haben. Und, was meinst du passierte?“
Sarah zuckte mit den Schultern.
„Die Menschen in dem Bus sahen mich kurz an, dann glitt ihr Blick förmlich an mir vorbei. Sie schauten einfach in die Ferne, blinzelten kurz, einige rieben sich die Augen, und dann vertieften sie sich wieder in ihr Buch oder setzten das Gespräch mit ihrem Sitznachbarn fort! Ich habe dann im Übrigen rasch dafür gesorgt, dass die Ampel wieder auf Grün umsprang, sonst wäre der Bus mitsamt seinen Insassen unweigerlich in unserer Welt geblieben.“
„Ansonsten geschehen diese ganzen Dinge offenbar nur ganz langsam, so dass man sich an die Veränderungen gut gewöhnen kann. Und man darf es sich natürlich nicht etwa so vorstellen, dass dabei eine sichtbare Grenze auftritt. Nein, die Welt erscheint in sich weiterhin völlig intakt und ohne Unterbrechung. Außerdem habe ich herausgefunden, dass unsere Welt ziemlich raffiniert in die eure hinein wächst. Sie reißt dabei kaum irgendwelche „Wunden“ auf, die vielleicht doch jemandem auffallen würden. Mal verschwindet hier ein Bauernhof mitsamt seinen Zufahrtswegen, dort ist es dann ein kleines Dorf, das zusammen mit allen seinen Straßenanbindungen und der Eisenbahnnebenstrecke fein säuberlich und vollständig in unsere Welt übergeht!
„Und die Menschen, die so plötzlich aus ihrer alten Welt verschwinden, warum merken die denn nichts? Die können doch nicht einfach ignorieren, dass sie beispielsweise aus ihrem Dorf plötzlich nicht mehr in ihre gewohnte Umgebung gelangen können, in die Stadt, an ihren Arbeitsplatz, zu ihren Verwandten…“
Sarah war immer noch nicht ganz überzeugt von dem, was sie gerade erfahren hatte.
„Nun, hier in unserer Welt gibt es schließlich Zauberei, Blendwerk und Magie. Die Bewohner machen zweimal ihre Augen auf und zu und schon kommt es ihnen vor, als hätten sie hier immer schon gelebt. Sie schauen vielleicht etwas irritiert auf die Steckdosen in den Wänden, mit denen sie so gar nichts mehr anfangen können. Wenig später nehmen sie ein Stück Tapete, und weg ist die Steckdose, das gleiche geschieht mit den technischen Geräten. Die liefern sie brav irgendwo ab, wo sie dann von den Leuten des Königs in Empfang genommen und vernichtet werden.“
Sie verbrachten alle drei den ganzen Tag mit Erzählen. Sarah merkte dabei kaum, wie die Zeit verging. Es waren interessante und merkwürdige Dinge, die sie da über die Welt von Max und seinem Onkel erfuhr. Natürlich hatte sie ihrer Verwunderung darüber Ausdruck gegeben, dass es hier überhaupt keine modernen Dinge gab. Ihr fielen da spontan zahlreiche Dinge ein, wie elektrischer Strom, Autos, Eisenbahnen oder Telefone, die das Leben doch erheblich erleichtern könnten. Max hatte bei diesem Teil der Gespräche große Augen gemacht, da er von vielen dieser Begriffe wohl noch nie etwas gehört hatte.
Es war wohl offenbar wirklich so, wie ihr bereits die beiden Gaukler erzählt hatten: Früher, das heißt vor hunderten von Jahren waren die „Grenzen“ zwischen den beiden Welten noch bedeutend durchlässiger und unschärfer gewesen. Der alte Zauberer berichtete, dass es bei ihnen noch einige Reiseberichte gäbe, die über regelrechte Expeditionen in Sarahs Welt berichteten. Umgekehrt wüsste er aber auch von einigen Gelehrten aus ihrer Welt, die mehrfach hier zu Besuch gewesen seien. Er fragte sie, ob ihr der Name Grimm geläufig sei. Es seien Brüder gewesen, soweit er sich richtig erinnerte.
Sarah schluckte. Und ob sie den Namen schon gehört hatte! Aber sie brachte es einfach nicht übers Herz, dem Zauberer mitzuteilen, dass deren Aufzeichnungen (Waren es etwa Reiseerinnerungen?) in ihrer Welt unter der Rubrik Märchen eingeordnet wurden…
In diesem Zusammenhang kam ihr eine Idee. Sie sprach ihre Gefährten auf dieses komische „Drachenverbot“ an, von dem sie jetzt schon mehrfach gehört hatte.
„Natürlich gibt es bei uns noch jede Menge! Allerdings haben sie sich überwiegend in unbewohnte Gegenden zurückgezogen, da sie die ständigen Verfolgungen irgendwann leid waren. Es sind nämlich, ganz im Gegensatz zur langläufigen Meinung, ausgesprochen sensible Geschöpfe, die Lärm und laute Musik verabscheuen. Und das mit den Jungfrauen ist auch so ein furchtbares Missverständnis… Eigentlich mögen sie nämlich lieber junge Männer. Die kreischen nicht gar so laut herum.“
„Und das mit dem Verbot funktioniert natürlich auch nicht so recht, da die meisten Drachen nicht lesen können und zudem allesamt auch noch entsetzlich kurzsichtig sind. Und wenn man ihnen das Verbot laut vorliest, nun das dürfte in den meisten Fällen natürlich das letzte gewesen sein, was man in seinem Leben getan hat…“
Sarah überlegte, ob die Sagen und Märchen bei ihr daheim, in denen Drachen vorkamen, womöglich doch ein Körnchen Wahrheit enthielten. Schließlich konnte doch das eine oder andere dieser Viecher in ihre Welt gelangt sein, als das noch ohne große Probleme möglich war.
Was es mit der so mittelalterlich anmutenden Lebensweise auf sich hatte, sollte Sarah nach dem Mittagessen erfahren. Erst einmal gab es ein großes magisches Überraschungsmenü. Sarah schaute zunächst ein wenig perplex auf die leeren Teller, die der alte Zauberer zuvor auf dem Tisch hatte erscheinen lassen, erfuhr dann aber, dass man sich einfach ein wenig konzentrieren und sich sein Leibgericht oder irgendetwas anderes wünschen sollte. Alles Weitere würde sie dann schon sehen.
Gesagt getan, Sarah schloss die Augen und dachte an eine große Portion Dampfnudeln mit warmem Birnenkompott. Als sie die Augen wieder öffnete, fand sie auf dem Teller vor sich einen großen Haufen Mehl, mehrere Eier, einen Milchsee und dazwischen ein paar Birnen, an denen noch die Blätter hingen. Neidisch schaute sie über den Tisch, wo Max gerade ein großes, knusprig braun gebratenes, Grillhähnchen verspeiste. Sein Onkel begnügte sich mit einem frischen grünen Salat.
„Das war schon ganz gut, Sarah…“, sprach Max mit vollem Mund. „Als nächstes solltest du dich aber vielleicht noch ein kleines wenig mehr auf das fertige Resultat deiner Wünsche konzentrieren. Es geht hier nicht um eine Einkaufsliste für den Kaufmannsladen…“
Nach ein paar Versuchen (einmal brannten ihr die Dampfnudeln an, wahrscheinlich hatte sie sich einfach zu sehr konzentriert), hatte es auch Sarah geschafft, sich eine leckere Portion „herbeizuwünschen“. Der Nachtisch gelang ihr dann auf Anhieb und rief vor allem bei Max Erstaunen und ein wenig Neid hervor. Er wusste nämlich gar nicht, dass es außer Vanille- und Schokoladeneis auch noch ein paar andere Geschmacksvarianten geben konnte (woher hätte er beispielsweise auch von After-Eight-Eis wissen können…).
Dann, als sie alle drei satt und zufrieden in ihren Sesseln hingen, berichtete der alte Zauberer, dass es für ihn auch nicht klar sei, warum die modernen Errungenschaften von Sarahs Welt sofort verrotteten und zerfielen, sobald sie in der hiesigen Welt angekommen waren. Ausnahmen gab es zwar, wie die Steckdosen oder die Plattensammlung von Martins Onkel bewiesen. Aber im Großen und Ganzen war alles andere nach spätestens zwei oder längstens drei Wochen entweder unbrauchbar oder bereits zu Staub zerfallen.
„Du musst natürlich bedenken, Sarah, dass man in einer Welt, in der Zauberei und Magie möglich sind, nicht unbedingt alles von dem benötigt, was euer Leben daheim bequem und einfach macht.“ Dem Argument musste Sarah zustimmen. Dafür hatte sie schließlich bereits genug Beispiele erfahren. Eines davon klebte gerade noch in ihren Zähnen.
Andererseits nahm der alte Zauberer an, dass es sich auch um eine Art von magischem Sicherheitssystem handeln könnte. Er berichtete Sarah, dass sie alle wahrscheinlich von Hexen und Zauberern abstammten, die irgendwann einmal aus Sarahs Welt hierhergekommen waren. Vielleicht wollten sich diese ja so gegen irgendwelche Eindringlinge aus der alten Welt schützen.
„Das ist wirklich komisch…“ Sarah erinnerte sich, als sie dies jetzt bereits zum zweiten Mal hörte, an ihre eigene Familiengeschichte. „Bei uns gab es nämlich vor über 200 Jahren auch eine „Hexe“ in der Familie.“
Sie erzählte ihren neuen Gefährten, dass es ganz in der Nähe ihrer Heimatstadt auf einem Berg ein Denkmal gab, das an die letzte Frau erinnerte, die in der Gegend als Hexe verbrannt worden war. Sarah erinnerte sich noch genau daran, als sie das erste Mal ein Gespräch ihrer Eltern darüber aufgeschnappt hatte und wie gruselig und gleichzeitig faszinierend sie das Ganze gefunden hatte.
Nach einer kurzen Teepause knüpfte der alte Zauberer noch einmal an das Gespräch an. Er könne sich gut vorstellen, dass es natürlich auch ein nützliches Machtinstrument für den König sein dürfte, seine Untertanen von allen „Neuerungen“ fern zu halten.
Und das besonders jetzt, wo auch noch die Magie und Zauberei verfolgt wurden. Umso einfacher hatten der König und seine Getreuen es, ihre Macht auszuüben, denn für sie galt das
Verbot der Zauberei selbstredend nicht…
Sarah erinnerte sich jetzt an das, was ihr Martin damals kurz vor ihrer Flucht aus der Stadt noch über den Zauberer erzählt hatte und was sie seither in ihren Gedanken immer wieder beschäftigt hatte.
„Man sagt, dass Sie den König von früher her kennen würden. Ich meine persönlich…“, begann sie zaghaft, weil sie nicht so recht wusste, wie sie dieses doch etwas heikle Thema am besten ansprechen sollte.
Zu ihrer Überraschung fing der Zauberer an zu lachen.
„Na, das kann man wohl sagen! Man würde zwar nicht gerade behaupten, dass wir befreundet waren. Richtige Freunde hat er wahrscheinlich auch nie gehabt. Die Leute, die er um sich geschart hatte und die ihn einen Freund nannten, waren entweder in irgendeiner Form abhängig von ihm oder hatten schlicht und ergreifend Angst vor ihm.
Aber Tatsache ist auf jeden Fall, dass wir jahrelang ziemlich eng miteinander zu tun hatten. Du musst wissen, dass bis vor nicht allzu langer Zeit die Kunst der Zauberei noch einen großen Stellenwert in unserem Land besaß. Wir waren damals in einer Art von Zunft organisiert, eigentlich genau so wie die anderen Handwerker, eigentlich waren wir ja nichts anderes. Genau wie diese Zünfte, wachte auch die unsere streng darüber, wie sich ihre Mitglieder verhielten. Wenn diese gegen irgendwelche Vorgaben verstoßen, konnte es durchaus passieren, dass man aus der Zunft ausgeschlossen wurde. Ein bitteres Schicksal, da man dann seinen Beruf nicht mehr frei ausüben durfte und womöglich sogar das Recht verwirkte in seinem Haus oder gar in der Stadt zu bleiben.“
„Nun, wie auch immer, wir, die der Magie mächtigen Menschen, hatten uns an gewisse Regeln zu halten, auch wenn diese sicherlich nicht leicht zu überwachen waren, wie du dir sicher vorstellen kannst. Streng verboten war vor allem das Ausüben von so genannter schwarzer Magie. Dazu gehörten beispielsweise das Verhexen von anderen Menschen, das Aussprechen von Flüchen, die Verursachung von Missernten oder gar von Naturkatastrophen, kurz gesagt all das, was anderen Menschen Schaden zufügen könnte.“
„Zusammen mit einigen anderen Zauberern, ich war der jüngste und unbedeutendste von ihnen, war es meine Aufgabe über die Einhaltung dieser Regeln zu wachen. So mussten wir allen Beschwerden nachgehen, die über ein Mitglied der magischen Zunft bei uns eingingen. Darüber hinaus hatten wir aber auch selbst nach Ereignissen Ausschau zu halten, die nach aller Erfahrung nicht natürlichen Ursprungs waren, also mutmaßlich von Zauberhand verursacht waren. Da gab es beispielsweise nicht genehmigte Schneestürme, die mitten im Sommer hernieder gingen oder, durchaus nicht selten, unangemeldete Sonnenfinsternisse, im Übrigen eine beliebte Mutprobe bei jungen Zauberern, die damit vorzugsweise ihren Verehrerinnen imponieren wollten und dabei im Schutze der unverhofft einbrechenden Dunkelheit natürlich manchmal noch ganz andere Dinge im Sinn hatten…“
Der Zauberer verstummte einen Augenblick und bekam einen ganz verklärten Gesichtsausdruck, bevor er sich wieder besann, kurz mit dem Kopf schüttelte und weiter fortfuhr:
„Natürlich gab es auch wirklich schlimme Dinge, die manchmal passierten: Auf mysteriöse Art und Wiese vernichtete Ställe und Ernten, abgebrannte Häuser und Gehöfte, auf ruhiger See mit einem Mal spurlos verschwundene Schiffe, ungeklärte Todesfälle… All dies mussten wir natürlich nach aller Möglichkeit restlos aufklären. Verständlicherweise wurde unserem Berufsstand von je her immer eine gehörigen Portion Misstrauen entgegengebracht, hervorgerufen durch Unverständnis, Missgunst oder auch nur durch die weit verbreitete Angst vor dem Unbekannten. Und natürlich waren dann solche ungeklärten Dinge wieder Wasser auf den Mühlen unserer Gegner. Und von diesen gab es sicherlich nicht wenige.“
„Kurz und gut. Damals war es gerade innerhalb von kurzer Zeit zu einer ganzen Reihe von unerklärlichen Unglücken gekommen. Es betraf einige sehr einflussreiche Persönlichkeiten, die brisanterweise auch noch allesamt zu unseren erklärten Gegnern gehörten. Dies und natürlich auch die Tatsache, dass die Umstände, wie diese Leute zu Schaden oder gar zu Tode kamen, in jedem einzelnen Fall äußerst mysteriös gewesen waren, ließ nicht gerade ein gutes Licht auf unserer Zunft fallen.“
Der alte Mann blickte Max und Sarah an, die seinen Worten gebannt gefolgt waren.
„Kein Wunder also, dass wir unter einem großen Zugzwang standen. Wir arbeiteten wie immer in kleinen Gruppen. Zu meinen Leuten gehörte, du wirst es vielleicht erraten, unser jetziger König, damals ein junger Zauberer, sehr begabt und ehrgeizig, aber nicht sonderlich beliebt. Nun, auf beruflicher Ebene kamen wir eigentlich recht gut aus, er zeigte sich allen neuen Dingen gegenüber äußerst aufgeschlossen und lernbegierig. Jetzt weiß ich natürlich wieso. Damals war ich eigentlich verständlicherweise nur sehr erfreut, einen so überaus fleißigen Mitmagier an meiner Seite zu wissen.
Die ganze Sache endete zu unserer großen Überraschung damit, dass die Spuren tatsächlich zu einigen von uns führten. Zu unser aller Entsetzen handelte es sich bei den Überführten um eine Gruppe besonders ehrwürdiger und verdienstvoller Hexen und Zauberer, die eigentlich über jeden Verdacht erhaben sein sollten.
Aber die Beweise waren einfach erdrückend.
Nachträglich gesehen muss ich mir natürlich den Vorwurf machen, dass ich nicht misstrauisch wurde, weil einfach alles zu gut zusammen passte. Aber damals war ich noch jung und unerfahren. Außerdem saß uns allen der Schock so tief in den Knochen, dass wir kaum noch fähig waren klar zu denken.“
Der alte Mann schaute Sarah traurig an. Obwohl das alles schon sehr lange her war, schienen die Erinnerungen daran für ihn schmerzlich zu sein.
„Nun, um die Sache kurz zu machen: Es ließ sich nicht vermeiden, dass die ganze üble Sache rasch an die Öffentlichkeit kam. Nachträglich gesehen war es erstaunlich, wie rasch sich das alles verbreitete. Obwohl wir die Schuldigen wirklich hart bestraften, sie verschwanden nicht nur in den mächtigen Kerkern der meistgesicherten Gefängnisse unseres Landes, sondern sie wurden auch noch allesamt aus unserer Zunft ausgeschlossen und mit einem lebenslangen Zauberverbot belegt, war dieses unglückliche Ereignis der Anfang vom Ende unserer Zunft.
Es vergingen keine fünf Jahre, dann war es vorbei mit unserer ganzen Zauberherrlichkeit. Hoffnungslos zerstritten untereinander wie wir waren und voller Misstrauen gegenüber unseren früheren Zunftkollegen, war es den Gegnern schließlich ein leichtes, uns den endgültigen Todesstoß zu versetzen. Die Ausübung der Zauberei war mit einem Mal nur noch mit einer besonderen Genehmigung und unter der strengen Kontrolle eines ominösen Gremiums möglich, das angeblich direkt dem König unterstand.
Dieser war allerdings zu diesem Zeitpunkt schon sehr alt und sehr krank. Man berichtete, dass er die eigentlichen Regierungsgeschäfte schon längst an seine Berater hatte abgeben müssen und dass diese die eigentlichen Herrscher im Lande waren. Da die Ehe des Königs kinderlos geblieben war, gab es zudem auch keinen rechtmäßigen Nachfolger für den Thron.“
Der Zauberer lächelte freudlos und blickte Sarah an.
„Nun, als ich schließlich eines Tages persönlich vor dem Gremium vorzusprechen hatte, um mich gegen einige völlig ungerechtfertigte Vorwürfe zu wehren, die man gegen mich erhoben hatte, was meinst du, wen ich dort zu meiner Überraschung antraf?“
Sarah hatte eine dunkle Ahnung, hielt aber den Mund, um den alten Mann nicht zu unterbrechen.
„Natürlich unseren jetzigen König, meinen alten Gefährten aus früherer Zeit. Ich hatte ihn schon lange aus den Augen verloren. Nachdem wir, vor allem durch seine tatkräftige Unterstützung, damals den unglücklichen Fall aufgeklärt hatten, war er irgendwann verschwunden. Aber da dies bei vielen Mitgliedern unserer auseinanderbrechenden Zunft der Fall gewesen war, einige wurden verhaftet, andere versteckten sich irgendwo, andere wiederum schworen der Zauberei ab, zerbrachen feierlich ihre Zauberstäbe und führten fortan ein „normales“ Leben, war es mir eigentlich überhaupt nicht aufgefallen. Wie schon gesagt, es war ein Mann, der keine Freunde, keine festen Bindungen kannte...“
„Ha, es war ihm sichtlich unangenehm, von mir erkannt zu werden. Eigentlich war es wohl nur ein Zufall, der uns wieder zusammenführte, ein Irrtum meinerseits, was den Vorladungstag vor dem Untersuchungsgremium betraf.
Wie er sich verändert hatte!
Schon auf den ersten Blick konnte man sehen, dass er mit einem Mal ein mächtiger Mann geworden war. Wie sie alle vor ihm buckelten und kuschten, ihm nach dem Mund redeten!
Und ihr glaubt nicht, wen ich da noch alles von meinen alten Gefährten aus der Zunftzeit wieder traf. Viele waren offensichtlich in die Dienste unserer alten Gegner getreten!
Ich will es kurz machen: Mit einiger Mühe schaffte ich es noch, meinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Denn in der Zwischenzeit war auch ich zu einem einflussreichen Zauberer geworden, den man nicht so leicht einschüchtern und erpressen konnte.
Dann dauerte es nicht mehr lange und die traurige Kunde vom Tode unseres alten Königs machte ihre Runde durch unser Land.“
„Tja, und sein Nachfolger ist uns allen ja bestens bekannt.“
Der Zauberer lächelte traurig als er geendet hatte.
Sarah schaute den alten Mann betreten an.
Max, der die Geschichte natürlich schon kannte, meinte zu ihr:
„Du kannst dir vorstellen, dass es keine leichte Zeit ist, in der wir hier leben…“
„Aber warum verbietet er die Ausübung der Zauberei? Er ist doch selber ein Zauberer…“
„Da hast du Recht. Und zwar einer, der seine Kräfte durchaus einzusetzen weiß!“
Max Onkel richtete sich zornig in seinem Lehnstuhl auf.
„Es war alles so von ihm gewollt! Was meinst du denn, warum gerade er es war, der den vermeintlichen Skandal in unseren Reihen aufgedeckt hat?“
Sarah schluckte.
„Sie meinen: Er war daran beteiligt?“
„Ich weiß mittlerweile mit einiger Sicherheit, dass er nicht nur daran beteiligt war. Nein, es war alles ein schmutziges Spiel. Es war nicht leicht es herauszufinden: Alle diejenigen, die wir damals widerspruchslos haben in die Kerker wandern lassen, waren völlig unschuldig… Er hat das alles nur so hingestellt, hat falsche Fährten gelegt, Beweise gefälscht, erpresst und Geständnisse erzwungen! Unglaublich intelligent und raffiniert ist er dabei vorgegangen.“
Der alte Zauberer wirkte mit einem Mal ganz müde.
„Und er hat alles erreicht, was er haben wollte: König ist er geworden, er, dessen wirkliche Herkunft man noch nicht einmal kannte! Und er kontrolliert jetzt praktisch alle Zauberei, Hexerei und Magie in unserem Land. Du kannst dir kaum vorstellen, was für eine gewaltige Macht er dadurch besitzt! Fast alle der noch übrig gebliebenen Zauberer und Hexen stehen unter seiner Kontrolle. Das freie Ausüben von Zauberei ist streng untersagt, ausgenommen natürlich die Arbeit seiner Helfer und seiner Helfershelfer…“
„Aber Sie haben es trotzdem geschafft, frei zu bleiben!“
Sarah blickte den alten Mann mit aufrichtiger Bewunderung an.
„Weißt du Sarah, unser Land ist zum Glück sehr groß und unser König kann nicht alles kontrollieren. Glaube mir, er hat schon alles Mögliche versucht: Er wollte mir eine mächtige Position verschaffen, wenn ich nur erst in seine Dienste trete. Umgekehrt sparte er nicht mit Drohungen, wenn ich seine Angebote ablehne. Aber er weiß genau, dass er alleine mir wahrscheinlich nicht gewachsen wäre. Und seine von ihm abhängigen Magier haben sich, ich hoffe aufgrund unserer früheren Freundschaft und nicht aus Angst vor mir, bisher noch nicht getraut, mir ernsthaft in die Quere zu kommen.“
„Ich weiß auch nicht so recht, was geschehen ist, aber der König scheint sich in den letzten Jahren verändert zu haben. Es hielten sich hartnackig Gerüchte, dass er erkrankt sei. Die Leute begannen schon ein wenig aufzuatmen, als es mit einem Mal noch schlimmer wurde als jemals zuvor. Seine Soldaten und Spitzel pressen das letzte Geld an Steuern aus den armen Bürgern und Bauern heraus. Und auch unser stillschweigendes Abkommen, uns gegenseitig in Ruhe zu lassen wurde zuletzt von ihm einseitig aufgekündigt…“
Er blickte nachdenklich vor sich hin.
„Tja, und gleichzeitig geschehen diese seltsamen Dinge: Die zunehmend schnellere Ausdehnung unseres Landes, auf Kosten eurer Welt. Ja und nicht zuletzt auch du und deine Familie, die ihr mit einem Mal hier auftaucht, und die ihr offensichtlich das allergrößte Interesse unseres lieben Königs hervorruft. Besonders du, mein Kind…“
Und er blickte Sarah an, der es dabei ganz kalt den Rücken herunter lief.
„Aber, warum verfolgt er mich?“, fragte Sarah schließlich und fühlte sich gleichzeitig furchtbar klein und hilflos, was sie zugegebenermaßen im Grunde genommen auch war. „Was will er nur von mir?“
Der alte Zauberer antwortete nicht gleich. Nachdenklich strich er sich mit der Hand über seinen langen weißen Bart.
„Weil er dich aus irgendeinem Grund zu brauchen scheint“, sprach er schließlich nach einer Pause, die Sarah schier endlos vorkam, mit leiser Stimme.
„Mich? Aber, ich bin doch nur ein Kind? Das kann doch nicht sein“, rief Sarah.
„Doch, Sarah. Das muss ganz ohne Frage der Grund sein, warum er dich verfolgt. Weißt du, wenn er nur einfach etwas gegen „Eindringlinge“ aus einer anderen Welt hätte, er würde sich sicherlich nicht so viel Mühe machen: Es tut mir leid, das so deutlich und klar aussprechen zu müssen, aber in einem solchen Fall hätte er dich auch einfach töten lassen können! Das wäre für einen mächtigen Mann wie ihm, der im ganzen Land seine ihm bedingungslos ergebenen Leute hat, sicherlich ein Leichtes gewesen.“
Sarah fühlte, wie ihr bei den Worten das alten Mannes schwindlig und schlecht wurde.
„Er will oder darf dich aber nicht töten, auch wenn er das sicher könnte. Weil er dich offenbar braucht.“
Der alte Mann schwieg eine Weile und sagte dann leise, wie für sich selbst bestimmt: „Es fragt sich nur, warum? Was besitzt du wichtiges oder kostbares. Oder sind es irgendwelche besonderen Fähigkeiten? Wer weiß?“
Sarah dachte einen Moment lang nach. Ähnliche Worte hatte sie doch schon einmal früher gehört. Dieses Gerede von irgendwelchen „Fähigkeiten“. Sie fasste sich ein Herz und erzählte ihren Gefährten von den komischen Dingen, die sie gemeinsam mit den Gauklern auf ihrem Aufstieg im „magischen“ Gebirge erlebt hatte.
„Sehr interessant, mein Kind. Wirklich äußerst interessant.“ Der Zauberer schaute Sarah aufmerksam und ein wenig prüfend an. „Irgendetwas in dieser Richtung hatte ich mir schon gedacht...“
Leider sprach er nicht mehr weiter. Stattdessen erhob er sich von seinem Platz.
„Ich werde sicherlich in den nächsten Tagen viel Zeit bei meinen Studien verbringen und euch wohl auch ab und zu für eine kurze Zeit verlassen müssen. Zu viele seltsame Dinge sind hier am Werk. Noch habe ich nur ganz nebulöse Vorstellungen darüber, was sie bedeuten könnten…“
Schon auf dem Weg zur Tür, drehte er sich noch einmal zu Sarah und Max um:
„Aber einen Entschluss habe ich schon gefasst. Bezüglich unseres weiteren Zieles. Wir werden uns direkt zu ihm hinbegeben…“
Die Kinder sprangen fast gleichzeitig aus ihren Stühlen auf.
„Wwwas? Wir sssollen direkt zu ihm gggehen?“ Max hatte vor Aufregung ganz fürchterlich zu Stottern angefangen. Sarah bekam vor Schreck dafür gar keinen Laut mehr heraus.
„Ganz Recht, meine Lieben. Nur in der Höhle des Löwen werden wir letztlich das Geheimnis um dich und deine verschwundene Familie lüften können. Und auch so ein paar andere Dinge könnten endlich einmal für ein und alle Mal geklärt werden…“
Das letzte, was Sarah von dem alten Zauberer sah, bevor er ganz in der Tür verschwand, war ein feines Lächeln, das irgendwie nicht ganz unzufrieden wirkte.
Sarah schaute Max an, der jetzt wie ein Häuflein Elend in seinen Sessel hinein gesunken war. Sie verspürte den Drang, ihm ein paar aufmunternde Worte zu sagen, so entsetzt wirkte er.
„Schau mal. Er hat sicherlich nicht Unrecht. Sicherlich erwartet der König genau das Gegenteil davon, nämlich dass wir vor ihm fliehen und vielleicht von unserem Versteck heraus nach meinen Eltern und meinem Bruder suchen. So können wir ihn vielleicht überraschen!“
Sie hatte sich von ihrem ersten Schock erholt und begann allmählich zu begreifen, dass dies wahrscheinlich doch die einzige Chance war, ihre Familie wieder zu finden.
„Ich weiß nicht…“ Max blickte Sarah unsicher an. „Nichts gegen meinen Onkel. Er ist wirklich ein genialer Zauberer. Und er hat bisher mit seinen Entscheidungen eigentlich immer richtiggelegen.“
Er schüttelte nachdenklich den Kopf.
„Aber, ich hoffe nur, dass er sich diesmal nicht doch ein wenig überschätzt…“
8
Die folgenden Tage und Wochen waren, trotz allem, sicherlich die unbeschwertesten, auf jeden Fall aber die fröhlichsten, die Sarah seit langem verbrachte. Auch wenn sie es noch nicht geschafft haben sollte, ihre Familie, geschweige denn einen Weg zurück in ihre alte Welt zu finden, so hatte sie jetzt wenigstens in dem alten Zauberer und seinem Neffen zwei wertvolle Verbündete und vor allem zwei wahre Freunde gefunden.
Und das gehörte, wie Sarah nicht erst seit ihrer leidvollen Erfahrung mit den beiden Gauklern wusste, sicherlich zu den wichtigsten Dingen auf der Welt, die man sich überhaupt vorstellen konnte.
Sarah hatte viel Zeit, sich eigene Gedanken über ihre neue Umgebung zu machen. So gab es bei allen Unterschieden doch auch erstaunlich viele Gemeinsamkeiten zwischen dieser Welt und der, aus der sie kam. Offensichtlich blieb bei der Ausdehnung der Welt der Magier doch mehr von der alten Welt erhalten, als es den Bewohnern hier so klar und ersichtlich war. Es waren nicht nur solche Erlebnisse wie zuvor in der Stadt, wo sie plötzlich auf den Stand mit der Pizza gestoßen war, auch die Sprache und die Verhaltensweise der Bewohner dieser seltsamen Welt waren ihr eigentlich erstaunlich vertraut. Auch wenn es wahrscheinlich stimmte, was sie gehört hatte und die Zauberer und Hexen ursprünglich sogar aus ihrer Welt gekommen waren: Konnte man nicht annehmen, dass die jahrhundertelange Trennung eine ganz andere Sprache oder zumindest einen anderen Wortschatz hervorgebracht hatte? Sie erinnerte sich aber daran, was ihr schon die beiden Gaukler mitgeteilt hatten: Dass die beiden Länder wohl schon immer Grenzbereiche hatten, die sich mehr oder weniger überlappten. Das erklärte wahrscheinlich deren doch erstaunliche Ähnlichkeit…
Sarah hatte erfahren, dass der Zauberer sich bereits in der Vergangenheit schon intensiv mit ihrer Welt beschäftigt hatte. So gab es nicht nur die alten Berichte der Reisenden zwischen den Welten, von denen sie bereits gehört hatte. Auch die Kristallkugeln, die die Zauberer gewöhnlich dazu benutzten, um miteinander zu kommunizieren oder um irgendwelche entfernten Dinge zu beobachten, gaben manchmal seltsame Dinge preis, die nicht aus dieser Welt zu stammen schienen…
Vielleicht hing es ja damit zusammen, dass Sarah sich hier in der seltsamen Hütte auf Stelzen immer mehr zu Hause fühlte: Auf jeden Fall ähnelte das Zimmer, das sie hier bewohnte, von Tag zu Tag immer weniger dem bei ihr daheim. Dies lag daran, dass ihre Erinnerungen an ihre alte Welt im Laufe der Zeit immer blasser und undeutlicher wurden. So wusste sie eines Tages nicht mehr, wie das Muster der gelben Vorhänge vor ihren Fenstern ausgesehen hatte: Hatte es sich um Linien oder eher um Punkte gehandelt? Und, waren diese horizontal oder womöglich doch vertikal angeordnet gewesen? Sie konnte sich trotz intensiver Bemühungen einfach von heute auf morgen nicht mehr daran erinnern!
Das hatte dummerweise zur Folge, dass die Vorhänge, die jetzt hier in ihrem Zimmer hingen, zwar von weitem noch genauso aussahen, wie die bei ihr daheim. Betrachtete Sarah sie aber genauer, begann plötzlich alles ein wenig vor ihren Augen zu verschwimmen. Je mehr sie sich dem Objekt näherte, desto weniger konnte sie letztlich im Detail erkennen. Irgendwie wurden die gemusterten Vorhänge mit einem Mal ganz unscharf, ungefähr so, als betrachtete man sie durch eine Brille mit ganz dicken Gläsern, die einem nicht gehörte.
Ähnliche Dinge spielten sich jetzt überall in dem Zimmer ab. Mal waren es irgendwelche Buchtitel, an die sie sich nicht mehr richtig erinnern konnte, dann betraf es eines der großen gerahmten Fotos an der Wand. Waren neben ihr und ihren Großeltern, die da gemeinsam vor der mächtigen Eiche auf der großen Gartenbank posierten, eigentlich auch ihre Eltern an dem Tag mit dabei gewesen? Und ihr Bruder, saß er mit ihnen auf der Bank?
Tatsache war auf jeden Fall, dass ihr Zimmer sich allmählich veränderte. Dabei blieb es natürlich weiterhin sehr gemütlich und behaglich eingerichtet. Nur die persönlichen Dinge, die ein eigenes Zimmer von einem anderen unterschieden, passten sich immer mehr ihrem jetzigen Leben an. Auf dem Bücherregal standen jetzt vor allem Bücher, die ihr der Zauberer oder Max gegeben hatten und auch auf dem besagten Foto an der Wand über ihrem Bett waren es eines Tages nicht mehr ihre Großeltern, in deren Mitte sie auf der Bank saß, sondern ihre beiden neuen Gefährten.
Die Hütte, die für all dies verantwortlich war, blieb im Übrigen weiterhin eine zuverlässige Quelle ständig neuer Überraschungen. Das betraf vor allem die Anordnung der einzelnen Zimmer und der Treppenauf- und -abgänge in ihrem Inneren…
So konnte man weiterhin nie sicher sein, dass man nach dem Öffnen einer Tür auch wirklich dort landete, wo man eigentlich hinwollte, sei es die Küche, das Wohnzimmer oder auch die Toilette.
Wobei letzteres natürlich besonders lästig sein konnte, besonders wenn man es etwas eiliger hatte. Man musste der alten Hütte jedoch zugutehalten, dass sie in solchen Situationen grundsätzlich nie wirklich übertrieb und man sich eigentlich immer spätestens beim dritten Versuch im gewünschten Kämmerchen wiederfand.
Der alte Zauberer und Max waren diesbezüglich übrigens der Meinung, dass der Hütte ein paar Marotten durchaus zustanden, da sie zum einen schon recht betagt und zum anderen ansonsten sehr zuverlässig war. Außerdem gewöhne man sich nach ein paar Wochen schnell daran und merke es irgendwann überhaupt nicht mehr.
Im Gegenteil: Sie würde sehen, dass sie sich eines Tages sicherlich eher wundern würde, wenn sie tatsächlich genau den Raum hinter einer Tür vorfand, den sie dort auch erwartet hatte…
Nur die Haustür führte immer zuverlässig nach draußen (und natürlich umgekehrt auch wieder nach drinnen, was ja nicht unbedingt selbstverständlich war) und schien von dem Zauber glücklicherweise ausgespart worden zu sein. Und seitdem der Zauberer den wild gewordenen Türknauf wieder eingefangen hatte, musste man sich beim Übertreten der Türschwelle auch keinen dummen Kommentar mehr anhören. Trotzdem blieb es dabei, dass Sarah jedes Mal ein ungutes Gefühl hatte, wenn sie die Tür öffnete, und sie vermied es weiterhin tunlichst, dabei dem Bronzekopf in die „Augen“ zu blicken.
Man konnte ja schließlich nie wissen….
Da der Zauberer sich tagsüber immer häufiger in seine geheimen Gemächer im Keller der Hütte, um dort seine intensiven Nachforschungen und Studien zu betreiben und an manchen Tagen nur bei den gemeinsamen Mahlzeiten zu sehen war, mussten Max und Sarah häufig alleine zusehen, wie sie sich die Zeit vertrieben.
Eigentlich waren die Ferien jetzt schon wieder zu Ende, und der Zauberer hätte seinem Neffen wieder Unterricht geben müssen, aber die Suche nach Sarahs Familie und natürlich auch die anderen unheimlichen Dinge, die offensichtlich mit Sarah und ihrem Schicksal verknüpft zu sein schienen, duldeten nun einmal keinen Aufschub. Max schien von dem verzögerten Unterrichtsbeginn verständlicherweise nicht allzu sehr enttäuscht zu sein, auch wenn ihm sein Onkel bereits angekündigt hatte, dass man den versäumten Stoff, und zwar den gesamten (!), selbstverständlich wieder würde aufholen müssen.
Sarah war zu Anfang ein wenig erstaunt darüber gewesen, dass Max so wenig Lust auf den Unterricht bei dem Zauberer hatte. Sie stellte sich so etwas eigentlich ungemein spannend vor. Schließlich war der alte Mann doch einer der berühmtesten Vertreter seiner Zunft.
Dann hatte Max sie aber darüber aufgeklärt, dass der allergrößte Teil der Unterrichtszeit eines Zaubererlehrlingsanwärters nicht etwa vom Erlernen irgendwelcher Zaubersprüche, dem Kochen diverser Zaubertränke oder gar vom Fliegen auf Besen eingenommen wurde, sondern vor allem von so profanen Dingen wie etwa der Mathematik, Physik, Biologie und der Grammatik!
Darüber habe man im Allgemeinen völlig falsche Vorstellungen, klagte Max.
„Trotzdem“, fügte er grinsend hinzu. „Ich habe meinem Onkel, seitdem ich hier wohne, häufig genug über die Schulter blicken können, um die eine oder andere Sache aufschnappen zu können.“
Und außerdem habe er da einige einschlägige Werke in seinem Zimmer, die äußerst aufschlussreich seien. Aber sein Onkel dürfe davon natürlich nichts wissen…
Sarah dachte sich ihren Teil. Sie hatte genug Zeit gehabt, um festzustellen, dass der fröhliche rothaarige Junge, der da gerade lächelnd vor ihr stand, ein richtig guter Kamerad war, mit dem man sicherlich durch dick und dünn gehen konnte und der einen nie im Stich lassen würde. Auf der anderen Seite allerdings gab es Tage, da hatte Max wirklich nichts weiter als Unsinn im Kopf…
Sie nahm sich fest vor, ein wenig mehr darauf zu achten, dass ihr neuer Freund dabei nicht allzu viel Schaden anrichtete. Irgendwie hatte sie so eine Ahnung, dass der alte Zauberer genau das auch von ihr erwartete, und sie wollte dieses Vertrauen nicht verschenken.
9
Irgendwann im Laufe des nächsten Tages klopfte es an Sarahs Tür. Diese hatte es sich gerade auf dem Sofa bequem gemacht, um in ein paar Büchern zu blättern, die sie von ihren beiden neuen Gefährten bekommen hatte. Der alte Zauberer hatte sich zuvor bereits am frühen Morgen von ihnen verabschiedet, um irgendwo irgendwen zu treffen, um über irgendetwas zu sprechen, was irgendwie recht dringend zu sein schien (Man sieht schon: Er machte vor den beiden Kindern ein ziemlich großes Geheimnis daraus).
Das eine Buch auf Sarahs Stapel war ein schon reichlich zerfleddertes Exemplar, das den viel versprechenden Aufdruck trug: > Ein kurzer Abriss über die Geschichte unseres Landes gearbeitet, als sie, ehe sie es sich versah, bereits eingeschlafen war. Aus eben diesem Schlaf wurde sie durch das Klopfen an ihrer Zimmertür geweckt. Nicht unglücklich, von ihrer Lektüre weggerissen zu werden, bat sie Max herein. Dieser verdrehte die Augen, als er das dicke Buch auf Sarahs Schoß sah.
„Fürchterlich! Du hast doch nicht etwa darin gelesen? Du weißt gar nicht, wie gefährlich das sein kann!“ Der rothaarige Junge hob die Hände theatralisch in die Höhe.
„Ich kenne da ein paar Fälle, in denen die Leser nie wieder aufgewacht sind!“ Er nahm Sarah das Buch vom Schoß und blätterte es kopfschüttelnd durch. „Aber glücklicherweise gibt es da eine Lösung für dein Problem: Wenn du wirklich wissen willst, was da Wesentliches drin steht, hätte ich da etwas…“
Max stürmte aus dem Zimmer und kam kurz darauf wieder zu Sarah zurück. In der Hand hielt er eine gläserne Phiole, die zur Hälfte mit einer violett schimmernden Flüssigkeit gefüllt war.
„So, jetzt brauchen wir noch ein möglichst großes Gefäß…“ Es stellte sich heraus, dass für die geplante Aktion lediglich das Waschbecken im Badezimmer in Frage kam. Sarah beobachtete neugierig, wie Max dort das dicke Buch hineinlegte. Daraufhin ließ er das Waschbecken mit Wasser voll laufen, was Sarah etwas missfiel, weil man so etwas nach ihrem Empfinden eigentlich mit Büchern nicht machen sollte. Dann gab Max einige Tropfen der seltsamen violetten Flüssigkeit hinzu, woraufhin sich das Wasser zart anfärbte.
„Jetzt dauert es ungefähr fünf Minuten“, verkündete Max und setzte sich gemütlich auf den Boden.
„Was ist das Komisches, was du da eben in das Wasser gegeben hast?“, erkundigte sich Sarah interessiert und hielt die Flasche gegen das Licht.
„Nun, das Zeug heißt „Quintessenz“ oder so ähnlich. Habe ich noch aus der Schule, dem Zaubererinternat, du weißt schon… Damals war das ganz praktisch, wenn man nach dem Sommerurlaub plötzlich festgestellte, dass man ganz vergessen hatte, die als Hausarbeit mitgenommenen Bücher durchzuarbeiten. Der Gebrauch war natürlich streng verboten.“ Max grinste Sarah an. Dann schaute er auf seine Uhr. „Aber jetzt müsste die Zeit eigentlich um sein.“
Max trat ans Waschbecken und zog das tropfnasse Buch heraus. Eigentümlicherweise war es schon wieder ganz trocken, als er es Sarah kurz darauf in die Hände legte. Diese schlug das Buch sogleich auf und wunderte sich, dass auf den Seiten überhaupt nichts mehr geschrieben stand. Auch die nächsten Seiten, die sie wahllos aufschlug, waren blütenweiß. Etwas enttäuscht gab Sarah Max das Buch zurück.
„Wie? Alles weiß? Irgendwo muss aber etwas stehen…“ Er schlug die ersten Seiten auf. „Hab ich es mir doch gedacht! Da schau selbst…“
Sarah blickte ihrem Freund über die Schulter: Auf der ersten Seite stand in kleinen verschnörkelten Buchstaben nur ein Satz: , sonst nichts.
„Nicht sonderlich ergiebig dieser Schinken. Hätte ich dir gleich sagen können…“ Max nahm das Buch und warf es achtlos in die Ecke. Sarah wollte den Jungen noch fragen, wer bei der Kreation dieses Zaubertrankes eigentlich festgelegt hatte, was denn überhaupt als „wesentliche Quintessenz“ eines Buches zählen sollte, aber da hatte Max sie schon mit sich fortgezogen, aus ihrem Zimmer heraus, in den Flur der Hütte. Dort eröffnete er ihr, dass sein Onkel versehentlich versäumt habe, die Tür zu seinen Laboratorien und Studienzimmern abzuschließen, was eine einmalige Gelegenheit sei, die man keinesfalls ungenutzt lassen sollte.
Sarah versuchte vergeblich, Max von seinem Vorhaben abzubringen. Er sei dort unten schon mehrmals gewesen, und wenn sie sich nicht traue, könne sie ja oben bleiben… Aber sie würde es sicherlich bereuen!
So blieb Sarah eigentlich gar nichts anderes übrig, als Max zu folgen. Und sei es nur, um zu verhindern, dass er irgendeinen Unsinn anrichtete.
Kurz darauf stand Sarah auf der obersten Stufe der geheimnisvollen Treppe, die sie in die Kellerräume der Hütte führen würde. Sarah fragte sich nicht zum ersten Mal, wie es eigentlich sein konnte, dass eine Hütte auf Stelzen unterkellert war. Sie fühlte einen Luftzug im Gesicht, der sie ein wenig frösteln ließ. Außerdem brachte der Luftzug allerlei seltsame Gerüche mit sich, die nicht direkt unangenehm, ihr aber völlig unbekannt waren. Max hielt sich allerdings gar nicht weiter damit auf, auf seine etwas zögerliche Gefährtin zu warten, so dass Sarah schließlich die Zähne zusammenbiss und sich beeilte, ihm zu folgen.
Erstaunt registrierte Sarah, wie tief die recht steile Treppe nach unten führte. Im Gegensatz zur restlichen Hütte, waren Treppen und Wände aus recht roh behauenem Stein gefertigt und wirkten auf sie, als wären sie viel, viel älter als das Gebäude über ihr. Das Treppenhaus war glücklicherweise durch zahlreiche Kerzen, die durch die Luft schwebten und ihrem Weg nach unten folgten, recht gut beleuchtet.
Max wartete am Ende der Treppe auf sie. Drei Türen gingen von hier aus ab.
Max probierte als erstes die Tür zu ihrer Rechten aus. Diese war, sehr zu seinem Verdruss, allerdings fest verschlossen. „Schade… Hier lagert mein Onkel allerlei komischen Kram in Einweckgläsern. Halt alles Mögliche, was ihm im Laufe seiner Reisen so über den Weg gelaufen ist….“ Er hielt sich nicht lange an der verschlossenen Tür auf, sondern probierte gleich sein Glück auf der gegenüberliegenden Seite. Diesmal mit Erfolg.
Sarah, die nicht unbedingt unglücklich war, dass sie keine Bekanntschaft mit den Einweckgläsern des Zauberers machen musste (ihr schwebten da insgeheim am ehesten solche unheimlichen Dinge vor, wie sie in der Biologiesammlung ihrer Schule aufbewahrt wurden), folgte Max.
Sie betrat ein recht geräumiges Kellergewölbe, das bis buchstäblich in den allerletzten Winkel mit Büchern und anderen komischen Dinge gefüllt war, die entweder in den Regalen an den Wänden standen oder auf dem großen Tisch in der Mitte des Raumes lagen.
Max drehte sich zu ihr um und zeigte in einer umfassenden Geste um sich. „Hier siehst du die sicherlich umfangreichste Sammlung von Büchern und anderen Schriften zur Zauberei und Magie, die es in unserem Land geben dürfte!“
Staunend schritt Sarah die Regale ab. Sie blieb an einem großen Regal in der Ecke des Gewölbes stehen, das ganz und gar vergittert war, so dass man an keines der Bücher näher herankommen konnte. Diese wirkten im Übrigen besonders alt und ehrwürdig auf sie. Sarah blickte Max fragend an.
„Dort in diesem Regal siehst du alle Schriften, die sich mit der schwarzen Magie beschäftigen! Mein Onkel hat dieses Regal mit einem ganz speziellen Stahl versiegeln lassen, wie du siehst gibt es keine Tür oder eine andere Art von Öffnung. Er hat mir erzählt, dass einige der Werke außerordentlich gefährlich sind. Sie können einen dermaßen in ihren Bann, ziehen, dass man ihnen und ihrer schwarzen und bösen Zauberei sofort erliegt!“
Sarah betrachtete die staubigen Bücher ehrfürchtig und trat sicherheitshalber einen kleinen Schritt zurück. Ihr fiel auf, dass so einige der Bücher für sich genommen noch einmal in einem Käfig standen. Ein Exemplar war sogar zusätzlich noch mit mehreren schweren Eisenketten fest umwickelt. Sarah nahm all ihren Mut zusammen und ging ganz dicht an das Gitter heran, um den Titel des so gefährlichen Büchleins erkennen zu können.
> 1000 leckere Kräuter für Küche und Garten oder ein dickes Buch, das den überaus faszinierenden Titel trug .
Allerdings, so interessant das alles hier war, irgendwie hatte Sarah sich die Arbeitsräume eines Zauberers doch ein wenig anders vorgestellt. In ihrer Phantasie sah sie düstere Kellergewölbe, in denen alle möglichen Zaubertränke auf offener Flamme vor sich hinköchelten und ihre bunten exotischen Dämpfe in dicken Schwaden in Richtung der rußgeschwärzten Gewölbedecke aufsteigen ließen.
„Zaubertränke? Natürlich stellt mein Onkel auch welche her. Allerdings macht er das nicht hier unten im Keller, sondern meistens oben in der Küche. Dort gibt es fließend Wasser und vor allem ein Fenster zum Lüften…“ Er schaute sie wegen der Frage etwas erstaunt an, so dass Sarah lieber nichts darauf erwiderte. Soweit also die Zaubereiromantik…
Ein Buch gab es noch, das ihre Aufmerksamkeit, nun, sozusagen „magisch“, an sich zog. Es handelte sich um ein besonders dickes Exemplar mit einem schon recht verschlissen und abgegriffen aussehenden Einband aus Leder. Leider stand kein Titel darauf. Und zu allem Überfluss war es auch noch mit einem dicken schmiedeeisernen Schloss versehen, in dem nicht nur kein Schlüssel steckte, sondern noch nicht einmal ein Loch für einen solchen vorhanden war. Max zuckte nur mit den Schultern, als Sarah ihn auf dieses Buch ansprach. „Da macht mein Onkel ein furchtbares Geheimnis draus. Ich habe aber mal beobachtet, wie er darin geschrieben hat. Vielleicht ist es ja so eine Art von Tagebuch oder womöglich ein peinliches Poesiealbum aus seiner Schulzeit. Wer weiß?“ Max grinste seine Freundin an.
Sarah drängte jetzt etwas, wieder nach oben zu gehen. Sie hatte Angst, dass der Zauberer vielleicht doch ein wenig früher nach Hause kam und sie hier unten erwischte. Max meinte, dass sie sich zuvor aber unbedingt noch das Arbeitszimmer seines Onkels anschauen müssten. Dieses lag am Ende des kleinen Flures. Auf dem Weg dorthin erfuhr Sarah, dass die Hütte sich hier unten nicht weiter einmischte, was die Raumverteilung anging. Es war ja auch sozusagen das Allerheiligste des Zauberers…
Max musste zu seiner Enttäuschung feststellen, dass auch diese Tür fest verriegelt war. Auf Sarahs Vorschlag hin, dass man doch wenigstens noch einen raschen Blick durch das Schlüsselloch werfen könne, meinte er nur lapidar:
„Habe ich schon früher einmal versucht. Gesehen habe ich einen Jungen, wie er sich am anderen Ende des Raumes gerade vor einem Schlüsselloch bückt, um hindurch zu schauen. Dann war da ein Stiefel zu erkennen, der plötzlich aus dem Nichts auftauchte und dem armen Kerl einen gewaltigen Tritt in den Hintern verpasste. Nun, in genau dem Moment habe ich dann auch gemerkt, wen ich da gerade beobachtet hatte. Ich konnte einen ganzen Tag lang nicht richtig sitzen, das kannst du mir glauben. Und dabei durfte ich mir ja noch nicht einmal etwas anmerken lassen…“
10
Später saßen die Kinder gerade nach dem Mittagessen im Wohnzimmer. Sarah schaute ihren rothaarigen Freund, der zuvor in seinem Zimmer verschwunden war, um ihr etwas Interessantes zu bringen, mit hochgezogener Augenbraue an.
„Du erwartest doch nicht etwa im Ernst, dass ich in das hier reinbeiße?“ Sie deutete ein wenig verärgert spitzen Fingern auf die gelbe Frucht, die Max ihr gerade angeboten hatte. „Vielleicht wusstest du es nicht, aber in unserer Welt haben wir auch Zitronen.“
„Na gut. Dann esse ich sie eben alleine.“ Max zuckte gleichgültig mit den Schultern und biss herzhaft in die Zitrone.
Sarah spürte, wie sich ihr ganz gegen ihren Willen der Mund zusammenzog.
„Vorzüglich!“, rief Max zu ihrem nicht geringen Erstaunen und hielt ihr die angebissene Frucht hin. Er wirkte nicht im Geringsten so, als hätte er gerade in etwas fürchterlich Saures gebissen. Im Gegenteil, er leckte sich jetzt sogar noch genüsslich alle Finger ab.
„So gut waren sie schon lange nicht mehr!“
Jetzt war Sarahs Neugierde doch geweckt. Sie schnupperte zunächst vorsichtig an der Frucht. Dann streckte leckte sie vorsichtig mit der Zungenspitze am saftigen Fruchtfleisch. Zu ihrer Verwunderung schmeckte das Ding zwar nach Zitrone, aber gleichzeitig auch wieder ganz anders… Sarah nahm schließlich ihren Mut zusammen und biss ebenfalls herzhaft hinein.
Tatsächlich! Das ganze schmeckte genau wie…, Moment mal, eigentlich so wie…
„Voilà! Darf ich vorstellen: Die Marzitrone!“
Max strahlte seine Freundin an.
„Bitteschön: Die was???“
„Na, die Marzitrone. Ganz einfach. Wie der Name schon sagt: Eine Kreuzung aus Marzipan und Zitrone. Das war ein ganz schön hartes Stück Arbeit, das kannst du mir glauben. Mal wurden sie zu sauer, dann wieder unerträglich süß. Dann stimmte zwar der Geschmack, aber die Konsistenz war einfach nicht in Ordnung, ganz bröckelig oder klebrig…“
Nach und nach erfuhr Sarah von dem rothaarigen Jungen worum es überhaupt ging: Der kleine Garten neben der Hütte hatte die wirklich unglaubliche Eigenschaft, dass man dort ganz und gar absurde und an sich unmögliche Kreuzungen züchten konnte. Und das nicht etwa nur aus zwei Pflanzen, wie beispielsweise aus einer Birne und einer Kirsche oder etwa aus einer Banane und einer Ananas, was dann, wenn alles gut ging, eine Birsche oder eine Ananane ergab ( Es waren natürlich genauso gut auch eine Kirne und eine Bananas möglich, je nachdem, welche der Früchte bei der Komposition im Geschmack letztlich überwog).
Nein, auch Züchtungen aus einer Pflanze und einem beliebigen anderen Lebensmittel waren möglich, was allerdings eine besondere Sorgfalt bei der Pflanzung und vor allem später bei der Aufzucht erforderte.
So berichtete Max der erstaunten Sarah von so wundersamen Kreationen, wie der Karamellerdbeere, dem Milchkaffeestrauch, oder etwa der Schokoladenbanane. Wobei letztere eigentlich gar nicht so spektakulär zu sein schien. Max klärte sie allerdings sofort darüber auf, dass diese Kreuzung, ganz im Gegenteil, besonders schwierig sei:
„Bei dem ersten Versuch war der Schokoladenüberzug ganz außen über der Schale, also völlig unbrauchbar. Dann gab es Probleme mit dem richtigen Standort der Pflanze: Du kannst dir ja sicherlich vorstellen, was mit einer jungen Schokoladenbanane in der Sonne so alles passieren kann…“
In den folgenden Tagen experimentierten die beiden mit allen möglichen und vor allen unmöglichen Kombinationen herum. Hilfreich dabei war es, dass auch das Wachstum der Pflanzen in dem kleinen Garten weitaus rascher vonstattenging, als es gemeinhin der Fall war. So dauerte es von der Aussaat ab gerechnet nur drei Tage, bis Sarah das erste Mal stolz eine ausgewachsene, herrlich gelborange Pampelnuss in der Hand hielt. Genauer gesagt, hielt sie die Frucht natürlich in beiden Händen, denn sie war nicht nur groß, sondern auch recht schwer geraten. Das Öffnen der Pampelnuss gestaltete sich im Übrigen auch als recht anstrengend. Allerdings entschädigte das feinfruchtige Nussaroma sie dann glücklicherweise ein wenig für die viele Mühe und den unbrauchbar gewordenen Hammer.
Andere Experimente fielen zugegebenermaßen weniger überzeugend aus, wie etwa die Knoborange oder die Himzwiebel, andere kamen, glücklicherweise, erst gar nicht über das Stadium der theoretischen Planung hinaus (beispielsweise die Idee von Max, einen gebrannten Mandelstrauch zu pflanzen).
Sarah ertappte sich bei dem Gedanken, dass einige der Früchte, die es bei ihr daheim gab, ja auch durchaus verdächtige Namen trugen. Sie dachte da unter anderem an Butterbirnen, Netzmelonen und, schlimmer noch, an Granatäpfel, wobei speziell die letzteren der ganzen Sache einen sogar recht bedrohlichen Charakter gaben!
Schließlich wurden die Ideen der zwei immer ausgefallener und extravaganter. Erst als Max schließlich den Vorschlag machte, man könne den altbekannten Namen Lakritzschnecke auch von einem ganz neuen, nicht unbedingt rein vegetarischen, Blickwinkel aus betrachten, verlor Sarah allmählich den Appetit und bevorzugte fortan eher profanere Köstlichkeiten wie Sahneerdbeeren und Baiserstachelbeeren.
11
Sarah und Max waren gerade mit dem Frühstück fertig und unterhielten sich bei einem letzten Schluck Kakao ein wenig, als der Zauberer, der bereits vor ihnen gegessen hatte, hereinplatzte und ihnen verkündete, dass er auch heute den ganzen Tag unterwegs sein würde und sie ihn wahrscheinlich nicht vor Einbruch der Dunkelheit zurück erwarten dürften.
Er schärfte ihnen beiden noch einmal ein, sich nicht allzu weit von der Hütte wegzubewegen und aufzupassen, wobei er vor allem Max mit einem strengen Blick bedachte.
„Ich habe gestern Nacht wichtige Informationen erhalten, merkwürdige Vorgänge betreffend, die nicht allzu weit von hier stattfinden und die ich unbedingt so rasch wie möglich selbst untersuchen muss!“
Der alte Mann wirkte sorgenvoll und Sarah hatte den Eindruck, dass sein ohnehin von zahlreichen feinen Falten durchzogenes Gesicht heute früh noch ein wenig mehr zerknittert wirkte als sonst. Außerdem waren die tiefen dunklen Ringe unter seinen Augen trotz der Brille nicht zu übersehen. Sarah fragte sich, ob der Zauberer in der letzten Nacht (und den Nächsten davor) überhaupt ein Auge zugedrückt hatte…
Am liebsten hätte sie gefragt, was ihn denn so bedrückte. Aber einerseits traute sie sich nicht so recht, da sie der Meinung war, dass es ihr nicht zustand, ihn zu drängen, und dass er sicherlich früh genug mit ihr darüber sprechen würde, wenn es sie beträfe.
Andererseits hatte sie aber auch ein wenig Angst davor, irgendetwas zu erfahren, was ihr Schicksal und das ihrer Familie betraf und womöglich einen Rückschlag auf ihrer gemeinsamen Suche oder etwas anderes Schlimmes bedeuten könnte.
Wie üblich, wenn der Zauberer sie tagsüber verließ, gab es ein ausgeklügeltes Alarmsystem, für den Fall dass einer von ihnen in Gefahr geraten sollte. Zum einen gehörte dazu natürlich in erster Linie ihre Hütte, die es ja meisterhaft verstand, sich entsprechend ihrer Umgebung zu tarnen. Zum anderen gab es noch die großen Rabenvögel, die der alte Zauberer nicht nur zu Beobachtungsflügen, sondern auch zur Überbringung von Nachrichten einsetzte.
Kurz darauf war der Zauberer verschwunden und Sarah saß mit Max wieder alleine am Tisch. Dieser probierte zunächst einen neuen Trick aus, mit dessen Hilfe er das gebrauchte Geschirr dazu bringen wollte, sich selbstständig zu stapeln und anschließend von alleine abzuräumen.
Wenig später brütete er dann fieberhaft über einem Zauberspruch, mit dem man zerbrochene Teller und Tassen möglichst nahtlos wieder zusammensetzen konnte.
Sarah saß derweilen neben ihrem neuen Gefährten und war sich nicht so recht darüber im Klaren, ob sie jetzt lachen, weinen oder schimpfen sollte.
Stattdessen erbarmte sie sich schließlich, ging in die Besenkammer und holte Müll- und Putzeimer, um die ganze Bescherung zusammenzukehren. Während Max etwas betroffen zuschaute und wahrscheinlich bereits verzweifelt nach einer einigermaßen glaubhaften Entschuldigung suchte, die er am Abend seinem Onkel erzählen konnte, mühte sich Sarah damit ab, die Scherben zusammenzufegen. Das war gar nicht so einfach, weil Max` Zaubersprüche nicht ganz versagt hatten und die Reste des Geschirrs sich mittlerweile ziemlich fest zu einem großen Teller-Tassen-Schüssel-Konglomerat zusammengefügt hatten.
Als alles wieder in Ordnung war, versuchte Sarah, Max (und sich selbst) ein wenig abzulenken und aufzuheitern, indem sie ihm ein wenig von ihrer Welt erzählte.
Es war nicht das erste Mal, dass sie feststellen musste, dass es nicht gerade einfach war, für sie eigentlich ganz alltägliche und selbstverständliche Dinge verständlich zu erklären.
Etwas verwundert war sie aber schon, dass jemand, der sich anschickte Zauberer zu werden, partout nicht kapieren wollte, was ein Fernseher ist. Oder, dass ein viel versprechender Zaubererlehrlingsanwärter, der es doch mehr oder weniger mühelos schaffte, Küchenutensilien dazu zu bringen, selbstständig eine Mahlzeit zuzubereiten, einfach nicht verstehen konnte, wozu man eine Mikrowelle brauchte!
Ein merkwürdiges Erlebnis fiel Sarah darauf wieder ein: In diesem komischen Institut zur Rettung der nicht zu Ende gelesenen Bücher waren es überwiegend Werke aus ihrer Welt gewesen, die sie zu Gesicht bekommen hatte! Als sie dies ihrem neuen Freund mitteilte, war dieser erst einmal reichlich irritiert.
„Du musst dich irren, Sarah: Dieses Buch mit den Wildgänsen haben wir schon in der Schule lesen müssen. Auch die Schatzinsel kenne ich. Wenn du einmal zu uns nach Hause kommst, kann ich dir gerne ein Exemplar davon im Bücherschrank meines Vaters zeigen…“, erklärte Max ihr in überzeugtem Tonfall. Sarah wusste darauf erst einmal nichts zu antworten. Dann fiel ihr aber schließlich doch noch ein stichhaltiges Argument ein:
„In diesen Büchern ist doch von einigen Ländern die Rede, nicht? Zum Beispiel kommt doch ganz sicher England vor, wenn ich mich nicht täusche!“
Max zuckte, offensichtlich wenig beeindruckt, mit den Schultern.
„Das stimmt schon, Sarah: An dieses komische Land kann ich mich gut erinnern. Allerdings gibt es das doch überhaupt nicht. Es ist eine Erfindung des Schriftstellers, weiter nichts!“
Sarah schwieg nachdenklich. Für sie war das alles ein weiteres Argument für die seltsame Verbundenheit zwischen den beiden Welten. Wenn sie genauer darüber nachdachte, fiel ihr etwas Interessantes auf: Die Bücher, die sie damals gesehen hatte, waren gewissermaßen „altmodische“ Bücher gewesen, in denen keine oder kaum neuere technische Errungenschaften vorkamen. Da von diesen Büchern sicherlich keine Gefahr für die Welt der Zauberer ausging, waren sie wohl auch nicht von dem seltsamen Zerfall betroffen, der alle anderen, „modernen“ Dinge betraf...
Schließlich beschlossen sie beide, ein wenig nach draußen zu gehen. Der Blick aus dem Fenster zeigte ihnen einen nahezu wolkenfreien blauen Himmel, der geradezu dazu einlud, die Umgebung zu erkunden. In der Nacht waren sie nämlich wieder ein ganzes Stück vorangekommen und standen jetzt nicht mehr in dem dichten und ein wenig unheimlichen Waldstück, sondern auf einer grünen Wiese, inmitten von blühenden Sträuchern und Bäumen. Wenn sie sich bei dem Blick aus dem Fenster nicht völlig irrten, musste es sich bei der glitzernden Fläche, die weiter hinten zu erkennen war, um einen kleinen See handeln.
Wenig später saßen Max und Sarah auf dem weichen Gras der Uferböschung und ließen sich die Sonne warm ins Gesicht scheinen. Sicherheitshalber waren sie in Sichtweite der Hütte geblieben, um diese notfalls rasch erreichen zu können. Bis auf das stete Brummen und Zirpen von irgendwelchen kleinen Insekten war es völlig still.
Sarah legte sich zurück und betrachtete einen Schwarm von Vögeln, der weit über ihren Köpfen vorbei flog.
„Schon seltsam“, sagte sie mehr zu sich selbst.
„Was ist seltsam?“ Max, der neben ihr lag und schon fast eingeschlummert war, drehte sich auf die Seite und betrachtete sie blinzelnd, den Kopf auf den Arm gestützt.
„Na, dass man Vögeln beibringen kann, irgendwelche Nachrichten zu transportieren. Wenn ich ein Vogel wäre, würde ich, glaube ich, mit meinem Zettel am Fuß einfach davonfliegen und nie wiederkommen…“
Sie schwiegen beide eine ganze Weile, wobei jeder seinen eigenen Gedanken nachhing.
„So“, meinte Max schließlich. „Jetzt brauche ich doch eine kleine Abkühlung.“
Ehe Sarah es sich versah, hatte sich der rothaarige Junge schon bis auf die Unterhose ausgezogen und war ins Wasser gesprungen.
„Igitt.“ Sie wich vor den kühlen Wasserspritzern zurück.
„Komm doch auch herein! Es ist gar nicht so kalt.“ Max winkte ihr zu.
„Oder kannst du etwa gar nicht schwimmen. Vielleicht gibt es in eurer Welt für so etwas ja auch einen Apparat, der einem das Schwimmen abnimmt?“
Das wollte Sarah nicht auf sich sitzen lassen.
Schließlich war sie ziemlich stolz auf ihre Schwimmkünste. Und eine Abkühlung würde bestimmt nicht schaden. Es war nämlich mittlerweile richtig heiß geworden. Und an einem solchen schönen Sommertag wäre sie daheim sicherlich auch ins Schwimmbad gegangen.
Allerdings war es ihr ein wenig peinlich, sich vor Max in Unterwäsche zu zeigen.
Als hätte dieser ihre Gedanken gelesen rief er ihr zu:
„Ich guck auch weg, wenn du dich ausziehst. Ehrenwort!“
Und schwamm spritzend und kraulend weiter auf den kleinen See hinaus.
Sarah beeilte sich, ihre Schuhe auszuziehen und ihr Kleid abzustreifen. Am Ufer zögerte sie einen kurzen Moment. Am liebsten hätte sie noch einmal kurz ihren Fußzeh testend ins Wasser gesteckt. Aber da drehte sich Max gerade wieder zu ihr um und sie war gezwungen, todesmutig mit einem Kopfsprung ins Wasser zu hechten. Sie wollte sich schließlich nicht blamieren…
Nachdem der erste Kälteschock überwunden war, fand Sarah es herrlich. Rasch kraulte sie zu Max. Sie hatte spontan beschlossen, dass es der rothaarige Junge eigentlich voll und ganz verdient hatte, ein paar Mal unter Wasser getunkt zu werden…
Nachdem das erledigt war, tobten und paddelten die beiden noch ein wenig im See herum. Schließlich stellte Sarah fest, dass es ihr langsam kalt wurde. Außerdem waren ihre Fingerbeeren schon ganz schrumpelig, was sie auf den Tod nicht ausstehen konnte.
Sie wollte gerade eine Bemerkung zu Max machen, als dieser ihr mit einer raschen Handbewegung zu verstehen gab, still zu sein.
Erstaunt folgte Sarahs Blick der Richtung, in die Max jetzt hindeutete:
Zuerst konnte sie gar nichts erkennen.
Dann sah sie eine Bewegung hinter den Bäumen, die zwischen den Büschen am Ufer und ihrer Hütte standen. Im ersten Moment dachte sie, der Zauberer wäre zurückgekehrt. Dann erkannte sie aber, dass es nicht nur eine Gestalt war, die sich offensichtlich langsam der Hütte näherte.
Es waren mehrere Personen, sicherlich mindestens fünf oder sechs.
Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht vor Schreck laut aufzuschreien: Es waren Soldaten, Männer des Königs. Sie hatte jetzt eindeutig einen Mann in Uniform erkennen können.
Sie spürte Max` kalte Hand auf ihrer Schulter.
Mit einer Kopfbewegung bedeutete ihr der Junge, ihm zu folgen. Sie schaute ihn fragend an, aber er schüttelte nur leicht mit dem Kopf.
Vorsichtig bewegten sich die beiden Kinder in Richtung des Ufers, wobei Max, der ein kleines Stück voraus schwamm, zu Sarahs Erstaunen nicht etwa die Stelle ansteuerte, an der sie ins Wasser gegangen waren. Dann wurde ihr rasch klar, warum: Von dort aus wäre ihnen der Rückweg zur Hütte abgeschnitten. Stattdessen näherten sie sich jetzt einem Uferabschnitt, der hinter der Hütte lag.
Die Böschung am Ufer, die hier relativ hoch war, neigte sich wie ein schützender Baldachin über ihre Köpfe, so dass sie nicht gesehen werden konnten.
Jetzt wagten es Sarah und Max erstmals wieder, sich wenigstens flüsternd zu unterhalten.
„Was sollen wir jetzt bloß tun?“ Sarah hatte sich zitternd vor Kälte an Max Ellenbogen festgeklammert. Sie fror erbärmlich. Auch Max hatte schon ganz blaue Lippen.
„Ich weiß auch nicht so recht. Aber eins steht fest“, flüsterte Max, wobei seine Zähne unaufhörlich aufeinander schlugen. „Hier drin können wir nicht mehr lange bleiben, sonst holen wir uns noch irgendetwas schlimmes, eine Lungenentzündung oder so…“
Max drückte Sarahs Arm und sprach weiter: „Bleib du am besten einen Augenblick hier. Ich werde mal ganz vorsichtig um die Ecke schauen, ob die Luft vielleicht schon wieder rein ist!“
Er bewegte sich durch das brusttiefe Wasser einige Meter in die Richtung der Hütte. An einer Stelle, an der die Böschung wieder etwas niedriger war, zog er sich mit den Armen etwas hoch, um Ausschau zu halten. Dann winkte er Sarah noch einmal zu und kletterte ganz ans Ufer. Gleich darauf war er aus Sarahs Blickfeld verschwunden.
Diese verharrte bewegungslos im Wasser und hoffte, dass sie sich nicht noch durch allzu lautes Zähneklappern verraten würde.
Nach einer Weile, die ihr schier endlos vorkam, hörte sie ganz in ihrer Nähe plötzlich ein Geräusch. Es waren Schritte! Sie drückte sich instinktiv näher gegen das lehmige Ufer und tauchte mit dem Oberkörper wieder ganz in das kalte Wasser ein.
„Bitte, lass es keine Soldaten sein…“ Sarah wagte es kaum zu atmen.
Dann entfernten sich die Schritte zu ihrer großen Erleichterung wieder.
Sarah ließ die Luft aus ihren Lungen entweichen. Das war noch einmal gut gegangen. Hoffentlich erwischten sie Max nicht!
Schließlich tauchte Max rothaariger Kopf im Gebüsch auf, nicht weit entfernt von der Stelle, wo er zuvor das Wasser verlassen hatte.
„Psst!“ Er winkte ihr zu.
Sarah bewegte sich vorsichtig zu Max hin. Ihre Beine waren in der Kälte ganz steif und gefühllos geworden und wollten ihr kaum noch gehorchen.
Max streckte ihr seine Arme entgegen und half ihr, aus dem Wasser herauszukommen.
Endlich im Trockenen angelangt, bedeutete er ihr, sich sofort flach hinzulegen, so dass sie durch das hohe Ufergras einigermaßen geschützt waren.
„Puh. Das war eben knapp.“ Max sah ganz erschöpft aus. Erst jetzt erkannte Sarah, dass ihr Gefährte von Kopf bis Fuß mit Schlamm verschmiert war und sich außerdem einige blutige Kratzer an den nackten Armen und Beinen zugezogen hatte.
„Fast hätte der Soldat mich gesehen!“ flüsterte er, noch ganz außer Atem. „Zu meinem Glück bin ich genau in dem Moment ausgerutscht und in eine Grube gefallen…“
„Hier hinter der Hütte ist es offenbar nur ein Soldat, der Wache schiebt. Vor dem Haus scheinen aber mindestens zwei zu sein. Wo die anderen sind weiß ich nicht. Ich hoffe nur nicht, dass sie gerade die Hütte durchsuchen!“
Sarah zuckte vor Schreck zusammen: Durch das Gras hindurch konnte sie sehen, wie an der anderen Uferseite gerade einer der Soldaten entlangging. Und in der Nähe der Stelle, wo sich Max und Sarah ausgezogen hatten. Natürlich hatten die beiden ihre Klamotten einfach achtlos auf die Wiese geworfen, wo sie jetzt, für jeden sichtbar, immer noch liegen durften.
Wenn der Mann jetzt die Kleidungsstücke finden würde, brauchte er nur zwei und zwei zusammenzuzählen und würde wissen, dass sich hier irgendwo ganz in der Nähe zwei (halbnackte) Schwimmer verstecken mussten. Stumm zog sie Max am Arm und deutete in die Richtung des Soldaten. Beide schauten sie wie gebannt in Richtung des anderen Ufers, als könnten sie alleine durch Willensanstrengung erwirken, dass der Mann rechtzeitig stehen blieb oder einen anderen Weg einschlug.
Dann geschah mit einem Mal etwas Unvorhergesehenes:
Scheinbar aus dem Nichts kommend, flog etwas ganz dicht am Kopf des Soldaten vorbei. Im ersten Moment sah es so aus, als wenn irgendjemand einen schwarzen Gegenstand nach dem Mann geworfen hätte. Dann wurde Sarah mit einem Mal klar, was den Mann angegriffen hatte:
Es war ein kleiner Rabe oder eine Krähe, so genau wusste sie es nicht, die gerade wieder zwischen den Baumkronen auftauchte und wiederum ganz dicht am Gesicht des Mannes vorbeiflog. Der Soldat schlug mit seinen Armen wild um sich, glücklicherweise ohne den geheimnisvollen Angreifer zu erwischen. Dieser setzte seine Attacken derweil unermüdlich fort. Zu Sarahs Erleichterung schien er den Mann dabei immer weiter weg von ihrem ursprünglichen Lagerplatz zu locken.
Es dauerte nicht lange und der Soldat war wieder weit genug von ihren Kleidungsstücken entfernt.
Sarah hörte wie Max neben ihr erleichtert ausatmete.
„Mann, das war knapp!“, flüsterte er.
Was sollten sie jetzt tun?
Nun, sie konnten sich natürlich irgendwo im Wald verstecken und einfach abwarten.
Andererseits, wenn jetzt der Zauberer nichtsahnend von seiner Reise zurückkäme und den Soldaten in die Arme liefe, was dann?
Würde er merken, dass irgendwas nicht stimmte?
Hatte der geheimnisvolle schwarze Vogel etwas mit ihm zu tun?
Max riss sie aus ihren Gedanken.
„Schau mal!“ Er zeigte auf die Hütte, die sie von ihrem Platz aus leidlich sehen konnten.
Die Soldaten hatten sich vor der Hütte versammelt und schienen lebhaft miteinander zu diskutieren. Nach einem kurzen Wortwechsel verschwanden schließlich alle nacheinander im Inneren des kleinen Gebäudes, darunter auch derjenige, der gerade von dem kleinen Vogel attackiert worden war.
„Meinst du, die haben etwas entdeckt?“ Sarah merkte schon bevor sie den Satz beendet hatte, dass dies eigentlich eine reichlich überflüssige Frage war. Natürlich gab es dort jede Menge zu sehen, und das bedeutete sicherlich nichts Gutes für sie, Max und den Zauberer…
Max zuckte nur mit den Schultern. Er schien nachzudenken.
Dann erhellte sich sein Gesicht ein wenig.
„Du Sarah, es ist doch seltsam, dass jetzt alle Männer in der Hütte sind. Ich meine, ist es nicht üblich, dass wenigstens einer draußen Wache schiebt? Die müssen doch damit rechnen, dass die Bewohner irgendwann zurückkommen werden.“
Er richtete sich ein wenig auf, um besser sehen zu können.
„Es ist wirklich niemand mehr draußen. Ich denke, dass wir einfach mal nachschauen sollten, was da los ist!“
Sarah wusste nicht so recht. Das war hier kein Cowboy-und-Indianer-Spiel. Wenn sie von den Männern des Königs erwischt wurden, nicht auszudenken….
Andererseits mussten sie wenigstens einen Weg finden, den alten Zauberer zu warnen, bevor er nichtsahnend sein Zuhause betrat. Sicherlich wollten die Soldaten den Bewohnern des Gebäudes im Inneren der Hütte auflauern.
Sarah und ihr Gefährte näherten sich vorsichtig der Rückseite des Gebäudes. Glücklicherweise wuchsen hier überall dichte Büsche, die sie als Deckung nutzen konnten. Sie lauschten unter einem der Fenster an der Hauswand, um herauszubekommen, was sich da gerade im Inneren ihres Zuhauses abspielte. Leider war das Fenster geschlossen, so dass kaum Geräusche herausdrangen. Ein-, zweimal meinte Sarah irgendein Scheppern zu hören, ungefähr so, als wenn irgendwelche Gläser gegeneinander schlagen würden. Aber sicher war sie sich dabei nicht.
Schließlich wagte es Max, sich vorsichtig aufzurichten, um einen Blick in das Innere des Gebäudes werfen zu können. Als er sich wieder neben seine Gefährtin kauerte meinte er nur:
„Nichts zu sehen. Die Vorhänge sind zugezogen. Trotzdem, irgendetwas scheint da drinnen nicht zu stimmen…“
Langsam und vorsichtig schlichen die beiden sich jetzt um das Gebäude herum. Sarah warf als erste einen raschen Blick um die Ecke.
Auch vor der Hütte war niemand mehr zu sehen.
Sie wollte sich gerade wieder zu Max umdrehen, als mit einem Mal die Tür der Hütte aufgerissen wurde und einer der Soldaten heraustrat.
Blitzschnell zog Sarah ihren Kopf wieder zurück und schaute dann noch einmal vorsichtig um die Ecke. Irgendetwas an dem Mann war ihr komisch vorgekommen.
Der Soldat, ein breitschultriger Mann, drehte ihr den Rücken zu. Er stand etwas schief da und stützte sich mit dem rechten Arm am Rahmen der Eingangstür ab. Irgendwie wirkte das Ganze reichlich unsoldatisch auf Sarah.
Nach einer Weile schüttelte der Mann mit seinem Kopf, als wenn ihm jemand gerade einen Eimer eiskalten Wassers übergeschüttet hätte und trat ein paar Schritte vor das Gebäude.
Offensichtlich steuerte er einen flachen Holzstapel an, den er vermutlich als Sitzplatz auserkoren hatte.
Allerdings kam der Mann erst gar nicht so weit.
Bereits nach wenigen Schritten, die er torkelnd zurücklegte, wobei er mit seinen kurzen Armen ruderte wie eine Windmühle, gab es plötzlich einen dumpfen Schlag, und der Soldat lag mit dem Gesicht nach unten lang ausgestreckt auf dem Waldboden.
Max blickte Sarah fragend an:
„Meinst du, er ist tot?“
Sarah schüttelte den Kopf.
„Nein, sieh mal, sein Brustkorb hebt und senkt sich. Also atmet er noch!“
Wie um das soeben Gesagte zu unterstreichen, fing der Soldat sogleich an kräftig zu schnarchen. Es hörte sich an, als wollte er dem Holzstapel, vor dem er lag, noch ein paar frisch gesägte Stämme hinzufügen.
Schließlich wagte es Max, sich vorsichtig auf allen vieren an den Soldaten heranzuschleichen.
Mit angehaltenem Atem verfolgte Sarah ihren Gefährten, der die liegende Gestalt zuerst ganz zaghaft und dann immer heftiger an den Schultern rüttelte.
Der Mann reagierte darauf lediglich mit einem lauten Schnarcher und rollte sich gleich darauf zusammen, um selig weiterzuschlafen.
Max kehrte kopfschüttelnd zu Sarah zurück.
„Der Kerl ist „voll wie eine Haubitze“, wie mein Großvater immer zu sagen pflegte. Völlig dicht und weggetreten. Neben dem könnte ein Vulkan ausbrechen, und er würde trotzdem ruhig weiterschlafen.“
Er blickte Sarah nachdenklich an.
„Ich möchte zu gerne wissen, ob es den anderen Kerlen gerade ähnlich geht…“
Trotz aller Bedenken willigte Sarah schließlich darin ein, in die Hütte hineinzugehen.
Es war zwar völlig nutzlos und im Grunde genommen auch ein wenig lächerlich, aber sie nahmen sich zuvor beide jeder einen kräftigen Ast in die Hand.
Solchermaßen bewaffnet schlichen sie sich vorsichtig bis zur Eingangstür. Diese stand einen Spalt weit offen.
Sarah blickte den Türknauf an und dachte: „Halt jetzt bloß deine Klappe, sonst schraube ich dich eigenhändig ab und schmeiße dich auf den nächst besten Misthaufen!“
Ob es an dieser unausgesprochenen Drohung lag, wusste sie nicht. Auf jeden Fall gelang es ihnen, unbemerkt durch die Tür zu gelangen. Sie quietschte noch nicht einmal, obwohl Max seinen Auftrag, sie endlich einmal zu ölen, ganz vergessen hatte. Seltsamerweise ließ sie sich aber nur halb öffnen.
Als sie im dunklen Flur standen, sahen sie auch, warum: Direkt dahinter lag der nächste Soldat, ein baumlanger Kerl, und schnarchte mit offenem Mund.
Sie schlichen sich weiter in den Flur herein, wobei Sarah erst jetzt auffiel, dass von diesem jetzt lediglich eine Tür abging. Es war die, die heute früh noch in ihr Schlafzimmer geführt hatte, wie sie empört feststellte. Was taten die Kerle denn da drinnen?
Nach dem soeben Erlebten etwas mutiger geworden, öffneten die beiden Kinder die Tür.
Der Anblick, der sich ihnen bot, war schier unglaublich:
Sie schauten nicht etwa in Sarahs Schlafzimmer. Es war aber auch kein anderer, ihnen bislang bekannter Raum.
Vor Sarahs erstaunten Augen erstreckte sich ein geräumiger Raum, der nahezu vollständig von einer großen Theke eingenommen wurde. Auf dieser standen und lagen zahlreiche Flaschen herum, teils gefüllt, größtenteils leer. Außerdem konnte Sarah hinter der Theke mehrere große Fässer erkennen. Unter einem von diesen lief gerade ein Bierkrug über.
Auf dem Boden hinter der Theke hatte sich schon ein beeindruckender Biersee gebildet. Mitten in der Stube lagen drei der übrigen vier Soldaten kreuz und quer auf dem Boden herum, während einer auf seinem Hocker tief und fest eingeschlafen war, den Kopf auf die Theke gelegt. Dabei hielt er eine leere Schnapsflasche in den Händen, die er umarmte als wäre es ein Kuscheltier, das er zum Einschlafen immer mit ins Bett zu nehmen pflegte.
Über dieser ganzen Idylle lag ein scheußlicher Geruch, der sich aus ungewaschenen Menschen, Bier und Schnaps zusammensetzte und schlicht unerträglich war. Der Boden war durch die verschütteten Getränke ganz klebrig, und da sie noch barfuß waren, war es ein ganz schön ekliges Gefühl hier herumzulaufen.
Sarah riss als erstes das Fenster auf.
Dann drehte sie sich zu Max um, der lachend auf ein großes Schild über der Theke deutete:
Komme erst in drei Stunden wieder.
(In der Zwischenzeit SELBSTBEDIENUNG strengstens verboten!)
Der Wirt
So war das also. Sarah musste ebenfalls lachen, bis ihr die Tränen kamen.
Sie setzte sich erst einmal an den nächstbesten Tisch und nahm eine der Flaschen in die Hand. Diese war mit einer trüben bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt. Ihr Blick fiel auf das Etikett:
Vorsicht!!! Keine Kerzen oder anderes offenes Licht in die Nähe bringen (empfohlener Sicherheitsabstand bei geöffneter Flasche: Mindestens 2 Meter)< und darunter, noch etwas kleiner geschrieben: >Kann Spuren von nichtalkoholischer Flüssigkeit enthalten<</font>.
Max hatte sich auf den Stuhl neben ihr gesetzt.
Beide schauten sich fragend an.
Sie waren zwar fürs erste gerettet, aber was sollten sie jetzt tun?
Um sie herum schnarchten die Soldaten. Es sah zwar nicht gerade danach aus, als wollten sie in den nächsten Stunden aufwachen. Aber irgendwann würden sie ihren Rausch sicherlich ausgeschlafen haben.
Max schlug vor, den Männern sogleich etwas von dem Inhalt der Schnapsflaschen einzuflößen, um sie in einer Art von Dauernarkose zu halten. Aber dieser Vorschlag wurde nach kurzer Überlegung als zu risikoreich zurückgestellt.
Sarah konnte sich gut vorstellen, dass die Männer so einiges gewohnt waren, was ihre Belastbarkeit hinsichtlich Alkohol und anderer Gifte betraf.
Vielleicht waren sie ja auch schneller wieder wach, als ihnen lieb war?
Sie beschlossen schließlich, die Männer sicherheitshalber zu fesseln. Max besorgte von irgendwoher Bettlaken, die sie in lange Streifen zerrissen. Damit fesselten sie die Hände und Füße der Soldaten, so wie sie gerade herumlagen, fest zusammen.
Sie beratschlagten gerade, ob es nicht ratsam wäre, die Männer auch zu knebeln, da hörten sie mit einem Mal ein leises Räuspern hinter sich.
Sarah sah, wie sich Max` Augen vor Schreck weiteten.
Gleichzeitig drehten sie sich beide um- und atmeten erleichtert auf.
Es war der alte Zauberer, der dort in der Tür stand. Er trug seinen langen grauen Reisemantel und schien das erste Mal, seit Sarah ihn kannte, wirklich sprachlos zu sein.
Das war eigentlich auch nicht sonderlich verwunderlich: Vor seiner Nase saßen seine beiden Schutzbefohlenen halbnackt inmitten einer ganzen Meute gefesselter Soldaten, zwischen sich eine, zum Glück noch nicht geöffnete, Flasche Schnaps. Abgesehen davon, dass er sich beim Betreten seiner Hütte nicht etwa in seinem gemütlichen Wohnzimmer wiederfand, sondern inmitten einer recht üblen Spelunke.
Aber der alte Mann war nicht umsonst einer der besten Zauberer seiner Zunft. Nach wenigen Augenblicken hatte er sich bereits schon wieder gefasst und gebot den beiden Kindern, die gerade gleichzeitig damit anfangen wollten, von dem soeben Erlebten zu berichten, mit einer knappen Handbewegung zunächst einmal den Mund zu halten.
Dann schritt er durch den Raum, wobei er vor allem die schlafenden Soldaten genauer betrachtete.
Schließlich verschwand der Zauberer hinter dem Tresen-
-und kam mit einem großen Krug frisch gezapften Bieres wieder zu Max und Sarah zurück. Ohne etwas zu sagen setzte er sich zu ihnen an den Tisch und nahm erst einmal ein paar große Schlucke aus seinem Krug.
Dann wischte er sich in aller Ruhe den Bierschaum vom Bart, blickte erst Sarah, dann Max an und brach schließlich in ein dröhnendes Lachen aus.
„Einfach unglaublich! Da geht man nichts Böses ahnend ein paar Stunden außer Haus und dann das hier!“
Er wischte sich eine Träne aus dem linken Augenwinkel.
Sarah wusste nicht so recht, ob sie mit lachen sollte. Auch Max schien ein wenig unschlüssig zu sein, so dass sie sich dafür entschied, noch ein wenig abzuwarten.
„So! Und jetzt zu euch beiden…“
Der alte Mann drehte sich zu ihnen um und blickte sie nacheinander, ohne seine Miene zu verziehen, über den Rand seiner Brille hinweg an. Sarah sank unwillkürlich tiefer in ihren Stuhl hinein und sah, dass auch Max in seinem Sitz plötzlich geschrumpft zu sein schien.
Sie wartete mit hochgezogenen Schultern auf das unvermeidliche Donnerwetter. Hoffentlich verwandelte der Zauberer sie jetzt nicht in irgendetwas Unangenehmes…
„Das habt ihr prächtig gemacht, ihr zwei! Na, ich sollte besser sagen: Ihr drei, denn unsere gute alte Hütte war ja nicht gerade ganz unbeteiligt dabei, wie? Ich bin stolz auf euch!“
Sarah und Max wurden wieder etwas größer in ihren Stühlen und schauten sich verlegen grinsend an.
Der Zauberer ließ sich erst einmal berichten, wie sich die ganze Sache zugetragen hatte und rieb sich danach nachdenklich den Bart.
„Gut, dass ihr nicht hier drinnen wart, als die Männer kamen. Bei allem Respekt, ich weiß nicht, ob unsere Hütte es geschafft hätte, euch zu verstecken…“
„Na, vielleicht Sarah als Serviermädchen und ich als Küchenhilfe?“, schlug Max vorsichtig vor und war dann sichtlich erleichtert, durch seine etwas vorlaute Äußerung nur ein Schmunzeln im Gesicht seines Onkels hervorgerufen zu haben.
„Vielleicht, vielleicht“, murmelte dieser.
„Ich frage mich nur, was die Männer des Königs hier in dieser Gegend zu suchen hatten. War es reiner Zufall, dass sie uns gefunden haben? Ich weiß es nicht…“
Er schüttelte sorgenvoll seinen Kopf.
„Übrigens, die kleine schwarze Krähe, die euch vorhin geholfen hat, gehört natürlich zu meinen Vögeln. Gleich nach ihrer erfolgreichen Attacke ist sie rasch zu mir geflogen. Ich habe mich dann sogleich auf den Weg zurück gemacht. Sonst wäre ich sicherlich erst spät in der Nacht zurückgekehrt. Das, weswegen ich eigentlich unterwegs gewesen war, übertraf, muss ich leider sagen, meine Befürchtungen, um ein Vielfaches…“
Max und Sarah schauten ihn fragend an.
„Das hat Zeit bis später!“
Der Zauberer trank in einem Zug seinen Krug leer und meinte anerkennend: „Nicht schlecht meine Alte, so etwas Gutes hast du schon lange nicht mehr gebraut. Ach, das erinnert mich an damals, im Hafen, als wir uns als Hafenkaschemme tarnen mussten…. Ich war am nächsten Morgen noch so betrunken, dass ich mich beim Zaubern fast selbst entzündet habe…“ Sein Blick wurde ganz träumerisch. Schließlich fasste er sich wieder.
Er schaute erst Max und dann Sarah kritisch an.
„Hm. Ich will ja nicht kleinlich sein, und ich bin weder euer Vater, noch eure Mutter. Aber so wäre ich in eurem Alter nicht herumgelaufen. Besonders nicht, wenn man Gäste hat...“ Er deutete auf die immer noch friedlich schnarchenden Soldaten im Raum.
Sarah schaute an sich herunter und stellte fest, dass sie ganz vergessen hatte, nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet zu sein. Sie fühlte, wie sie rot anlief. Obwohl sie genau wusste, dass der alte Mann nur einen Scherz gemacht hatte.
Max sprang sogleich auf und bot an, rasch ihre Sachen vom Ufer zu holen.
„Nicht nötig mein Junge.“
Er hob seinen Zauberstab und tippte Sarah damit kurz gegen die Schulter.
Im Bruchteil einer Sekunde fand diese sich vollständig mit Hemd und Hose bekleidet am Tisch sitzend wieder.
Der Zauberer musterte anschließend seinen Neffen nachdenklich.
„Nein, mit sauberen Sachen alleine, ist es hier leider nicht getan…“
Ein kurzer Wink mit dem Zauberstab, und über Max` Kopf bildete sich mit einem Mal eine weiße neblige Verdichtung, die sich kurz darauf als kleine Regenwolke entpuppte. Max blickte über sich und stieß einen entsetzten Schrei aus.
Dass er sogleich aufsprang, um aus dem Zimmer zu rennen, nützte ihm allerdings nicht allzu viel, denn die Wolke verfolgte ihn hartnäckig. Schließlich saß er, als er in eine Ecke des Zimmers geflüchtet war, in der Falle. Prompt begann die kleine Wolke damit, sich abzuregnen. Zunächst handelte es sich, wie bei einer magischen Wolke eigentlich auch nicht anders zu erwarten war, um Seifenschaum. Dann folgte ein kräftiger Schauer, den Max, jetzt ganz seinem Schicksal ergeben, klaglos über sich ergehen ließ.
„Ist das Wasser auch warm genug?“, erkundigte sich sein Onkel teilnahmevoll. „Wenn nicht, kann ich es natürlich noch ein wenig nachregulieren…“
Max würdigte ihn keines Blickes und drehte ihm den Rücken zu.
Schließlich war auch er frisch gewaschen und eingekleidet.
Sarah beobachtete den Zauberer derweil mit offenem Mund dabei, wie er die Soldaten aus dem Raum heraus beförderte.
Ein kurzer Wink mit dem Zauberstab, und einer nach dem anderen erhob sich, so wie er gerade lag, ungefähr einen Meter in die Luft. Dann begannen die schwebenden Männer damit, eine ordentliche Reihe zu bilden, wobei sie die Füße jeweils in Richtung Ausgangstür richteten. Zuletzt stellte sich der Zauberer an das Kopfende des hintersten Soldaten und streckte seinen rechten Arm mit dem Zauberstab aus, wobei er genau auf den Hinterkopf des Mannes zielte.
Dann setzte sich der seltsame schwebende Zug in Bewegung.
Bald darauf war der letzte Soldat durch die Tür verschwunden. Sarah und Max folgten der Karawane ganz fasziniert. Schließlich waren sie wieder draußen vor der Hütte.
Der Zauberer drehte sich zu Max und Sarah um, woraufhin es hinter ihm einen gewaltigen „Plumps“ machte, als die Soldaten gleichzeitig auf dem, glücklicherweise weichen, Waldboden aufschlugen.
„Hoppla! Das war jetzt aber doch ein wenig ungeschickt von mir…“
Allzu sehr zerknirscht wirkte der Zauberer allerdings nicht, wie Sarah feststellen konnte.
Dann machten sie sich alle drei daran, die Männer wieder von ihren Fesseln zu befreien. Zuvor hatte der Zauberer beschlossen, dass sie möglichst rasch mitsamt ihrer Hütte wieder von hier verschwinden sollten. Nach seiner persönlichen Einschätzung (und Erfahrung, wie Sarah insgeheim vermutete), würde die Alkoholwirkung noch eine Weile anhalten. Und, was das allerbeste daran war: Die Männer würden sich mit Sicherheit an nichts mehr erinnern können.
Wahrscheinlich hätten sie ohnehin niemandem etwas von all dem hier erzählt, schon alleine deshalb nicht, um weiteren Ärger mit ihren Vorgesetzten zu vermeiden… Die Kopfschmerzen würden ihnen zumindest noch eine Weile erhalten bleiben.
Kurz darauf waren sie schon wieder unterwegs. Zuvor hatten sie sicherheitshalber noch daran gedacht, die am Ufer liegengebliebenen Kleidungsstücke einzusammeln,
Es braucht eigentlich nicht weiter erwähnt zu werden, dass sie bei ihrer Rückkehr die Hütte wieder in ihrer alten Form vorfanden. Lediglich im Wohnzimmer blieb ein hartnäckiger Schnapsgeruch erhalten, der sich noch einige Tage auch gegen noch so wohlriechende Zaubersprüche behauptete, bevor er endlich von alleine wieder verschwand.
12
Am gleichen Abend, es war schon ziemlich spät und Sarah wollte sich gerade für die Nacht zurechtmachen, klopfte es an ihrer Tür. Seufzend ging Sarah nachschauen, wer da zu dieser fortgeschrittenen Uhrzeit noch etwas von ihr wollte. Bevor sie die Tür schließlich öffnete, gähnte sie noch ein paar Mal herzhaft. Schließlich war sie von dem Ereignis am See todmüde.
Etwas verdutzt schaute sie auf den leeren Flur hinaus. War es Max, der ihr einen (reichlich kindischen) Streich spielen wollte?
Dann blickte sie nach unten, weil sich direkt vor ihren Füßen etwas bewegt hatte.
Mit einem Aufschrei sprang sie glatt einen Meter rückwärts.
Es war eine Ratte, die da vor ihrer Türschwelle stand. Und zwar eine ziemlich große. Sarah fürchtete sich im Gegensatz zu ihrer Mutter eigentlich weder vor Mäusen noch vor anderen kleinen Tieren (außer vor Spinnen natürlich), aber sie hatte sich trotzdem ziemlich erschreckt.
Nachdem sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte, fiel ihr auf, dass sich das Tier in der Zwischenzeit bequem hingesetzt hatte und jetzt aufmerksam zu ihr aufblickte.
Erst jetzt schaute sie genauer hin und sah, dass die Ratte ein schmales rotes Halsband trug, mit einem großen goldenen Ring in der Mitte, in dem etwas steckte.
Sollte das etwa eine Nachricht für sie sein?
Sarah nahm ihren Mut zusammen und bückte sich. Rasch zog sie den Zettel heraus, was sich das Tier geduldig gefallen ließ. Sarah atmete auf, da sie doch ein wenig Angst davor gehabt hatte, dass die Ratte nach ihr schnappen würde.
Als Sarah den Zettel in der Hand hielt, erhob sich die Ratte allerdings sofort und huschte davon. Gleich darauf war sie in der Dunkelheit des Flures verschwunden.
Sarah achtete nicht mehr weiter auf das Tier, sondern rollte neugierig den Zettel auseinander:
> Komm bitte gleich zu mir in den Keller! <, stand da mit geschnörkelten Buchstaben geschrieben, die Sarah sogleich als die Handschrift des alten Zauberers identifizierte.
Eine Einladung in die geheimen Gemächer des Zauberers!
Sarah war mit einem Mal wieder hellwach.
Rasch zog sie sich etwas über und verließ ihr Zimmer. Sie fragte sich, ob sie noch Max Bescheid sagen sollte, aber auf dem Zettel war ganz eindeutig nicht von ihm die Rede gewesen.
Sarah fand die Kellertür auf Anhieb. Offensichtlich war die Hütte in diesem Fall der Meinung, dass es sich um etwas Dringlicheres handeln müsste, was Sarahs Spannung nur noch mehr steigerte.
Sie stieg die steile und enge Treppe hinunter, die auch diesmal von den in der Luft schwebenden Fackeln erleuchtet war.
Sarah dachte sich, dass der Zauberer sie sicherlich in seinem Arbeitszimmer empfangen würde und klopfte dort zaghaft an die Tür.
Schließlich drückte sie tapfer die Türklinke herunter und betrat den schwach beleuchteten Raum.
Das Zimmer war für das eines Zauberers ausgesprochen nüchtern und hätte ziemlich unspektakulär gewirkt, wenn da nicht hier und da seltsame Globen gestanden hätten, auf denen nicht etwa die ihr bekannten Kontinente, sondern ganz andere exotische Länder und Ozeane oder gar nur merkwürdige Zeichen und Ziffern abgebildet waren. Wenn diese oder die große polierte Glaskugel auf dem großen Schreibtisch am Ende des Raumes nicht gewesen wären, man hätte glauben können, in dem Arbeitszimmer eines Lehrers zu stehen. Sarah erkannte, dass sie nicht alleine in dem Raum war: Mit dem Rücken zu ihr gewandt, stand der alte Zauberer mitten im Raum las in einem dicken Buch, das vor ihm auf einem hohen Tischchen aufgeschlagen war.
Sarah trat näher, ohne dass der alte Mann sie beachtete. Dieser war augenscheinlich ganz vertieft in das große Buch, das vor ihm lag. Gerade hatte er wieder eine Seite umgeschlagen.
Merkwürdig war nur, dass da in dem Buch überhaupt nichts geschrieben stand. Während Sarah erstaunt auf das leere weiße Blatt starrte, begann dieses sich allerdings rasch, Zeile für Zeile, mit Buchstaben zu füllen. Das, was sie lesen konnte, machte jedoch keinerlei Sinn. Es handelte sich mehr oder weniger um eine sinnlose Aneinanderreihung irgendwelcher Buchstaben und Zeichen, von denen ihr die meisten im Übrigen auch noch völlig unbekannt waren.
Sie hatte vielleicht einen halbe Minute so dagestanden, als sich der Zauberer mit einem Mal zu ihr umdrehte und sie freundlich ansprach:
„Schön, dass du so schnell kommen konntest. Ich weiß, es ist schon spät, aber das, was ich mit dir besprechen möchte, duldet leider keinen Aufschub. Ich hoffe, Hubert hat dich nicht allzu sehr erschreckt… Ich hatte leider keine Zeit, dich persönlich abzuholen…“
Während er hinter seinen Schreibtisch schritt und dabei beiläufig auf den Stuhl davor deutete, merkte er, dass Sarah keinerlei Anstalten machte, ihm zu folgen. Sie stand weiterhin vor dem hohen Pult und starrte fasziniert auf das Buch, das mittlerweile aufgehört hatte, sich auf wundersame Weise mit Buchstaben zu füllen.
„Ach das!“ Der Zauberer legte Sarah schmunzelnd seine Hand auf die Schulter.
„Das ist eine Art von Tagebuch.“
Sarah blickte den alten Mann fragend an.
„Na, so jung bin ich auch nicht mehr, dass ich mir alles, was wichtig ist, merken könnte. Und so manches, was einem zunächst als völlig unwichtig und nebensächlich erscheint, entpuppt sich später vielleicht als immens bedeutsam, ja vielleicht sogar als lebensnotwendig. Und es wäre doch wirklich tragisch, wenn eine solche Erinnerung dann unwiederbringlich vergessen und verschwunden wäre, nicht wahr?“
Sarah nickte stumm. Sie begann langsam zu begreifen, wozu dieses merkwürdige Buch gut sein sollte.
„Jeden Abend gebe ich all das, was ich am Tag zuvor erlebt habe, an dieses Buch weiter. So wird mir einerseits der Kopf wieder frei für neue wichtige Dinge, andererseits kann ich, wenn ich es möchte, später alles wieder nachlesen. Es handelt sich hier natürlich, wie du dir sicherlich denken kannst, nicht um ein gewöhnliches Buch. Wenn ich nach irgendeiner Erinnerung suche, brauche ich es nur aufzuschlagen. Mit eine wenig Konzentration erscheint dann genau das, was ich suche!“
Er schlug das Buch zu.
Sarah beobachtete fasziniert, wie sich ein dickes Vorhängeschloss, das vorne auf dem Buchdeckel angebracht war, mit einem lauten Klacken selbstständig verriegelte.
Sie erkannte jetzt das geheimnisvolle Buch wieder, das Max und sie auf ihrem früheren heimlichen „Ausflug“ in die Räume des Zauberers vergeblich zu öffnen versucht hatten.
Als hätte der alte Mann ihre Gedanken erraten, blickte er sie einen Moment lang forschend über seine halbrunden Brillengläser an. Plötzlich war sich Sarah sicher, dass der Zauberer über alles Bescheid wusste. Sie fühlte wie sie ganz rot im Gesicht wurde.
Der Zauberer tat offensichtlich so, als wenn er nichts bemerkt hätte und bat sie, auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Er selber ließ sich in einen großen Lehnstuhl fallen, der hinter dem Tisch stand.
Sein Gesicht wirkte auf Sarah jetzt ziemlich müde und sorgenvoll.
Auf der Tischfläche vor ihm lagen mehrere große Bögen, die wie Landkarten aussahen und mit einem ziemlich wirren Muster aus Linien, Zahlen Pfeilen, Ellipsen und Kreisen versehen waren. Außer diesen Karten standen einige merkwürdige Instrumente auf dem Tisch, deren Bedeutung Sarah unklar war. Am ehesten ähnelten sie noch irgendwelchen Geräten, die früher in der Schifffahrt zur Navigation verwendet wurden, als man noch keine Satelliten und keinen Radar kannte.
Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sich der Zauberer schließlich räusperte:
„Sarah, mein Kind. Es sind ein paar ernste Dinge, die ich mit dir besprechen muss. Du fragst dich sicherlich, warum ich dich jetzt noch so spät zu mir bestellt und warum ich Max nicht dazu gebeten habe. Aber ich denke, es ist besser, wenn wir zunächst alleine miteinander sprechen. Ich möchte Max nicht unnötig verunsichern. Du musst bedenken: Er ist ein Kind dieser Welt. Wenn die Zeit gekommen ist, wird er alles erfahren.“
Sarah blickte ihr Gegenüber etwas verunsichert an. Was gab es wichtiges (oder schlimmes), was der alte Mann mit ihr besprechen wollte?
Dieser betrachtete sie zunächst einen Moment nachdenklich, bevor er weitersprach.
„Zunächst einmal: Es war jetzt bereits das dritte Mal seit deiner Flucht vor den beiden Gauklern, dass die Männer des Königs dich fast gefunden hätten. In der Behörde, als du den Steckbrief entdeckt hattest, war es sicherlich noch Zufall gewesen, sonst hättest du wahrscheinlich überhaupt gar keine Chance gehabt, aus dem Gebäude zu entkommen. Dann, als du Zuflucht bei Martins Verwandten gefunden hattest, sah die Sache allerdings schon ganz anders aus: Sicher war Verrat im Spiel. Irgendjemand, der wusste, dass du gesucht wirst, könnte dich angezeigt haben. Erstaunlich ist nur, in welch kurzer Zeit offenbar im ganzen Land bekannt wurde, dass du auf der Flucht bist. Was mir aber am meisten Kopfzerbrechen macht, ist das Ereignis von gestern. War es auch diesmal nur Zufall, dass ein Trupp Soldaten unsere Hütte im Wald gefunden hat?“
Der Zauberer schüttelte nachdenklich mit dem Kopf.
„Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen… Die Wahrscheinlichkeit dafür ist einfach zu gering…“
„Wir dürfen nicht vergessen, dass unser Gegner nicht nur über die „normale“ Macht verfügt, die ein König nun einmal hat, womit ich die ihm ergebenen Menschen, Soldaten, Spitzel und einen gut funktionierenden Verwaltungsapparat meine. Nein: Er ist gleichzeitig auch ein großer Zauberer, wie du ja bereits weißt. Allerdings, um jemanden alleine mit der Hilfe von Magie aufzuspüren, ist trotzdem fast wie die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Und man darf gleichzeitig nicht vergessen, dass du theoretisch überall im Land sein könntest.“
„Trotzdem bin ich mir fast hundertprozentig sicher, dass unser Gegner ganz genau spürt, dass du dich gerade auf dem Weg zu ihm befindest.“
Sarah merkte, wie es ihr ganz kalt den Rücken herunter lief. Das, was der alte Mann da sagte, war erschreckend und unheimlich.
„Aber, wie kann das sein? Ich meine, dass er mich einfach spüren kann…?
Sie verstummte hilflos.
Der alte Zauberer nickte ernst.
„Fast möchte man meinen, es müsste irgendeine Art von, sagen wir mal, geheimnisvoller „Verbindung“ zwischen euch geben. Dabei hat er dich bisher ja noch nicht einmal zu Gesicht bekommen… Wirklich seltsam!“
„Ich frage mich die ganze Zeit, ob ihr euch nicht vielleicht doch schon einmal begegnet sein könntet, in deiner Welt… Allerdings, soweit mir bekannt ist, hat es seit langer Zeit schon keine Möglichkeit mehr gegeben, die Grenzen einfach so zu überschreiten, wie es einem beliebt. Auch für einen mächtigen Zauberer wie ihn nicht… Aber trotzdem…“
Der Zauberer bückte sich und zog eine Schublade auf. Er nahm etwas heraus, ein Blatt Papier, und reichte es Sarah.
Es handelte sich um ein Bild, das einen jüngeren Mann zeigte, der die Kleidung eines Magiers trug. Er wirkte eigentlich ganz unauffällig. Wenn man allerdings in die Augen des Mannes blickte… Sarah lief es erneut kalt den Rücken herunter. Sie hatte noch nie bei einem Menschen einen so stechenden und forschenden Blick gesehen. Und dabei handelte es sich hier nur um ein gemaltes Bild…
„Ist das etwa…“ Sarah sprach den Satz nicht zu Ende.
„Ganz genau, mein Kind. Das ist unser großer König. Allerdings ist das Bild schon recht alt. Ich hatte dir ja bereits erzählt, dass wir uns noch aus unserer gemeinsamen Zeit in der Zaubererakademie her kennen. Damals ist dieses Bild entstanden. Seltsam, dass es danach nie wieder ein offizielles Bild von ihm gab, nicht wahr?“
Na, mit diesem Blick würde ich mich auch nicht als „guter und geliebter“ König verkaufen lassen, dachte sich Sarah im Stillen. Bei uns hätte man es vielleicht mit irgendwelchen Kontaktlinsen oder einer großen dunklen Sonnenbrille versucht…
Sie wusste, warum der alte Zauberer ihr das Bild gezeigt hatte.
„Nein. Diesen Mann habe ich mit Sicherheit noch nie in meinem Leben gesehen.“
Und doch berührte sie irgendetwas an diesem Bild auf eigentümliche Art und Weise. Sie konnte nur beim allerbesten Willen nicht sagen, was es war. Sie zögerte einen Augenblick, als sie das Bild dem Zauberer wieder herüberreichte und warf noch einmal einen letzten Blick darauf.
Jetzt war dieses Gefühl nicht mehr da. Na, sicherlich hatten ihr die überreizten Augen und ihre lebhafte Phantasie einen Streich gespielt. Es war ja auch kein Wunder.
Der Zauberer schaute sie noch einmal kurz prüfend an und verfrachtete dann, als Sarah nichts mehr sagte, das Bild wieder an seinen alten Platz.
„Nun, darüber nachzugrübeln bringt uns im Moment auch nicht weiter. Auf jeden Fall: Ich denke, es ist für dich und für uns alle sicherer, du würdest ab jetzt möglichst die Hütte nicht mehr verlassen. Hier drinnen kann ich dich sicherlich besser schützen…“
Sarah nickte traurig. Auch wenn der Gedanke ganz und gar nicht gefiel.
„Ich werde unsere Tarnung zur Sicherheit noch verstärken. Zu dumm für unseren geliebten König und seine getreue Truppe tapferer Männer, dass es die folgenden Nächte auch noch ganz und gar stockfinster sein wird…“
Sarah riss erstaunt die Augen auf. Sie hatte nämlich in den letzten Abenden sehr wohl bemerkt, dass der Mond zunahm, und es die nächsten Nächte folglich eigentlich zunehmend heller werden dürften.
Der alte Zauberer erhob sich aus seinem Sessel und ging zu einem unscheinbaren Schrank, der neben dem Schreibtisch stand. Ohne dass er auch nur eine Hand gehoben hätte, um ihn aufzuschließen, öffneten sich gleich darauf gleichzeitig beide Türen mit einem gewaltigen Quietschen.
Der Zauberer kehrte mit einem großen Glasgefäß an seinen Platz zurück, während der Schrank sich mit einem lauten Rumms wieder von alleine schloss.
Er stellte das Glas vor Sarah auf den Tisch und schaute diese mit einem feinen Lächeln an.
Sarah betrachtete den Gegenstand vor ihren Augen. Für sie sah er aus wie ein etwas überdimensioniertes Einmachglas, das zwar mit einem Glasdeckel verschlossen war, ansonsten aber völlig leer zu sein schein. Sie konnte durch das Glas die optisch verzerrten Umrisse des Zaubermantels erkennen, den ihr Gegenüber trug.
„Wenn du magst, kannst du es öffnen. Aber bitte nur ganz vorsichtig. Du darfst es keinesfalls schräg halten!“
Ungläubig griff Sarah nach dem leeren Behälter. Er war merkwürdig schwer und fühlte sich erstaunlich kalt an. Vorsichtig schraubte sie den fest verschlossenen Deckel ab.
Dann blickte sie in das Innere des Gefäßes.
Das was sie sah, ließ sich eigentlich nicht mit Worten beschreiben. Es war das schwärzeste Schwarz, das sie sich überhaupt vorstellen konnte. Wenn sie vorher auch der Meinung gewesen war, schwarz wäre gleich schwarz, jetzt war sie eines Besseren belehrt worden.
Sie musste schließlich ihren Blick gewaltsam von dem Glas lösen. Zum Schluss hatte sie das Gefühl gehabt, sie würde sonst unweigerlich in das Gefäß hineinfallen.
Mit einem leichten Schwindelgefühl stellte sie das Gefäß mit etwas zittrigen Händen auf den Tisch zurück und blickte den alten Zauberer an.
„Was ist das?“, fragte sie ganz erstaunt und gleichzeitig fasziniert.
„Nun, das ist sozusagen die Essenz der finstersten und dunkelsten Nächte, versehen mit einer tüchtigen Portion der absoluten Schwärze, wie man sie nur in den tiefsten Höhlen findet, in die sich noch nie auch nur der Hauch eines Lichtstrahls hineinverirrt hat. Das war im Übrigen besonders schwer zu sammeln, da man in diesem Fall noch nicht einmal die Hilfe einer noch so kleinen Kerze in Anspruch nehmen darf, um die absolute Finsternis ja nicht zu entweihen!“
Der Zauberer schaute den Glasbehälter prüfend an.
„Ein paar Milliliter pro Nacht dürften genügen… Ich würde mich doch sehr wundern, wenn uns da noch jemand in der Dunkelheit entdecken würde…“
Später, bevor sie endlich zu Bett ging, sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, schaute Sarah spaßeshalber noch einmal aus dem Fenster. Sie war neugierig, ob der alte Zauberer schon seine Priese Dunkelheit verstreut hatte. Vielleicht war es ja nur Einbildung, aber sie hatte jetzt tatsächlich den Eindruck, als wäre die Nacht diesmal besonders finster. Weder der Mond noch die Sterne waren zu sehen, obwohl der Tag zuvor doch ganz wolkenlos und sonnig gewesen war…
Was Sarah nicht wissen konnte: In dieser und auch in den folgenden Nächten wunderten sich die Wundärzte des Königs über eine seltsame Häufung bestimmter Verletzungen, die einen guten Teil der Soldaten für eine Weile dienstunfähig machten. Blutige Nasen, große Beulen am Kopf, schmerzhaft geprellte Schienenbeine und verstauchte Fußzehen waren plötzlich an der Tagesordnung. Es wurde schließlich ernsthaft darüber diskutiert, sicherheitshalber allen Männern eine Brille zu verpassen, damit sie nicht mehr ständig mit dem Kopf gegen irgendwelche Hindernisse stießen. Aber aus Kostengründen wurde diese Idee rasch wieder fallen gelassen. Pflaster und Verbandsstoffe waren eindeutig billiger. Und dümmer konnten die meisten Soldaten, nach allem Ermessen der hinzugezogenen Experten, durch die geheimnisvollen nächtlichen Zusammenstöße ihrer Köpfe mit irgendwelchen Hindernissen schließlich auch nicht mehr werden…
Sehr zur Beruhigung der drei Bewohner der Zauberhütte, kam es in den nächsten Tagen zu keinem erwähnenswerten Zwischenfall mehr.
Lediglich Max war für zwei bis drei Tage noch ein wenig eingeschnappt, weil er nicht mit zu dem abendlichen Gespräch eingeladen worden war.
13
Nachdem ihr Erlebnis mit den Soldaten des Königs noch einigermaßen glimpflich abgelaufen war, musste Sarah wenige Tage später erfahren, dass es in diesem Land Menschen gab, die nicht so viel Glück hatten wie sie.
Sie waren gerade mit dem Mittagessen fertig, als Max seine beiden Gefährten zu sich ans Fenster rief.
Die Hütte stand gut getarnt inmitten eines recht dichten und finsteren Tannenwaldes. Aus dem Fenster bot sich zwischen den Stämmen der mächtigen Nadelbäume hindurch ein Blick über ein dicht bewaldetes Tal. Dort, wo das Tal bereits wieder in die nächste Anhöhe überging, konnte Sarah dichte schwarze Rauchwolken erkennen, die hoch in den blauen Himmel aufstiegen.
Ihr erster Gedanke war, dass es sich sicherlich um einen Waldbrand handeln müsste. Schließlich war es in den letzten Tagen durchgehend heiß und trocken gewesen.
„Nein, das glaube ich nicht…“, sprach der alte Zauberer, als sie ihm ihre Vermutung mitteilte. „Dort hinten, wo der Rauch aufsteigt, befindet sich ein größeres Dorf, das ich von früheren Reisen her gut kenne. Ich frage mich, was dort passiert sein mag.“
Zu Sarahs und Max Erstaunen, beschloss der Zauberer, dass sie in der nächsten Nacht der Gegend dort einen Besuch abstatten wollten. „Keine Angst, Kinder, ich werde schon für eine ausreichende Tarnung sorgen“, erklärte er. „Ich möchte es mir gerne persönlich anschauen, denke aber, dass ich euch ab jetzt lieber nicht mehr alleinlassen sollte…“
Bereits in der Dämmerung brachen sie auf. Sarah hatte sich bereits so sehr an die nächtlichen Wanderungen der Hütte gewöhnt, dass sie sie gar nicht mehr bewusst wahrnahm. Genau wie ein Seemann auf einem Schiff, ging ihr durch den Kopf, als sie eher beiläufig bemerkte, wie die Bäume an dem Fenster ihres Zimmers vorbeisausten. Dann klopfte es an ihrer Tür. Es war Max, der Sarah aufforderte zu seinem Onkel ins Wohnzimmer zu kommen.
Wenig später saßen sie alle drei vor dem Fenster. Der erste Blick hinaus in die Dunkelheit zeigte Sarah, dass sie den dichten Wald bereits verlassen hatten. Vor ihnen lag jetzt eine Landschaft mit Feldern, Scheunen und Koppeln. Ein dunkler Gegenstand tauchte vor ihnen auf. Sarah hielt den Atem an. Es war nämlich eine Kutsche oder ein anderes Fuhrwerk, das da am Wegesrand stand. Als sie ein paar Meter näher gekommen waren, erkannte Sarah aber, dass ihnen von diesem Gefährt wohl keine Gefahr mehr drohen würde.
Der große hölzerne Wagen, es handelte sich wohl um ein Ochsenfuhrwerk, lag umgekippt auf der Seite. Das Hinterrad war zerbrochen. Kurz darauf kamen sie an einem weiteren Wagen vorbei, der ebenfalls im Graben lag. Um das Gefährt herum lagen allerlei Gegenstände herum. Sarah erkannte verschiedene Dinge wie Pfannen, landwirtschaftliche Gerätschaften, aber auch eine schwere Kiste und einen großen Koffer, der halb geöffnet auf der Seite lag. Von den Insassen oder den Zugtieren des Wagens fand sich keine Spur. Das war alles recht seltsam.
Sarah schaute den alten Zauberer fragend an. Dieser starrte nachdenklich aus dem Fenster heraus, so dass sie beschloss, ihn lieber nicht zu stören.
Wenig später gelangten sie in das Dorf.
Besser gesagt in das, was von ihm übrig war.
Mit großen Augen betrachteten Max und Sarah die rauchenden Ruinen der Häuser, Werkstätten und Ställe. Obwohl das Fenster geschlossen war, erfüllte schon bald der Geruch nach verbranntem Holz den Raum, in dem sie sich befanden. Hier und da brannte noch ein Feuer. Die Flammen tauchten die rauchgeschwärzten Mauern der umgebenden Ruinen in ein gespenstisches Licht. Immer wieder meinte Sarah irgendwelche Gestalten zu erkennen, die sich dann aber allesamt als im Feuerschein tanzende Schatten von irgendwelchen leblosen Gegenständen entpuppten. Schließlich blieb die Hütte inmitten des Durcheinanders stehen.
Erst jetzt löste der alte Zauberer seinen Blick vom Fenster und wandte sich an Sarah und Max. Diese schauten ganz betroffen drein, weil sie beide schon ahnten, dass dies dort draußen sicherlich nicht nur die Folge eines Unglücks darstellte.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen nickte der Zauberer und sprach: „Ganz recht. Das war keine Feuersbrunst, wie sie durch ein Feuer entsteht, das man versehentlich über Nacht brennen lässt. Und ein Gewitter hat es hier gestern nicht gegeben. Nein. Das hier ist durch Menschenhand verursacht worden…“
Sarah schluckte.
Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wer für das Unglück hier verantwortlich war.
„Warum tut er so etwas?“, flüsterte sie fassungslos.
Der Zauberer blickte sie mit ernster Miene an.
„Ich werde mich jetzt ein wenig im Dorf umsehen. Ihr bleibt so lange hier!“
Beide beobachteten sie, wie der Zauberer wenig später durch die Trümmer des Dorfes stieg. Dann verschluckte ihn schließlich die Dunkelheit.
Die Kinder warteten lange auf seine Rückkehr. Ihnen beiden war es recht unbehaglich zu Mute, und es wollte so recht kein Gespräch aufkommen. Sowohl Max als auch Sarah waren in ihren Gedanken bei dem alten Zauberer. Was sollten sie machen, wenn er nicht wiederkam?
Schließlich hörte Sarah zu ihrer unendlichen Erleichterung, wie sich die Tür zum Wohnzimmer öffnete und der Zauberer wieder vor ihnen stand. Er brachte einen unangenehmen Geruch nach Verbranntem mit sich. Seine Stiefel waren schwarz vor Ruß und auch in seinem Bart und sogar in den Augenbrauen hatten sich Aschepartikel verfangen.
Er setzte sich zu ihnen an den Tisch und teilte Max und Sarah mit, dass er keine Menschenseele mehr angetroffen habe. Aber er hatte folgendes gefunden:
Es war ein Blatt Papier, am Rande leicht angekokelt, das er jetzt auf den Tisch legte.
> Wer seine Steuern nicht rechtzeitig bezahlt, wird nur einmal verwarnt! 6 Das Schloß
1
Als Sarah wieder allmählich zu sich kam, war es ihr, als hätte sie eine Ewigkeit geschlafen. Sie fühlt sich ganz benommen, der Kopf tat ihr ziemlich weh, und sie musste die Augen wieder schließen, da die Helligkeit ihrer Umgebung sie schmerzhaft blendete. Sie lag auf etwas Weichem, wahrscheinlich einem Bett, was entschieden bequemer war als die Kutsche, in der sie sich vorher befand.
Sarah verspürte einen starken Durst und ihr Mund war so trocken, dass sie ihre Zunge zunächst nicht vom Gaumen lösen konnte, so fest klebte sie daran.
Ihr war auch ziemlich schwindelig, besonders als sie versuchte sich aufzurichten. Der Schwindel war im Sitzen so stark, dass sie sogleich wieder auf das Bett zurücksank. Übelkeit stieg in ihr hoch, und sie versuchte erst einmal ganz still liegen zu bleiben, um nicht noch brechen zu müssen.
Angestrengt versuchte sie, sich an den zurückliegenden Tag zu erinnern. Erst allmählich kamen einzelne Erinnerungsfetzen in ihr Bewusstsein zurück. Die schwarze Kutsche mitten im Wald. Die unheimlichen Pferde davor. Und schließlich ihr vergeblicher Kampf mit dem unsichtbaren Gegner im Inneren der Kutsche.
Alleine der Gedanke an das widerliche, offensichtlich mit einem Betäubungsmittel versehene Tuch brachte sie erneut zum Würgen. Sie musste in eine tiefe Bewusstlosigkeit gefallen sein. Der Schlaf schien sie auch jetzt noch nicht ganz loslassen zu wollen.
Sarah wusste nicht wie lange sie noch regungslos dagelegen hatte, bis sie sich wieder so weit besser fühlte, dass sie erneut vorsichtig die Augenlider öffnen konnte.
Sie blickte direkt in ein Fenster, durch das das Sonnenlicht in den Raum hereinschien. Das war es also, was sie vorhin so geblendet hatte.
Sie erblickte neben dem Fenster mehrere Möbelstücke, ein Regal voller Gegenstände, die sie nicht genau erkennen konnte, einen großen dunklen Schrank mit geschlossenen Türen und einen kleinen Tisch mit einer gefüllten Blumenvase. Allerdings schien so gar nichts gerade und mit ordentlichen rechten Winkeln ausgestattet zu sein. Als sie den Kopf ein wenig drehte, schien ihr, als würden sich die Gegenstände mitbewegen und verändern. Es war so, als betrachtete man etwas durch eine Wasseroberfläche. Als sie es nach einer kleinen Pause schließlich wieder wagte, die Augen aufzumachen, erkannte sie aber rasch, dass sie das Opfer einer optischen Täuschung geworden war:
Sie hatte ihre Umgebung bisher die ganze Zeit durch einen Spiegel betrachtet, ein ziemlich altmodisches Exemplar offenbar, der alles ein wenig schief und verzerrt wiederzugeben schien.
Endlich fühlte sie sich wieder soweit wohl, dass sie sich gänzlich aufrichten konnte, um ihre neue Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen.
Zunächst musste sie aber zu ihrem Erstaunen und zu ihrer wachsenden Empörung feststellen, dass sie jemand umgezogen haben musste, als sie bewusstlos war. Bei dem Gedanken, von einem wildfremden Menschen ausgezogen worden zu sein, fühlte sie, wie Scham und Ärger ihr die Röte ins Gesicht trieben.
Sie trug jetzt ein langes seidenes Nachthemd, das mit allerlei Rüschen, Bändern und Schleifen verziert war und, soweit das Sarah beurteilen konnte, ziemlich kostbar und teuer wirkte.
Trotz ihrer Benommenheit, versuchte sie nachzudenken. Sie musste davon ausgehen, in die Hände ihres großen unbekannten Widersachers gefallen zu sein. Aber es war ja zuletzt eigentlich völlig klar gewesen, spätestens seitdem sie sich von ihren Gefährten hatte trennen müssen, dass dies über kurz oder lang passieren musste. Es war einfach zu naiv von ihr gewesen anzunehmen, dass sie es irgendwie doch schaffen würde, sich unbemerkt in die Festung des Königs einzuschleichen.
Sarah setzte sich an den Rand des Bettes und betrachtete einmal ihre Umgebung.
Das Zimmer, das sie zunächst nur verzerrt durch den Spiegel betrachtet hatte, schien mehr oder weniger rund zu sein.
Nach allen Richtungen zu öffneten sich Fenster, durch die, da die Vorhänge beiseite gezogen waren, das helle Tageslicht einfiel. Es war ein sonniger Tag mit makellosem blauem Himmel.
Das Bett, auf dem sie saß, stand in der Mitte des nicht sonderlich großen Raumes. Es handelte sich um ein richtiges Himmelbett, welches auch noch komplett vergoldet zu sein schien, und von dessen Dachhimmel samtene rote Gardinen herabhingen, die mit goldfarbenen Kordeln zusammengerafft und an den Pfosten des Bettes angebunden waren.
Als sie nach oben blickte, sah sie, dass der Himmel des Bettes über und über mit bunten Bildern verziert war, die unter anderem ein prächtiges, von Gärten umgebenes Schloss und auf zahlreichen kleinen Ornamenten allerlei Pflanzen und exotische Fabelwesen darstellten.
Ansonsten standen in dem Raum noch einige weitere schöne, ziemlich altmodisch wirkende Möbel herum, so ein Nachttisch, ein Schreibtisch mit vielen Schubladen und ein großer Schrank aus dunklem Holz.
Als sich Sarah umdrehte, entdeckte sie die einzige Tür des Raumes. Diese war geschlossen.
Nach einer kurzen Weile wagte sie es, ein paar Schritte zu gehen, was ihr auch recht gut gelang. Jetzt bloß nicht wieder ohnmächtig werden, sagte sie sich und ging langsam die paar Schritte auf die Zimmertür zu.
In ihrer tiefsten Überzeugung erwartete sie eigentlich, dass diese abgesperrt war, schließlich war sie nicht gerade freiwillig hier in diesem Zimmer. Zu ihrer nicht geringen Überraschung ließ sich die Tür aber ohne Probleme öffnen und gab den Blick auf ein recht enges Treppenhaus frei, in dem eine Wendeltreppe nach unten zu führen schien.
Sarah trat vorsichtig einen Schritt vor die Tür und schaute sich um.
Es war keine Spur von irgendwelchen Aufpassern oder überhaupt von anderen Menschen zu sehen. Sarah lauschte eine ganze Weile, ohne irgendwelche Stimmen oder andere Geräusche hören zu können. Das war seltsam und entsprach so gar nicht ihren Vorstellungen von einer Entführung.
Sie trat erst einmal wieder in ihr Zimmer zurück. So, nur in ein dünnes Nachthemd gekleidet, wollte sie keinen Fluchtversuch unternehmen, denn einen solchen hatte sie natürlich vor!
Also machte sich Sarah erst einmal daran, das Zimmer nach einem brauchbaren Kleidungsstück zu durchsuchen.
Tatsächlich fand sie, als sie den großen Holzschrank öffnete, eine reiche Auswahl an Kleidung und sogar an Schuhen.
Diese entsprachen allerdings allesamt so gar nicht der Art von Kleidung, die Sarah daheim bevorzugte. Sie fand alle möglichen Kleidchen, lange Röcke, Haarschleifen, Schuhe und Stiefelchen mit kleinen Absätzen und Schnallen, kurz und gut, sie fand nichts Vernünftiges zum Anziehen. Ihre alten Klamotten waren natürlich verschwunden. Die Situation ähnelte frappierend ihren ersten Erlebnissen in dem komischen kleinen Dorf. Irgendwie versuchte hier immer irgendjemand, ihr seine Vorstellungen von Kleidung aufzuzwingen. Das ging ihr langsam auf die Nerven! Dagegen ging es bei ihr zu Hause ja geradezu unerhört liberal zu…
Sarah beschloss, das Beste aus ihrer Situation zu machen und suchte sich die am wenigsten mädchenhaften Sachen heraus.
Sie zog das Nachthemd aus und streifte sich ein halbwegs schlichtes Kleid über, das für ihren Geschmack allerdings immer noch entschieden zu viele Rüschen und anderen Zierrat aufwies.
Erstaunlicherweise passte ihr das Kleid aber wie angegossen. Sogar die Schuhe saßen so perfekt, als seien sie zuvor extra für sie angefertigt worden.
Sarah beschloss, sich das Nachdenken darüber lieber für später aufzusparen. Zunächst wollte sie erst einmal so schnell wie möglich weg von hier, um die Suche nach ihrer Familie und nach einer Fluchtmöglichkeit wieder aufzunehmen.
Dann trat sie an das Fenster zu ihrer Linken und blickte hinaus. Sie schaute auf das große, lang gezogene Dach eines überaus stattlichen schlossartigen Gebäudes mit hohen Giebeln, zahlreichen zinnengekrönten Türmen und Türmchen.
Aus dem direkt gegenüber liegenden Fenster konnte Sarah eine weite parkähnliche Landschaft überblicken. Soweit ihr Auge reichte erstreckten sich weite grüne Wiesenflächen, unterteilt durch Bäume und geometrisch angelegte Beete.
Hier und dort schimmerte die Oberfläche kleinerer und größerer Teiche und Wasserläufe im Sonnenlicht.
Die Parklandschaft reichte bis zum Horizont, wo so etwas wie ein langes Band in den Himmel überzugehen schien.
Vielleicht handelte es sich hierbei um eine Mauer, die den Park umschloss. Vielleicht täuschte sie sich da auch. Es war einfach zu weit weg.
Sarah sah sich abschließend noch einmal genau in ihrem Zimmer um, ob sie nicht noch etwas Nützliches finden konnte, vielleicht etwas, was sie zu ihrer Verteidigung als Waffe verwenden könnte.
Schließlich fand sie im hintersten Winkel des Kleiderschrankes einen Regenschirm, der am Ende eine ziemlich gemein aussehende Spitze trug.
Dann betrachtete sie sich noch einmal im Spiegel.
Sie bot schon eine etwas merkwürdige Erscheinung. In ihrem kostbaren Kleid, den altmodischen Schuhen und den langen offenen Haaren sah sie fast so aus wie einer der jungen adligen Damen, die man bei Schlossbesichtigungen auf einem dieser zahlreichen (und unendlich langweiligen) Ölgemälden sah. Allerdings wirkte sie mit ihrer sonnengebräunten Haut nicht ganz so vornehm blass und blutleer.
Nun, auch sonst ließ ihre Erscheinung ein wenig zu wünschen übrig: Sie betrachtete ihre rechte Hand, die den Schirm wie ein Schwert umklammert hielt.
Sarah streckte ihrem Spiegelbild schließlich die Zunge heraus und marschierte los.
2
Auf dem schmalen Absatz der Wendeltreppe blieb sie noch einmal einen Moment stehen und lauschte. Sie konnte weiterhin keine Stimmen oder andere verdächtige Geräusche vernehmen.
Das verwunderte sie schon ein wenig. Ihre Entführer mussten doch damit rechnen, dass sie nicht brav in ihrem Zimmer sitzen bleiben würde…
Sie schüttelte ungläubig mit dem Kopf und begann mit dem Abstieg, wobei ihre Schritte, wie sie zufrieden bemerkte, auf dem weichen Teppich, mit dem die ganze Treppe ausgeschlagen war, keinerlei Lärm verursachten.
Schließlich erreichte sie unbehelligt den Fuß der Treppe. Sie war mittlerweile zu der Erkenntnis gekommen, dass sich das Zimmer, in dem sie aufgewacht war, offensichtlich in einem der Türme des Gebäudes befinden musste, was auch den kreisrunden Grundriss des Raumes und den weiten und ungehinderten Ausblick auf die gesamte Umgebung erklärte.
Sarah konnte jetzt sehen, dass der Zugang zu ihrem Treppenhaus von einem breiten Flur abging.
Vorsichtig schaute sie um die Ecke. Unwillkürlich hielt sie dabei die Luft an. Keine Menschenseele war zu sehen.
Sarah trat in den Flur. Von beiden Seiten des langen Ganges gingen zahlreiche Türen ab, die allesamt geschlossen waren. Zwischen den prächtig verzierten Türbögen waren abwechselnd Spiegel, Marmorbüsten und Statuen sowie großformatige Ölgemälde in prächtigen vergoldeten Rahmen angebracht.
Am Ende des Flures war der Weg durch eine breite, aus zwei Flügeln bestehende Tür versperrt.
Auch hier hielt Sarah zunächst einmal inne und lauschte.
Schließlich ergriff sie die breite Klinke und drückte sie vorsichtig nach unten. Als sich die Tür mit einem lauten Knarren nach außen öffnete, blieb Sarah vor Schreck fast das Herz stehen.
Sie hielt ihre Waffe fest umklammert und rechnete fest damit, jetzt endlich entdeckt worden zu sein.
Als nach ein, zwei Minuten nichts passiert war, nahm sie ihren Mut zusammen und machte die Tür ganz auf.
Was sich hier ihren Augen darbot, verschlug Sarah erst einmal den Atem: Sie befand sich auf dem oberen Absatz einer breiten steinernen Treppe, die, flankiert von allerlei Statuen, in einem leichten Bogen hinab in die Tiefe einer riesigen Halle führte.
Von der Decke hinab hingen riesige prächtige Leuchter, die von sicherlich hunderten von Kerzen erleuchtet wurden und den ganzen Raum in ein behagliches warmes Licht tauchten.
Die Halle erstreckte sich von ihr aus gesehen weit nach beiden Seiten.
Der Boden der Halle schließlich war mit dicken Teppichen ausgelegt, an den Wänden standen Sessel und Tische und am linken Ende befand sich ein großer Kamin, in dem ein Feuer prasselte.
Von den Bewohnern des Schlosses fand sich weiterhin keine Spur.
Als sie die Treppe hinabschritt, fühlte sie sich schon fast wie eine Prinzessin, was auch noch dadurch unterstrichen wurde, dass sie wegen der Absätze ihrer Schuhe nicht so schnell laufen konnte wie sie eigentlich gewohnt war und stattdessen Stufe für Stufe regelrecht herab stolzieren musste.
Am Ende der Halle angelangt, konnte sie gerade noch der Versuchung widerstehen, sich in einen der breiten Sessel vor dem offenen Kamin zu setzen, so einladend und gemütlich sahen diese aus.
Zu allem Überfluss machte sich jetzt auch noch ein immer stärker werdendes Hungergefühl in ihrem Magen breit. Das hatte ihr noch gefehlt.
Sie setzte ihre Erkundungstour durch das Gebäude fort.
Neben dem Kamin entdeckte sie Doppeltür. Schließlich gelangte sie in einen anderen Raum.
Sie hatte schon vorher einen schwachen Essensgeruch wahrgenommen, aber das, was sie jetzt sah, ließ ihr die Augen förmlich überlaufen:
Sie stand am Ende einer großen Tafel, die über und über mit allen möglichen Sorten von leckeren Speisen bedeckt war. Neben großen Schalen mit Obst konnte sie zahlreiche dampfende Schüsseln erkennen, aus denen ein köstlicher Duft emporstieg, silberne Platten, die mit gebratenem Fleisch bedeckt waren, Körbe voller Brot und Berge von Kuchen. Im ersten Moment durchzuckte sie der Gedanke, dass jetzt sicherlich gleich Heerscharen von hungrigen Menschen in den Raum kommen und sie entdecken würden. Dann bemerkte sie aber, dass um den Tisch herum zwar zahlreiche Stühle standen, dieser jedoch für nur genau eine Person gedeckt war.
Sarah trat näher an die Tafel heran, das Wasser lief ihr im Munde zusammen, aber sie traute sich nicht so recht, zuzugreifen.
„Was ist, wenn das Essen vergiftet ist“, fragte sie sich laut, schließlich war sie ja nicht gerade freiwillig in dieses Schloss gekommen und sollte besser davon ausgehen, dass die Leute, die sie hierher entführt hatten, naturgemäß nicht unbedingt ihr Wohl im Auge hatten.
Gefangene speiste man im Allgemeinen eher mit Wasser und Brot ab.
Während sie so unentschlossen vor sich hin grübelte, fiel ihr Blick zufällig auf ein kleines Tischkärtchen, das neben dem einzigen Gedeck der Tafel in einem kunstvoll verzierten silbernen Ständer steckte:
stand darauf geschrieben.
Das war eindeutig.
„Nun gut, wenn die Kerle mich hiermit bestechen wollen, dann haben sie sich aber getäuscht“, sprach Sarah zu sich selbst. Sie würde ihren Appetit stillen aber sich deswegen sicherlich noch lange nicht dankbar in ihr Schicksal als Gefangene fügen. Außerdem konnte man mit einem gefüllten Magen konnte sicherlich leichter Pläne zur Flucht schmieden als mit einem leeren.
Sie setzte sich auf den Stuhl und langte herzhaft zu.
Sie aß so lange, bis sie schließlich keinen Bissen mehr hinunter bekam und ganz erschöpft, in der Hand noch ein halb angebissenes Stück Kuchen haltend, in ihren Stuhl zurücksank.
Ihren Durst hatte sie ebenfalls löschen können: Mehrere Krüge, bis zum Rand mit leckeren Fruchtsäften gefüllt, standen ebenfalls für sie bereit.
Bedeutend milder gestimmt, überlegte Sarah schläfrig, was sie jetzt wohl anstellen sollte. Ein Mittagsschläfchen wäre jetzt sicherlich nicht schlecht…
„Moment mal, Mädchen! Du bist das unschuldige Opfer einer Entführung!“, schalt sie sich selbst. Irgendwie schien sie diese Tatsache nach dem Festmahl nicht mehr ganz so zu empören. Ärgerlich kniff sie sich zur Strafe fest in den Oberschenkel, daß es ziemlich wehtat. Das weckte wieder ein wenig ihre Kräfte und vor allem ihren Ärger.
Sicherlich würde es bald bemerkt werden, dass sie hier gegessen hatte. Sie sollte lieber zusehen, dass sie weiterkam.
Sarah rutschte behäbig von ihrem Stuhl herunter und schaute sich nach einem Ausgang um.
Durch eine Nebentür gelangte sie zunächst in die Küche, einen großen hohen Raum, in dem sich über einer gigantischen Feuerstelle ein gewaltiger Abzug nach oben erstreckte.
Merkwürdigerweise war alles blitzsauber. Keine schmutzigen Töpfe oder Küchenabfälle zeugten davon, dass gerade eben noch ein großes Festmahl bereitet worden war.
Und vom Personal, das diese meisterhafte Aufräumleistung so schnell und unbemerkt vollbracht hatte, fand sich nicht der Hauch einer Spur.
Die nächste Tür führte Sarah dann ganz unvermittelt nach draußen. Ihre Freude, einen Ausgang gefunden zu haben, war allerdings nur von kurzer Dauer, denn sie fand sich in einem kleinen Gemüsegarten stehend wieder, der in einem Innenhof des Gebäudes angelegt war. Überall um sie herum ragten die hohen Mauern des Schlosses bis in den Himmel hinauf.
Sie trat durch die Küche in den Speisesaal zurück und probierte eine andere Tür aus.
Nachdem sie durch mehrere kleiner Räume gekommen war, ging sie durch die nächste Tür -und fand sich mit einem Mal erneut im Speisesaal wieder.
Allerdings war der Tisch jetzt abgeräumt. Auf der blitzblank polierten Oberfläche der Tafel fand sich nicht auch nur die geringste Spur eines Krümelchens oder eines Flecks. Dabei war sie höchstens einige wenige Minuten unterwegs gewesen! Sarah stürmte sogleich in die Küche zurück, jetzt ganz sicher, die Urheber des Ganzen in flagranti zu erwischen.
Aber weit gefehlt!
Die Küche war ebenso leer und unbenutzt wie bei ihrem letzten Besuch. Allerdings fand sie jetzt die Schüsseln und Teller, die gerade noch im Speisezimmer auf dem großen Tisch gestanden hatten, fein säuberlich und blitzblank geputzt und ordentlich gestapelt in einem der Regale vor.
Das war eine Leistung, die ihr schier unmöglich erschien.
Sarah setzte sich auf einen der Stühle im Speisezimmer und dachte nach.
Es war totenstill. Bis auf das Geräusch von ein paar Stubenfliegen, die ärgerlich durch den Raum brummten, wahrscheinlich auf der Suche nach dem leckeren Festmahl, das für sie wohl ebenso rasch und unerklärlich verschwunden war wie für Sarah.
Dann setzte sie nach einer kurzen Ruhepause ihren Weg durch das seltsame Schloss fort. Sarah merkte gar nicht, dass sie dabei im Speisesaal ihre „Waffe“ zurückließ.
Schließlich gelangte sie in großen länglichen und lichtdurchfluteten Raum.
Dieser war an einer der beiden Längsseiten nahezu vollständig verspiegelt, so dass Sarah zunächst ganz irritiert war, sich plötzlich selbst auf einer großen Terrasse stehen zu sehen.
Als sie ihren Irrtum bemerkt hatte, drehte sie sich um und blickte auf eine weite Fensterfront.
Sarah ging weiter, bis sie schließlich in der Mitte des Raumes vor zwei großen Glastüren stand. Sie erwartete eigentlich gar nicht, dass sich diese öffnen ließen und war einen Moment lang völlig perplex, als die Türen tatsächlich mühelos nach außen aufschwangen.
Sie trat nach draußen auf die weitläufige Terrasse und genoss erst einmal die frische Luft. Draußen war ein herrlicher Sommertag angebrochen. Es war angenehm warm, ohne zu heiß zu sein.
Von der Terrasse führte eine breite, mit Statuen besetzte Treppe hinunter auf einen sehr weiträumigen, mit Kies bedeckten Platz, der direkt an einen wunderschönen Park angrenzte. Sarah schritt die Treppe hinab und drehte sich erst einmal nach dem Gebäude um. Was sie sah, verschlug ihr den Atem: Sie stand vor einem regelrechten Märchenschloss, das so prächtig und phantasievoll gestaltet war, wie sie es noch nicht einmal im Film, geschweige denn in der Realität, jemals gesehen hatte. Jeder amerikanische oder japanische Tourist wäre wahrscheinlich vor lauter Entzücken auf der Stelle tot umgefallen.
Überall ragten mit filigranen Zinnen bewehrte Türmchen und Türme hoch in den Himmel hinauf. Unzählige Fenster blickten auf sie hinab, in denen sich der blaue Himmel oder die Grünflächen des Parks spiegelten. Das Schloss war überaus groß und besaß darüber hinaus zahlreiche Anbauten und Nebengebäude. Von dem Vorplatz aus konnte sie das Gebäude in seinen ganzen Ausmaßen kaum überblicken.
Sarah beschloss, sich zunächst ein wenig draußen umzusehen. Sie spazierte vorbei an Gewächshäuser, in denen herrliche exotische Pflanzen wuchsen, darunter auch viele Obstbäume, an denen Zitronen, Apfelsinen und andere Früchte hingen, entdeckte Stallungen, Scheunen und andere Wirtschaftsgebäude, bis sie schließlich das ganze Schloss umrundet hatte.
Auch hier fehlte von den Bewohnern des Schlosses jede Spur. Das war wirklich äußerst seltsam.
Schließlich ging Sarah weiter in den Park hinein.
Bald erreichte sie einen Hügel, auf dem ein großer, von Säulen getragener Pavillon stand. Von hier aus hatte sie einen schönen Ausblick über den Park. Sie staunte, wie vielfältig, abwechslungsreich und vor allen Dingen riesig groß die Anlagen waren.
Hinter dem Pavillon fand sie einen wunderschönen Rosengarten. Sarah liebte Rosen. Der ganze Garten war von einem schier betäubenden Duft erfüllt. Sie beugte sich vor, um an einer besonders prächtigen gelben Blüte zu riechen.
Sarah dachte, ihr Herz würde stehen bleiben, als ihr mit einem Mal und ohne jede Vorwarnung, etwas Warmes und ziemlich Feuchtes in die nackte Kniekehle stupste.
Sie schaute sich zaghaft um und konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken: Hinter ihr stand ein ausgewachsener Löwe mit prächtiger Mähne und schaute sie aufmerksam (und hungrig?) an.
3
Sarah war wie erstarrt vor Schreck und konnte sich zunächst überhaupt nicht rühren. Wohin sollte sie auch laufen, wo sie das mächtige Raubtier nicht sofort einholen würde? Während sie sich ganz sicher war, dass jetzt ihr letztes Stündchen geschlagen hatte, begann der Löwe genüsslich ihre nackten Zehen abzulecken. Als er damit fertig war, strich er ihr schnurrend und brummend mit seinem riesigen Kopf um die Beine.
Schließlich plumpste er vor ihre Füßen, genauer gesagt er legte sich direkt auf ihre Füße, drehte sich zur Seite, streckte sich gemütlich -und schlief ein.
Sarah glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Sie hätte später nicht zu sagen vermocht, wie lange sie so dastand, ohne auch nur die kleinste Bewegung zu wagen, aber schließlich wurden ihre Knie ganz weich und die Beine drohten ihr einfach jeden Moment wegzusacken.
Sie hielt den Atem an und zog ganz zaghaft und vorsichtig zunächst den rechten und dann, als sie erleichtert feststellte, dass sie immer noch nicht verspeist worden war, auch den linken Fuß unter dem riesigen Löwen hervor.
Dem schien das aber gar nicht zu gefallen, er drehte sich träge ein Stückchen weiter zu ihr herum, gähnte herzhaft, so dass man sein kräftiges Gebiss bewundern konnte und kuschelte sich noch fester an ihre Beine.
Schließlich konnte Sarah einfach nicht mehr stehen und musste sich hinkauern. Ihr war jetzt ohnehin alles egal.
Sogleich drehte ihr das Raubtier seinen Kopf zu und leckte ihr die Hände ab.
Zunächst ganz zaghaft, strich Sarah dem Untier mit der Hand leicht über die Mähne, fast ohne diese zu berühren. Dann, schon etwas mutiger geworden, streichelte sie den Löwen über das weiche Fell. Der schien das überaus zu genießen und drehte sich schließlich ganz auf den Rücken und bot ihr seinen großen Bauch zum Kraulen dar, ganz so wie Sarah es von den, allerdings bedeutend kleineren, Katzen daheim kannte.
Ihr Besuch im Rosengarten schien sich in den hiesigen Tierkreisen irgendwie schnell herumzusprechen, denn ehe Sarah es sich versah, kamen von allen Seiten weitere Raubkatzen auf sie zu. Zwei kohlrabenschwarze Panther, ein Tiger und ein Leopard gesellten sich zu ihnen und schließlich hockte Sarah, ganz klein, inmitten einer regelrechten Menagerie von Raubtieren, die einem größeren Zirkus daheim zur Ehre gereicht hätte.
Und alle Viecher, das war ganz und gar unmissverständlich, wollten gleichermaßen gestreichelt und gekrault werden!
4
Schließlich, es waren sicherlich mindestens zwei Stunden vergangen, schienen die Raubtiere allmählich zufrieden zu sein. Zunächst erhoben sich die beiden schwarzen Panther und verschwanden zwischen den Rosenbüschen, dann trollten sich der Tiger und kurz darauf der Leopard. Als sich endlich auch der Löwe streckte und, nachdem er Sarah noch zum Abschied freundschaftlich mit der feuchten Schnauze angestupst hatte, ebenfalls davontrottete, setzte diese sich erst einmal hin und atmete ein paarmal ganz tief durch.
Puh! Das war ja noch einmal gutgegangen.
Sie hatte sich schon als leckere Raubtiermahlzeit enden sehen.
Das war schon eine besonders merkwürdige Gegend in diesem an Merkwürdigkeiten nicht gerade armen Land: Entführer, die sich mit einem Mal in Luft auflösten, ein menschenleeres Schloss, zahme Raubtiere, unsichtbare Dienstboten. Das alles musste erst einmal verdaut werden…
Sie machte sich auf den Weg zurück ins Schloss. Sie fragte sich, wohin die ganzen Raubtiere verschwunden sein mochten.
Hoffentlich werden die hier gut und vor allem ausreichend gefüttert, überlegte sie sich und schaute sich sicherheitshalber immer mal wieder um. Nicht, dass sich die Viecher plötzlich an ihre wahre Natur erinnerten und sie vielleicht doch noch verspeisen wollten.
Glücklicherweise war das Gefährlichste, was sie auf ihrem Rückweg antraf, ein schreckhaftes Eichhörnchen, das sogleich wieder im hohen Gras verschwand, als Sarah um die Ecke bog.
Schließlich erreichte sie wieder den Eingang in das Schloss und war neugierig, ob sie dessen Bewohner jetzt vielleicht antreffen würde. Es konnte ja sein, dass diese außerhalb zu tun hatten und erst gegen Nachmittag oder Abend zurückkehrten.
Der Spiegelsaal, der sonst sicherlich für irgendwelche Feiern, vielleicht für glanzvolle Bälle und Bankette benutzt wurde, war weiterhin menschenleer, nur Sarahs Schritte auf dem hellen kostbaren Marmorboden hallten durch den Raum.
Sie betrachtete sich in der Spiegelwand und stellte fest, dass sie ein wenig zu lange in der Sonne gesessen hatte und sich einen leichten Sonnenbrand eingefangen hatte.
Außerdem fanden sich auf ihrem Kleid jede Menge Haare unterschiedlicher Länge und Farbe. Man sollte eben nicht jede vorbeistreunende Katze streicheln, erinnerte sie sich an die Worte ihrer Großmutter, die für alle solche Gelegenheiten einen guten Spruch auf Lager zu haben schien. Sie musste lachen, wurde dann aber rasch wieder nachdenklich. Sie konnte sich nämlich mittlerweile kaum noch an das Gesicht ihrer Großeltern erinnern, was sie ziemlich erschreckte.
Als sie dann noch feststellte, dass sie sich auch das Aussehen ihres Bruders und vor allem die Gesichter ihrer Eltern nur noch ganz verschwommen vorstellen konnte, wurde ihr ganz anders. War so etwas normal? Konnte man wirklich so schnell vergessen?
Wie um sich für solche Gedanken zu bestrafen, beschloss sie, dass sie jetzt ihr Hungergefühl und ihre Müdigkeit ignorieren würde. Stattdessen wollte sie nach ihrer Familie suchen. Und wenn sie dazu dieses ganze komische Schloss auf den Kopf stellen müsste!
In den folgenden Stunden legte Sarah auf ihrem Streifzug durch das riesige Gebäude sicherlich mehrere Kilometer zurück. Schließlich wusste sie nicht mehr, wie viele Treppen sie eigentlich hoch und wieder herunter gelaufen war, wie viele Türme sie erstiegen und wie viele Zimmer sie durcheilt hatte.
Schließlich fand sie sich in einem ziemlich hohen Raum wieder, in dem auf einem Podest ein riesiger thronähnlicher Sessel stand und musste sie sich selbst eingestehen, dass sie sich offenbar hoffnungslos verlaufen hatte!
Sie stieg auf den Thron, schließlich war hier niemand da, der ihr das verbieten könnte, und ruhte sich erst einmal aus. Sie war ganz überwältigt von der ganzen Pracht und Herrlichkeit des Schlosses. So etwas hatte sie in ihrem Leben noch nie gesehen. Eigentlich war es ja fast schon zu viel des Guten: Dieses ganze Gold, Silber, Marmor überall. Nicht nur einmal hatte sie spaßeshalber gegen die Wände geklopft und mit dem Fingernagel an einer der Verzierungen gekratzt. Aber es war alles echt gewesen…
Was sie nicht gefunden hatte, waren irgendwelche Hinweise darauf, dass hier irgendwo ihre Eltern und Robert stecken konnten. Um allerdings alle Räume des Schlosses durchsuchen zu können würde sie noch Tage benötigen. Ganz zu schweigen von den zahlreichen Nebengebäuden.
Ob es hier wohl irgendwelche Kerker gab? Eigentlich passte so etwas Finsteres gar nicht zu der heiteren und unbeschwerten Atmosphäre des Gebäudes… Ganz erstaunt stellte Sarah fest, dass sie sich hier sogar langsam wohlzufühlen begann, was eigentlich eine Schande war, wenn man bedachte, wie sie hierher gelangt war! Sie versuchte, ein angemessenes Gefühl der Empörung zustande zu bringen, was ihr kaum gelingen wollte. Darüber ärgerte sie sich wiederum so sehr, dass wenigstens ein gewisser Zorn dabei herauskam.
Sie stieg von ihrem Thron herab und machte sich erneut auf den Weg. In einem der nächsten Räume fand sie eine beeindruckende Sammlung an Ritterrüstungen und mittelalterlichen Waffen: Hellebarden, Streitäxte, Morgensterne, ja sogar einige primitiv aussehende Flinten, die so lang waren, dass sie nicht einmal im Traum daran denken konnte, sie auch nur von ihrer Wandhalterung herab zunehmen.
Schließlich nahm sie einer Ritterrüstung, die offenbar einem ziemlich kleinen dicken Mann gehört haben musste, das kurze Schwert aus dem eisernen Handschuh.
Ärgerlich registrierte Sarah, wie sich ihr lästiger Magen ziemlich lautstark zu Wort meldete.
„Na gut“, seufzte sie, „ Dann wollen wir mal sehen, ob wir dich irgendwie zur Ruhe bringen können.“
Sie schulterte ihre Waffe und machte sich auf die Suche nach einer Speisekammer.
Sie verlief sich noch einige Male, bis sie sich endlich in der großen Halle wieder fand. Direkt vor dem gemütlichen Kaminfeuer stand dort zu ihrem Erstaunen bereits ein reich gedeckter Tisch, allerdings wiederum nur für eine einzige Person… Diesmal fackelte Sarah nicht lange, sondern langte sogleich zu.
Dann streckte sie sich bequem aus und zog sich erst einmal die Schuhe von den schmerzenden Füßen. Unwillig betrachtete sie die großen Blasen, die sich an beiden Hacken und an den Zehen gebildet hatten. So ein Mist. Morgen würde sie sicherlich kaum laufen können…
Als sie sich schließlich dabei ertappte, in dem gemütlichen Sessel immer wieder einzunicken, raffte sie sich auf und humpelte barfuß die große Treppe hinauf, zurück in ihr Turmzimmer.
Mit einem erschöpften Seufzer ließ sie sich auf das weiche Bett fallen.
Auf dem Nachttischchen entdeckte sie zwei Dinge, die dort mit Sicherheit am Morgen noch nicht gestanden hatten: Neben einem silbernen Pokal, der eine schimmernde Flüssigkeit enthielt, die ziemlich verführerisch duftete -ein Gutenachttrunk vielleicht?- fand sie einen silbernen Tiegel, auf dem etwas mit schnörkeliger Schrift eingraviert war:
. Auch wenn sie den kleinen Seitenhieb trotz ihrer Müdigkeit gleich erfasste, schmierte sie sich trotzdem dankbar ihre Füße mit der angenehm kühlen Creme ein. Fast sofort ließ der Schmerz nach. Dann, nachdem sie, ohne groß nachzudenken, noch rasch den Pokal geleert hatte, war sie auch schon tief und fest eingeschlafen…
5
Als Sarah am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich ausgesprochen erfrischt und erholt. Ihr war es so, als hätte sie seit ewiger Zeit nicht mehr so gut geschlafen. Voller Tatendrang sprang sie aus dem Himmelbett und merkte, dass ihr die Füße gar nicht mehr wehtaten. Das war wirklich erstaunlich.
Sie setzte sich wieder hin und stellte fest, dass die Blasen und die anderen wunden Stellen tatsächlich verschwunden waren! Das musste ja eine unglaublich gute Salbe gewesen sein, wunderte sie sich. Allerdings war es ihr schleierhaft, wie eine Wunde wirklich so schnell verheilen konnte. Aber es war nun einmal so, und sie verspürte im Grunde genommen auch keine rechte Lust, sich den Kopf darüber zu zerbrechen.
Unten in der großen Halle war alles wie am Vortag: Im Kamin prasselte ein fröhliches Feuer, und der große Tisch im Speisesaal bog sich förmlich durch unter den leckersten Dingen, die sie sich nur vorstellen konnte. Es war fast so, als würde der unsichtbare Küchenchef ihre geheimsten Wünsche kennen.
Erschöpft ließ sie sich nach dem Frühstück in einen der bequemen Sessel fallen und überlegte ernsthaft, wieder ins Bett zu gehen.
Es kostete sie wirklich einiges an Willenskraft, sich zu einer neuerlichen Suche nach ihrer Familie aufzuraffen. Sie wunderte und schämte sich ein wenig, dass ihr diese Aufgabe insgeheim sogar ein wenig lästig war.
Am Ende des Tages hatte sie wieder neue Teile des fast unermesslich weitläufigen Gebäudes kennen gelernt. Dabei hatte sie immer wieder versucht, einen der unsichtbaren Dienstboten zu ertappen. So hatte sie in einem der Räume beispielsweise eine mit Blumen gefüllte Vase ausgekippt. Als sie wenig später zurückgekommen war, stand diese nicht nur wieder aufrecht auf der Fensterbank, sondern war auch wieder mit frischem Wasser gefüllt und mit neuen Blumen bestückt. Als sie den Versuch wiederholte und sich anschließend hinter einem der schweren Vorhänge auf die Lauer legte, tat sich allerdings überhaupt nichts. Schließlich war ihr die Warterei zu blöde geworden. Kaum war sie für vielleicht eine Minute aus dem Raum gegangen, stand bei ihrer Rückkehr wieder eine perfekt bestückte Vase da!
Das Ganze grenzte ja schon an Hexerei!
In den nächsten Tagen experimentierte Sarah weiter herum. Mal streute sie Mehl aus, um irgendwelche Fußspuren zu markieren. Dann wieder zerriss sie mutwillig eines ihrer Kleider. Es war einfach nicht zum Aushalten: Sie fand am nächsten Morgen nicht nur keine Fußspuren mehr vor, nein auch das Mehl war sorgfältig weggekehrt worden. Auch ihre Kleider waren am wieder völlig intakt, als wäre nie etwas kaputt gewesen.
Allmählich wurde sie es leid, den unsichtbaren Geistern des Hauses hinterher zu spionieren…
Diese machten ihre Sache wirklich perfekt, wie sie zugeben musste. Vielleicht sollte sie das einfach akzeptieren und einfach froh sein, dass sie so gut umsorgt wurde.
Ja, sie ertappte sich sogar dabei, sich ein wenig undankbar zu fühlen.
Überhaupt veränderte sich so manches in den folgenden Tagen, die rasch zu Wochen wurden. Sarah merkte gar nicht, wie kürzer und oberflächlicher ihre Streifzüge auf der Suche nach ihren Eltern und ihrem Bruder mit der Zeit wurden. Stattdessen ergötzte sie sich lieber an den vielen faszinierenden Dingen, die sie hier überall entdecken konnte. Mal war es eine Sammlung prächtig verzierter Kutschen, die sie in einem der Gebäude fand, mal war sie fasziniert von einem gläsernen Gewächshaus, in dem nicht nur die herrlichsten exotischen Pflanzen wuchsen, sondern auch noch ein richtiger Teich mit einem Wasserfall zu bewundern war.
Schließlich vergingen ganze Tage, ohne dass Sarah auch nur einmal an ihr früheres Leben gedacht hätte.
Überhaupt fühlte sie sich mit der Zeit hier im Schloss so richtig geborgen und sicher und dachte noch nicht einmal mehr im Traume daran, freiwillig von hier zu verschwinden. Nicht dass sie irgendwelche Albträume hatte. Nein, sie konnte sich an keinem Morgen überhaupt an einen Traum erinnern. Zu Anfang hatte sie das noch ein wenig irritiert, da sie früher eigentlich immer ein lebhafter Träumer war, und das nicht nur, wie eingangs erwähnt, am Tage…
Schließlich war es ihr so, als sei alles immer schon so gewesen, und sie vergaß, darüber nachzudenken. Es gab ja auch so viel Ablenkung.
Mittlerweile hatte sie jegliche Scheu vor den Raubtieren verloren, die draußen im Park lebten. Sie hatte es aufgegeben, nachzuforschen, wer die ganzen Viecher eigentlich fütterte. Sie hatte lediglich festgestellt, dass keines der wilden Tiere auch nur einen Schritt in das Gebäude setzte, auch wenn sie noch so große Leckerbissen auslegte.
„Gut erzogen…“, stellte Sarah fest und machte sich fortan auch darüber keine Gedanken mehr.
So ging es immer weiter, Tag für Tag, Woche für Woche.
Immer herrschte ein strahlend blauer Himmel, immer schien die Sonne. Nie war es zu kalt oder zu heiß.
Alles war einfach perfekt.
6
Wenn Sarah abends in ihr Zimmer zurückkehrte, stand dort auf dem Nachttisch neben ihrem Bett weiterhin der silberne Becher, der tagsüber von einem der unsichtbaren Geister offensichtlich immer wieder aufgefüllt wurde.
Der Becher war äußerst kunstvoll gearbeitet, wie Sarah bewundernd feststellte. Er war für seine Größe erstaunlich schwer und über und über mit feinsten reliefartig hervorgehobenen Mustern und Bildern bedeckt. So erkannte Sarah die merkwürdigsten Fabelwesen: Einhörner, seltsame ziegenartige Wesen mit Menschenköpfen, Schlangen die mehrere Köpfe trugen und schließlich auch einige, ihr gänzlich unbekannte Geschöpfe, die ebenfalls dem Fabelreich zu entstammen schienen.
Dabei gab es seltsamerweise jeden Abend auf dem Becher wieder neue Gestalten zu entdecken, obwohl sich Sarah sicher war, dass es sich immer um das gleiche Gefäß handelte, das am Rand eine charakteristische Kerbe aufwies.
Nach ein paar Tagen hatte sich Sarah allerdings an dem Becher satt gesehen.
Zum einen gab es hier jeden Tag wahrlich genug an Neuem und Fremdem zu entdecken, was dem Becher im einzelnen sicherlich nicht im Geringsten nachstand (eigentlich schien der Becher mit seinen sich immer wieder verändernden Bildern noch eines der normalsten Dinge in diesem Schloss zu sein), zum anderen war es ja vor allem der Inhalt des Bechers, der ihn so faszinierend und auch so unentbehrlich machte: Er war nämlich jeden Abend mit den köstlichsten aller Getränke gefüllt, die Sarah je in ihrem Leben gekostet hatte.
Vom ersten Abend wusste sie nur noch, dass ihr das Getränk ausnehmend gut geschmeckt hatte. Sie war so müde gewesen, dass sie nicht weiter darauf geachtet hatte. Am zweiten Abend dann duftete der Trunk unwiderstehlich nach Vanille. Nachdem sie den ersten Schluck genommen hatte, schien es Sarah, als würde sich eine noch nie gefühlte Wärme in ihrem ganzen Körper ausbreiten. Anschließend leerte sie den Becher, ohne ihn einmal abzusetzen, in einem Zug und verspürte plötzlich eine unglaubliche Leichtigkeit und Heiterkeit, die sich fast unmerklich in eine wohlige Müdigkeit verwandelte. Sie zog sich erst gar nicht mehr zur Nacht um, sondern legte sich so wie sie war auf die weiche Matratze, um sofort einzuschlafen.
Am nächsten Abend freute sich Sarah, als sie den Becher wieder frisch gefüllt auf dem Nachttisch vorfand, nur dass ihr diesmal schon von weitem ein verführerischer Duft nach reifen Erdbeeren in die Nase stieg. Es versteht sich von selbst, dass der Trunk noch viele Tausend Mal besser schmeckte als sie es sich vorgestellt hatte.
Überhaupt schienen ihr die Getränke von Abend zu Abend immer köstlicher zu schmecken. Jedes Mal sagte sich Sarah aufs Neue, dass es von jetzt an eigentlich keine weitere Steigerung mehr geben könnte. Nur um gleich daraufhin wieder eines besseren belehrt zu werden…
Wie sehr sie ihren Schlummertrunk liebte, merkte Sarah eines Abends, als sie durch eine ungeschickte Bewegung an den Becher stieß. Dieser kippte sogleich um, und sein kostbarer Inhalt ergoss sich auf die Tischplatte, wo er sogleich von der seidenen Tischdecke aufgesogen wurde.
Sie vermochte den Becher sofort wieder aufzurichten, so dass nicht der ganze Inhalt unrettbar verloren war. Es war an diesem Abend ein besonders faszinierendes Getränk, das eigentlich genau so wie eine leuchtende, zu Flüssigkeit gewordene Flamme aussah. Wie um sie zu bestrafen, dass sie so ungeschickt gewesen war, schmeckte das Getränk diesmal auf eine einfach unbeschreibliche Art unwiderstehlich gut. Sarah ertappte sich dabei, wie sie sich schließlich sogar über den Tisch zu beugen, um mit der Zunge die spärlichen Reste der allmählich verdunstenden Flüssigkeit aufzulecken, die sie zuvor verschüttet hatte. Sie hörte nicht eher auf, als bis sie auf ihrer Zunge nichts mehr von dem herrlichen Geschmack verspüren konnte.
Danach schämte sie sich ein wenig, da dies ja nicht gerade die Tischmanieren waren, die ihr daheim beigebracht worden waren. Gerade als sich bei diesem unverhofften Gedanken an ihre verlorene Familie (der erste seit langer Zeit) ein merkwürdiger und schmerzlicher Stich in ihrem Inneren verspüren ließ, breitete sich sogleich wieder diese glücklich und alle Sorgen vergessen machende Wärme in ihr aus.
Schon kurz darauf wusste sie gar nicht mehr, dass sie eben noch an ihr früheres Leben gedacht hatte. Bevor sie dann endgültig einschlummerte, blickte Sarah noch ein letztes Mal in die Richtung des Nachttisches. Schon halb im Schlaf, war es ihr, als wirkte der kostbare Seidenstoff des Deckchens, der mit der Flüssigkeit aus dem umgestürzten Becher in Berührung gekommen war, wie verbrannt. Stellenweise schien er sogar gänzlich weg gefressen zu sein, so dass das nackte Holz des Untergrundes zum Vorschein kam. Sarah meinte sogar noch, einen etwas unangenehmen, in der Nase beißenden Geruch zu verspüren. Dann war sie eingeschlafen.
Erst als Sarahs Blick am nächsten Morgen auf den Tisch fiel, erinnerte sie sich wieder an das seltsame Erlebnis vom Vorabend.
„Ich muss wohl schon geträumt haben“, sagte sie leise zu sich selbst, als sie feststellte, dass Seidendecke und Tischplatte völlig unversehrt und makellos waren.
Überhaupt schien es ihr, als habe sie zum ersten Mal seit ihrer Ankunft im Schloss nicht so gut geschlafen. Sie erinnerte sich schwach an einen unangenehmen Traum, was erstaunlich genug war, da sie ja zuvor immer gänzlich traumlose Nächte verbracht hatte. Irgendwie hatte sich der Traum um den seltsamen Silberbecher gedreht, den sie (ungeschickte Kuh!) gestern Abend törichterweise umgestoßen hatte.
Irgendjemand wollte sie warnen. Nur vor was? Sie wusste es nicht mehr.
„Sicherlich war das mein Unterbewusstsein“, sagte sie sich. „Das wollte mich wohl auch noch in der Nacht für meine Ungeschicklichkeit bestrafen.“
Der ganze Tag schien Sarah dann auch nicht ganz so perfekt zu verlaufen, wie sie es eigentlich gewohnt war. Die ganze Pracht des Schlosses, die vielen goldenen Spiegel, die kristallenen Kronleuchter, ja sogar die frisch gepflückten Blumen in ihren kostbaren chinesischen Vasen, schienen ihr mit einem Mal glanz- und farbloser auszusehen. Es war, als hätte sich ein feiner matter Schimmer über alle Dinge gelegt, ungefähr so, wie bei einem Glas, das vom vielen Spülen bereits etwas trübe geworden war.
Um sich ein wenig abzulenken ging Sarah schließlich in den Park. Der Himmel war wie immer blau und wolkenlos, gleichwohl fehlte es aber auch ihm ein wenig an Farbigkeit, um ihn so perfekt wie sonst zuvor zu machen. Die zahmen Raubtiere schienen Sarahs veränderte Stimmung spüren zu können, da sie nicht ganz so lustig wie sonst um sie herumtollten und ihr sogar ein wenig aus dem Wege gehen zu schienen. Ja, einer der Panther knurrte sogar unwirsch, als er ihr auf einem der schmalen Wege begegnete.
Um den misslungenen Tag „perfekt“ zu machen, den sie im weiteren Verlauf eher lustlos in der Bibliothek des Schlosses verbrachte, hatte sich offenbar auch noch der Koch gegen sie verschworen, denn auch das Abendessen schmeckte heute eindeutig fade und langweilig, was bislang noch nie der Fall gewesen war.
„Das liegt sicherlich alles daran, dass ich die letzte Nacht so schlecht geschlafen habe“, sagte sich Sarah, als sie, bedeutend früher als gewohnt, wieder in ihr kleines Turmzimmer hinaufstieg.
Wie um sie zu trösten, stand hier schon ihr Schlummertrunk bereit. Diesmal, das war eine Sensation, ja geradezu eine Revolution auf dem Getränkemarkt, schien das Getränk aus zwei verschiedenen Flüssigkeiten zu bestehen, einer roten und einer blauen, die sich gegenseitig um- und durchflossen, ohne sich dabei richtig zu vermischen. Die beiden Flüssigkeiten schmeckten darüber hinaus auch noch unterschiedlich: Die rote eindeutig nach Himbeeren und die blaue nach Pfefferminz! Erst einmal im Mund angelangt, ergaben sich dabei immer wieder völlig ungeahnte Geschmackskombinationen.
Nach einer herrlichen, wiederum traumlosen Nacht, erwachte Sarah munter und erfrischt am nächsten Morgen und fand zu ihrer Beruhigung alles wieder so vor, als hätte es den vorigen Tag gar nicht gegeben.
Sarah verlebte einen neuen spannenden Tag im Schloss und vergaß darüber rasch das zuvor erlebte. Diesmal entdeckte sie eine ihr bislang verborgen gebliebene Tür unterhalb einer Treppe des Nordturmes.
Das altertümliche Schloss, in dem der Schlüssel bereits steckte, ließ sich mühelos öffnen, und Sarah fand sich am oberen Absatz einer engen Wendeltreppe wieder, die von zahlreichen Fackeln in ein geheimnisvolles Licht getaucht wurde. Unten angekommen, entdeckte Sarah am Ende eines kurzen Ganges eine kleine Kammer, in der mehrere große, mit Metall beschlagene Eichentruhen standen. Sie öffnete die Truhen nacheinander und entdeckte zu ihrer Begeisterung, dass diese allesamt bis zum Rand mit dem kostbarsten Gold- und Diamantschmuck gefüllt waren.
Sie verbrachte viele Stunden in der Schatzkammer und nahm schließlich einige der schönsten Schmuckstücken mit in ihr Zimmer, wo sie dann den Rest des Tages vor dem Spiegel stand. Das schönste Stück bestand aus einer kunstvoll aus feinsten goldenen Gliedern zusammengesetzten Halskette, die sich fast so weich und so geschmeidig wie aus Samt gefertigt anfühlte. Die Kette war mit einem wunderschönen, ebenfalls aus purem Gold gefertigten Anhänger versehen, der ein Einhorn darstellte. Dieses besaß ein kunstvoll eingefügtes Horn aus Elfenbein und wirkte mit seinen glänzenden diamantenen Augen, die im Licht der Lampen funkelten, richtig lebendig.
Den Anhänger um den Hals gelegt, schlief Sarah an diesem Abend glücklich und zufrieden ein.
7
An einem anderen Tag, sie hatte ihr Gefühl für die Zeit schon längst verloren, unternahm Sarah einen weiteren Streifzug durch den weitläufigen Park. Sie hatte sich ein paar Sachen für ein Picknick eingepackt und war gerade auf der Suche nach einem geeigneten Plätzchen, als der Weg plötzlich vor einer Ansammlung von dicht stehenden Bäumen und Büschen endete. Sarah war neugierig geworden. Was sich wohl hinter den Bäumen verbarg?
Kurzerhand ließ sie sich auf ihre Hände und Knie nieder und krabbelte auf allen vieren durch das Unterholz. Mochte ihr Kleid dabei auch an den dornigen Ästen zerreißen: Ihre unsichtbaren Diener würden es wieder reparieren…
Schließlich fand sie sich auf einer Lichtung wieder, die fast vollständig von einem wunderschönen kleinen See eingenommen wurde.
Die hohen Bäume, die im Kreis um den See herumstanden, spiegelten sich in dem klaren Wasser wieder und verliehen seiner Oberfläche einen geheimnisvollen smaragdgrünen Schimmer.
Sarah blieb staunend stehen und verspürte mit einem Mal eine unbändige Lust darauf, ein Bad zu nehmen.
Allerdings hatte sie nichts an, was als Badezeug wirklich geeignet gewesen wäre. Außerdem wollte sie nicht in nassen Klamotten den doch ziemlich weiten Weg zurück ins Schloss antreten.
Na, ihr hilfreichen Geister, dachte sie im Scherz, wo bleibt die Badeausrüstung? Sie machte spaßeshalber die Augen zu und zählte langsam bis zehn. Als sie die Augen wieder öffnete, war sie fast ein wenig enttäuscht, als sie keinen Badeanzug oder wenigstens einen Bikini vorfand.
„Ich bin mittlerweile wohl ein wenig verwöhnt“, schalt sie sich selbst.
Dann zuckte sie mit den Schultern, streifte sie ihre Kleidung ab und sprang kurzerhand nackt in den See, etwas, was sie daheim sicherlich nie getan hätte. Aber hier war sie schließlich bisher nirgendwo auf einen anderen Menschen gestoßen.
Es war herrlich erfrischend!
Sie tollte eine ganze Weile im Wasser herum. Das Ufer fiel rasch ab, und bald war der Teich so tief, dass sie nicht mehr stehen konnte und schwimmen musste.
Das Wasser war aber weiterhin so klar, dass man mühelos bis auf den Grund sehen konnte.
Sarah stutzte plötzlich.
Irgendetwas am Boden des Sees hatte ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Neugierig ging sie mit dem Kopf unter die Wasseroberfläche. Da sie immer noch nichts Genaues erkennen konnte, tauchte sie kurzerhand ganz unter Wasser.
Sarah war eine gute Schwimmerin und erreichte mit wenigen kräftigen Schwimmstößen den Grund des Sees. Dieser war allerdings tiefer, als sie gedacht hatte. Wahrscheinlich hatte sie das klare Wasser über dessen wahre Tiefe getäuscht.
Sie schwamm jetzt über eine ganze Ansammlung von Steinen, die viel zu ebenmäßig aussahen, als dass es sich nur um natürliche Felsen handeln konnte. Sie tauchte noch ein wenig tiefer, bis der Druck auf ihren Ohren unangenehm wurde und strich mit den Händen über einen der Steine. Ohne dass sie Näheres erkennen konnte, hatte sie den Eindruck, als wären irgendwelche Schriftzeichen und Zahlen darauf eingraviert.
Dann musste Sarah erst einmal wieder auftauchen, um Luft zu holen. Sie atmete mehrmals tief durch und tauchte wieder unter. Jetzt konnte sie sehen, dass am Grund des Teiches noch weitere Steine und Platten standen, ja, auch die eine oder andere Steinfigur konnte sie jetzt ausmachen. Bei der ihr am nächsten gelegenen schien es sich um ein Fabelwesen zu handeln, das ein weit aufgerissenes und mit spitzen Zähnen besetztes Maul trug. Die Statue schien Teil eines kleinen Gebäudes zu sein.
Als Sarah wieder auftauchen wollte, blieb sie ungeschickt mit dem linken Fuß an der Figur hängen. Einen kurzen Augenblick dachte sie, dass sie ihren Fuß nicht mehr losbekommen würde und elend ertrinken müsste, aber da war sie schon wieder freigekommen.
Wieder an der Wasseroberfläche angelangt, rang Sarah erst einmal erleichtert nach Luft und schalt sich wegen ihres Leichtsinns.
Jetzt wurde es ihr doch allmählich etwas kalt im Wasser. Die Sonne stand jetzt schon merklich tiefer, so dass große Teile der Wasserfläche allmählich im Schatten lagen, und sie beschloss, erst einmal zum Ufer zurückzukehren. Sie konnte ja später wiederkommen. Das alles hier war auf eine geheimnisvolle, ja fast schon ein wenig unheimliche Art anders als der Rest des Schlosses mit seinen makellosen Anlagen.
Am Ufer legte sie sich erst einmal in das weiche Gras und ließ sich von der Sonne trocknen.
Es dauerte nicht lange, und sie war eingeschlafen.
Sie erwachte, als die Sonne bereits hinter der Baumreihe verschwunden war. Rasch zog sie sich wieder an. Sicherlich wartete im Schloss bereits das Abendessen auf sie.
Als sich Sarah den rechten Strumpf überstreifen wollte, zuckte sie überrascht zurück. Sie sah, dass sie am Knöchel blutete. Sie hatte sich wohl vorhin unter Wasser an der Steinfigur verletzt. Die Wunde sah ganz seltsam aus: Ganz gleichmäßig und oval geformt.
Als hätte sie jemand gebissen.
Sie schüttelte energisch mit dem Kopf. Das war doch völlig absurd! Sie war einfach ungeschickt und unvorsichtig gewesen, basta.
Es tat ihr auch gar nicht mehr so furchtbar weh, und als sie später zu Bett ging, bemerkte sie zu ihrem Erstaunen, dass man bereits kaum noch etwas von der Wunde sehen konnte.
Am nächsten Tag hatte sie den Zwischenfall schon wieder vergessen.
Seltsamerweise konnte sie den See nicht mehr finden, als sie ihn einige Tage später wieder aufsuchen wollte. Es war nämlich ein wolkenloser und sehr warmer Sonnentag, und sie wäre gerne schwimmen gegangen.
Sarah war sich eigentlich ziemlich sicher, sich den Weg gut gemerkt zu haben und kam auch zunächst an verschiedenen Stellen vorbei, die ihr sehr bekannt vorkamen.
Schließlich kam sie jedoch an einen Punkt, wo der Weg eigentlich hätte nach links abbiegen müssen. Stattdessen ging er in der genau entgegengesetzten Richtung weiter.
Das war seltsam.
Sie beschloss, den Wegverlauf einfach zu ignorieren und folgte weiter der Richtung, die sie für die richtige hielt. Schließlich traf sie irgendwann auf einen flachen Hügel.
Aber auch von ihrem erhöhten Aussichtspunkt aus, konnte sie den kleinen See und die ihn umgebenden Bäume nicht entdecken.
Vielleicht hatte sie sich ja doch in der Richtung geirrt…
Sie wollte gerade wieder zurück zum Schloss gehen, als etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.
Sie kniff angestrengt die Augen zusammen.
Ein ganzes Stück von ihrem Hügel entfernt, konnte sie in einem anderen Abschnitt des Parks eine Gruppe von Personen erkennen.
Nach dieser langen Zeit wieder andere Menschen!
8
Mit einem Mal wurde es Sarah fast schmerzlich bewusst, wie sehr sie sich nach der Gesellschaft anderer Menschen sehnte. Sie lief den Gestalten am Horizont entgegen.
Hoffentlich gingen diese in der Zwischenzeit nicht fort, dachte sie und begann laut zu rufen, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie war erstaunt, wie fremd ihr die eigene Stimme vorkam.
Hatte sie etwa so lange nicht mehr gesprochen?
Je näher sie allerdings ihrem Ziel kam, desto mehr hatte sie den Eindruck, dass hier irgendetwas nicht zu stimmen schien.
Dann begriff Sarah zu ihrer großen Enttäuschung, dass sie das Opfer einer Sinnestäuschung geworden war.
Vor ihr standen in einem Garten mehrere lebensgroße Statuen auf ihren steinernen Sockeln. Die Sockel hatte sie zuerst nicht sehen können, da diese größtenteils durch Büsche verdeckt waren.
Und die scheinbare Bewegung der steinernen Gestalten war ihr offensichtlich durch die Luftspiegelungen vorgegaukelt worden, die bei heißem Sommerwetter bekanntlich dafür sorgten, dass die bodennahen Konturen zu flirren und zu verschwimmen begannen.
Schließlich stand Sarah vor dem nicht sonderlich großen, aber ausgesprochen hübsch angelegten Garten. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Rokoko- oder Barockgarten, so genau kannte sie sich damit nicht aus.
Herrlich bunte Blumen, flache Hecken und Büsche, die zu kugeligen oder anderen Formen zurechtgeschnitten waren, standen in geschwungen angelegten Beeten, durch die kleine, mit Kies bedeckte Pfade zogen. Hier und da standen Steinbänke, die zu einer Rast einluden. Dazwischen fanden sich der eine oder andere kleine Teich und ein paar Springbrunnen.
Das Ganze war so hübsch anzusehen, dass Sarah ihre anfängliche Enttäuschung rasch wieder vergaß. Sie wandelte ein wenig durch den Park und setzte sich schließlich an einer besonders schönen und etwas schattigeren Stelle auf eine Bank. Vor ihr plätscherte ein Springbrunnen lustig vor sich hin. Über dem Wasser tanzten große bunte Schmetterlinge.
Sarah döste ein wenig ein und erwachte plötzlich mit dem unbestimmten Gefühl, irgendjemand würde sie beobachten.
Sie blickte sich irritiert um, aber konnte niemanden sehen.
Mit einem Mal erkannte Sarah, dass sie offenbar erneut das Opfer einer optischen Täuschung geworden war:
Hinter dem Springbrunnen stand nämlich eine der Statuen und wandte ihr das steinerne Gesicht direkt zu. Durch das herumsprühende Wasser des Springbrunnens, in dem sich die Sonnenstrahlen reflektierten, konnte man leicht den Eindruck haben, dass die leblosen Augen sich bewegten und blinzelten.
Neugierig betrachtete Sarah von der Bank die Steinfigur.
Diese stellte eine Frau jüngeren bis mittleren Alters dar, die ein schlichtes Gewand und die Haare zu einem losen Zopf zusammengefasst trug.
Sie sah ein wenig traurig aus, stellte Sarah fest.
Kurz darauf bemerkte sie noch eine zweite, bedeutend kleinere Statue, die dem steinernen Gesicht der jungen Frau zugewandt war. Es war das lebensgroße Abbild eines Kindes.
Sie fragte sich, ob die beiden zu ihren Lebzeiten vielleicht verwandt gewesen sein mochten. Womöglich würde sie ja in der Bibliothek des Schlosses, in der sie umfangreiche Folianten mit zahllosen Ahnengalerien entdeckt hatte, etwas über die beiden in Erfahrung bringen können.
Sarah spazierte noch ein wenig im Garten umher und betrachtete auch die anderen Figuren. Diese stellten weitere Frauen und Männer längst vergangener Epochen dar. Sie verlor aber schnell wieder das Interesse, da die Gesichter dieser Figuren viel langweiliger und nichtssagender gearbeitet waren.
In den folgenden Tagen hielt sich Sarah häufiger in dem kleinen Skulpturenpark auf. Sie nahm sich meistens ein paar Bücher mit und hatte die Bank vor dem Springbrunnen rasch zu ihrem Lieblingsplatz im Park auserkoren. Irgendwie, fühlte sie sich hier besonders geborgen
und beschützt.
Auch die nächsten Tage verliefen wieder unbeschwert und kurzweilig. Tagsüber tollte Sarah mit den zahmen Wildkatzen im Park herum, streifte durch das Schloss oder lag einfach nur den ganzen Tag faul in der Sonne.
Ihr fiel auch weiterhin nicht auf, dass sie jetzt schon seit einer Ewigkeit nicht mehr an ihr früheres Leben, an ihre Eltern oder an ihren kleinen Bruder gedacht hatte. Bis auf die zahmen Raubtiere traf Sarah auch weiterhin kein lebendiges Wesen an, und die dienstbaren Geister des Schlosses, die das Essen auftrugen und abräumten und ihr jeden Tag frische Kleidung bereitlegten, blieben nach wie vor unsichtbar. Sarah gab sich auch keine Mühe mehr, ihre unbekannten Zofen, Köche und Knechte zu entdecken. Mittlerweile kam ihr das luxuriöse Leben immer selbstverständlicher vor, und sie machte sich kaum noch irgendwelche Gedanken darüber. Sie fühlte sich immer mehr wie eine Prinzessin in einem Märchen. Seltsamerweise vermisste sie die Gesellschaft anderer Menschen immer weniger, je länger sie so alleine in dem Schloss lebte. Sie fühlte sich glücklich und zufrieden, es mangelte ihr an nichts.
Bis sich eines Tages alles zu verändern begann.
9
Sarah war in einem etwas entlegeneren Teil des Parks unterwegs, den sie auf ihren bisherigen Spaziergängen noch nicht erforscht hatte. Die zahmen Raubkatzen hatte sie auf ihrem Streifzug irgendwann verloren, sicherlich tollten diese jetzt auf einer der Wiesen herum.
Zunächst folgte Sarah einem grünen Laubengang und freute sich darüber, dass es hier ein wenig schattiger war. Sie musste sich am vorigen Tag, es war einer dieser ganz faulen, den sie schlafend und lesend auf einer Wiese liegend verbracht hatte, einen Sonnenbrand zugezogen haben. Immer wieder kam sie an eine Verzweigung und folgte dann mehr oder weniger wahllos einem der Wege. Da sie sich hier im Park eigentlich noch nie ernsthaft verlaufen hatte, machte sie sich keine größeren Gedanken über die Richtung, die sie einschlug. Vom Gefühl her entfernte sie sich aber immer weiter vom Zentrum des Parks.
Irgendwann schienen ihr die Hecken und die Bäume nicht mehr ganz so sorgfältig gepflegt zu sein, wie sie es vom Rest der Anlagen her eigentlich gewohnt war. Zwischendurch sah man jetzt in den Bäumen und Hecken manchmal einen toten Ast mit vertrockneten Blättern oder gar ein verkümmertes Unkraut, das mitten auf dem Pfad wuchs.
Hierher schienen die sonst so fleißigen unsichtbaren Gärtner wohl eher seltener zu kommen. Schließlich gelangte Sarah in einen Teil des Parks, den man durchaus als ein wenig verwildert bezeichnen konnte. Das fand sie auf eine unerklärliche Weise ziemlich spannend, merkte dann aber erstaunt irgendwann, dass ein Teil von ihr eigentlich am liebsten wieder umkehren würde. Es war noch nicht wirklich Furcht. Es war eher ein Gefühl des Unbehagens und der Unsicherheit, ungefähr so, wie wenn man eine bestens vertraute Umgebung verlässt und plötzlich feststellt, dass es dazu doch eigentlich überhaupt keinen Grund gibt.
Trotzdem überwog schließlich ihre Abenteuerlust, ein Gefühl, das sie in der letzten Zeit, die sie in wohliger Selbstzufriedenheit verbracht hatte, schon lange nicht mehr verspürt hatte.
Merkwürdig war nur, dass jetzt die Kette, die sie um den Hals trug, immer schwerer zu werden schien. Das gleiche stellte Sarah auch bei ihren Schuhen fest. Auch diese ließen sich immer widerwilliger vom Boden abheben, je weiter sie sich vom Schloss entfernte.
Als sie wenig später in eine Sackgasse geriet und ein Stück des Weges zurückkehren musste, schienen ihre Schuhe und die Kette, wie überhaupt ihre ganze Kleidung, wieder leichter zu werden. Gleichzeitig merkte sie mit einem Mal auch, wie hungrig sie eigentlich war. Eigentlich sollte sie jetzt rasch zum Schloss zurückkehren, wo sicherlich ein köstliches Mittagessen auf sie wartete. Ihr Magen knurrte laut.
Sie hatte schon eine Kehrtwende gemacht, als sie hinter sich ein leises Rascheln vernahm. Als sie sich umdrehte, konnte sie gerade noch ein kleines weißes Tier davonhuschen sehen.
Sarah zögerte nur kurz und folgte dann dem Weg, den das Tierchen eingeschlagen hatte. Sie konnte sich ihre plötzliche Neugierde kaum erklären, die sie sogar ihren Hunger völlig vergessen ließ. Vielleicht lag es ja daran, dass sie außer den zahmen Raubtieren und ein paar Vögeln, hier im Park bisher noch keinem weiteren Lebewesen begegnet war.
Nach einigen Minuten merkte sie, wie ihre Füße wieder schwerer wurden. Auch das Gewicht ihrer Halskette mit dem kleinen goldenen Einhorn schien wieder zugenommen zu haben.
„Jetzt reicht es mir aber mit euch blöden Latschen!“, sprach Sarah schließlich und blickte verärgert auf ihre Füße herab. Sie schlüpfte kurzerhand aus den Schuhen und beschloss, diese am Wegesrand stehen zu lassen. Sie konnte sie ja auf dem Rückweg wieder mitnehmen. Der Boden war angenehm warm unter ihren nackten Füßen, die sich jetzt eigentümlich leicht anfühlten.
Wenn sie nur nicht so schlecht Luft bekäme. Irgendwie schien es hier immer stickiger zu werden. Vielleicht war ja ein Gewitter im Anmarsch?
Schließlich endete der Laubengang auf einer kleinen Lichtung, die in ihrem hinteren Teil von einer hohen Mauer abgeschlossen wurde. Diese sah ziemlich alt und verwittert aus.
Die Mauer war sicherlich mindestens doppelt so hoch wie sie und mit dornigem Gestrüpp überzogen, an dem man sicherlich nicht hochklettern konnte, ohne sich dabei die Kleidung und die Arme und Beine aufzureißen. Außerhalb der Lichtung verschwand die Mauer wieder im undurchdringlichen und völlig verwilderten Unterholz.
Ob das wohl die Mauer war, die den Schlosspark von seiner Umgebung abgrenzte? Das wäre das erste Mal, dass sie an die Grenze des schier endlos erscheinenden Parks gestoßen wäre.
Nur zu gerne hätte sie einen Blick auf die andere Seite geworfen. Da sie aber wirklich keinerlei Möglichkeiten sah, an der Mauer hochzuklettern, gab Sarah diesen Gedanken rasch auf und schaute sich lieber etwas auf der Lichtung um. In deren Mitte wuchs ein üppiger grüner Busch, der voller bunter Beeren hing. Erst jetzt fiel Sarah auf, dass sie das kleine weiße Tierchen, wegen dem sie ja überhaupt hier war, nirgendwo mehr entdecken konnte. Sie war ein wenig enttäuscht und wendete ihre Aufmerksamkeit stattdessen dem Busch zu.
Sie hatte sich diesem kaum einen Schritt genähert, als sie sich mit einem erstickten Geräusch an den Hals griff. Jetzt wusste sie, warum sie so schwer atmen konnte: Die Halskette hatte sich so eng um ihren Hals zusammengezogen, dass sie ihr die Luft abzuschnüren drohte!
Sie hätte umkehren sollen, dann wäre ihr das nicht passiert…
Voller Panik tastete Sarah nach dem Verschluss der Kette. Schließlich schaffte sie es, ihn mit ihren zitternden Händen zu öffnen.
Erleichtert atmete sie auf.
Sie betrachtete die Kette vorwurfsvoll. Sie sah eigentlich nicht enger aus, als vorher. An ihrem Hals konnte sie jetzt allerdings eine umlaufende Vertiefung tasten, die schon bei der kleinsten Berührung scheußlich brannte. Bildete sie es sich nur ein, dass die diamantenen Augen des kleinen goldenen Einhornes sie mit einem Mal zornig anfunkelten? Wahrscheinlich waren nur irgendwelche Reflektionen des Sonnenlichts daran schuld.
Als sie die Kette schließlich in die Tasche ihres Kleides stecken wollte, schrie Sarah auf. Sie betrachtete ihren schmerzenden Zeigefinger, aus dem ein großer roter Blutstropfen hervorquoll. Und die Spitze des kleinen Elfenbeinhornes schimmerte verräterisch, so dass Sarah sogleich wusste, woran sie sich gestochen hatte.
Oder gestochen wurde, weil sie die Kette nicht hätte ablegen dürfen…
Unsinn! Das war doch lächerlich und völlig unmöglich. Komisch war nur, dass, ihr das kleine Schmuckstück zuvor überhaupt nicht spitz vorgekommen war, sonst hätte sie es schließlich erst gar nicht unter ihren schönen Kleidern zu tragen gewagt.
Sie umwickelte die Kette sicherheitshalber mit einem Stofftaschentuch, bevor sie sie wieder in die Tasche zurücksteckte.
Ihren schmerzenden Finger im Mund, schaute sie sich endlich neugierig den Busch an. Seine Äste hingen durch die Last der vielen Beeren bis tief auf den Boden herab. Sarah erkannte erstaunt, dass der Busch gleichzeitig ganz verschiedenartige Beeren trug!
So gab es Äste mit dicken roten Beeren und Äste mit weißen Beeren, die etwas kleiner waren. Dann wiederum sah sie Äste mit grünen Beeren, die sich kaum von der Farbe der Blätter abhoben. Schließlich entdeckte Sarah auch einige Äste mit gelben Beeren, die fast schon überreif wirkten, so prall und glänzend sahen sie aus. Über allem stand ein verführerischer süßlicher fruchtiger Geruch, der ihr regelrecht das Wasser im Munde zusammen laufen ließ.
Sarah wollte schon zugreifen und eine Handvoll der Beeren pflücken, als ihr plötzlich der Gedanke kam, dass die Früchte dieses komischen Busches durchaus auch giftig sein konnten. Daheim wäre sie ja auch nie auf die Idee gekommen, Vogelbeeren zu essen, auch wenn diese mindestens ebenso lecker und appetitlich aussahen.
Etwas unschlüssig setzte sich Sarah direkt vor den Busch in das niedrige weiche Gras der Lichtung. Am besten wäre es sicherlich, kehrt zu machen, um rechtzeitig zum Abendessen wieder zurück im Schloss zu sein, dachte sie sich gerade, als es auf einem Mal unter dem Busch vor ihr raschelte und ein kleines schneeweißes Kaninchen auftauchte. Es blickte kurz in ihre Richtung, hielt schnuppernd inne und fing dann an, die untersten Beeren, die es bequem erreichen konnte, abzunagen.
Sicherlich handelte es sich bei dem kleinen Kaninchen um das Tier, dem sie die ganze Zeit hintergejagt war.
Nun, wenn ein Kaninchen die Beeren verträgt, dann werden sie für mich sicherlich auch nicht giftig sein, dachte sich Sarah. Schlimmstenfalls werde ich Magenschmerzen oder Durchfall bekommen. Sie pflückte eine der roten Beeren, schnupperte kurz daran und steckte sie sich in den Mund. Die kleine Frucht schmeckte ziemlich gut, so ähnlich wie eine Johannisbeere, nur viel süßer. Sie verschlang daraufhin eine ganze Handvoll. Sie wollte sich gerade über die gelben Beeren hermachen, als sie eine seltsame Musterung auf den Blättern bemerkte. Als sie aus Neugier ein Blatt abpflückte und es näher betrachtete, sah sie zu ihrem Erstaunen, dass es ganz eng mit verschnörkelten Buchstaben beschriftet war!
Mit viel Mühe konnte sie folgendes entziffern:
Na, so etwas habe ich ja noch nie zuvor gesehen, murmelte Sarah erstaunt und untersuchte jetzt auch die anderen Blätter. Und tatsächlich: Auf jedem Blatt des Astes war die gleiche „Gebrauchsanweisung“, zu lesen.
„Was wohl mit den roten Beeren ist?“, dachte Sarah mit einem etwas unbehaglichen Gefühl.
Sarah atmete erleichtert auf.
Die Äste mit den unscheinbaren grünen Beeren waren wie folgt beschriftet:
Sarah war nicht unbedingt unglücklich, zuerst von den roten Beeren probiert zu haben…
Auf den Blättern der Äste, die die weißen Beeren trugen, las sie schließlich folgendes:
Na, dieser Strauch stellte ja alles in den Schatten, was sie bisher gesehen hatte!
Ohne viel darüber nachzudenken, pflückte Sarah von jeder Sorte der Beeren ein paar, wickelte sie sorgfältig in ein Taschentuch und steckte sie ein.
Dann merkte sie, wie es langsam dämmrig zu werden begann. Sie hatte viel zu viel Zeit hier draußen verbracht. Da sie keinerlei Lust darauf verspürte, die Nacht im Freien zu verbringen, sah sie zu, rasch von hier wegzukommen.
Im Gehen blickte sie sich noch einmal nach dem kleinen weißen Kaninchen um. Das schien jetzt aber endgültig verschwunden zu sein…
10
Als Sarah am nächsten Morgen erwachte, hatte sie das am Vortag Erlebte bereits wieder weitgehend vergessen. Sie meinte zwar noch, einen schönen Traum gehabt zu haben. Aber die Erinnerungen daran verblassten rasch, so dass sie kurze Zeit später schon wieder etwas ganz anderes im Kopf hatte.
Die verschiedenfarbigen Beeren, die sie gesammelt hatte, lagen jetzt in einem kleinen Döschen auf ihrem Nachttisch, wo sie sie noch am Abend hineingelegt hatte. Wenn sie die Beeren in der Tasche ihres Kleides gelassen hätte, wären sie sicherlich schon in der Nacht von einem der geheimnisvollen dienstbaren Geister des Schlosses mitsamt der Kleidung entfernt worden und auf Nimmerwiedersehen verschwunden.
Es folgte ein typischer Tag im Schloss, den Sarah sorgenfrei und unbeschwert mit Essen, Spielen und Schlafen verbrachte. An einen neuerlichen Ausflug an den Rand des Parks dachte sie noch nicht einmal mehr. Aber auch, wenn sie sich an den Vortag erinnert und versucht hätte, den Weg wieder zu finden, wäre sie auf einige Hindernisse gestoßen. An einer wichtigen Abzweigung war nämlich über Nacht ein übermannsgroßer und ausgesprochen dorniger Rosenbusch gewachsen, der die Sicht auf das, was dahinter lag, völlig versperrte.
Am darauf folgenden Morgens wachte Sarah früher auf als sonst. Noch im Halbschlaf hatte sie ein merkwürdiges flatterndes Geräusch bemerkt. Dann klopfte immer wieder etwas an die Fensterscheibe. Der laute Schrei eines Vogels machte Sarah schließlich endgültig wach.
Sie setzte sich aufrecht ins Bett und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Im gegenüberliegenden Fenster sah sie etwas Weißes herumflattern. Es war ein Vogel, eine Taube, wie sie erkennen konnte, der immer wieder versuchte, auf dem schmalen Sims vor dem Fenster zu landen. Dann begriff sie, warum die schneeweiße Taube so wild herumflatterte und nicht einfach auf dem Mauervorsprung sitzen blieb: Sie wurde von zwei großen grauen Vögeln angegriffen!
Sarah sprang aus dem Bett und eilte an das Fenster. Es waren zwei Raubvögel, wahrscheinlich Habichte oder Bussarde, die immer wieder aus der Luft herabstießen und die arme Taube mit ihren spitzen Krallen und Schnäbeln attackierten.
Sarah war aufrichtig empört. Seit sie hier im Schloss lebte, hatte sie keine Gewalt mehr erlebt. Rasch griff sie sich einen Regenschirm, den erstbesten Gegenstand, den sie auf die Schnelle finden konnte, öffnete die beiden Flügel des Fensters und schlug damit nach den beiden Raubvögeln. „Ihr Feiglinge! Lasst die arme Taube in Frieden.“, schrie sie laut.
Sarah konnte erkennen, dass die kleine Taube müde zu werden begann und sich kaum noch in der Luft halten konnte. Außerdem blutete sie bereits an mehreren Stellen.
Schließlich ließen die Angreifer von der Taube ab und zogen sich auf eine sichere Distanz zurück. Von dort aus kreisten sie weiterhin um den Turm, offensichtlich jederzeit bereit zu einer neuerlichen Attacke.
Die weiße Taube nutzte die Angriffspause, um mit letzter Kraft endlich auf dem Fenstersims zu landen. Sarah nahm den verletzten Vogel in die Hand, der sich das widerstandslos gefallen ließ, und setzte ihn erst einmal auf den Ankleidetisch.
Kaum hatte sie das Fenster wieder geschlossen, kamen die Raubvögel auch schon wieder näher. Sarah lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter, als sie die heiseren Schreie der Raubvögel vernahm, die jetzt ganz aufgeregt und verärgert klangen.
Schließlich schloss sie kurzerhand die Vorhänge vor den Fenstern. „So, jetzt könnt ihr herumflattern und schimpfen, wie ihr lustig seid! Uns stört das auf jeden Fall nicht mehr. Nicht wahr, kleine Taube?“
Der Vogel saß zitternd auf dem Tisch, wo sie ihn zuvor abgesetzt hatte. Sarah nahm ihn voller Mitleid in die Hände. Sie spürte, wie das Herz der Taube raste.
„Armes Tier. Aber hier bist du in Sicherheit. Warte, ich werde dich erst einmal verbinden!“
In Ermangelung eines Verbandes, zerriss sie kurzerhand eines ihrer weißen Unterhemden. Zur Desinfektion der Wunden benutzte sie einfach ein Gesichtswasser. Das enthielt schließlich Alkohol, und Alkohol war sicherlich für diese Zwecke geeignet.
„Vorsicht, Taube. Das wird jetzt sicherlich ein wenig brennen“, warnte sie ihren kleinen Patienten. Der Vogel schien zu begreifen, dass sie es gut mit ihm meinte. Er wehrte sich nicht und zuckte kaum zurück, als sie die blutenden Stellen mit dem Stofflappen säuberte.
Schließlich hatte sie die Wunden notdürftig versorgt. Sarah fürchtete allerdings, dass der linke Flügel gebrochen sein könnte, da die Taube ihn weiterhin ein wenig hängen ließ. Sie schiente den Flügel mit einem kleinen Holzstäbchen, den sie mit einem Bindfaden befestigte.
„So, das hätten wir.“ Sarah betrachtete kritisch ihr Werk. Na ja, fürs erste würde das wohl genügen. Die Taube schien auch ganz zufrieden zu sein und rieb schließlich sogar ihr Köpfchen an ihrer Hand. Bestimmt handelte es sich hier um eine Brieftaube, so zahm wie sie war. Sarah konnte allerdings keine „Botschaft“ entdecken, als sie die Füße des Vogels untersuchte. Allerdings fand sie einen kleinen Fadenrest am rechten Bein. Vielleicht hatte die Taube doch einen Brief mitgeführt und ihn durch die Attacken der Raubvögel verloren?
Das würde sie nun wohl nicht mehr herausfinden können.
Als erstes musste sie sich ohnehin um das verletzte Tier kümmern. Sicherlich hatte die Taube Hunger und Durst. Sie füllte ein wenig Wasser in einen flachen Blumenuntersetzer und beobachtete, wie der Vogel gierig daraus trank.
Das wäre erledigt. Jetzt blieb aber noch die Nahrungsfrage. Sie hatte leider nichts Essbares im Zimmer. Da sie ohnehin frühstücken gehen wollte, konnte sie dem Vogel ja irgendetwas mitbringen. Eine Handvoll Brotkrumen vielleicht.
„So, du musst jetzt ganz brav und artig sein und hier auf mich warten, bis ich vom Frühstück zurückkomme. Ich verspreche auch, dir etwas Feines zum Essen mitzubringen.“
Sarah erschrak, als die weiße Taube plötzlich anfing, wie in Panik herumzuflattern.
„Was ist denn los, du dummer Vogel? Hier oben kann dir doch gar nichts passieren. Wenn ich die Tür abschließe, kann niemand hereinkommen.“
Die Taube zitterte am ganzen Körper und versuchte jetzt tatsächlich, in Sarahs Morgenmantel Zuflucht zu suchen.
„Na gut, wenn du solche Angst davor hast, alleine hier oben zu bleiben, dann komm` halt mit mir nach unten.“
Sie setzte die Taube kurzerhand in eine der weiten Taschen ihres Morgenmantels, so dass sie gerade noch mit dem Kopf herausschauen konnte. Dann ging sie die lange Wendeltreppe hinunter bis in das Speisezimmer.
„Na, da staunst du, nicht wahr, meine kleine Taube? Ich bewohne ein richtiges Schloss und das ganz alleine. Du musst aber nicht „Eure Hoheit“ zu mir sagen, Prinzessin reicht völlig!“
Sie kicherte. „Das war doch nur ein Scherz. Du brauchst gar nicht so mit dem Kopf zu schütteln.“
Seit wann schüttelten Tauben denn bitteschön mit dem Kopf? Was waren denn das wieder für neue Sitten?
Egal. Sie waren endlich im Speisesaal angekommen. Sarah setzte die Taube vor sich auf den Tisch und überließ es ihr, sich die richtigen Brotkrumen und Körner herauszupicken. Sie selbst sprach lieber dem warmen Grießbrei zu, der heute wieder besonders lecker war.
Schließlich war sie satt, und auch die weiße Taube schien zufrieden zu sein.
„Was machen wir denn jetzt mit dem angebrochenen Tag?“ Sarah überlegte laut. „Nach draußen möchte ich dich lieber nicht mitnehmen. Wer weiß, ob die Tiger und Löwen sich nicht doch noch bei deinem Anblick an ihre wahre Natur erinnern würden. Ganz abgesehen von den hässlichen Raubvögeln. Wer weiß, ob die zwei nicht immer noch nach dir suchen?“
So beschloss Sarah, den Tag drinnen zu verbringen. Da sie ihr Reich bislang noch mit niemandem so richtig teilen konnte, würde sie es jetzt ihrem neuen Freund zeigen.
Sie kamen sie erst gegen Abend wieder in ihr Turmzimmer zurück.
Sarah öffnete die Vorhänge, um nach den Raubvögeln Ausschau zu halten. Diese waren verschwunden und hatten offenbar ihre Beute aufgegeben. Allerdings konnte Sarah am hölzernen Fensterahmen zahlreiche Biss- und Kratzspuren entdecken. Ihr lief es bei dem Anblick kalt den Rücken herunter. „Na, die zwei wollten meine arme Taube wohl wirklich unbedingt haben!“
Sie schloss die Vorhänge lieber wieder.
„So, mein gefiederter Freund. Jetzt präsentiere ich dir zum Abschluss und gleichzeitigen Höhepunkt unserer Rundfahrt durch das weltberühmte Sarah-Schloss den Abendcocktail: Voilà!“
Wie jeden Abend, stand auch heute wieder der kunstvoll verzierte Becher frisch gefüllt auf ihrem Nachttisch. Ein verführerischer Duft stieg ihr in die Nase. Diesmal schien es sich um eine Mischung aus Schokolade, Banane und Vanille zu handeln, mit einem Hauch von Zimt.
„Weil du so brav warst, lasse ich dir einen kleinen Schluck übrig. Du wirst sehen, dass du so etwas in deinem ganzen bisherigen Taubenleben sicherlich noch nicht getrunken hast!“
Die Taube trippelte auf dem Nachttisch in Richtung Becher.
„Nur schnuppern, trinken will ich zuerst“, rief Sarah dem Vogel zu.
Der drehte sein Köpfchen in ihre Richtung, als hätte er sie tatsächlich verstanden. Dann aber, es ging alles so schnell, dass Sarah keine Chance hatte, rechtzeitig eingreifen zu können, flog die Taube plötzlich auf und schmiss dabei den Becher um. Dieser rollte an den Rand des Tischchens und fiel auf den Boden, wo er mit einem lauten Knall in tausend Stücke sprang.
„Du bescheuerter Vogel. Was hast du da angerichtet?“
Sarah spürte, wie in ihr eine unkontrollierbare heiße Wut aufstieg. Sie brüllte die weiße Taube an, die jetzt wieder ganz unschuldig auf dem Nachttisch umhertrippelte. Wie in einem Reflex, Sarah hätte selbst nicht sagen können, was plötzlich in sie gefahren war, hatte sie mit einer blitzschnellen Bewegung den schweren silbernen Leuchter vom Nachttisch genommen und schlug damit nach dem Tier. Dieses konnte sich nur durch einen raschen Sprung retten. Der schwere Kerzenständer schlug krachend auf die Tischplatte, genau dort, wo sich eben noch das Köpfchen des Vogels befunden hatte. Die Wucht, mit der Sarah zuschlug, war so heftig, dass eine tiefe Kerbe in der Tischoberfläche zurückblieb.
Die arme Taube hüpfte voller Panik im Zimmer umher. Richtig fliegen konnte sie mit ihrem geschienten Flügel nicht.
So plötzlich wie sie über sie gekommen war, verflog Sarahs Wut wieder. Sie starrte fassungslos auf den Nachttisch und auf den Leuchter, den sie immer noch mit ihrer rechten Hand ganz fest umklammert hielt.
Was hätte sie da fast getan?
Sarah spürte, wie ihr ganz übel wurde. Sarah musste sich erst einmal an den Rand ihres Bettes setzen. Einen Moment lang dachte sie, sie müsste sich übergeben.
Als es ihr wieder etwas besser ging, schaute sie nach der Taube. Sie fand den Vogel völlig verängstigt unter dem Bett versteckt.
Sarah hatte Tränen in den Augen, als sie bemerkte, wie die Taube zitternd zurückwich, als sie nach ihr greifen wollte.
„Es tut mir so leid! Ich weiß nicht, was plötzlich in mich gefahren ist. So etwas habe ich noch nie in meinem Leben getan, glaube mir doch bitte!“
Mittlerweile liefen dicke Tränen von ihren Wangen hinab.
Schließlich schien die Taube doch wieder Vertrauen gefasst zu haben und trippelte ihr vorsichtig entgegen. Sie nahm den Vogel sanft in ihre Hände und drückte ihn eine Weile fest an sich.
„Verzeih mir, kleiner Vogel. Bitte, verzeih mir!“
Als wollte sie ihr zeigen, dass sie nicht nachtragend war, krabbelte die Taube nach einer kleinen Weile an Sarah hoch, um ihr ganz freundschaftlich an der rechten Wange herumzuknabbern.
Sarah machte sich schließlich daran, die Scherben vom Boden wegzuräumen. Von dem Getränk war natürlich nichts mehr zu retten. Erschrocken stellte sie fest, dass sie wieder ärgerlich zu werden begann. Warum konnte der dumme Vogel nicht besser aufpassen. Wäre es nicht das klügste, sie würde ihn über Nacht irgendwo wegsperren, wo er keinen Unsinn anrichten konnte, im Wandschrank vielleicht?
Im gleichen Moment schämte sie sich allerdings schon wieder, an so etwas überhaupt gedacht zu haben. Was war heute bloß los mit ihr? So war sie doch bisher nie gewesen. Diese kalte Wut und Aggression, die mit einem Mal über sie kam. Vielleicht war sie in den letzten Wochen (oder waren es Monate?) einfach zu lange allein gewesen in „ihrem“ Schloss.
Und alles in allem handelte es sich doch nur um ein Getränk, das verschüttet worden war. „Das ist mehr als nur ein „Getränk“, Sarah, das ist etwas Wunderbares und Unersetzliches, was da verloren gegangen ist!“. Sarah unterdrückte die lästige innere Stimme. Sie wollte sich nicht schon wieder aufstacheln lassen!
Sie bemerkte, dass ihre kleine Taube bereits wieder auf dem Nachttisch herumtrippelte. Erst jetzt sah sie, dass sich vorhin, als der Becher umfiel, auch der Deckel des Döschens, das ebenfalls auf dem Tischchen stand, geöffnet hatte und einzelne Beerchen herausgekullert waren. Die Taube lief ganz aufgeregt um das Döschen herum.
Schließlich pickte sie zwischen den Beerchen herum. Sarah sah zu ihrem Erstaunen, dass die Taube offenbar nur die gelben Beeren aufnahm, die sie allerdings nicht etwa herunterschluckte, sondern neben dem Döschen auf einem kleinen Haufen sammelte.
„Nanu, was hast du denn da vor?“ Sarah beobachtete die Taube neugierig. Als diese schließlich alle gelben Beeren aus dem Döschen herausgepickt hatte, machte sie das gleiche mit den roten, den weißen und mit den grünen Beeren. Endlich lagen alle Beeren, fein säuberlich nach Farbe getrennt, auf dem Tischchen.
Als die Taube ihr Werk beendet hatte, trippelte sie zu dem Häufchen mit den gelben Beeren und pickte drei Stück davon auf, die sie der überraschten Sarah direkt neben die Hand legte.
„Willst du etwa damit sagen, dass ich diese drei Beeren jetzt essen soll?“
Vielleicht ist das ja als „Wiedergutmachung“ gedacht, nachdem der Vogel ihren Schlaftrunk ruiniert hatte.
Sarah nahm eine der gelben Früchte in die Hand. Sie erinnerte sich jetzt wieder ganz dunkel daran, woher sie stammten. Irgendetwas Besonderes hatte es mit diesen Dingern auf sich gehabt. Nur, was war es gewesen? Sie konnte sich leider beim besten Willen nicht mehr daran erinnern. Nun, giftig waren sie sicherlich nicht, da war sie sich noch sicher, sonst hätte sie die Beeren wohl kaum gepflückt und mitgenommen.
Sie nahm die gelbe Beere in den Mund und kaute vorsichtig darauf herum. Sie schmeckten zuckersüß. Nacheinander verzehrte sie auch die beiden anderen Beeren.
Sarah stellte fest, dass sie ziemlich müde war. Sie gähnte herzhaft.
„Du kannst gerne auf meiner Bettdecke schlafen, lieber Vogel.“
Sie zog sich ihr Nachthemd an, wobei die Taube sie neugierig beäugte.
„Na schäm dich, eine Dame beim Ausziehen zu begaffen!“ Sarah warf aus Spaß eine Socke nach ihr. Der Vogel verschwand hinter der nächsten Gardine.
Sarah legte sich ins Bett und löschte das Licht. Fast augenblicklich war sie eingeschlafen. Die weiße Taube trippelte und flatterte noch eine Weile im Raum herum, als suchte sie etwas. Dann schließlich setzte sie sich an das Fußende von Sarahs Bettdecke, steckte das Köpfchen in die Federn und schlief ebenfalls ein.
11
Sarah erwachte am nächsten Morgen ungewöhnlich früh, weil ihr kalt war. Als sie die Augen aufschlug, sah sie, dass es draußen noch ganz dunkel war.
Sie wunderte sich. Das war das erste Mal, seitdem sie das Schloss betreten hatte, dass sie sich so richtig unwohl fühlte. Sie hatte eigentlich ganz vergessen, was Kälte ist. Jetzt war es aber so kühl im Raum, dass sie mit den Zähnen klapperte.
Sarah wickelte die Bettdecke fester um sich, was aber auch kaum Wärme brachte. Sie stellte fest, dass es auch ganz unangenehm zog. Als würde ein Fenster offen stehen, was aber nicht sein konnte. Sie hatte sich gestern nach der Rettung der kleinen Taube vor den Raubvögeln sicherlich mehrfach vergewissert, dass alle Fenster auch wirklich fest geschlossen waren.
Irgendwie schaffte sie es trotz der Kälte wieder einzuschlafen. Auch wenn sie den Rest der Nacht ziemlich unruhig schlief, erwachte sie erst wieder, als es draußen hell zu werden begann. Jetzt war es zum Glück nicht mehr ganz so kalt in ihrem Bett. Aber richtig gemütlich fand sie es auch nicht gerade.
Als sie die Augen aufschlug, dachte Sarah zunächst, sie befände sich noch inmitten eines Traumes, eines ziemlich schlechten Traumes, um genau zu sein.
Also machte sie die Augen lieber wieder zu und wartete eine Weile ab, bis es ihr zu dumm wurde und sie wieder vorsichtig blinzelte.
Nein. Es war offensichtlich doch kein Traum. Oder er gehörte zu dieser besonders unangenehmen, weil sehr realistisch gehaltenen Sorte, bei der man bis zum Erwachen nicht so recht sicher sein konnte, ob es nicht doch alles echt war. Sarah richtete sich auf und schaute sich um.
Das erste, was sie ganz bewusst wahrnahm, war die Tatsache, dass sie zwar immer noch in einem großen Himmelbett lag, welches ohne Frage weiterhin inmitten eines kreisrunden Turmzimmers stand. Auch fehlten weder der Spiegel, noch Schrank, Ankleidetisch und Nachttischchen. Aber da hörte es auch schon auf mit den Gemeinsamkeiten, die dieses Zimmer mit dem vor dem Einschlafen hatte!
Die vormals so prächtigen Möbelstücke hatte jemand in der Nacht unbemerkt gegen ausgesprochen schäbige Exemplare ausgetauscht, die sicherlich in einem früheren Leben einmal hübsch und kostbar gewesen sein mochten, nunmehr aber völlig heruntergekommen und von Schimmel, Feuchtigkeit und Generationen von Holzwurmfamilien zugrunde gerichtet worden waren. Dass sie überhaupt noch standen, schien schon an ein mittleres Wunder zu grenzen. Als sie sich in ihrem Bett umherbewegte, stellte Sarah fest, dass dieses ganz erbärmlich quietschte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht stellte sie fest, dass sich eine offensichtlich völlig ausgeleierte Feder der hoffnungslos durchgelegenen Matratze zwischen ihre Schulterblätter gebohrt hatte. Überhaupt: Was war aus dem schönen Himmelbett geworden? Die herrlichen Bilder an der Innenseite waren kaum noch zu erkennen, so verwittert und ausgeblichen waren sie. Und dort, wo die samtenen Vorhänge gestern noch bis auf den Boden reichten, hingen nur noch undefinierbare Fetzen eines uralten, mit der Zeit brüchig gewordenen Stoffes herunter. Dafür waren die staubbedeckten Spinnweben, die buchstäblich überall waren, umso länger.
Sarah fühlte sich wie in Trance, als sie schließlich langsam die Bettdecke zurückschlug und aufstand. Jetzt war es ihr auch klar, warum sie so gefroren hatte: Nicht nur, dass der schäbige Fetzen, mit dem sie sich zugedeckt hatte, ganz dünn war. Auch mit den Fenstern stimmte einiges nicht. Die Scheiben zwischen den verzogenen Rahmen und Verstrebungen waren fast blind vor Staub und waren zum Teil sogar kaputt und gesprungen. Sarah schaute nach unten und sah, dass ihre Füße in einer dicken Schicht aus Staub und Teppichresten standen. Sie sah gerade noch, wie eine kleine Maus (oder war es eine Ratte?) quietschend in einem Loch in der Wand verschwand.
Erst jetzt erinnerte Sarah sich wieder an die kleine Taube. Diese war nirgendwo zu sehen. Sie erschrak schon, als sie an die Raubvögel dachte, stellte aber zu ihrer Beruhigung fest, dass diese durch die Löcher in den Scheiben sicherlich nicht hindurchgepasst hätten.
Die Zimmertür stand ein Stück weit offen. Sicherlich war sie nach unten gehopst, vielleicht auf der Suche nach etwas Essbarem. Sie selbst stellte trotz ihres Schocks über die Veränderungen ihres Zimmers fest, dass auch sie Appetit hatte. Nein, das war eigentlich nicht der richtige Ausdruck. Sie hatte Hunger, richtig großen Hunger. Dabei hatte sie in der letzten Zeit weiß Gott genug gefuttert. Sie hatte sich zuletzt schon ernsthafte Sorgen um ihre Figur gemacht. Sie sollte sich auch gleich auf den Weg nach unten begeben, beschloss sie. Danach konnte sie sich ja immer noch Gedanken über dieses merkwürdige Zimmer machen…
Sarah wollte gerade losgehen, als sie vor lauter Schreck einen lauten Aufschrei nicht unterdrücken konnte.
Sie war nicht mehr alleine in ihrer Stube.
Ihr direkt gegenüber stand ein dürres Mädchen und starrte sie mit großen Augen an.
Das Mädchen war ziemlich schäbig gekleidet, ihr Nachthemd, das sicherlich früher einmal recht schön gewesen war, hing ihr buchstäblich in Fetzen vom mageren Leib. Sicherlich wohnte sie nicht hier im Schloss, ging es Sarah durch den Kopf. Vielleicht gehörte sie aber irgendwie zum Gesinde und hatte sich in ihr Zimmer verirrt. Irgendwie tat ihr das elende Geschöpf leid. Es sah so hungrig und unterernährt aus. Sie würde das Mädchen einladen, mit ihr zum Frühstück zu gehen. Sarah hob den Arm und lächelte ihr Gegenüber freundlich an. Sie wollte das Mädchen nicht verängstigen. Es sah ohnehin so aus, als hätte es schon einige unerfreuliche Dinge erlebt.
Umso mehr wunderte sich Sarah, als auch das Mädchen sie sogleich anlächelte und ebenfalls ihren Arm erhob.
Sie wollte gerade den Mund aufmachen, um etwas zu sagen, als sie mit einem Mal alles begriff. Um nicht hinzufallen, musste sie sich am Schrank festhalten, so schwindlig und schlecht war ihr jetzt.
Dann ging sie einen Schritt auf den Spiegel zu, denn der war es natürlich gewesen, der sie genarrt hatte. Wieder einmal.
Wie dünn und mager sie war. Es war zwar nicht gerade so, dass sie aussah, als würde sie Hunger leiden, aber Sorgen wegen ihrer Figur brauchte sie sich weiß Gott nicht zu machen…Und dieser Lumpen, den sie da trug…
Was wurde hier denn auf einmal gespielt?
Irgendwie kam ihr alles, was sie in den letzten Wochen erlebt hatte, wie ein Traum vor. Es gab ihr einen regelrechten Stich in der Brust, als sie sich auf einmal wieder an ihre Eltern und ihren Bruder erinnerte. Warum hatte sie denn überhaupt gar nicht mehr an sie gedacht?
Ihr Kopf fühlte sich ganz leer an. Sie öffnete den Kleiderschrank und stellte fest, dass sich die darin befindlichen Kleidungsstücke in keinem wesentlich besseren Zustand befanden, als ihr Nachthemd. Endlich hatte sie etwas halbwegs Erträgliches zusammengestellt und war gerade dabei, sich umzuziehen, als ein Geräusch sie aufhorchen ließ.
Da war es wieder!
Es kam von draußen. Nein, sie hatte sich geirrt. Es musste hier im Gebäude sein, im Flur oder in der großen Halle.
Sarah öffnete die Tür und trat hinaus in das Treppenhaus.
12
Die seltsame Veränderung, die ihre Stube über Nacht heimgesucht hatte, schien an der Zimmertür nicht halt gemacht zu haben. Ziemlich fassungslos schaute sie sich die Wendeltreppe an. Auch hier lag überall eine dicke Schicht Staub. Die fleckigen Tapeten hingen in großen Fetzen von den Wänden. Nach den ersten Schritten nach unten, brach plötzlich eine der Holzstufen unter ihrem rechten Fuß mit einem hässlichen Geräusch entzwei. Sarah griff geistesgegenwärtig nach dem Handlauf und konnte dadurch gerade noch verhindern, dass sie stürzte. Mit einem reichlich mulmigen Gefühl blickte sie durch die kaputte Stufe in die Tiefe.
Sarah wunderte sich schon nicht mehr, als sie auch den langen Gang mit seinen vielen Portraits jetzt mehr oder weniger in Trümmern liegend vorfand. Angespornt durch die komischen Geräusche, die jetzt ganz nah klangen, hielt Sarah sich hier nicht weiter auf und öffnete die große Flügeltür, die in die Halle führte.
Dass es auch in dem ehemals so prächtigen Raum aussah, als hätte hier seit Jahrzehnten niemand mehr aufgeräumt oder saubergemacht, stellte Sarah nur am Rande fest. Sogar das Dach war nicht mehr intakt, so dass sich durch große Lücken im Dachstuhl ein paar Sonnenstrahlen in die Halle verirrt hatten und für zusätzliches Licht sorgten. Ansonsten rußten auch hier, wie zuvor auch im Flur, einige Fackeln vor sich hin, wobei sie mehr schlecht als recht ihrer Funktion als Lichtspender nachkamen.
Sarahs Aufmerksamkeit wurde aber von etwas ganz anderem in Anspruch genommen.
Da war irgendetwas in der hintersten und dunkelsten Ecke des Raumes, dort wo sich der Kamin befand. Genau von hier schien auch der Lärm zu kommen, der Sarah angelockt hatte. Ohne groß darüber nachzudenken, stieg sie die Treppe hinab, der geheimnisvollen Quelle der Geräusche entgegen.
Schließlich erkannte sie, dass dort vor dem Kamin ein Kampf stattzufinden schien! Rasch ging sie hinter dem nächstbesten Sessel in Deckung.
Soweit sie es in der schlechten Beleuchtung erkennen konnte, rangen wenige Meter von ihr entfernt zwei Gestalten miteinander.
Der eine war ein offensichtlich unbewaffneter Mann, ziemlich klein und schmächtig, der sich verzweifelt gegen einen Ritter in voller Rüstung zur Wehr setzte.
Es war ein unfairer Kampf. Sarah überlegte, wie sie dem hoffnungslos unterlegenen kleinen Mann, am besten zu Hilfe eilen konnte.
Ihr Blick fiel auf eine lange Eisenstange, die halb unter einem der Sessel lag. Wer weiß, wozu die mal gedient hatte, jetzt war sie für ihre Zwecke aber wie geschaffen.
Auf allen vieren krabbelte Sarah los und hielt wenig später die schwere Stange mit beiden Händen fest umklammert. Da war auch schon ein für sie günstiger Moment gekommen: Der Ritter drehte ihr den Rücken zu und präsentierte ihr geradezu seinen gepanzerten Kopfschmuck. Sarah fackelte nicht lange, richtete sich auf und ließ die Stange auf den Kopf ihres Gegners fallen. Natürlich nicht zu fest, sie wollte ja niemanden ernstlich verletzen.
Erstaunt stellte sie fest, wie hohl es klang. Dann ging der Ritter, sein Opfer unter sich begrabend, auch schon wie ein gefällter Baum zu Boden.
Schimpfend und fluchend versuchte sich der schmächtige Mann zu befreien. Sarah eilte ihm zu Hilfe –und blieb mit offenem Mund stehen.
„Hallo Sarah! Du kannst deinen Mund ruhig später wieder zumachen. Aber, wenn du mir jetzt vielleicht behilflich sein könntest, den Kerl von mir herunter zu ziehen, wäre ich dir wirklich sehr verbunden…“ Der rothaarige Junge atmete schwer und lächelte sie etwas gequält an.
„Max! Was um alles in der Welt tust du denn hier?“
Sarah hatte sich wieder halbwegs gefangen und glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Dann beugte sie sich aber erst einmal zu ihrem Freund hinunter und half ihm dabei, sich zu befreien. Zu ihrem nicht geringen Erstaunen, sie kam ja heute aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, stellte sie fest, dass die Rüstung des stattlichen Ritters völlig leer war.
Mit einem letzten gewaltigen Scheppern blieb die leere Blechhülle schließlich auf der Seite liegen. Sarah reichte dem rothaarigen Jungen die Hand und half ihm, sich aufzurichten. Erschöpft ließ sich dieser in den nächsten Sessel fallen. Sarah folgte seinem Beispiel.
„Ich dachte wirklich, der wäre echt...“
„Max, was hast du denn mit Deinem Arm gemacht...?“
Beide hatten sie gleichzeitig angefangen zu sprechen.
Etwas verlegen schwiegen Sarah und Max daraufhin einen kleinen Augenblick.
Dann erhob sich Sarah aus ihrem Sessel und kniete sich neben den Jungen. Vorsichtig nahm sie seinen rechten Arm und bewegte ihn prüfend hin und her. Dann begann sie, die Knochen abzutasten. Max zuckte zusammen, als sie im Bereich des Ellenbogens etwas kräftiger zupackte. Sarah konnte dort eine dicke Schwellung fühlen.
„Ich fürchte der ist gebrochen. Oder zumindest stark geprellt!“, stellte sie fest. „Wie hast du das denn angestellt?“
Max musste trotz seiner Schmerzen grinsen. „Das weißt du, glaube ich, schon...“
Sarah schaute ihn fragend an. Sie verstand nicht, wovon der Junge sprach.
„Na, ich sage nur: Luftschlacht vor dem Turmzimmer der Prinzessin...“
Sarah verstand nur Bahnhof.
Aber dann dämmerte es ihr langsam…
„Was? Das kann doch gar nicht sein... Moment mal: Die weiße Taube, das warst doch nicht etwa du?“, stotterte sie, ganz aus der Fassung gebracht.
In ihrem Kopf ging jetzt alles durcheinander.
Doch sie brauchte eigentlich gar nicht mehr Max Antwort abzuwarten. Natürlich war er es gewesen. Wie das möglich sein konnte, das war jetzt erst einmal egal. Hauptsache, sie war jetzt nicht mehr alleine in diesem scheußlichen Gebäude, das sich so plötzlich und unvermittelt in einen einzigen Albtraum verwandelt hatte.
„Deine Schiene, die du gestern an meinem Flügel angebracht hattest, hat leider meine Größenveränderung nicht mitgemacht... Trotzdem, noch mal vielen Dank für meine Rettung gestern… und die erste Hilfe...“
Sarah war mit einem Mal ganz verlegen. Ihr war gerade wieder der Zwischenfall mit dem Becher eingefallen. Sollte es wirklich so gewesen sein, dass sie da um ein Haar ihren besten Freund erschlagen hätte?
Max hatte wohl bemerkt, was in ihr jetzt gerade vorgehen musste. Er legte ihr die Hände auf die Schulter und schaute ihr eindringlich in die Augen:
„Mensch Sarah, begreifst du denn immer noch nicht, was hier los ist? Das warst nicht wirklich du, die das gestern getan hat. Ich meine, die Sache mit der Lampe, nachdem ich deinen tollen Schlummertrunk dorthin geschickt hatte, wo er auch hingehörte. Einen ganz schönen Schreck hast du mir da aber schon eingejagt. Einen Moment lang hatte ich ernsthaft überlegt, ob es da draußen bei meinen beiden Freunden nicht vielleicht doch sicherer wäre...“
Der rothaarige Junge grinste Sarah an. Diese konnte trotzdem nicht anders. Sie musste Max einfach fest in den Arm nehmen und an sich drücken.
„Es tut mir so Leid...“ Nur mühsam hielt sie ihre Tränen zurück.
„Es war mir eigentlich sofort klar, was es mit dem komischen Becher da auf deinem Nachttisch auf sich hatte. Wie sonst konnte es sein, dass du bei diesem Schrotthaufen von Gebäude die ganze Zeit so verzückt von „Schloss“, „Prunk“ und „Paradies“ faseln konntest. Im Essen war nichts, das hätte ich selbst merken müssen, auch wenn ich als Taube naturgemäß nicht von allen Dingen probieren konnte. Oder hast du schon einmal eine Taube gesehen, die Haferschleim gegessen hätte?“
Sarah schaute Max fragend an: Haferschleim?
„Ach, natürlich. Auch das gehörte dazu... Wusstest du, dass du gestern den ganzen Tag über nichts anderes gegessen hast als ein wenig Haferschleim und altbackenes Brot? Und dazu reichlich abgestandenes Wasser? Wahrscheinlich nicht...“
„Ja, deine ganzen Köstlichkeiten, von denen du dabei die ganze Zeit geschwärmt hast waren allesamt nichts anderes gewesen!“
Max ließ Sarah das ganze erst einmal verdauen.
„Alles Zauberei, Sarah! Jeden Abend hast du einen Zaubertrank vorgesetzt bekommen und diesen auch immer brav getrunken. Ein geniales Gebräu! Ich wünschte, ich wüsste, wie man es herstellt... Ein Schluck und die schäbigste Hütte wird zum Palast, ein halbes Glas und der Häftling in den Tiefen des finstersten Kerkers denkt, er wäre im Himmel!“
Sarah schaute Max nachdenklich an.
„Nicht nur das. Ich habe auch alles vergessen: Meine Eltern, meinen Bruder, deinen Onkel … und sogar dich...“ Sie wurde ein wenig rot im Gesicht.
Zum Glück schien Max nichts gemerkt zu haben.
Rasch wechselte sie das Thema: „Apropos, dein Onkel. Ist der auch hier irgendwo?“
Sie schaute sich vergeblich nach dem alten Mann um.
In den nächsten Minuten erfuhr Sarah, dass Max Onkel natürlich rasch begriffen hatte, was Sarah vorhatte, als sie so plötzlich verschwunden war, ja dass er darüber noch nicht einmal sonderlich erstaunt gewesen zu sein schien. Natürlich hatte ihm Max alles erzählt: Von dem Traum und von der Drohung. Nein, er sei ihr natürlich nicht böse gewesen. Besorgt war er allerdings, sehr besorgt.
In den folgenden Tagen und Wochen hatte er fast ununterbrochen über seinen Büchern gesessen, im Labor experimentiert und natürlich immer wieder seine treuen Krähen auf die Reise geschickt. Schließlich, er hatte schon gar nicht mehr daran geglaubt, hatte sein Onkel ihn mitten in der Nacht zu sich gerufen. Er erfuhr, dass dieser endlich das Quartier seines Widersachers hatte ausfindig machen können. Offensichtlich musste etwas in der Zwischenzeit passiert sein, was den König seine sonst so übertriebene Vorsicht zumindest zeitweise hatte vergessen lassen. Warum war er mit einem Mal so unvorsichtig geworden? Natürlich: Er hatte endlich das bekommen, was er die ganze Zeit wollte: Sarah!
Dann gab es noch das größte Hindernis zu überwinden: Wie sollten sie unerkannt zu Sarah in das Schloss gelangen? Eine brauchbare Lösung zu finden, hatte sie weitere schlaflose Nächte gekostet.
„Warum habt ihr denn nicht einfach ein paar der Krähen losgeschickt?“, wollte Sarah wissen.
„Nun, das haben wir natürlich als erstes versucht. Die wurden aber immer wieder von den Raubvögeln verjagt. Sicherlich wusste der König ja schon längst über die fliegenden Kundschafter des Zauberers Bescheid. Tja, mein Onkel wollte sich natürlich zuerst selber auf den Weg machen, aber er ist nun einmal nicht mehr der Jüngste, und das mit dem Fliegen hat nicht so wirklich gut funktioniert. Ich will da lieber nicht weiter in Details gehen…“ Der Junge versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken.
„Außerdem“, fügte Max wie beiläufig hinzu, „meinte mein Onkel, dass den gefährlichen Job jemand übernehmen sollte, der auch ein gewisses persönliches Interesse an der ganzen Sache hatte. Das konnte man von seinen Krähen natürlich nicht verlangen…“
Sarah schaute auf. Wie hatte Max das denn eben gemeint?
Dieser war allerdings schon wieder dabei, mit seinem Bericht fortzufahren:
„Das war eben ganz schön knapp, Sarah. Ich war schon früh auf und wollte als Taube noch ein wenig im Gebäude herumspionieren. Als ich gerade wieder hier in der Halle angekommen war, hat mit einem Mal die Wirkung des Zaubertrankes nachgelassen.“
Er rieb sich mit schmerzverzerrtem Blick die Knie.
„Mitten in der Luft bin ich abgeschmiert –und dem Blechdepp hier direkt in die Arme geflogen. Wenn du nicht rechtzeitig gekommen wärst, wer weiß…?“
Max schien zunehmend nervös zu werden.
„Ich frage mich nur, ob mein Onkel es schafft, hier hereinzukommen. So ein Mist, ich hatte gehofft, ich könnte als Taube noch einmal zu ihm fliegen, um ihm von all dem hier zu berichten. Wir müssen uns in der Dosis geirrt haben. Oder es war doch etwas in dem Essen hier, was gegen den Zauber gewirkt hatte…?“
Sarah fiel das Wasser ein, das sie Max angeboten hatte. Wenn schon ihr Schlummertrunk präpariert gewesen war, dann vielleicht auch das Wasser.
Sie schaute sich in der großen Halle um. Es war gespenstisch still um sie herum. Richtig unheimlich.
„Und das Ganze ist wirklich überall so wie hier…?
Max nickte. „Eine riesige Ruine. Als wären die Bewohner vor langer Zeit schon verschwunden. Nur diese grässlichen Raubtiere überall…“
„Warum bist du eigentlich nicht selbst als Raubtier unterwegs gewesen? Ein Adler hätte sich doch viel besser zur Wehr setzen können!“
„Eine kleine verirrte Brieftaube ist aber viel unauffälliger. Und außerdem: Hättest du etwa einen ausgewachsenen Geier in dein Zimmer gelassen? Mein Onkel meinte außerdem, eine weiße Taube wäre bei euch auch so etwas wie ein Friedenssymbol und hoffte, du würdest den Wink vielleicht verstehen… Wir hatten ja schon geahnt, dass du unter der Wirkung irgendwelcher Zaubersprüche stehen würdest, aber dass es so schlimm sein konnte…“
Sarah erfuhr, dass Max schon seit einigen Tagen immer wieder in das Gebiet des Königs eingedrungen war und so seinem Onkel schon einige interessante Informationen zugetragen hatte. Sie fragte ihn natürlich gleich, ob er dabei auch irgendetwas von ihrer Familie erfahren hatte.
„Nein, Sarah. Von deinen Eltern und deinem kleinen Bruder habe ich leider noch keine Spur gefunden.“ Max legte zum Trost seinen Arm um Sarahs Schulter.
„Aber es wird sicherlich alles gut. Du bist nicht mehr alleine…“
Sarah wollte gerade etwas erwidern.
Dann ging plötzlich alles sehr schnell.
Mit einem gewaltigen Scheppern und Krachen richtete sich zu ihrem Entsetzen die Ritterrüstung wieder auf, die sie zuletzt gar nicht mehr beachtet hatten. Mit einem lauten Quietschen drehte sich der Ritter zu ihnen um und schob mit der linken Hand sein Scharnier hoch. In seiner rechten Hand hielt er ein langes Schwert.
Dass hinter dem hochgeklappten Scharnier niemand zu sehen war, machte die ganze Sache dabei noch schlimmer.
Sarah und Max gingen vorsichtig rückwärts, ohne den Ritter aus den Augen zu lassen. Der Ritter folgte ihnen langsam.
Als er schließlich sein Schwert erhob, drehten sich Sarah und Max schreiend um und stürmten durch die Halle in Richtung der nächsten Tür. An den blechernen Geräuschen dicht hinter ihnen, konnten sie hören, dass der unheimliche Ritter die Verfolgung aufgenommen hatte.
Gleich darauf fanden sie sich in dem großen Speisesaal wieder, wo auf dem Tisch bereits ein großer Napf mit einem undefinierbaren grauen Schleim stand. Daneben lagen ein paar Kanten Brot. Die Scheiben waren an den Rändern ganz nach innen gebogen und Sarah konnte schon auf die Entfernung den verräterischen grünlich-weißen Rasen erkennen, der auf dem Brot wuchs. Igitt, von so etwas hatte sie sich also ernährt?
Sarah und Max hielten sich natürlich nicht weiter auf und eilten weiter. Als sie hinter dem massiven Esstisch standen, hatten sie gleichzeitig dieselbe Idee. Sie drehten sich um und begannen damit, den schweren Tisch mit aller Kraft in die Richtung der Eingangstür zu schieben. In dem Moment kam der Eisenmann auch schon langsam in den Raum gewankt. Die Tischkante rammte sich in seinen eisernen Unterleib.
Es schepperte ganz entsetzlich, als er durch den Aufprall in zwei Teile zerfiel. Es war scheußlich anzusehen, wie der Unterleib des hohlen Ritters trotzdem alleine weiterlief und schließlich, seiner Führung beraubt, gegen die Wand prallte.
Noch entsetzlicher war allerdings, was mit dem Rest des Blechkolosses geschah. Dieser kroch nämlich mit Hilfe seiner eisernen Ellenbogen weiter auf die Kinder zu. Instinktiv ergriff Max die Schüssel mit dem Haferbrei und schleuderte sie dem Monster entgegen. Er hatte gut getroffen, denn jetzt flog auch der Helm in einem weiten Bogen davon. Was den Rest des Ritters aber leider nicht davon abhielt, weiter auf die beiden Kinder zuzukommen.
„Los Sarah, bloß weg hier…“ Die Angesprochene ließ sich das nicht zweimal sagen und eilte dem rothaarigen Jungen hinterher.
Obwohl Sarah das Schloss mittlerweile wie ihre Westentasche zu kennen glaubte, wusste sie schon bald nicht mehr wo sie waren. Völlig außer Atem liefen sie durch das Labyrinth der zahllosen Gänge und Zimmerfluchten.
Schließlich kamen sie in eine Art von Spiegelkabinett, das sicherlich einmal sehr prächtig gewesen sein musste. Jetzt aber waren die meisten der zahlreichen Spiegel nahezu blind vor Staub und gesprungen.
Sarah bekam plötzlich so starkes Seitenstechen, dass sie und Max erst einmal stehen bleiben mussten. Am Ende des langen Flures konnten sie sich selbst in dem großen Spiegel sehen, der dort an der Wand hing. Dieser war noch halbwegs intakt und Sarah musste feststellen, dass sie beide wirklich einen recht erbarmungswürdigen Anblick boten.
Sarah wollte sich gerade ihrem Gefährten zuwenden, als sie aus dem Augenwinkel heraus im Spiegel eine blitzschnelle Bewegung wahrnahm, die sie instinktiv dazu veranlasste, sich im gleichen Moment zu bücken. Voller Empörung stellte sie fest, dass es Max gewesen war, der gerade versucht hatte, sie mit der geballten Faust ins Gesicht zu schlagen!
„Was soll das?“, schrie sie den Jungen an. Sie war völlig außer sich. Max schaute sie nur ganz verdattert an, als würde er gar nicht begreifen, was sie von ihm wollte. Im gleichen Augenblick aber griff sich der rothaarige Junge mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Nase, die sogleich zu bluten anfing.
„Spinnst du, Sarah?“ Jetzt war es Max, der ganz entrüstet anschaute. Sarah konnte gerade noch im Spiegel sehen, wie Max zu einem erneuten Schlag ansetzte. Sie sprang einen Schritt zurück, so dass er sie knapp verfehlte. Erschrocken konnte sie im Spiegel erkennen, wie sich sein Gesicht zu einer hasserfüllten Grimasse verzerrt hatte.
Sarah stutzte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie schaute erst auf ihren Gefährten und dann zurück in den Spiegel.
Fassungslos beobachtete sie, wie sie selbst gerade mit ihrem Fuß gegen Max Schienenbein trat, der gerade noch ausweichen konnte und ihr dafür sogleich mit der rechten Faust ins Gesicht schlug. Diesmal war sie nicht schnell genug, um auszuweichen. Einen Moment lang sah sie nur noch Sternchen vor den Augen und fand sich benommen auf dem Boden sitzend wieder.
Aber, das konnte doch gar nicht sein! Sie war sich hundertprozentig sicher, dass Max, der ja direkt neben ihr gestanden war, nicht einen Finger gerührt hatte.
Mit einem Mal war ihr alles klar: Ihre Spiegelbilder hatten sich offenbar selbstständig gemacht. Und leider spielte sich das nicht etwa nur in der „Spiegelwelt“ ab. Das wäre zwar einigermaßen irritierend aber letztlich doch völlig harmlos gewesen.
Nein, das, was ihre Spiegelbilder da miteinander veranstalteten, hatte leider unmittelbare Auswirkung auf die Realität.
Und es war eindeutig Mordlust, was sie jetzt in den Augen ihres eigenen Spiegelbildes erkennen musste, das sich gerade sprung- und kampfbereit an die eine Wand des Flures zurückgezogen hatte. Aber auch Max Spiegelbild hatte eine lauernde Position eingenommen und ließ Sarah, respektive ihr Abbild, keine Sekunde lang aus den Augen.
Aber, was das schlimmste war: Max (der im Spiegel) zog jetzt ein langes Messer aus seinem Hemd, und auch Sarah hatte mit einem Mal ein Messer in der Hand. Die beiden Kinder im Spiegel begannen damit, sich langsam zu umkreisen.
Das brach endlich den Bann.
Max und Sarah (die beiden echten) blickten sich an.
„Nichts wie weg hier!“ schrien sie wie aus einem Mund.
Im nächsten Moment waren sie auch schon hinter der nächsten Ecke verschwunden und fanden sich, zu ihrer unendlichen Erleichterung, in einem Flur wieder, in dem nicht ein einziger Spiegel hing.
Sarah, die immer noch fürchtete, jeden Moment ein Messer im Rücken stecken zu haben, hielt sich hier aber nicht lange auf, sondern rannte lieber weiter, dicht gefolgt von Max, dem der Schrecken noch im Gesicht geschrieben stand. Er hatte nämlich, im buchstäblich letzten Moment, noch im Augenwinkel sehen können, wie sie beide mit den Messern gerade aufeinander losgegangen waren.
Gott sei Dank war der tödliche Zauber in dem Moment wieder vorbei, in dem sie nicht mehr vor dem Spiegel standen!
Dass ihnen jetzt die Portraits der vornehmen Damen und Herren, die in den nächsten Fluren und Zimmerfluchten hingen, Schimpfworte und Beleidigungen hinterher riefen (Und davon waren einige dabei, die so unanständig waren, dass man sie hier auf keinen Fall wieder geben kann!), war nach dem gerade Erlebten natürlich völlig nebensächlich. (Eine vornehme ältere Dame in einem spitzenbesetzten Kleid griff sogar in das direkt neben ihr hängende Stillleben, um den beiden Kindern Tomaten, Äpfel und andere nicht mehr ganz frische Früchte hinterher zu werfen, die sie aber glücklicherweise allesamt verfehlten).
Auch die marmorne Statue einer nackten Frau, die Max am Türausgang noch rasch ein Bein stellte, konnte die Flucht der beiden Kinder nicht merklich aufhalten.
Schließlich gelangten sie in einen Teil des Gebäudes, in dem weder Spiegel noch Bilder hingen. Völlig außer Atem versteckten sie sich erst einmal hinter einer dicken Säule.
„Wenn ich doch nur noch etwas von dem Zaubertrank übrig hätte… Dann könnten wir beide uns in ein Kleintier, vielleicht wieder in ein Kaninchen, verwandeln und unbemerkt aus dem verdammten Schloss herauskommen!“, flüsterte Max leise und schnappte nach Luft.
Sarah stutzte. „Wie? Das Kaninchen, das mich zu diesem Busch gelockt hatte, warst auch du gewesen?“
Im nächsten Moment fiel ihr aber ein, wie überflüssig diese Frage war. Natürlich war er das gewesen. Nur so machte das Ganze einen Sinn…
Nachdem sie sich einigermaßen sicher waren, nicht verfolgt worden zu sein, wagten die Kinder es, in den nächsten Raum zu gehen.
Sarah erkannte die lange Halle sofort wieder: Es war der Spiegelsaal, den sie bereits am ersten Tag ihrer Ankunft im Schloss entdeckt hatte und der in den Garten hinausführte. Sie stieß einen leisen Freudenschrei aus: „Nichts wie raus hier, Max!“
13
Kurz darauf befanden sie sich auf der großen Freitreppe, die hinab auf in die Parkanlagen führte. Am Fuße der Treppe versteckten sie sich erst einmal hinter einem Absatz.
Sie waren erleichtert, dass weiterhin nichts von irgendwelchen Verfolgern zu sehen oder zu hören war. Flüsternd beratschlagten sie, was sie als nächste tun sollten.
Sie kamen zu dem Schluss, dass es sicherlich das Beste sein würde, wenn sie zunächst versuchten, die Stelle wiederzufinden, wo der komische Strauch mit den bunten Beeren wuchs. Schließlich lag hinter diesem die Mauer, die das Gelände umschloss. Wenn sie diese erst überwunden hatten, waren sie sicherlich erst einmal in Sicherheit. Irgendwo da draußen musste zudem die Hütte des Zauberers stehen.
Bevor sie weitergingen, schaute sich Sarah noch einmal nach dem Schloss um. Das (wohl nur in ihren Augen) ehemals so prächtige Gebäude war wirklich völlig heruntergekommen. An zahlreichen Fenstern fehlten die Scheiben, der Putz blätterte überall großflächig ab, und auch das Dach war an vielen Stellen bereits eingestürzt.
Sarah entdeckte etwas Weißes in Max Nacken. Sie dachte es wäre eine Fussel und zog daran.
„Autsch!“ Max griff sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Hals und blickte seine Freundin etwas irritiert an.
Diese schaute überrascht auf das Ding zwischen ihren Fingern: Es war eine flaumige Feder, die sie aus der Haut des Jungen herausgezogen hatte.
„Na, so ganz vollständig scheint deine Rückverwandlung in einen Menschen ja nicht geklappt zu haben!“
Max rieb sich den Nacken. „Ja, und seitdem ich ein Kaninchen war, habe ich die ganze Zeit einen Riesenhunger auf Salat und Karotten, wobei ich dieses Zeug eigentlich noch nie leiden konnte…“
Wenig später waren die Kinder zwischen den hohen Hecken eines der zahllosen Wege verschwunden. Allerdings wussten sie bereits nach wenigen Metern nicht mehr, welche Richtung sie einschlagen sollten, um zu ihrem Ziel zu gelangen. Für Sarah sah alles völlig anders und ungewohnt aus, so ungepflegt und zugewachsen war der einstmals so makellose Park jetzt.
Und Max musste kleinlaut zugeben, dass ihm bei der Orientierung ganz eindeutig die gewohnte Kaninchenperspektive fehlte.
Inmitten eines hoffnungslos verwilderten Rosengartens angekommen, verschnauften die beiden erst einmal. Sarah setzte sich auf eine umgestürzte marmorne Bank, die fast vollständig von wilden Rosentrieben zugewachsen war. Dabei fühlte sie einen Gegenstand, den sie in der Tasche ihres Kleides trug und den sie in der ganzen Aufregung völlig vergessen hatte. Der schöne goldene Anhänger mit dem Einhorn!
Sie griff nach der Kette und zog daran. Verwundert stellte sie fest, dass sich irgendetwas in der Tiefe ihrer Tasche zu bewegen begann und es gar nicht so einfach war, die Kette aus der Tasche herauszubekommen. Mit einem kräftigen Ruck hatte sie das Ding endlich heraus befördert-
-und stieß einen spitzen Schrei aus.
Voller Ekel schleuderte sie den Anhänger von sich fort. An der Kette, jetzt nunmehr ein profaner abgewetzter Strick, hing eine lebendige fette haarige Spinne! Sie hoffte inständig, dass die Kette sich jetzt erst verwandelt hatte, und dass sie nicht schon die ganzen Tage dieses widerliche Vieh um den Hals getragen hatte. Sarah konnte ein Würgen nicht unterdrücken.
Sie drehte sich nach Max um, um ihm von diesem ekligen Fund zu erzählen. Der rothaarige Junge stand aber nicht mehr neben ihr.
Sarah erhob sich und verließ den Garten durch die nächste Öffnung in der Hecke, um nach ihrem Gefährten zu suchen.
Dort stand Max, mit dem Rücken zu ihr. Er schien wie angewurzelt zu sein. Gerade wollte sie einen Schritt auf ihn zugehen, als sie begriff, was mit ihm los war: Direkt vor ihm stand einer der zahmen Löwen und blickte ihn an. Es raschelte rechts und links, und nach und nach kamen sie alle aus den angrenzenden Hecken und Büschen heraus: Tiger, Panther, Leoparden…
Sarah wollte Max gerade erleichtert zurufen, dass er doch keine Angst zu haben brauche, weil das doch alles ihre Freunde waren. Da blieben ihr schon die ersten Worte des Satzes im Halse stecken. Ein Blick auf den schwarzen Panther, der sich ihr gerade von links näherte, hatte genügt, um sie zum Verstummen zu bringen.
Das waren nämlich nicht mehr ihre lieben, immer satten und zufriedenen zahmen Freunde. Nein, das Vieh neben ihr sah räudig, böse und vor allen Dingen ausgesprochen hungrig aus!
„Oh, mein Gott!“, hörte Sarah Max mit zitternder Stimme flüstern. „Bitte friss mich nicht!“
Sarah dachte schon, jetzt habe ihre letzte Stunde geschlagen.
14
Da gab es mit einem Mal einen gewaltigen Donner, der den Boden unter ihren Füßen erbeben ließ. Gleichzeitig blitzte es so hell auf, dass Sarah die Augen ganz geblendet schließen musste. Als sie wieder einigermaßen sehen konnte, erkannte sie etwas, was sie, trotz der offensichtlichen Gefahr, in der sie sich gerade befanden, fast einen Freudensprung machen ließ:
Inmitten von Nebelschwaden und wild zuckenden Blitzen, das Bild erinnerte Sarah frappierend an ihre erste Begegnung mit Max, stand sein Onkel, der alte Zauberer, den Zauberstab drohend erhoben. Es war wirklich eine beeindruckende Vorstellung, die der alte Mann da gab. Sein Zaubermantel, der Bart und das lange weiße Haar flatterten im Wind, der mit einem Mal aufgekommen war und das trockene Laub in der Luft herumwirbeln und tanzen ließ. Aus den Augen des Mannes schienen Funken zu sprühen, so zornig funkelten sie.
Dazu donnerte seine Stimme: „Hinweg, Viehzeug!“
Die Raubtiere fauchten wütend, wichen jedoch mit drohend aufgerissenen Mäulern trotzdem Schritt für Schritt zurück. Kaum waren sie von Max und Sarah wieder ein paar Meter entfernt, eilten diese rasch zu dem Zauberer hin, der sogleich seinen freien Arm schützend um sie legte. Hier, in der unmittelbaren Umgebung des Mannes war es eigentümlicherweise völlig windstill. Umso stürmischer ging es allerdings unmittelbar vor ihnen zu: Der Zauberer hatte jetzt seinen Zauberstab gesenkt und führte mit ihm, dabei auf die Gruppe der Raubtiere zeigend, die jetzt dicht aneinander gedrängt in einer Ecke des Gartens standen, kreisende Bewegungen aus.
Es dauerte nicht lange und ein Wirbelsturm bewegte sich in die Richtung der Tiere. Schließlich kreiste er um sie herum, wobei er weiterhin Staub, Äste und Laub mit sich führte und eine für die Raubkatzen undurchdringliche Barriere bildete.
Jetzt senkte der Zauberer seinen Stab und wischte sich mit einer erschöpften Handbewegung die Haare aus der Stirn. Er lächelte die Kinder an und nahm erst Sarah und dann Max in die Arme und drückte sie fest an sich. Der Zauberwirbel schien dabei selbstständig weiter zu funktionieren. Die eingesperrten Tiere näherten sich immer wieder ärgerlich fauchend der windigen Barriere, wichen aber jedes Mal rasch wieder zurück.
„So, Kinder. Lasst mich jetzt endlich ein Machtwort mit den lieben Tieren sprechen…“
Der Zauberer löste sich aus der Umarmung mit Max und Sarah und stellte sich mit verschränkten Armen unmittelbar vor die magische Barriere. Ein schwarzer, im Gegensatz zu seinen Kameraden erstaunlich gut genährter Panther näherte sich von der anderen Seite und fauchte Max Onkel wütend an. Dieser blickte völlig ungerührt auf das große Raubtier herab und meinte nur: „Na Markus, immer noch der Alte, wie? Wo alle anderen darben, erreichst du es doch immer noch, dass für dich ein paar Bröckchen mehr abfallen, als für den Rest…“
Das angesprochene Raubtier zog sich daraufhin mit eingezogenem Schwanz zurück, wobei es von den anderen Raubkatzen ärgerlich angeknurrt wurde.
„Ihr braucht den armen Markus gar nicht so anzugehen. Keinen Deut besser, wie ihr allesamt seid!“ Zu Sarahs Erstaunen setzte ein großes Wehklagen und Jammern ein, was sich aus den Mäulern der mächtigen Tiere recht merkwürdig anhörte.
„Woher kennst du denn bloß ihre Namen?“, fragte Max und blickte seinen Onkel mit großen Augen an.
Dieser lächelte seinen Neffen an.
„Ich habe euch doch von meinem Besuch bei dem Rat der Zauberer vor vielen Jahren erzählt, damals, als ich dort zu meinem Erstaunen meinen alten Mitzauberer wieder traf, den jetzigen König. Nun, wie ihr wisst, kam es dabei auch zu einem Wiedersehen mit anderen Zauberkollegen aus früheren Tagen. Von manch einem von ihnen hatte ich gedacht, er wäre geflüchtet oder womöglich in den dunklen Zeiten der Verfolgung umgekommen. Umso überraschter war ich gewesen, viele meiner damaligen tapferen Mitstreiter nunmehr im Dienste des ehemaligen Feindes stehen zu sehen!“
Er drehte sich um zu den Raubkatzen, die sich jetzt allesamt in der hintersten Ecke ihres Gefängnisses drängten und sich jeweils hinter dem anderen zu verstecken suchten.
„Darf ich vorstellen: Der magere Löwe da hinten war in seinem früheren Leben unser zweiter Vorsitzender, später immerhin Minister für das Finanz- und Geldwesen. Ja, und wen sehe ich da? Siegwart, der tapferste von uns allen. Und ich dachte wirklich, du wärst damals im Kampf gefallen. Das hier hättest du dir später als Kriegsminister sicherlich nicht träumen lassen!“ Sarah konnte erkennen, wie ein stattlicher Tiger seinen Schwanz einzog und sich hinter dem dicken Bauch eines der Löwen zu verbergen suchte.
„Und direkt vor dir, die freundliche Katze mit dem dicken Bauch war auch früher niemals abgeneigt, wenn es um gutes Essen und Trinken ging. Der dicke Bernhard. Ich habe schon vor langer Zeit Kunde erhalten, dass du deine Vorlieben zum Beruf gemacht hast. Haus- und Hofmeister des Königs seiest du geworden. Ich gratuliere dir!“
Dann griff sich der Zauberer ganz theatralisch mit einer erschrockenen Geste an den Hals. „Aber, was muss ich zu meiner großen Erschütterung feststellen, meine ehemaligen Freunde? In Ungnade gefallen seid ihr, bei eurem geliebten König? In räudige wilde Tiere verwandelt, die die nicht minder verwahrlosten Besitztümer eures Herrn zu bewachen haben…“
„Nein!“ Er hatte die Stimme erhoben und funkelte die Raubkatzen an, die winselnd und mit eingezogenem Schwanz auf ihn zukamen.
„Ich werde euch noch nicht befreien und schon gar nicht eure frühere Gestalt zurückgeben. Erst einmal werdet ihr hier brav warten, bis wir unser Ziel erreicht haben.“
Ein lautes Aufheulen und Wehklagen setzte an. Der Zauberer achtete nicht weiter darauf und bedeutete den Kindern ihm zu folgen. Nachdem sie ein kleines Stück gelaufen waren, wagte es Sarah als erste, das Wort zu ergreifen. Sie wollte wissen, warum sie die Tiere nicht nach dem Verbleib ihrer Eltern fragen konnten. Daraufhin schmunzelte der alte Zauberer und breitete die Arme aus:
„Um der Wahrheit genüge zu geben: Ich habe keine Ahnung, wie ich meinen ehemaligen Freunden die alte Gestalt und vor allem ihre menschliche Stimme zurückgeben könnte. Ich bezweifle aber allerdings, dass sie wirklich etwas wissen. Wahrscheinlich haben sie schon seit geraumer Zeit überhaupt keine Macht mehr. Ich denke, unser Gegner, der König, vertraut schon lange niemandem mehr so richtig. Außerdem hat es den Anschein, dass er sich seiner Sache ungemein sicher ist und womöglich glaubt, mittlerweile sein Ziel erreicht zu haben.“
Er blieb plötzlich stehen und schaute Sarah mit jetzt sehr ernster Miene ins Gesicht.
„Sarah, hat er etwa sein Ziel erreicht?“
Die Angesprochene schaute den alten Mann mit großen Augen an.
„Mein Kind. Ich will damit doch nicht sagen, dass du uns verraten hast. Aber irgendwie scheint er einiges von dem erreicht zu haben, was er mit deiner Entführung bezweckt hatte. Warum sonst lässt er uns hier weitgehend unbehelligt umherziehen?“
Er nahm Sarah in den Arm:
„Bitte versuche dich zu erinnern. Was könntest du ihm gegeben haben, was er so unbedingt haben wollte? Vergiss nicht, du hast die ganze Zeit unter dem Einfluss seiner magischen Kräfte gestanden!“
Sarah überlegte krampfhaft. Sie fühlte sich ganz elend. Mühsam versuchte sie, ihre Tränen zurückzuhalten, als sie schließlich antwortete:
„Nein, ich bin ihm nie begegnet, zu keinem Zeitpunkt. Da bin ich mir ganz sicher. Ich bin hier in der ganzen Zeit überhaupt niemals einem menschlichen Wesen begegnet!“
Der Zauberer drückte Sarah fest an sich.
„Ich glaube dir doch mein Kind. Ich will doch alles tun, um dir zu helfen…“
„Das hättest du schon tun können, indem du niemals hier erschienen wärst!“
Zu Tode erschrocken drehten sich Sarah und Max um.
15
Sowohl Sarah als auch Max schauten sich zunächst vergeblich nach dem Besitzer der Stimme um. Dann sahen sie, dass der alte Zauberer, der im Übrigen im Gegensatz zu ihnen ganz ruhig stehen geblieben war, nach oben schaute. Die Kinder folgten seinem Blick und erkannten einen großen Vogel, der in einem Baum direkt über ihnen saß und auf sie herabblickte.
Das Tier war ziemlich groß und hässlich, hatte eine schmutzigbraune Farbe und einen langen, fast nackten Hals. Es war ein Geier, da war sich Sarah ziemlich sicher. Was ausgesprochen seltsam war, abgesehen davon, dass der Vogel sprechen konnte, war die Tatsache, dass er auf seinem kleinen Kopf eine goldene Krone trug…
Sollte das etwa…
Sarah kam nicht mehr dazu, ihren Gedanken zu Ende zu bringen. Max Onkel hatte das Wort ergriffen.
„Ich grüße dich, Rufus. Es ist eine ganze Zeit her, dass wir uns zuletzt gesehen haben“, sprach er mit ruhiger Stimme.
Der Geier neigte seinen Kopf zur Seite: „Arthur, ich freue mich zu sehen, dass du dich in all den Jahren kaum verändert zu haben scheinst. Immer noch keinerlei Respekt vor der Obrigkeit. Aber sei es drum. Aus deinem Mund würde mein rechtmäßiger Titel ohnehin eher wie Hohn klingen. Aber, genug mit dem Austausch belangloser Höflichkeiten!“
Die anfangs ölig-freundlich klingende Stimme des Königs wurde hart und schneidend.
„Ich kann euch folgendes Angebot machen. Und das auch nur wegen unserer Verbundenheit aus alten Tagen: Du, Arthur, und der rothaarige Junge, ihr könnt unbehelligt von hier verschwinden. Aber glaubt nicht, dass ich euch noch einmal entkommen lasse, wenn ihr mir noch einmal in die Finger geratet.“
„Ach, nur dass keine Missverständnisse auftreten: Das Mädchen da…“, er nickte mit dem Schnabel wie beiläufig in Sarahs Richtung, „…das bleibt natürlich hier.“
Sarah merkte, wie sich in ihrem Bauch ein Eisklumpen zu bilden schien. Ihr erster Gedanke war, einfach davonzurennen. Aber das wäre natürlich völlig sinnlos gewesen. Die kalten Augen des Aasfressers ruhten jetzt abschätzig auf ihr.
„Mein Kind, du brauchst keine Angst zu haben. Dir wird es an nichts mangeln, hier bei mir im Schloss. Ich muss zugeben, dass ich alles ein wenig vernachlässigt und mich vielleicht ein wenig zu sehr auf die Magie verlassen habe, aber das wieder in Ordnung zu bringen ist wirklich ein Kinderspiel.“
Die Stimme klang überaus einschmeichelnd, aber Sarah lief es dabei kalt den Rücken herunter. Unter den Blicken des seltsamen König-Vogelwesens fühlte sie sich so, wie eine Maus, die ganz starr vor Schreck vor einer aufgerichteten Schlange saß und ganz genau wusste, dass sie gleich verspeist werden würde…
Alles, was sie als Antwort darauf zustande brachte, war ein ohnmächtiges Kopfschütteln.
„Ach, Kleine. Es ist doch zwecklos. Wenn du erst erfahren hast, wie eng wir miteinander verbunden sind, wirst du dir an die Stirn greifen und dich fragen, warum du nicht freiwillig mitgekommen bist. Aber ich sehe schon: Ich muss wohl doch ein wenig nachhelfen…“
Sarah konnte gar nicht so schnell hinschauen, geschweige denn weglaufen, da hatte der große Vogel schon seine Schwingen ausgebreitet und sich mit einem heiseren Schrei von seinem Ast herabgestürzt.
Dabei geschah etwas Unheimliches: Der Vogel, der ohnehin schon recht stattlich ausgesehen hatte, nahm auf den wenigen Metern zusehends an Größe zu. Als er schließlich direkt über ihr war, erkannte sie, dass es für ihn ein Leichtes sein würde, sie einfach mit seinen scharfen Krallen zu packen, um sich dann auf Nimmerwiedersehen mit ihr in die Luft zu erheben.
Sie schrie auf und duckte sich im letzten Moment. Der große Vogel verfehlte ihre Schultern nur um Haaresbreite und stieß einen ärgerlichen Ruf aus. Gleich darauf hatte er aber schon wieder kehrt gemacht, um sich erneut auf sein Opfer zu stürzen.
Da warf sich plötzlich Max schützend vor seine Gefährtin und schlug mit einem herumliegenden Ast nach dem König. Ganz verdutzt schwang sich der riesige Geier wieder in die Luft.
„Du dummer kleiner Junge!“ Es war fast nur ein heiseres Zischen, das der Vogel ausstieß, bevor er sich auf Max stürzte. Sarah sah vor ihrem inneren Auge schon, wie sich die spitzen Krallen des Geiers in den Leib des Jungen bohrten, als sie die Stimme des alten Zauberers donnern hörte:
„Genug, Rufus!“ Er hatte sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet und zielte mit der Spitze seines Zauberstabes auf seinen Widersacher. Ein heller Blitz zuckte hervor und traf den riesigen Vogel mitten in die Brust. Ein Meer von Federn regnete auf sie herab.
Sarah hörte, wie der Geier einen überaus wütenden Schrei ausstieß. Dann war der große Vogel plötzlich verschwunden.
Zum Aufatmen blieb den Gefährten allerdings keine Zeit: Direkt vor Max und dem Zauberer richtete sich im nächsten Moment eine gewaltige Schlange auf. Bevor sie aber nach den beiden stoßen konnte, hatten diese sich schon instinktiv zur Seite geworfen.
Bald darauf war ein seltsamer Kampf im Gange.
Sarah und Max gingen hinter einem Busch in Deckung und verfolgten mit angehaltenem Atem, wie sich die beiden Widersacher gegenseitig niederzuringen versuchten. Es handelte sich aber nicht etwa um einen Kampf mit Waffen. Weit gefehlt: Mit einer Geschwindigkeit, die es dem Zuschauer fast unmöglich machte, alles richtig zu verfolgen, verwandelten sich sowohl der König als auch der Zauberer immer wieder in neue Geschöpfe. Dabei versuchte ein jeder von ihnen immer wieder ein neues Tier zu finden, welches dem anderen überlegen war und es zu besiegen vermochte.
Mal sahen sie einen großen schwarzen Hund mit gefletschten Zähnen, woraufhin sich ein gewaltiger Adler in die Luft erhob, um diesen aus der Luft zu attackieren. Der Hund verschwand, um im nächsten Moment als gepanzerte Riesenschildkröte wieder aufzutauchen, gegen die auch die scharfen Krallen des Adlers nichts ausrichten konnten. Manchmal konnten Max und Sarah kaum etwas erkennen, wenn sich die beiden Gegner in etwas winzig Kleines verwandelten, eine Ameise oder einen Käfer vielleicht.
Seltsam war dabei, dass der König bei all seinen Verwandlungen immer seine Krone auf dem Kopf behielt. War es Eitelkeit?
Dann war es plötzlich ein gewaltiger grauer Elefant, der sich triumphierend auf seine Hinterbeine stellte. Erstaunt beobachteten Sarah und Max, wie der Elefant mit einem Mal erschrocken zurückwich, ohne dass sie seinen Gegner sehen konnten. Trotz allem mussten sie beide laut auflachen, als sie das schreckliche Geschöpf endlich zu Gesicht bekamen, vor dem der graue Riese so furchtbare Angst hatte: Es war eine winzig kleine weiße Maus!
Gleich darauf musste allerdings auch diese fliehen, als ein gekrönter grau gestreifter Kater hinter ihr her jagte.
Schließlich sah es so aus, als hätte der böse König den alten Zauberer überlistet: Er hatte sich mit einem Mal erneut in eine Schlange verwandelt, vor der sich jetzt ein kleines pelziges Tier duckte, das ein wenig einem Wiesel ähnelte. Warum unternahm der Zauberer denn nichts? Sarah war fassungslos. War der alte Mann jetzt am Ende mit seiner Weisheit oder einfach nur erschöpft? Oder war er womöglich ernsthaft verletzt?
Dann geschah etwas gänzlich Unerwartetes: Das kleine Tier war doch tatsächlich zum Angriff übergegangen und hatte der Schlange, die doch um ein Vielfaches größer war als es selbst, bei seinem blitzschnellen Vorstoß eine große blutende Wunde zugefügt. Die Schlange wich daraufhin tatsächlich zurück, verfolgt von dem tapferen kleinen Tier, das immer wieder vorschnellte und die Schlange attackierte. Da wusste Sarah mit einem Mal, in was sich der alte Zauberer verwandelt hatte: Es war ein Mungo! Ein Tier, das zu den wenigen Geschöpfen gehörte, das vor einer Schlange keine Angst hatte und sie zu besiegen vermochte!
Dann war die Schlange plötzlich verschwunden. Dort, wo sie eben noch zu sehen gewesen war, stieg eine feine Rauchsäule in den Himmel, die immer höher hinaufstieg und schließlich verschwand. Ein unangenehmer Geruch nach Schwefel erfüllte die Luft.
Hatte der Zauberer den König besiegt? Vielleicht sogar endgültig?
Im nächsten Moment begann direkt über ihren Köpfen das gewaltigste Unwetter loszugehen, das Sarah jemals erlebt hatte. Innerhalb von Sekunden hatte sich der vorher strahlend blaue Himmel verfinstert. Ein starker Wind war aufgekommen, der die Bäume und Büsche zu Boden drückte und gleichzeitig dichte schwarze Wolken vor sich her trieb. Gleich darauf begann es wie aus Kübeln zu schütten, begleitet vom Donnergrollen und der Blitze des rasch näher ziehenden Gewitters.
Es dauerte nicht lange und sie waren alle drei bis auf die Haut durchnässt. Plötzlich gab es einen gewaltigen Krach, als ein Blitz zuckend in eine altehrwürdige Eiche einschlug, die sofort lichterloh zu brennen anfing. Kaum zwei Sekunden später erwischte es einen der hohen schlanken Tannenbäume, die am Wegesrand standen.
Sarah und ihren Gefährten blieb nichts anderes übrig, als schleunigst die Beine in die Hand zu nehmen. Sie mussten irgendwo Schutz vor dem heftigen Unwetter suchen.
Man konnte mittlerweile kaum noch die Hand vor den Augen sehen, so stark regnete es. Man meinte fast, durch eine Wasserwand laufen zu müssen. Jetzt durften sie sich bloß nicht verlieren! Der Weg, auf dem sie unterwegs waren, verwandelte sich zu allem Überfluss immer mehr in einen Sturzbach.
Schließlich mussten sie alle drei stehen bleiben und einen Moment verschnaufen. Auch wenn es immer noch stark regnete, schien das Zentrum des Unwetters offensichtlich dort geblieben zu sein, wo es über sie hereingebrochen war. Sarah schnatterte vor Kälte, denn auch die Temperatur schien gefallen zu sein.
Als sie sich umschaute, kam ihr dieser Teil des Parks seltsam bekannt vor.
Ihrer Sache noch nicht hundertprozentig sicher, bedeutete sie ihren Freunden, ihr zu folgen. Max wollte etwas sagen, aber sein Onkel schüttelte nur stumm mit dem Kopf.
„Sie wird wissen, was sie tut…“, sprach er leise.
Nach einer kurzen Wegstrecke, die ihr wegen des heftigen Gegenwindes allerdings mindestens doppelt so lang vorkam, wusste Sarah, dass sie sich nicht getäuscht hatte:
Vor ihnen lag der geheimnisvolle See, den sie zuvor so verzweifelt gesucht und einfach nicht wieder gefunden hatte!
Kurz darauf standen sie vor der undurchdringlich wirkenden Baumreihe. Sarah merkte, wie die Blicke ihrer beiden Gefährten jetzt auf ihr ruhten. Sie wusste auch nicht, warum sie sich mit einem Mal so sicher war, aber irgendetwas, tief in ihrem Inneren, sagte ihr hartnäckig, dass genau dieser See ihr nächstes Ziel sein sollte.
Sarah schaffte es schließlich als erste, sich durch das lästige Gestrüpp hindurchzuarbeiten. Sie merkte kaum, wie sie sich dabei lange Strähnen ihrer Haare ausriss und wie die scharfen Dornen ihre Kleidung zerrissen, so sehr war sie jetzt von einer zunehmenden Unruhe erfasst. Schließlich fand sie sich am Rand einer großen Grube stehend wieder, die von allen Seiten von hohen Bäumen umgeben war. Obwohl sich vor ihr diesmal keine Wasserfläche ausbreitete, war sich Sarah absolut sicher, die geheimnisvolle Stelle wieder entdeckt zu haben, wo sich damals der kleinen See befunden hatte, den sie nicht wiedergefunden hatte.
Wie anders doch jetzt alles aussah.
Der kleine See mit seiner glatten Wasseroberfläche, in der sich das Grün der umgebenden Bäume so schön gespiegelt hatte, war verschwunden. Oder war er womöglich nie da gewesen? Sarah konnte schon von weitem erkennen, dass die Hänge und auch der Boden der Grube dicht bewachsen waren.
Am Grund der Grube konnte Sarah die geheimnisvollen Steine sehen, die sie beim Tauchen so fasziniert hatten. Es waren viel mehr, als sie damals gedacht hatte. Eigentlich war die gesamte Fläche damit bedeckt. Teilweise schienen sie sogar recht gleichmäßig inmitten des üppig wuchernden Grüns zu stehen. In ihrer Mitte allerdings, praktisch im Zentrum des ausgetrockneten Sees, fanden sich die verfallenen Reste eines Gebäudes.
Ohne weiter nachzudenken und ohne auf ihre Gefährten zu warten, die noch dabei waren, sich durch die dichte Pflanzenhecke hindurchzukämpfen, lief Sarah mit raschen Schritten den Hang hinab. Irgendetwas da unten zog ihre Aufmerksamkeit fast schon magisch auf sich.
Es war genau wie damals.
Lange bevor sie die ersten der merkwürdigen Steingebilde erreichen konnte, hatte sie bereits begriffen, um was es sich da am Grunde der Grube eigentlich handelte.
Es war ein Friedhof.
16
Erstaunlicherweise verspürte Sarah überhaupt keine Furcht. Sie wunderte sich lediglich ein wenig, dass sie dies nicht damals schon beim Tauchen erkannt hatte.
Während sie sich dem Grund der Grube weiter näherte, stellte sie fest, dass der Friedhof uralt sein musste. Kaum einer der vielen Grabsteine stand noch gerade und aufrecht da. Außerdem waren viele der Steine fast vollständig von Efeu oder Moos überwuchert, genau wie die Stämme der verkrüppelten Bäume, die zwischen den Gräbern und am Hang der Grube wuchsen. Hier und da konnte Sarah noch die verwitterten Reste eines verschnörkelten schmiedeeisernen Zaunes erkennen, der das ganze Areal offenbar einst umgeben hatte.
Mit einem Mal wusste sie, dass es das verfallene Gebäude war, zu dem sie jetzt gehen musste.
Das war gar nicht so einfach und auch nicht ungefährlich, weil der Boden mit Flechten, Efeu und anderen kriechenden Gewächsen bedeckt war und man nicht erkennen konnte, ob sich darunter nicht vielleicht ein Stein oder eine anderes Hindernis befand.
Währenddessen hatte sich das Unwetter wieder verstärkt. Der Himmel war jetzt wieder pechschwarz. Blitze zuckten aus den dichten Wolken, und es donnerte fast ununterbrochen.
Sarah fiel erst jetzt auf, dass sie ihre Gefährten verloren hatte. Erstmals seitdem sie die geheimnisvolle Grube wieder entdeckt hatte, überkam sie wieder ein Gefühl der Furcht.
Sie drehte sich suchend um. Es war jetzt so finster geworden, dass sich die Bäume kaum noch vom Himmel abhoben. Wie sollte sie da ihre Gefährten finden können? Waren diese ihr überhaupt gefolgt?
Im nächsten Moment zuckte sie erschrocken zusammen. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie bereits an ihrem Ziel angekommen war. Direkt vor ihr ragten graue, moosbewachsene Säulen und Mauern in den schwarzen Himmel empor. Jetzt spürte sie diese merkwürdige Anziehungskraft stärker denn je. Sie schien direkt von der Ruine auszugehen.
Ängstlich und fasziniert zugleich trat sie näher an das verfallene Gebäude heran, das einem antiken Tempel ähnelte. Die rissigen Säulen trugen einen Giebel, auf dem, in Stein gemeißelt, eine längst verwitterte Inschrift stand. Seltsamerweise schien das Gebäude weder Türen noch Fenster zu besitzen. Sie schaute nach oben und erkannte zahlreiche Statuen, die allesamt aus dem gleichen grauen Marmor gearbeitet waren wie der Rest des Gebäudes. Es waren furchterregende Fabelwesen, die ihre weit aufgerissenen, mit spitzen Zähnen besetzten Mäuler dem schwarzen Himmel entgegenstreckten.
Die plötzliche Erkenntnis durchzuckte sie wie ein Blitz: Es muss eines dieser steinernen Ungeheuer gewesen sein, an dessen Zähnen sie sich beim Tauchen verletzt hatte. Sie fasste sich an den Unterschenkel, der mit einem Mal wieder zu schmerzen begonnen hatte und stellte erschrocken fest, dass ihre Finger voller Blut waren.
Sicherlich hatte sie sich das Bein vorhin irgendwo in dem dichten Gestrüpp verletzt.
In ihrem tiefsten Inneren wusste sie aber, dass diese Erklärung nicht zutraf…
Erst jetzt fiel es Sarah auf, dass in die Mauer des seltsamen Tempels zahlreiche Tafeln eingelassen waren, Tafeln auf denen sie allerlei Schriftzeichen und Zahlen erkennen konnte. Diese allerdings waren zum größten Teil verwittert und kaum noch zu entziffern. Aber das wenige, was sie lesen konnte, zeigte ihr, dass es Gedenktafeln oder Grabinschriften waren.
Also musste es sich bei dem komischen Gebäude um ein großes Grab handeln. Ein Mausoleum also, vielleicht eine Gedenkstätte für eine reiche und einflussreiche Familie.
Sarah drehte sich noch einmal suchend nach ihren Gefährten um. Ihr war zunehmend unheimlich zu Mute, und sie sehnte sich nichts mehr herbei, als die Gesellschaft ihrer Freunde. Gerade in dem Moment erhellte ein Blitz die Dunkelheit, und sie konnte Max und den Zauberer erkennen, die vor den Bäumen am Rande der Grube standen. Sie winkte ihren Gefährten ungeduldig zu, damit sie rasch zu ihr herunterkamen.
Da fiel ihr Blick auf eine Steinplatte zu ihren Füßen, die sie zunächst ganz übersehen hatte und die sich von den anderen Tafeln dadurch unterschied, dass sie viel heller und noch nicht mit dem grünlich-braunen Moos bewachsen war.
Neugierig bückte sich Sarah, um die Aufschrift auf dem Grabstein besser entziffern zu können. Dieser schien wirklich noch ganz neu und sicherlich erst kürzlich eingesetzt worden zu sein.
Sarah las den Namen und die Jahreszahlen auf dem Grabstein, zunächst ohne zu begreifen, was da überhaupt stand. Dann wurde es ihr mit einem Mal ganz schwindlig. Ihre Lippen bewegten sich lautlos, als sie die Inschrift noch einmal entzifferte. Ihre Knie gaben schließlich nach, so dass sie sich auf den nassen Boden knien musste.
Völlig fassungslos strich sie mit beiden Händen über die kalte Steinplatte, als könnte sie dadurch die dort eingemeißelten Buchstaben wieder zum Verschwinden bringen.
Und dann geschah etwas Seltsames.
17
Max und sein Onkel waren hinter Sarah zurückgeblieben, da der Zauberer seinem Neffen zunächst dabei hatte behilflich sein müssen, sich wieder aus dem dichten dornigen Geäst zu befreien, das sich in dessen Jacke und vor allem in seinen lockigen Haaren verfangen hatte. Als sich beide endlich durch das Dickicht hindurch gekämpft hatten, stellten sie zu ihrem Schrecken fest, dass sie das dunkelhaarige Mädchen aus den Augen verloren hatten.
Immer wieder erhellten Blitze die Dunkelheit, und sie konnten in die Tiefe der Grube blicken, an deren Rand sie jetzt standen. Sie konnten zahlreiche graue Steine erkennen, die dort im hohen Gras herumlagen. In der Mitte der Grube stand ein graues, halb verfallenes Gebäude. Und genau davor erblickten sie schließlich Sarah.
Der alte Zauberer öffnete schon seinen Mund, um ihr zuzurufen, dass sie von der Ruine fernbleiben und lieber warten sollte, bis er und Max zu ihr herunter gekommen waren. Denn irgendetwas an dem, was er dort sah, gefiel ihm ganz und gar nicht, ohne dass er zu sagen vermocht hätte, was es war. Dann besann er sich aber darauf, dass Sarah ihn bei dem ganzen Lärm und Wind ohnehin nicht hören würde.
Im nächsten Moment schien das Mädchen sie auch entdeckt zu haben und winkte ihnen ungeduldig zu.
„Komm mit Max, wir müssen uns beeilen!“ Der Zauberer, den plötzlich eine unbestimmte Angst gepackt hatte, nahm seinen Neffen kurzerhand an der Hand und zog ihn mit sich, den Hang hinab.
Als der nächste Blitz die Grube erleuchtete, kniete Sarah gerade vor dem seltsamen Gebäude. Sie schien in irgendetwas ganz vertieft zu sein.
Sie hatten schon die Hälfte des auf dem nassen Gras reichlich rutschigen Abstiegs hinter sich gebracht, als sie hinter sich ein lautes Krachen hörten. Sie sprangen gerade noch rechtzeitig zur Seite, um nicht von einer großen Weide erschlagen zu werden, die gerade, vom Blitz in zwei Hälften gespalten, brennend zu Boden ging.
Als sie sich von ihrem Schrecken erholt hatten, blickten sie wieder hinunter in die Grube.
Gleich darauf schauten sich Max und sein Onkel ganz verdutzt an.
Von Sarah fand sich keine Spur mehr.
Sie war auf einmal wie vom Erdboden verschluckt.
18
Als sich Max und sein Onkel von ihrem ersten Schrecken erholt hatten, verloren sie keine weitere Zeit mehr und eilten gleich weiter an den Grund der Grube.
Max zögerte kurz, als er etwas verspätet begriff, wo sie sich hier eigentlich befanden. Friedhöfe gehörten eigentlich nicht zu seinen bevorzugten Aufenthaltsorten.
Um ehrlich zu sein: Er hatte eine Heidenangst vor ihnen.
Max seufzte. Nahm denn dieser Albtraum kein Ende?
Er beeilte sich, seinen Onkel einzuholen, der mittlerweile schon fast an seinem Ziel angekommen war.
Ganz außer Atem stand schließlich auch Max vor dem tempelartigen Bau und betrachtete erwartungsvoll seinen Onkel, der sich zunächst einmal aufmerksam umschaute.
„Hm. Es scheint eine Art von Gedenkstätte zu sein. Vielleicht auch eine Begräbnisstätte. Eine Familiengruft womöglich.“
Der Sturm hatte sich mittlerweile etwas gelegt, so dass man sich wieder ein wenig besser verständigen konnte, ohne sich dabei gleich die Lunge aus dem Hals schreien zu müssen.
Auch Max schaute sich jetzt aufmerksam um. Er lief erst einmal um das Mausoleum herum, in der Hoffnung, dort Sarah oder wenigstens einen Eingang zu finden.
Doch Sarah blieb weiterhin wie vom Erdboden verschluckt. Enttäuscht wollte er sich schließlich wieder zu seinem Onkel gesellen, als sein Blick auf einen in der Mauer eingelassenen Grabstein fiel, der sich durch seine hellere Farbe von den anderen unterschied.
Von dem panischen Aufschrei seines Neffen aus seinen Überlegungen aufgeschreckt, eilte der alte Zauberer sogleich herbei. Max war nicht in der Lage auch nur ein Wort herauszubekommen und zeigte nur mit zittrigen Händen auf die Mauer vor ihm:
-Unser über alles geliebte Kind,
Sarah,
geboren am 11.04.1994,
hat uns erhört und
ist endlich heimgekommen!-
-In ewiger Dankbarkeit-
„Er hat sie getötet!“ Max hatte seine Stimme wieder gefunden und begann damit, verzweifelt mit den Fäusten gegen die Wand zu trommeln.
19
Eben noch hatte Sarah außerhalb dieses merkwürdigen Mausoleums gestanden – und jetzt lag sie plötzlich in der Dunkelheit.
Sie konnte ihre Hand vor Augen nicht erkennen. Langsam richtete sie sich auf, vorsichtig darauf bedacht, sich nicht noch irgendwo den Kopf anzustoßen. Der Raum, in dem sie sich jetzt befand, schien allerdings recht groß zu sein. Wände konnte sie keine ertasten, und die Geräusche, die sie verursachte, hallten eigentümlich nach. Der steinerne Boden war kalt und feucht.
Irgendwo tropfte etwas von der Decke. Ansonsten war es hier drinnen bis auf das Geräusch ihres eigenen Atems totenstill.
Sie erstarrte, als ihr bewusst wurde, wo sie sich befand.
Wie war sie hier bloß hineingekommen? Sie vermisste schmerzlich die Gesellschaft ihrer zwei Gefährten. Warum hatte sie auch nicht auf die beiden gewartet!
Sie versuchte krampfhaft, sich zu konzentrieren: Wenn es einen Eingang gegeben hatte, musste es auch hier eine Möglichkeit geben, wieder nach draußen zu gelangen.
Sie richtete sich auf und ging vorsichtig ein paar Schritte durch die Dunkelheit, wobei sie das Geräusch der stetig fallenden Tropfen als Orientierung benutzte.
Plötzlich trat ihr rechter Fuß ins Leere. Rasch zog sie ihn zurück und ging in die Knie. Mit den Händen ertastete sie einen steinernen Rand. Es schien sich um eine Treppe zu handeln, die weiter nach unten führte. Aber egal, was es war, sie war sich auf jeden Fall sicher, dass sie nicht noch weiter in die Tiefen dieses unheimlichen Bauwerks steigen wollte!
Gerade als sie sich wieder aufgerichtet hatte streifte irgendetwas ihr Gesicht und verschwand mit einem seltsamen pfeifenden Geräusch wieder in der Dunkelheit. Vor Schreck trat Sarah einen Schritt rückwärts. Sie wusste im gleichen Moment, dass sie gerade einen großen Fehler gemacht hatte. Aber da war es bereits zu spät.
Sie stieß einen spitzen Schrei aus, als sie ins Leere trat und das Gleichgewicht verlor.
Sich mehrfach überschlagend stürzte sie die steinernen Stufen der steilen Treppe hinab.
Als sie schließlich reichlich benommen und mit schmerzenden Armen und Beinen auf dem steinernen Boden eines von Kerzen schwach erleuchteten Raumes lag, merkte sie gleich, dass sie nicht mehr alleine war.
20
Es war ein großes Gewölbe, in dem sie sich befand. Die Mauern waren aus rohen Steinen zusammengefügt, die von ein paar Kerzen in ein unruhiges tanzendes Licht getaucht wurden.
Bis auf einen Tisch aus roh behauenem Holz und einem altertümlich aussehenden hölzernen Lehnstuhl war der Raum völlig kahl und leer.
Auf dem Stuhl saß jemand und schaute sie prüfend an. Es war ein Mann in mittleren Jahren, der mit einem kostbar wirkenden Gewand bekleidet war, das nicht so recht zu der Umgebung passen wollte.
Während sich Sarah mit schmerzverzerrtem Gesicht aufsetzte, erhob sich der Mann von seinem Platz und kam langsam auf sie zu. Noch bevor Sarah die Stimme des Mannes vernahm, wusste sie bereits, wen sie vor sich hatte. Sie erkannte die Augen wieder, auch wenn sie diese bisher nur im Kopf eines Geiers oder eines der anderen Tiere gesehen hatte, mit dem der alte Zauberer gekämpft hatte. Es war der gleiche kalte und stechende Blick, in dem sich die Freundlichkeit des Lächelns, das der Mann aufgesetzt hatte, nicht im Geringsten widerspiegelte.
Sarah war wie gelähmt vor Schreck. Mit großen Augen starrte sie den König an, der jetzt einen guten Meter von ihr entfernt stehen geblieben war.
Er sah so ganz anders aus, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Viel jünger und eigentlich nicht besonders auffällig. Wenn nur seine Augen nicht gewesen wären!
Erneut hatte sie das unheimliche Gefühl, als wäre sie ein Kaninchen, das schreckensstarr und bewegungsunfähig vor einer Schlange sitzt.
Nur mit einer gewaltigen Willensanstrengung war sie schließlich dazu in der Lage, ihren Blick abzuwenden. Damit war der Bann gebrochen, und sie war wieder zu eigenen Gedanken fähig.
Was sollte sie tun? Blitzschnell schaute sie sich nach einer Fluchtmöglichkeit um.
„Ich weiß genau, was du vorhast, Sarah. Aber das ist völlig zwecklos. Du kannst dir deine Kräfte sparen.“
Ihr Feind lachte leise und machte eine einladende Handbewegung.
„Herzlich Willkommen daheim, mein Kind!“
Der Mann weidete sich an Sarahs Gesichtsausdruck, der völlig fassungslos war.
„Ach, ich vernachlässige ja ganz meine gastgeberischen Pflichten… Verzeih mir bitte…du magst dich doch sicherlich setzen!“ Der König hob kurz seine Hand.
Gleich darauf fühlte sich Sarah von irgendwelchen unsichtbaren Kräften vom Boden aufgehoben und fand sich im nächsten Moment in einem hohen Stuhl mit Armlehnen sitzend wieder. Sie wollte gerade aufspringen, als der König seine Hand erneut hob.
Mit einem leisen Schwirren tauchten direkt vor ihr mehrere lange Stricke förmlich aus dem Nichts auf und schlangen sich in Sekundenschnelle um ihre Beine und ihre Arme, so dass an eine Flucht nicht mehr zu denken war…
Ohnmächtig zerrte sie an ihren Fesseln.
Ein leises aber eindringliches Zischen ließ sie schließlich innehalten. Entsetzt schaute sie auf ihre Arme. Dort, wo diese eben noch durch Stricke an die Lehnen gefesselt waren, wanden sich jetzt lebendige Schlangen um ihre Gelenke. Eine von ihnen, eine schlanke grüne, die außerordentlich giftig aussah, hatte sich aufgerichtet und schaute sie mit ihren starren kalten Augen an. Sarah wagte es kaum noch zu atmen.
„Ganz recht so, mein Kind. Sie mögen kein Gezappel! Brave Kinder sind ihnen am liebsten. Ihr Biss kann im Übrigen tödlich sein. Ich verfüge zwar über ein wirksames Gegenmittel, aber wir sollten nicht unbedingt soweit gehen, nicht wahr?“
Sarah schüttelte kaum merklich mit dem Kopf und schielte dabei auf ihre lebendigen Fesseln. Diese waren jetzt ganz ruhig. Lediglich die feinen rötlichen Zungen, die unermüdlich aus den Mündern der Tiere hervorschnellten, zeigten ihr, dass die Tiere lebendig waren.
Oder war sie gerade erneut auf eine Täuschung hereingefallen? Sie dachte da nur an ihre Zeit im Schloss zurück.
Als hätte der König ihre Gedanken gelesen, lachte er amüsiert auf:
„Nein Sarah, diesmal ist es kein simpler Trick. Ich würde es an deiner Stelle nicht darauf ankommen lassen. Du könntest meine wahren Kräfte womöglich unterschätzen…“
„Aber jetzt genug mit dem Gerede. Ich denke es ist an der Zeit von hier zu verschwinden. Ich möchte dir gerne etwas zeigen… Außerdem habe ich das sichere Gefühl, dass wir hier in der nächsten Zeit womöglich noch unerbetenen Besuch haben werden…“
Sarah, die sich im Moment nichts sehnlicher herbeiwünschte, als dass der alte Zauberer und Max auftauchten, um sie zu befreien, musste hilflos über sich ergehen lassen, dass der König sie, auf einen beiläufigen Wink mit der Hand hin, mitsamt ihrem Stuhl in die Luft erheben ließ. Der König nickte flüchtig, und in der steinernen Wand öffnete sich plötzlich eine Tür. Wie von unsichtbaren Geistern getragen, folgte sie dem Mann, der mit ruhigen Schritten voranging. Hinter ihnen verschloss sich die Tür sofort wieder von alleine. Nichts erinnerte mehr daran, dass hier in der kahlen Mauer eben gerade noch ein Durchgang gewesen war.
Sarah verlor rasch die Orientierung in dem verwirrenden unterirdischen Labyrinth aus niedrigen Gängen und grob in den nackten Felsen getriebenen Tunneln, durch das sie ihr Feind jetzt führte. Dabei schien es unaufhaltsam immer weiter in die Tiefe zu gehen.
Bis auf die Fackel, die der König jetzt in der Hand hielt und die mit einem seltsamen grünen Feuer brannte, gab es hier unten keinerlei Licht.
Nur einmal kamen sie an eine Stelle, wo die Wände mit einem Mal auseinanderwichen und den Blick in eine gewaltige Höhle freigaben. Diese war hell erleuchtet und furchtbar warm. Als Quelle des geheimnisvollen Lichtes erkannte Sarah große steinerne Becken, die die Wände der Höhle säumten und mit flüssigem Feuer gefüllt zu sein schienen.
Aber schon der nächste Raum war wieder so finster und kalt wie zuvor.
Schließlich aber veränderte sich ihre Umgebung allmählich. Die Gänge, durch die sie jetzt kamen, wiesen sauber gemauerte Wände auf und waren mit Fackeln gut beleuchtet. Hier und da gingen Türen ab, die jedoch allesamt verschlossen waren. Obwohl es langsam wieder nach oben zu gehen schien, hatte Sarah weiterhin das Gefühl, noch etliche Meter unter der Erde zu sein. Dann endete der Gang, in dem sie sich zuletzt befanden, unvermittelt an einer Mauer.
Der König blieb dicht davor stehen und sprach etwas in einer ihr unbekannten Sprache, woraufhin sich die Mauern lautlos beiseiteschoben, um einen schmalen Durchgang freizugeben. Ihr weiterer Weg verlief jetzt durch weite Flure und Räume, die zum Teil prächtig möbliert waren und Sarah an das oberirdisch gelegene Schloss erinnerten.
Hatte ihr Widersacher sich hier einen unterirdischen Palast angelegt?
Dann hatten sie augenscheinlich ihr Ziel erreicht.
Es war ein ziemlich großer und hoher Raum. Um in ihn hinein zu gelangen, mussten sie erneut durch eine der Geheimtüren treten, die von außen diesmal als Kamin getarnt war, in dem ein Feuer brannte. Obwohl sie direkt durch die Flammen gegangen waren, hatte Sarah keinerlei Wärme verspüren können.
Sämtliche Wände des Gewölbes wurden von hohen Regalen eingenommen, die bis zu der Decke reichten. Auch an der Stelle, durch die sie gerade durch die Wand getreten waren, stand ein Regal, dessen Böden, genau wie die der anderen, mit Glasgefäßen in allen erdenklichen Formen und Größen gefüllt war.
In manchen dieser Gefäße schien sich irgendetwas zu bewegen, ohne dass Sarah, die von dem Anblick ganz fasziniert und gleichzeitig abgestoßen war, genaueres erkennen konnte.
Auf eine Handbewegung des Königs hin, erschien aus dem Nichts ein thronähnlicher Sessel, auf dem er gegenüber von Sarah Platz nahm, die weiterhin hilflos an ihren Stuhl gefesselt war und sich kaum rühren konnte.
Auf die Frage hin, ob sie irgendetwas zu trinken oder zu essen haben möchte, schüttelte sie verächtlich mit dem Kopf. Sie wollte von diesem Mann nichts annehmen.
Dieser zuckte gleichgültig mit den Schultern und schien nicht sonderlich beleidigt zu sein.
„Nun, wir können ja später noch auf unsere weitere gute Zusammenarbeit anstoßen…“, meinte er beiläufig und schien sich über Sarahs empörte Reaktion zu amüsieren.
„Niemals werde ich mit Ihnen zusammenarbeiten!“, stieß Sarah schließlich wütend zwischen den Zähnen hervor.
Der König erhob tadelnd den Zeigefinger und meinte: „Vorsicht, meine Kleine. Denk lieber erst einmal nach, bevor du so etwas so leicht dahersagst!“
Er machte eine unbestimmte Geste in Richtung der Regale, die an der Wand standen.
„Und außerdem hast du mir bereits einiges von dem gegeben, weswegen ich dich habe zu mir kommen lassen. Ja, ich muss sogar zugeben, dass ich jetzt schon äußerst zufrieden mit dir bin! Was natürlich nicht heißen soll, dass ich nicht noch ein wenig mehr erwarte…“
Sarah war völlig verwirrt. Sie verstand überhaupt nicht, was dieser furchtbare Mann meinte. Inwieweit soll sie ihm denn bitteschön bereits geholfen haben? Sie musste an ihren Freund, den alten Zauberer denken, der ihr ja erst kurz zuvor die gleiche Frage gestellt hatte. Sie biss die Zähne fest zusammen. Nein, eher wollte sie sterben, als dass sie dem König helfen würde.
Ihr Gegner schien allerdings nicht die geringste Lust zu haben, Sarah über seine seltsame Bemerkung aufzuklären. Stattdessen stand er auf und schritt zu dem hinter ihm stehenden Regal. Während er Sarah den Rücken zukehrte, schien er in den Reihen der Flaschen und Fläschchen nach etwas Bestimmtem zu suchen. Dann ergriff er schließlich ein schmales hohes Gefäß, das er daraufhin mit einem fast träumerischen Gesichtsausdruck hin und her drehte. Dann hielt er das Glas so, dass auch Sarah einen Blick darauf werfen konnte. Sie erkannte in seinem Inneren eine leicht bläuliche Flüssigkeit, die fast durchsichtig wirkte. Allerdings bewegte sich etwas darin. Es sah für Sarah aus wie ein Nebel, der durch die Flüssigkeit schwebte und seltsam zu pulsieren schien. Mal zog er sich fast völlig zusammen, um sich gleich darauf wieder auszubreiten. Der Anblick war faszinierend und unheimlich zugleich.
Schließlich stellte der König das Gefäß ohne eine Erklärung zurück an seinen Platz und wandte sich mit einem leichten Lächeln wieder an Sarah.
„Lass uns doch einfach noch ein wenig miteinander plaudern, mein Kind. Wir haben so viel Zeit, dass wir wahrlich nichts überstürzen müssen.“
Er verschränkte die Arme und blickte ihr mit seinen kalten Augen ins Gesicht.
Wieder wunderte sich Sarah, wie jung der Mann aussah. Dabei musste er doch ungefähr so alt sein wie sein Widersacher, der alte Zauberer.
„Du hast es mir in den letzten Monaten nicht gerade leicht gemacht, Sarah. Immer wieder verlor ich deine Spur und musste wirklich meine ganze Macht, meinen ganzen Einfluss einsetzen, um dich wiederzufinden.“
Die Stimme des Mannes, in der Sarah zuletzt einen leichten Anflug von Ärger herausgehört hatte, klang fast amüsiert, als er nach einer kurzen Pause wieder fortfuhr:
„Seitdem du aber immer näher zu mir gekommen bist, völlig freiwillig, wie ich vielleicht betonen sollte, habe ich dich sicherlich keine Minute mehr aus den Augen gelassen.“
Sarah bekam eine Gänsehaut.
„Ja, bereits lange bevor du die magische Barriere überschritten hattest, du erinnerst dich an die unsichtbare Wand, gegen die eure lächerliche Hütte gerannt ist, warst du schon in meinen Diensten.“
Sarah blickte ihr Gegenüber verwirrt an. Sie wusste nicht, was der unheimliche Mann meinte. „Du brauchst gar nicht so ungläubig dreinzuschauen, mein Kind. Du solltest vielmehr stolz auf dich sein! Du hast meine Erwartungen nämlich schon damals bei weitem übertroffen, musst du wissen!“
„Es tut mir aufrichtig leid, dass ich letztlich Gewalt anwenden musste. Nicht, dass ich diese nicht bedenkenlos einsetzen würde, wenn es mir zum Vorteil gereicht. Aber manchmal ist eine freiwillige Zusammenarbeit nun einmal fruchtbarer. Leider bin ich damals gescheitert. Du hast es irgendwie geschafft, die beiden Gaukler zu durchschauen…“
Der Mann schaute Sarah prüfend an. Er schien von ihr aber keine Antwort zu erwarten, denn er sprach gleich darauf weiter:
„Ich hatte dich offensichtlich unterschätzt. Allerdings, zu meiner Ehrenrettung sollte natürlich angemerkt werden, dass ich auch nicht gerade allzu viele Informationen zur Verfügung hatte, gerade einmal das, was ich in der kurzen Zeit aus den Erinnerungen deiner Eltern zu extrahieren vermochte. Leider gab es da mehr allzu viel zu holen… Du wirst später schon noch verstehen warum…“
Sarah verspürte auf einmal einen dicken Kloß im Hals und merkte, wie sich ihre Augen mit Tränen zu füllen begannen. Sollte das etwa bedeuten, dass…?
Der Zauberer schien Sarahs Schrecken nur zu gut bemerkt zu haben. Aber erst als er sich eine ganze Weile am Entsetzen seiner Gefangenen geweidet hatte, schlug er sich mit einer theatralischen Geste des Begreifens mit der Hand an die Stirn:
„Ach, wie ungeschickt von mir. So wie ich es ausgedrückt habe, könntest du ja womöglich auf ganz falsche Gedanken kommen.“
Das Lächeln, das er jetzt aufgesetzt hatte, sollte wohl Mitgefühl ausdrücken. Sarah wurde es bei dem Anblick allerdings eher schlecht.
„Nein, mein liebes Kind. Sie sind natürlich nicht tot. Was denkst du denn von mir! Wenn du erst alles erfahren hast, wirst du sicherlich erkennen, wie abwegig, ja, wie völlig absurd dieser Gedanke doch ist…“
Er schüttelte mit schlecht gespielter Entrüstung den Kopf.
„Was haben Sie mit meiner Familie gemacht?“
Sarah schrie ihrem Gegenüber die Frage förmlich ins Gesicht. Der anfängliche Schock, dass ihre Eltern und ihr kleiner Bruder womöglich nicht mehr am Leben sein sollten, war einem nicht mehr länger zu unterdrückenden Gefühl der Entrüstung und schließlich hellem Zorn gewichen.
Der Zauberer zuckte mit keiner Wimper. Er hob lediglich, wie zum leichten Tadel, den Zeigefinger seiner linken Hand.
„Aber, aber, mein Kind. Ich möchte doch um ein wenig mehr Respekt bitten. Du weißt natürlich noch nicht, wen du wirklich vor dir hast. Es sei dir also noch einmal verziehen…“
Er hob seine rechte Augenbraue.
„Allerdings, wenn du weiterhin ein solch schlechtes Benehmen an den Tag legen solltest, müsste ich dich leider ernsthaft bestrafen…“
Er schaute ihr scharf in die Augen. Sarah, die ihren Blick nicht abzuwenden vermochte, verspürte plötzlich einen scharfen Schmerz in ihrem Kopf, der gleich darauf rasend schnell durch ihren ganzen Körper jagte. Sie krümmte sich in ihrem Stuhl zusammen und zerrte verzweifelt an ihren Fesseln. Die Schlangen zischten bedrohlich. Als der Schmerz nachließ, standen ihr die Tränen in den Augen.
Der König blickte sie jetzt mit einem feinen Lächeln forschend an, sagte aber nichts.
Sarah richtete sich auf und biss sich trotzig auf die Unterlippe. Sie wollte um keinen Preis zugeben, dass es ihr eben ziemlich wehgetan hatte. Tapfer versuchte sie dem Blick ihres Feindes standzuhalten.
Dessen Lächeln wurde breiter. Sichtlich amüsiert, klatschte er schließlich ein paar Mal leicht in die Hände.
„Bravo, meine Kleine. So lobe ich es mir. Bloß keinen Schmerz zugeben. Aus dem gleichen Holz geschnitzt wie ich. Ich sehe schon: Wir werden uns am Ende wirklich noch blendend verstehen, glaube mir…“
Der Mann erhob sich erneut von seinem Platz und trat an eines der anderen Regale.
„Ich denke, dass es jetzt, nachdem wir einige grundsätzliche Dinge geklärt haben dürften, an der Zeit ist, dass ich dir ein paar interessante Einblicke in unsere bisherige Zusammenarbeit ermögliche…“
Sarah hatte es aufgegeben, über die seltsamen Worte ihres Feindes nachzudenken, die für sie einfach keinen Sinn ergaben. Sie beobachtete, wie der König aufmerksam die Gefäßreihen im Regal durchsah. Hier und da nahm er eines der Fläschchen in die Hand, betrachtete es und stellte es wieder an seinen Platz zurück, bis er wohl endlich das gesuchte fand.
Es war ein schlankes Glasgefäß, das er Sarah direkt vor das Gesicht hielt. Auch jetzt wunderte sich diese wieder über den seltsamen Inhalt, der halb flüssig und halb gasförmig zu sein schien. Die geheimnisvolle Substanz, die sich in dem Fläschchen unablässig in komplizierten Kreisen und Spiralen um die eigene Achse drehte, hatte eine eigentümliche Farbe. Sie war dunkelbraun, ja nahezu schwarz, um im nächsten Moment eine fast blutrote Tönung anzunehmen.
Der König zog den Korken aus dem Hals der Flasche und schnupperte daran. Sarah konnte den zufriedenen Ausdruck in seinem Gesicht erkennen.
Ohne etwas zu sagen, nahm der König das offene Gefäß in beide Hände und hielt es ihr kurz unter die Nase. Aus der Flasche stieg blutigroter Nebel auf. Obwohl Sarah sofort die Luft anhielt, nahm sie doch ein wenig von dem komischen Geruch wahr, der von der unheimlichen Substanz ausging.
Im nächsten Moment geschah etwas überaus Seltsames:
Sie war plötzlich an einem ganz anderen Ort. Aber sie wusste trotzdem gleich, wo sie sich befand. Und sie wusste, was gleich passieren würde.
Sarah nahm alles so wahr, als erlebte sie es noch einmal: Sie war fünf Jahre alt und spielte gerade mit ihren Rollschuhen auf der Straße vor dem Haus ihrer Eltern. Sie spürte das Vibrieren der Rollschuhe unter ihren Füßen und stellte fest, dass sie ganz außer Atem war. Lachend rollte sie jetzt einen schmalen, etwas abschüssigen Weg hinab. Sie war in die Hocke gegangen, um dadurch noch schneller zu werden.
Gleich würde sie zwischen den parkenden Autos hindurch auf die Straße rollen.
Die ältere Sarah, die jetzt eigentlich gefesselt auf einem unbequemen Stuhl saß, wusste noch genau, welche Farbe das Auto hatte, das sie gleich anfahren würde. Obwohl sie am liebsten schreien wollte, lachte sie als kleines Mädchen weiterhin ganz ausgelassen und fröhlich.
Dann war es auch schon passiert: Sarah nahm alles gleichzeitig wahr. Ihre plötzlich weit aufgerissenen Augen, die den Kühlergrill des hellblauen Autos anblickten. Das Quietschen der Bremsen, der laute Schrei (Sie wusste nach den vielen Jahren immer noch nicht, ob sie es gewesen war, oder die junge Frau, die den Wagen gesteuert hatte). Dann folgte der dumpfe Schlag, der sie noch jetzt manchmal in ihren Träumen verfolgte.
Es war genau wie damals, nur dass sie jetzt ein gewaltiger Schmerz durchzuckte. Sie merkte genau, wie ihr linker Arm und mehrere Rippen brachen.… Dabei hatte es damals überhaupt gar nicht wehgetan. Der Schmerz war erst viel später gekommen, als sie im Krankenhaus wieder zu sich gekommen war.
Dann saß sie plötzlich wieder gefesselt in ihrem Stuhl.
Die Schmerzen ließen nur langsam, viel zu langsam nach…
Sarah merkte, dass ihr auf der Stirn die Schweißperlen standen. Erst jetzt öffnete sie wieder ihre Augen, die sie die ganze Zeit über fest zugepresst hatte -und blickte direkt in das Gesicht ihres Widersachers.
„Beeindruckend, nicht wahr?“ Der König schaute sie interessiert an, als wäre sie eine Maus, mit der er gerade ein aufschlussreiches Experiment durchgeführt hatte
„Und dabei war es nur eine minimale Menge gewesen, die ich dich habe einatmen lassen…“
Der König lehnte sich bequem auf seinem Platz zurück und verschränkte die Arme.
„Ich denke, dass du bereits ahnst, was es gewesen war…“
Er deutete mit der Hand auf die Regale.
„Hier drin, in den Gefäßen, befinden sich deine Träume der letzten Wochen und Monate. Selbstverständlich sorgfältig geordnet und katalogisiert. Es sind wirklich prachtvolle Albträume darunter. Das eben war nur eine kleine Kostprobe. In diesem Fall ein Traum, der ganz und gar auf einem reellen Erlebnis beruht, wie du sicherlich gleich erkannt haben wirst. Aber dadurch, dass du ihn immer wieder geträumt hast, hat er sich in seinem Schrecken potenziert. Denke nicht nur an den Schmerz, den du verspürt hast. Auch die Gewissheit, ein unausweichliches Ereignis nicht aufhalten, nicht abändern zu können, verschafft ungeahnte Ängste und eröffnet ganz neue Qualitäten der Qual und der Hoffnungslosigkeit…“
„Aber ich gerate gerade ins Schwärmen! Um es kurz zu machen: Nicht nur solche Träume hast du mir geliefert. Nein, es sind auch zahlreiche darunter, die nur zum Teil auf selbst Erlebtem beruhen oder die offenbar sogar gänzlich deiner lebhaften Phantasie entsprungen sind. Ich erwähnte, glaube ich, schon deine erstaunliche Begabung in dieser Beziehung. Ich denke, dass die besondere Atmosphäre der Gemäuer hier und natürlich auch der Verlust deiner Angehörigen einen äußerst nützlichen Einfluss auf dein Unterbewusstsein hatten. Die Ausbeute ist wirklich erfreulich. Lediglich da hinten stehen ein paar unbrauchbare Träume.“
Er zeigte mit einer abfälligen Geste zu einem Regal in der hintersten Ecke des Raumes, in dem die Flaschen und Fläschchen nicht ganz so säuberlich und akkurat aufgereiht standen.
Sarah wusste weder wie sie reagieren, noch was sie sagen sollte. Es war einfach nur ungeheuerlich, was sie da gerade erfahren hatte. Da wurden ihr doch tatsächlich die Träume gestohlen und, als wären es irgendwelche eingemachte Früchte oder Marmeladen, in Gläser gesteckt. Nicht, dass sie es wirklich verstand, aber sie ahnte, dass es sicherlich etwas Teuflisches war, was der König damit bezweckte.
Und sie hatte sich nicht geirrt:
„Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Macht der Besitz all dieser Träume darstellt! Was für vernichtende Waffen man daraus gewinnen kann…“
Mit Entsetzen erkannte Sarah das verräterische fanatische Flackern in den Augen ihres Widersachers, der zuletzt immer lauter gesprochen, ja fast geschrien und dabei ganz euphorisch geklungen hatte. In der nächsten Sekunde aber hatte er sich bereits wieder unter Kontrolle und blickte sie mit seinen kalten emotionslosen Augen an.
Gleich darauf umspielte wieder dieses feine ironische Lächeln seine Gesichtszüge.
„Eines will ich dir noch sagen, mein Kind, um dir zu zeigen, wie gefährlich du sein kannst. Eines Morgens, als ich gerade wieder deine Träume der letzten Nacht katalogisieren wollte, entdeckte ich zu meinem Schrecken, dass du doch tatsächlich versucht hattest, dich selbst zu warnen. Dies hat, das muss ich zugeben, meinen Respekt vor deinen Fähigkeiten noch erhöht.“
Er deutete eine leichte Verbeugung an.
„Daraufhin habe ich natürlich sogleich ein paar magische Vorkehrungen dagegen getroffen, dass so etwas nicht noch einmal passiert. Noch so eine Überraschung wollte ich nicht erleben. Aber eigentlich hätte ich das auch erwarten können. Bei den Anlagen, die du zweifelsohne besitzt… Du musst wissen: Trotz meines ersten Schreckens hat mich deine Leistung auch ein wenig mit Stolz erfüllt…“
Sarah fühlte sich so elend wie nie zuvor in ihrem Leben.
21
Während Max wie ein Häuflein Elend im hohen Gras vor dem Tempel saß, war der alte Zauberer in der Zwischenzeit einige Schritte zurückgetreten, um nachdenklich die einzelnen, in der Wand des Gebäudes eingelassenen Tafeln zu betrachten. Er hatte die ganze Zeit über geschwiegen und auch auf Max lauten Aufschrei der Verzweiflung nicht weiter reagiert. Jetzt aber drehte er sich zu seinem Neffen um, der ihn mit traurigen Augen anblickte.
„Nein, es ist sicher nicht so, wie du denkst. Sarah ist nicht tot. Das würde keinerlei Sinn ergeben!“
Ein schwacher Hoffnungsschimmer erhellte Max Gesicht.
„Aber was soll das Ganze hier dann bedeuten?“ Seine Stimme war immer noch voller Zweifel.
Sein Onkel antwortete nicht gleich. Er schien intensiv über etwas nachzudenken.
Erst jetzt fiel es den beiden auf, dass es um sie herum ganz still war. Weder Max noch der Zauberer hatten den Zeitpunkt bemerkt, an dem der heftige Sturm nachgelassen hatte. Der Himmel war zwar immer noch ganz grau und wolkenverhangen, aber es war kein Donnergrollen mehr zu vernehmen, und es war jetzt auch völlig windstill.
Max schauderte. Irgendwie war es hier auf dem Friedhof durch die plötzliche Stille eigentlich noch viel unheimlicher als vorher…
„Ich glaube, ich weiß jetzt woran wir hier sind…“ Der Zauberer schüttelte ungläubig mit dem Kopf. Gleichzeitig leuchteten aber seine Augen auf.
„Warum bin ich nicht schon früher darauf gekommen. Es gab doch schon so viele Hinweise… Damals habe ich sogar mit Sarah schon darüber gesprochen, ohne dass einer von uns erkannt hatte, wie nah wir an des Rätsels Lösung schon waren!“
Max musste zugeben, dass er sich noch nicht allzu nah fühlte, zog es aber in weiser Voraussicht vor, jetzt darüber lieber keine Bemerkung zu machen…
Sein Onkel legte ihm ohnehin gleich darauf in kurzen Worten seine Theorie dar.
Die Augen seines Neffen wurden dabei immer größer.
Er öffnete schon den Mund, um zu widersprechen. Es klang einfach unglaublich, was der Zauberer da gerade gesagt hatte. Aber, wenn er so darüber nachdachte… Es machte schon irgendwie Sinn. Also schloss er seinen Mund wieder.
Sie hatten jetzt sowieso keine Zeit mehr für lange Diskussionen. Als erstes mussten sie so schnell wie möglich einen Eingang in das unterirdische Reich des Königs finden…
22
Der König erhob, kaum dass er ausgesprochen hatte, seine Hand, woraufhin das Regal hinter ihm rasch zu verblassen begann, um schließlich ganz zu verschwinden. Aber es war nicht etwa eine steinerne Wand, die jetzt dahinter zum Vorschein kam. Sarah blickte in einen weiteren Raum, der offenbar nicht sonderlich groß war. Genaueres konnte sie aber nicht erkennen. Im gleichen Moment fühlte sie, wie sich die Fesseln um ihre Handgelenke lockerten. Sie konnte sehen, wie die Schlangen eine nach der anderen in einer breiten Ritze im steinernen Fußboden verschwanden. Kurz darauf begannen auch die Schlangen, die ihre Fußgelenke festgehalten hatten, damit, ihren Artgenossen zu folgen.
Erstaunt blickte Sarah ihren Widersacher an.
„Ich denke, dass wir das dort drinnen nicht brauchen werden, mein Kind“, sprach dieser mit leiser Stimme.
„Wir werden beide gleich zu einem ganz entscheidenden Punkt in unserem Gespräch kommen und ich möchte, dass du dich zuvor schon einmal ganz alleine in meinem „Allerheiligsten“ umschaust. Ich bin mir sicher, dass dir ein paar Minuten der stillen Kontemplation nicht schaden dürften. Später, wenn es an der Zeit ist, werde ich dann zu dir stoßen....“
Der Mann erhob sich aus seinem Stuhl und nickte Sarah kaum merklich zu, bevor er mit seinem Zauberstab auf sie deutete. Ehe sie es sich versah befand sie sich schon jenseits des Mauerdurchbruchs. Sie konnte nur noch einen raschen erschrockenen Blick auf den König werfen, bevor sich die steinerne Wand zwischen ihnen wieder völlig geräuschlos verschloss. Ihr Widersacher hatte ihr bereits wieder den Rücken zugewandt, als interessiere es ihn gar nicht weiter, was mit ihr geschah.
Dann war sie alleine.
Sie drehte sich um und stellte fest, dass der Raum doch weitaus größer war, als sie angenommen hatte. Es war nur so, daß die Kraft der paar Fackeln, die hier an den Wänden hingen, nicht ausreichte, um sein Ende auch nur erahnen zu lassen. Die Wände und auch der Fußboden waren aus recht grob behauenen Steinquadern zusammengefügt, die dem Gewölbe einen ausgesprochen altertümlichen Ausdruck verliehen. Sarah wollte gerade weiter in den Raum hineingehen, als mit diesem etwas Merkwürdiges geschah.
Plötzlich begann der Fußboden vor ihr zu leuchten, zunächst nur ganz schwach, dann immer heller. Trotz ihrer Angst war sie ganz fasziniert und näherte sich vorsichtig der seltsamen grünlichen Lichtquelle. Sie war bereits ein Stück weit in den hinteren Bereich des Raumes vorgedrungen, als es richtig losging:
Um sie herum leuchtete es überall auf, und sie fand sich kurz darauf auf einer kleinen steinernen Insel inmitten eines Flammenmeeres wieder. Es waren breite Gräben, die mit demselben merkwürdigen Feuer gefüllt zu sein schienen, wie sie es bereits zuvor auf ihrem Weg durch die unterirdischen Gewölbe gesehen hatte.
Sie konnte sich den Flammen nicht weiter als vielleicht zwei Meter nähern, bevor eine unüberwindliche Wand aus sengender Hitze sie zurückweichen ließ.
Schließlich erkannte sie jedoch, dass die Feuergräben doch nicht vollständig um sie herum geschlossen zu sein schienen.
Es war ein steinerner Korridor, der wie eine steinerne Zugbrücke über den hintersten der feuergefüllten Gräben führte. Lang und schmal, wie er war, ließ er kaum mehr als einen engen Pfad zu, den sie, ohne sich zu verbrennen, entlanggehen konnte.
Als sie endlich auf der anderen Seite angelangt war, merkte sie, dass sie sich die Spitzen ihres Ponys angesengt hatte. Hustend setzte sie sich erst einmal in sicherer Entfernung zum Feuer auf den steinernen Fußboden und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Auf den letzten Metern über den brennenden Graben war die Luft vor Hitze zum Schneiden dick gewesen.
Erst dann hob sie ihren Kopf und erkannte mit großen Augen, was sich hier im hinteren Bereich des Gewölbes befand.
23
„Der Eingang muss hier irgendwo sein.“ Der Zauberer blickte nachdenklich über das weitläufige Gräberfeld, das sich zu allen Seiten um das Mausoleum herum erstreckte. Gemeinsam mit seinem Neffen begann er damit, das Gelände systematisch abzusuchen.
„Wenigstens ist der Sturm vorbei“, grummelte Max vor sich hin, während er gerade wieder ratlos über die zahlreichen schiefen Grabsteine blickte, ohne eine rechte Idee zu haben, wonach sie hier eigentlich suchen sollten. Sein Onkel blickte ihn an und schüttelte mit dem Kopf.
„Nein, mein Junge. Der Sturm ist nicht vorbei. Im Gegenteil, ich denke, dass er genau in diesem Augenblick in unverminderter Stärke weiter um uns herum toben dürfte.“
„Warum es hier so ruhig, ja, verzeih mir den Vergleich, geradezu totenstill ist? Nun, wir sind sozusagen mittendrin, im Herzen des Sturmes. Aber dies hier ist nicht nur das Zentrum des Orkans, nein es ist auch das Herz des Reiches unseres Feindes. Hier zu unseren Füßen, in der Tiefe liegt es! Das verfallene Schloss, in dem du Sarah gefunden hast, ist kaum mehr als eine Kulisse! Nein, Sarah wusste instinktiv, warum sie uns hierher geführt hat. Denn hier hat alles begonnen und hier führen letztlich auch alle Spuren wieder zusammen...“
Max schaute seinen Onkel mit offenem Mund an. Es war nicht unbedingt so, dass er auch nur annähernd alles von dem verstanden hatte, was der Zauberer da gerade gesagt hatte. Aber es hatte ziemlich bedeutungsvoll und gleichzeitig auch ganz schön unheimlich geklungen. Ganz in düstere Gedanken versunken, achtete er einen Augenblick lang nicht auf seine Füße
- und war im nächsten Augenblick auch schon über einen Grabstein gestolpert, der, halb von dichtem Efeu bedeckt, vor ihm auf dem Boden lag.
Der Zauberer ging in die Knie, um seinem Neffen wieder auf die Beine zu helfen - und hielt mitten in der Bewegung inne.
Ein ungläubiges Lächeln erschien schließlich auf seinem Gesicht, als er die Inschrift auf dem verwitterten Stein zum zweiten Mal gelesen hatte. Er entfernte mühsam den Efeu, um auch den Rest des Textes erkennen zu können. Max hatte sich, nachdem ihm die helfende Hand so rasch wieder entzogen worden war, in der Zwischenzeit selbst wieder aufgerappelt und schaute seinem Onkel interessiert über die Schulter.
„Sollte das wirklich so einfach sein?“ Der Zauberer schüttelte ungläubig mit dem Kopf.
> Meiner über alles geliebten älteren Schwester gewidmet, die sich für unsere Sache geopfert
hat, und ohne die wir es niemals geschafft hätten! Sarah wusste sofort, dass sie sich in einem Traum befand. Wahrscheinlich handelte es sich um einen dieser Träume, die man bewusst erleben konnte und in denen vieles möglich war, was ansonsten völlig undenkbar erschien. Die es einem beispielsweise ermöglichten zu fliegen oder ein tolles Abenteuer nachzuerleben, das man zuvor in einem Buch gelesen hatte. Man war mit einem Mal der Hauptdarsteller, der zudem auch noch die wunderbare Fähigkeit besaß, den Traum in die gewünschte Richtung zu lenken.
Als sie sich umschaute, fand sich Sarah in ihrem Turmzimmer wieder. Dieses erstrahlte wieder in seinem alten Glanz und wirkte eigentlich durchaus realistisch, wenn man einmal von den übertrieben starken Farben und Kontrasten absah. Sarah meinte sogar, den Windzug zu spüren, der durch das geöffnete Fenster zog.
Sarah wusste, dass sie sich nicht allzu lange hier aufhalten durfte.
Und sie war sich auch völlig im Klaren darüber, warum sie überhaupt hier war. Sie erspähte sogleich den Gegenstand, wegen dem sie gekommen war und steckte ihn in die Tasche ihres Kleides. Kaum hatte sie dies erledigt, hörte sie auch schon Schritte auf der Wendeltreppe, die rasch lauter wurden. Sie verspürte sofort ein unangenehmes Gefühl der Furcht und wusste instinktiv, dass sie auf keinen Fall so lange warten durfte, bis sich die Tür öffnete.
Sarah trat an das geöffnete Fenster und schaute hinaus. Die Höhe machte sie etwas schwindelig, und sie spürte sogleich ein unangenehmes Kribbeln in ihrem Bauch. Trotzdem war sie sich ganz sicher, dass sie genau das richtige tat:
Sie kletterte über die Brüstung und hockte sich auf den schmalen Mauervorsprung. Probeweise bewegte sie ihre Arme, als seien sie Flügel. Gleich darauf, ohne dass sie bewusst gemerkt hatte, sich abgestoßen zu haben, flog sie schon durch die Luft.
Es war ein unbeschreiblich schönes Gefühl.
Sie verspürte keinerlei Furcht mehr.
Dann erblickte sie unter sich schon den kleinen See, unter dem sich, wie sie mittlerweile wusste, ihr Ziel befand. Ohne groß nachzudenken, stieß sie aus der Höhe hinab, als wäre sie ein Raubvogel, der weit unten am Boden sein Opfer erspäht hatte.
Als sie die Wasseroberfläche durchschlug, spürte sie allenfalls einen leichten Windhauch. Sie wunderte sich nicht, dass sie jetzt mit einem Mal auf dem verwahrlosten Friedhof stand. Das Wasser und der See waren verschwunden. Direkt vor ihr befand sich ein Grab, das, im Gegensatz zu den anderen, die darum herum lagen, erst kürzlich von den wuchernden Schlingpflanzen befreit worden sein musste. Zudem war die schwere steinerne Grabplatte zur Seite gerückt worden, so dass der Blick jetzt ungehindert auf eine in die Tiefe führende Treppe fiel. Ohne lange zu zögern, nahm sie diesen Weg.
Nebenbei bemerkte sie ein Geräusch, das sie ein wenig irritierte, weil es so gar nicht hierher, in die Finsternis der Katakomben passen wollte. Erst später fiel ihr ein, dass es sich um das Kläffen eines Hundes gehandelt haben musste.
Aber das war jetzt völlig nebensächlich.
Sarah stand jetzt nämlich plötzlich inmitten des Raumes mit den Glasgefäßen. Sie befand sich in diesem Traum sozusagen inmitten all ihrer vergangenen Träume. Aber es war nicht der richtige Zeitpunkt, um über lustige Wortspiele nachzudenken.
Sarah befand sich nicht alleine in dem Raum. Ihr Feind, der König, stand, mit dem Rücken zu ihr, vor einem der Regale und nahm gerade ein kleines Glasgefäß heraus. Ganz plötzlich drehte er sich um, ohne dass Sarah Zeit blieb, sich irgendwo zu verstecken. Erleichtert begriff sie aber sogleich, dass der Mann sie offenbar nicht sehen konnte. Er ging ganz dicht an ihr vorbei, ohne sie zu beachten. Er hielt lediglich für den Bruchteil einer Sekunde inne, um dann kopfschüttelnd seinen Weg fortzusetzen. Sarah beobachtete, wie der König die Flasche zu den anderen Gefäßen auf einen Tisch stellte, der jetzt in der Mitte des Raumes stand. Dann begann er, aus den Gläsern jeweils eine geringe Menge Flüssigkeit in einen größeren kupfernen Kessel zu füllen, der mitten auf dem Tisch auf einem schmiedeeisernen Gestell ruhte, in dessen Mitte eine bläuliche Flamme zuckte.
Sarah wusste sogleich, was sie zu tun hatte. Trotz allem wollte sie ihren Plan aber nicht direkt vor der Nase ihres Widersachers ausführen. Sie wusste ja nicht, in wieweit dieser durch seine magischen Fähigkeiten ihre Traumgestalt nicht doch vielleicht wahrzunehmen vermochte… So war sie sehr erleichtert, als sich der König noch einmal abwandte…
30
Sarah wachte auf ihrem unbequemen Lager auf. Irgendetwas hatte sie gerade gestochen. Sie rieb sich den rechten Unterarm und sah, dass sich dort bereits eine Rötung um einen kleinen Einstich abzuzeichnen begann. „Verpiss dich, du Floh“, murmelte sie, bevor ihr auf einen Schlag bewusst wurde, dass sie gerade noch geträumt hatte. Obwohl es eigentlich völlig lächerlich war, griff sie sich in die Tasche ihres Kleides. Sie war nicht sonderlich erstaunt, aber trotzdem enttäuscht, als sie den Gegenstand nicht mehr vorfand. Schade, dass es nur ein Traum gewesen war. Ein Wunschtraum sozusagen, der, genau wie seine Kollegen, wunderschön, aber trotzdem völlig unerfüllbar war.
Sie verspürte jetzt wieder die Angst vor dem, was jetzt gleich auf sie zukommen würde. Zitternd erhob sie sich von ihrem Lager und begann damit, rastlos in ihrer kleinen Gefängniszelle auf und ab zu gehen. Sie war kaum eines klaren Gedanken fähig, so sehr sie auch versuchte, sich zu konzentrieren.
Ihre Sinne waren aufs äußerste geschärft, so dass sie sogleich zusammenzuckte, als sie ein leises Geräusch vor der Tür vernahm. Im ersten Moment war sie sich sicher, dass es der König war, der gekommen war, um sie zu fragen, wie sie sich entschieden habe. Dann aber dachte sie, dass es doch eher unwahrscheinlich sei, dass der Mann sich zu ihr in die ungemütliche Zelle begeben würde. Er musste doch lediglich mit dem Zeigefinger schnippen, und sie würde gleich darauf an jedem beliebigen Platz sein, an den er sie sich gerade wünschte.
Das Rascheln vor ihrer Zelle wurde lauter. Schließlich fiel ein Schatten auf den schmalen Lichtstreifen unter der schweren Holztür. Neugierig ging sie in die Knie. Vielleicht konnte sie ja etwas durch den Spalt unter der Tür erspähen.
Erstaunt stellte sie gleich darauf fest, dass es kein Mensch war, der da draußen stand. Zumindest war das Wesen für einen normalen Menschen viel zu behaart, und außerdem schnüffelte ein Mensch nicht buchstäblich an einer Tür herum. Ehe sie sich entscheiden konnte, ob sie dem Wesen einfach etwas zurufen sollte, hörte sie Schritte, die sich der Tür näherten. Im nächsten Moment verschwand der Schatten vor der Tür wieder.
War es doch der König, der jetzt gekommen war?
Wie erleichtert war sie, als sie gleich darauf vernahm, wie ihr Name geflüstert wurde.
Sie erkannte die Stimme sofort.
Sie gehörte ihrem Freund und Gefährten, dem alten Zauberer.
31
In wenigen Worten teilte der Zauberer Sarah mit, dass er bei allen seinen Fähigkeiten leider nicht dazu in der Lage war, sie in absehbarer Zeit aus der Zelle zu befreien. Die schwere Holztür mochte wie eine solche ausschauen, in Wirklichkeit war sie aber eine der stärksten magischen Barrieren, denen er in seinem nicht gerade kurzen Zaubererleben bisher begegnet war.
Sarah erzählte ihrem Gefährten rasch, dass ihnen nicht viel Zeit blieb, bis der König sie wieder zu sich holen würde. Der Zauberer überlegte nur kurz und wollte dann von ihr nur folgendes wissen: Wie die Räume genau aussahen, in denen sie dem König bisher begegnet war.
„Es ist womöglich die einzige Chance, die wir haben“, flüsterte er schließlich. „Ich kann mir vorstellen, dass der König dich auch wieder dorthin zurückholt. Erzähle mir mehr von dem Raum mit den Glasgefäßen! Ich will alles wissen, was du dort gesehen und erlebt hast!“
Ehe Sarah antworten konnte, fühlte sie mit einem Mal ein komisches Kribbeln in ihren Beinen. Erschrocken schaute sie an sich herunter und musste feststellen, dass diese ganz durchsichtig wurden. Genauso wie zuvor bei den Gästen in dem McDonalds-Restaurant. Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gebracht, wurde auch der Rest von ihr unsichtbar.
Der Zauberer, der währenddessen lauschend vor der Tür gewartet hatte, winkte Max herbei, der in der Zwischenzeit an der Ecke zum nächsten Gang Wache gehalten hatte und jetzt schwanzwedelnd auf seinen Onkel zugelaufen kam. Er war immer noch ganz stolz darauf, nicht nur Sarahs Spur wieder gefunden, sie war nämlich mit einem Mal abgebrochen, sondern endlich auch das Versteck seiner Freundin entdeckt zu haben. Während er seinem Onkel lauschte, der ihn in knappen Worten über die wesentlichsten Dinge und vor allem über seine nächsten Pläne informierte, wunderte er sich, dass er die ganze Zeit an einen Knochen denken musste, den er sich jetzt doch sicherlich verdient hatte.
Ausgerechnet ein Knochen… Wenn es ein neuer Zauberbesen gewesen wäre, das hätte er ja noch verstanden, oder wenigstens eine aktuelle Ausgabe des „Kleinen Zauberlehrlings“, mit dessen Hilfe man so schöne effektvolle Dinge zaubern konnte.
Aber zum weiteren Nachdenken blieb jetzt keine Zeit. Jetzt war es Max, der seinem Onkel folgte, da dieser offenbar schon eine Idee hatte, wo sie Sarah hoffentlich wieder treffen würden.
32
Als Erstes verspürte Sarah trotz allem ein kurzes Gefühl der Freude, als sie sich jetzt tatsächlich in dem Raum mit den Glasgefäßen wiederfand. Doch dieses schöne Gefühl hielt leider nicht lange an, da sie feststellen musste, dass sie erneut an einen schweren Stuhl gefesselt war. Die grünen Schlangen, schienen ein besonderes Vergnügen dabei zu haben, sich diesmal besonders eng um ihre schmerzenden Hand- und Fußgelenke zu winden.
Sarah blickte direkt auf den großen Tisch in der Mitte des Raumes. Im Gegensatz zu ihrem Traum war dieser jetzt völlig leer bis auf eine kleine Glasviole, in der sich ein grünlicher Nebel befand, der durch einen Korken daran gehindert wurde, das Gefäß zu verlassen.
Wo war der König?
Sie musste ziemlich lange warten. Aber dann, ehe sie es sich versah, stand dieser plötzlich inmitten des Raumes. Er hatte sich umgezogen und trug jetzt, ähnlich wie der alte Zauberer, einen wallenden Zaubermantel und einen spitzen Hut. Im Gegensatz zu dessen Kleidung waren die Stoffe aber blutrot und trugen ein Muster aus Schlangen und Drachen. Sarah musste zugeben, dass der König damit eine wirklich machtvolle und beeindruckende Erscheinung abgab.
Ohne das Mädchen zu beachten, trat der Zauberer an den Tisch und nahm das kleine Fläschchen in die Hand. Er betrachtete es, indem er es von allen Seiten her gegen das Licht der zahlreichen Kerzen und Fackeln hielt, die, von unsichtbaren Kräften gelenkt, durch den Raum schwebten und diesen festlich erleuchteten. Irgendwie wirke der unheimliche Mann auf Sarah dabei wie ein Weinkenner, der erst einmal die Farbe eines besonders kostbaren Rotweines genoss, bevor er schließlich den ersten Schluck davon nahm. Der König stellte das Gefäß dann allerdings, ohne es zu öffnen, wieder an seinen Platz zurück, bevor er sich endlich Sarah zuwandte.
„Nun, Sarah, wie hast du dich entschieden?“
Irrte sie sich, oder wurde es in dem Raum plötzlich viel düsterer? Ein seltsames Licht tauchte jetzt alle Gegenstände in ein blutiges Rot. Obwohl die Stimme des Mannes ruhig, ja fast beiläufig geklungen hatte, war doch eine große, nur mühsam unterdrückte Anspannung darin zu spüren.
Sarah hatte die Zeit genutzt, um sich zu entscheiden, dass sie zunächst auf die Forderungen des Königs eingehen würde. Hoffentlich waren dessen Fähigkeiten nicht so groß, dass er ihre Lüge sogleich durchschaute. Aber vielleicht würde die Freude über ihre Zusage ihn ja eine Weile blenden…
Sie zögerte einen Augenblick, währenddessen der König sie mit seinen kalten Augen anblickte. Sarah fühlte sich erneut so, als würde der Mann dabei in ihr tiefstes Inneres blicken.
Sie schluckte und sprach mit möglichst fester Stimme:
„Ja, ich werde Ihren Wunsch erfüllen. Ich will eine Hexe werden, die von allen respektiert und gefürchtet wird!“
Sarah sah, wie die Augen des Königs vor Freude und Genugtuung aufblitzten. Er schien sich sehr bemühen zu müssen, sich seine Zufriedenheit nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Der Zauberer schien von ihrer Zusage so erfüllt zu sein, dass er offenbar gar nicht das komische Geräusch bemerkt hatte, das jetzt für einen ganz kurzen Moment zu hören gewesen war, gleich nachdem Sarah zu Ende gesprochen hatte. In ihren Ohren hatte es sich wie das erschreckte Aufheulen eines Tieres angehört. Aber vielleicht hatte sie sich auch getäuscht.
„Gut, mein Kind. Gut!“ Er ging in eine Ecke des Raumes, die sie von ihrem Stuhl aus nicht einsehen konnte. Dort machte er sich an irgendetwas zu schaffen. Erstaunt erblickte Sarah kurz darauf einen nicht allzu großen, struppigen Hund, den der Zauberer jetzt hinter sich herzog, und der sich nach Leibeskräften zu bemühen schien, diesen daran zu hindern. Dann blitzte kurz etwas auf, und der Hund saß im nächsten Moment auch schon in einem goldenen Käfig gefangen mitten auf dem Tisch.
Der König wandte sich jetzt wieder Sarah zu.
Eine rasche Bewegung mit seinem Zauberstab befreite sie von ihren Fesseln. Überrascht von dieser erfreulichen Wendung, rieb sie sich die tauben Gelenke, damit die Durchblutung wieder einsetzte.
„Dies als erstes Zeichen meiner Freude und meines Vertrauens!“
Sarah erhob sich vorsichtig. Sie konnte es noch nicht so recht glauben, dass sie sich wirklich wieder frei bewegen durfte.
„Komm her zu mir, Sarah.“
Der König bedeutete ihr, zu ihm an den Tisch zu treten.
„Jetzt, mein Kind, musst du mir zeigen, ob du wirklich würdig bist, eines Tages an meiner Seite zu herrschen…“
Und er deutete auf den Hund, der sich mit eingezogenem Schwanz in die hinterste Ecke des Käfigs zurückgezogen hatte und die beiden Menschen aus misstrauischen Augen anschaute.
33
Sarah merkte, wie ihr die Knie weich wurden. So etwas hatte sie insgeheim befürchtet: Dass der König etwas von ihr verlangen würde, um ihre Ergebenheit ihm gegenüber zu beweisen. Die Worte des Mannes klangen noch in ihren Ohren nach, aber sie war kaum in der Lage, wirklich zu begreifen, was er von ihr wollte. Es betraf den Hund, das wenigstens hatte sie gleich verstanden. Jetzt blickte sie mit großen Augen auf ihre rechte Hand, in der sie etwas so fest umklammert hielt, dass ihre Fingerknöchel schon ganz weiß hervortraten.
Es war der Zauberstab des Königs.
Zuvor hatte Sarah zugesehen, wie der Zauberer den Stab flüsternd besprach und dabei immer wieder mit seinen Händen darüberstrich, bevor er ihn ihr schließlich übergab. Sprachlos hatte sie den Zauberstab entgegengenommen. Auch wenn sie ihn aus einer ersten heftigen Regung heraus am liebsten gleich weit fortgeworfen hätte, hielt sie ihn nach wie vor in der Hand. Jetzt begannen die Worte des Königs in ihrem Kopf langsam einen Sinn zu ergeben. Es war eigentlich ganz einfach und hörte sich noch nicht einmal wirklich schlimm oder gar grausam an: Sarah sollte mit Hilfe des Zauberstabes den Hund verwandeln. Aber nicht etwa in ein anderes Tier oder gar in einen leblosen Gegenstand. Nein, der König hatte lediglich gemeint, dass ihm der Hund gefalle, den er als herrenlosen Streuner gerade erst in den unterirdischen Gängen seines Palastes entdeckt hatte. Allerdings sei das Tier noch viel zu wild und verängstigt, und es bestehe die Gefahr dass er oder Sarah vielleicht noch von ihm gebissen würden. Also wollte er es mit einem einfachen und harmlosen Zauberspruch zähmen und an seinen neuen Herrn gewöhnen, was dem Hund körperlich keinerlei Schaden zufügen würde.
Es war schon seltsam, die Waffe des mächtigen Zauberers in der Hand zu halten. Komischerweise war das Gefühl der Ablehnung, fast war es sogar Abscheu gewesen, das sie anfangs verspürt hatte, mittlerweile einer ganz anderen Empfindung gewichen. Es war direkt angenehm, den Zauberstab halten zu dürfen, ja, sie fühlte sich jetzt zum ersten Mal nach langer Zeit eigentlich wieder so richtig wohl in ihrer Haut. War das etwa das, was man als Macht bezeichnete? Sarah wusste es nicht, da sie sich über so etwas früher noch nie Gedanken gemacht hatte.
Mit einem Mal fühlte sie, wie gleichzeitig mehrere Blicke auf ihr lasteten. Zum einen war es natürlich der König, der sie mit seinen unergründlichen Augen forschend anblickte. Aber auch der Hund hatte sie mit seinen schwarzen Knopfaugen, die unter den Fellsträhnen kaum sichtbar waren, regelrecht fixiert, ja, es war fast so, als schaute er sie flehend an. Auf jeden Fall drohte dadurch das gute Gefühl, das sie eben noch durchströmt hatte, wieder zu verschwinden. Was sollte jetzt schon Schlimmes geschehen, dachte sie, über das Verhalten des Tieres jetzt schon fast ein wenig verärgert. Und außerdem musste sie dem König doch endlich ein Zeichen des Vertrauens geben. Nur so konnte sie vielleicht noch genug Zeit herausschinden, bis Max und sein Onkel sie endlich fanden.
Wo die beiden bloß blieben…
Was hatte der König gesagt? Sie sollte den Hund lediglich mit der Spitze des Zauberstabes leicht berühren, das würde genügen. Sarah versuchte sich zu konzentrieren. Mit weit ausgestreckten Armen näherte sie sich langsam dem Käfig. Der dumme Hund drückte sich noch weiter in die hinterste Ecke. Hoffentlich biss er nicht noch vor lauter Angst um sich. Nun, woher sollte das Tier auch wissen, dass sie es nur gut mit ihm meinte. Sie wollte gerade anfangen, beruhigend auf den Hund einzusprechen, etwas, was zumindest bei ängstlichen Pferden immer recht gut geklappt hatte, als sie mit einem Mal stutzte.
Etwas hatte ihre Aufmerksamkeit für einen kurzen Moment abgelenkt. Da, jetzt sah sie es wieder: Es war etwas rotes, was im ansonsten schmutzig grauen Fell des Hundes aufblitzte. Im ersten Augenblick dachte Sarah, dass es sich um einen Stofffetzen handelte. Dann drehte sich der Hund, der zunehmend unruhig zu werden schien, um, und sie erkannte, dass sie sich geirrt hatte: Es war tatsächlich so, dass dem Tier stellenweise feuerrote Haare wuchsen.
Sarah zögerte.
Konnte das denn möglich sein?
Andererseits, sie hatte es ja bereits erlebt, wie sich Max ihr in Form eines Tieres genähert hatte…Nicht auszudenken, wenn sie jetzt ihren Gefährten verwandelte!
Sarah spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam. Natürlich, genau das war es sicherlich, was der König von ihr erwartete. Was für eine gemeine und dabei doch geniale Idee…
Sie fing an zu schwitzen. Was sollte sie jetzt bloß tun? Auch ohne den König direkt anzuschauen, spürte sie, wie dieser sie aufmerksam anblickte. Ahnte er womöglich schon etwas?
Und wenn sie jetzt einfach den Zauberstab gegen ihn wandte?
Mit einem Zauberspruch, der ihn zahm und gefügig machte?
Keine ganz schlechte Idee!
Sarah hielt die Luft an und zählte innerlich langsam bis drei.
Dann drehte sie sich blitzschnell um, den Zauberstab weit von sich gestreckt.
„Nein Sarah, tu es nicht!“
Der Schrei gellte in ihren Ohren. Es war aber nicht etwa der König, der gerufen hatte. Dieser stand vor ihr und sah noch nicht einmal sonderlich erstaunt oder gar erschrocken aus. Ein leises Lächeln umspielte jetzt sogar seine Lippen. Hastig schaute sich Sarah im Raum um, ohne jemand anderen zu erblicken als den König und den Hund. Lediglich eine der scheußlichen grünen Schlangen war wieder aus ihrem Versteck aufgetaucht und starrte sie aus sicherer Entfernung an. Sie wandte sich wieder ihrem Feind zu.
„Nur zu, junge Frau. Du hast jetzt die Macht! Es ist deine einzige Chance, denn für diesen Verrat darfst du keine Gnade mehr von mir erwarten!“ Der Mann hatte ganz ruhig gesprochen und schaute sie währenddessen unverwandt an. Jetzt breitete er sogar seine Arme aus, wie um noch zusätzlich zu unterstreichen, dass er wehrlos und unbewaffnet war.
Dann ging alles sehr schnell.
Plötzlich, wie aus dem Nichts, tauchte jemand neben ihr auf.
Es war ihr Gefährte, der alte Zauberer. Hatte er sich etwa als eine der Schlagen getarnt? Die Augen des alten Mannes waren vor Schreck geweitet, etwas, was sie bisher noch nie bei ihm gesehen hatte, und er hielt seine Arme beschwörend in die Höhe.
„Gib mir den Zauberstab, Kind. Wirf ihn vor mir auf den Boden! Wenn du ihn damit berührst, wirst du sterben!“
Sarah war für einen kurzen Augenblick wie gelähmt.
Auch wenn sie vielleicht nur für den Bruchteil einer Sekunde gezögert hatte, war das schon zu lange gewesen:
Der König hechtete über die Tischplatte hinweg auf Sarah zu und warf sie mit seinem Gewicht zu Boden. Vor Schreck ließ Sarah dabei den Zauberstab fallen. Beide, Sarah und der König entdeckten ihn gleichzeitig, wie er ein paar Meter von ihnen entfernt, auf dem Boden zu liegen kam. Ohne auf den anderen zu achten, rappelten sie sich beide auf, um den Stab als erstes zu ergreifen. Sarah wusste zwar nicht so recht, was sie mit dem Ding anfangen sollte, aber sie war sich sicher, dass der König der letzte hier im Raum war, in dessen Hände die mächtige Waffe gelangen durfte!
Während sie in einem gewaltigen Hechtsprung nach vorne hastete, nahm sie neben sich einen Schatten wahr, der schneller war als sie: Es war ihr Freund, der alte Zauberer, der förmlich durch die Luft zu fliegen schien (was er übrigens auch tatsächlich tat), den rechten Arm nach dem kostbaren Stab ausgestreckt.
Aber der König war ihm trotzdem ein Stück voraus.
„Nein!“ Sarah, die schon alles verloren glaubte, schrie laut auf. Der König schloss gerade die Finger seiner Hand, um den Zauberstab endgültig zu packen…
…- und griff ins Leere.
„Max!“, riefen jetzt Sarah und der alte Zauberer wie aus einem Munde. Der Hund flitzte mit dem Zauberstab zwischen den Zähnen in die hinterste Ecke des Raumes. Bei dem Sprung des Königs über den Tisch hatte dieser den Käfig zur Seite geschleudert, der daraufhin zu Boden gefallen war und sich, unbemerkt von den Anwesenden, geöffnet hatte. Niemand hatte in dem ganzen Durcheinander weiter auf den grauen Hund geachtet.
Mit einem grässlichen Fluch rappelte sich der soeben übertölpelte König auf und stürzte dem Hund hinterher. Sarah war von dem ganzen Geschehen dermaßen überrumpelt, dass sie erst einmal mit offenem Mund dort stehen blieb, wo sie gerade war. Auch der alte Zauberer schien einen Moment lang aus dem Konzept gebracht, bevor auch er endlich dorthin eilte, wo der König gerade vergeblich versuchte, dem tief unter ein Regal geflüchteten Hund den Zauberstab wieder zu entreißen.
Da stieß der alte Zauberer einen scharfen Pfiff aus und im nächsten Moment stürzte der Hund (beziehungsweise Max) mit angespitzten Ohren aus seinem Versteck hervor.
„Bring ihn zu mir!“, rief sein Onkel und streckte die Hand aus.
Aber sie hatten nicht mit der Schnelligkeit und Geistesgegenwärtigkeit ihres Feindes gerechnet. Mit einem schnellen Griff hatte dieser Max gepackt, bevor er an ihm vorbeilaufen konnte. Max jaulte auf, als ihn der König schmerzhaft mit der linken Hand an seinem Nackenfell emporhob. Mit Schrecken erkannte Sarah, dass er dabei den Zauberstab fallen ließ, direkt in die rechte Hand des Königs!
Sie sah, wie dessen Augen triumphierend aufblitzten.
Ohne ihn weiter zu beachten, schleuderte er den winselnden Hund wie ein altes abgetragenes Kleidungsstück von sich und wandte sich daraufhin Sarah und dem alten Zauberer zu.
„So, ihr beiden. Gerne würde ich euch noch ein letztes Wort des Abschieds erlauben, aber Ihr habt sicherlich Verständnis dafür, dass ich jetzt ein wenig in Eile bin. Also, lebt wohl!“
Er machte eine angedeutete Verbeugung in ihre Richtung und erhob den Zauberstab, während er einen unverständlichen Spruch murmelte.
Sarah sah mit Schrecken, wie sich die Spitze des Zauberstabes genau in Richtung ihrer Stirn zu senken begann.
Da hörte sie einen schmerzerfüllten Aufschrei.
Erst dachte Sarah, dieser käme von ihrem Gefährten, dem alten Zauberer, der vielleicht schon von dem Zauber getroffen war. Dann sah sie zu ihrem Erstaunen, wie sich der König vor ihr bückte und sich mit verzerrtem Gesicht sein Schienenbein rieb. Sarah konnte sehen, dass die Hose dort ganz zerrissen war. Rotes Blut tropfte auf den Boden.
Erst dann erkannte sie, was sie da so unvermittelt, zumindest für den Augenblick, gerettet hatte: Es war der graue Hund gewesen, der soeben erneut zum Angriff ansetzte.
Im gleichen Moment aber hatte sich der König wieder gefangen und richtete sich jetzt wieder zu seiner vollen Größe auf. Er erhob seinen Zauberstab und schaute hasserfüllt auf Max hinab, der gerade Anlauf genommen und zum Sprung angesetzt hatte.
„Oh nein!“, hörte sich Sarah flüstern, als sie hilflos mit ansehen musste, wie der Hund mit seinem Gegner zusammenprallte.
Es gab einen hellen Blitz, der sie einen Moment lang blendete. Sie nahm einen unangenehmen Geruch nach verbranntem Haar wahr. Gleichzeitig donnerte und schepperte etwas ganz laut und gewaltig.
Der alte Zauberer hatte sich schließlich als erstes aus seiner Erstarrung gelöst und eilte nach vorne, wo es jetzt nach dem ganzen Lärm mit einem Mal ganz still geworden war.
Dann hatten sich auch Sarahs Augen wieder soweit erholt, dass sie etwas erkennen konnte.
Als erstes entdeckte sie den König, der, offensichtlich besinnungslos oder zumindest ganz benommen in den Trümmern des Regals lag, in das er durch den Aufprall mit dem Hund rückwärts gestürzt war. Zahlreiche Flaschen waren zerborsten. Überall lagen Splitter herum. Sarah sah eine große Pfütze auf dem steinernen Boden, die sich allmählich weiter ausbreitete. Bunter Nebel stieg von der verschütteten Flüssigkeit in die Luft auf. Da fiel ihr Blick auf ein graues Etwas, das ein wenig am Rand des Geschehens regungslos in einer Ecke lag.
Mit einem Mal war ihr völlig egal, ob der König besiegt war.
Sie kniete sich neben den Hund, der merkwürdig verdreht auf der Seite lag. Vorsichtig strich sie ihm über das Fell, wobei sie gar nicht merkte, wie ihr die Tränen die Wangen herunter liefen.
„Bitte, mach, dass es nicht wahr ist…“, stammelte sie hilflos.
Schließlich blickte sie auf und sah durch ihre Tränen hindurch, wie sich der alte Zauberer gerade zu ihr umdrehte.
Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, als er Sarahs Blick traf und dann auf Max hinabschaute. Er eilte sofort zu ihnen und nahm den grauen Hund behutsam auf den Schoß. Sein Gesicht drückte tiefe Betroffenheit und unsägliche Trauer aus.
Da hörten sie, wie sich etwas am Ende des Raumes regte.
Sarah blickte auf und erkannte zu ihrer Bestürzung, dass die Geräusche genau aus der Richtung des zerborstenen Regals kamen.
„Nimmt das hier denn niemals ein Ende…?“, dachte sie verzweifelt.
In ihrer Trauer um Max hatte Sarah den König für einen kurzen Moment völlig vergessen. Das galt offensichtlich auch für ihren Gefährten, den Zauberer, der sich jetzt hastig erhob, um sich erneut auf seinen Todfeind zu stürzen. Jetzt erkannte Sarah, dass inmitten der Pfütze auf dem Boden der Zauberstab ihres Feindes lag. Obwohl der König offensichtlich ziemlich angeschlagen war und seine Bewegungen seltsam langsam und zittrig wirkten, hatte der alte Zauberer diesmal nicht die geringste Chance ihm zuvor zu kommen. Ihn trennten noch mindestens zwei Meter von seinem Ziel, als der König schon seine Waffe ergriff.
Ein hässliches Lachen erklang, als dieser sich sichtlich mühsam erhob und den Stab sogleich gegen seinen alten Widersacher richtete.
„So Arthur, jetzt ist es endgültig vorbei mit dir und deiner kleinen Freundin!“
Sarah sah, wie der alte Zauberer hastig seinen eigenen Zauberstab aus dem Gewand zog. Aber sein Feind war schneller. Mit hasserfülltem Blick zielte dieser mit dem Stab direkt auf die Brust des Gegners. Sarah wollte laut schreien, bekam aber keinen Ton heraus.
Dann…
…- passierte überhaupt nichts.
Der König schaute fassungslos auf sein Gegenüber, den alten Zauberer. Sarah konnte natürlich nicht wissen, was ihr Feind mit seinem Zauberspruch ursprünglich bewirken wollte. Aber zumindest eines schien er nicht erwartet zu haben: Dass sein Gegner weiterhin putzmunter vor ihm stand und jetzt seinerseits mit dem Zauberstab auf ihn zeigte. Erstaunlich rasch schien sich der König aber von seinem ersten Schrecken zu erholen, denn er sprang überraschend schnell zur Seite und entging so dem hellen Lichtstrahl nur um Haaresbreite, der jetzt vom Zauberstab seines Gegners ausging. Noch im Springen versuchte er es erneut mit einem Zauberspruch. Diesmal verpuffte lediglich eine kleine rosa Wolke in der Luft, die Sarah frappierend an einen Bausch gefärbter Zuckerwatte erinnerte. Und wirklich blieb das rosa Etwas eine kleine Weile an der Spitze des Stabes hängen, was diese Ähnlichkeit nur noch mehr verstärkte.
Der nächste Versuch, den alten Zauberer anzugreifen, scheiterte ähnlich kläglich. Nur dass jetzt die „Zuckerwatte“ verschwand und stattdessen aus dem Zauberstab Blätter und Knospen sprossen, die sich nur Augenblicke später zu prachtvollen roten Blüten öffneten.
Max Onkel war von alledem mindestens ebenso verdattert wie sein Gegner und vergaß darüber offensichtlich, seinen Zauberstab erneut einzusetzen. Sarah starrte die beiden Männer mit großen Augen an, die jetzt einander gegenüberstanden und sich abschätzig anblickten, als wollten sie sich gleich mit bloßen Fäusten aufeinander stürzen. Dabei erkannte sie, dass sie sich nicht geirrt hatte: Der König schien von seinem Sturz in das Regal tatsächlich ziemlich angeschlagen zu sein.
Obwohl, es war nicht so, als hätte er sich dabei ernsthaft verletzt. Nein, er wirkte nur seltsam verlangsamt, unsicher und – irgendwie älter.
Ja, das war es! Sarah sah, dass die rechte Hand, die den in einen blühenden Ast verwandelten Stab hielt, mit einem Mal ganz runzlig und fleckig wirkte. Dagegen sah die andere Hand noch ganz frisch und jung aus. Diese widersprüchlichen Eindrücke mehrten sich bei genauerer Betrachtung sogar noch: Unter dem spitz zulaufenden Zauberhut schaute links weiterhin braunes, rechts jetzt aber vollkommen ergrautes Haar heraus. Und dann stimmte auch mit dem Gesicht etwas nicht: Irgendwie hing die rechte Hälfte etwas herab, was den verächtlichen Zug um den Mundwinkel noch verstärkte.
Sarah begann langsam zu ahnen, was da womöglich gerade mit ihrem Gegner geschehen war. Aber bevor sich der Gedanke in ihrem Kopf richtig ausformen konnte, ging es mit der Auseinandersetzung zwischen den beiden Zauberern bereits wieder weiter.
Mit einem lauten Fluch schleuderte der König den nutzlos gewordenen Zauberstab weit von sich.
Dann zog er etwas aus seiner Tasche, was in Sarahs Augen am ehesten wie ein Schleier oder ein fast durchsichtiges Tuch aussah und warf es gerade über sich, als ihn auch schon ein heller Lichtstrahl traf, der nahezu zeitgleich aus der Spitze des Zauberstabs seines Gegners kam. Das gleißend helle Licht umhüllte den König, schien ihn aber erstaunlicherweise nicht weiter zu beeinträchtigen. Der alte Zauberer versuchte es wieder und immer wieder, wobei sein Zauberstab eine schier endlose Kette flammender Lichter in den unterschiedlichsten Farben auswarf. Sarah konnte ein höhnisches Lachen vernehmen, als der König sich unter dem ständigen Beschuss langsam in Richtung des Tisches bewegte.
Was hatte er bloß vor? Und warum wirkte er mit einem Mal wieder so siegessicher?
Als Sarah die verzweifelten Bemühungen von Max Onkel sah, kam ihr bei dem Anblick des alten Mannes plötzlich eine Idee. Sie brauchte dazu eigentlich nur ihre Gedanken von vorhin zu Ende zu führen:
Es war (zufällig?) das Regal mit den ausgesonderten Träumen gewesen, in das der König vorhin gestürzt war. Dabei waren verschiedene Flaschen entzwei gegangen und hatten ihren Inhalt freigegeben.
Jetzt war ihr alles klar.
Es waren „gute“ Träume gewesen, Träume, mit denen ihr Feind nichts anfangen konnte, keine, die ihm irgendwie zur Vermehrung seiner Macht oder zur Unterdrückung oder Kontrolle seiner Untertanen nutzen konnten…
Ohne groß darüber nachzudenken, stürzte Sarah zu dem zerbrochenen Regal und ergriff wahllos zwei der wenigen, noch intakten Gefäße.
Dann nahm sie Anlauf und schleuderte das erste Glas in Richtung des Königs, der den Tisch schon fast erreicht hatte. Sein schützender Umhang schien ihn zwar vor dem Zauber seines Gegners zu schützen, machte ihn aber augenscheinlich gleichzeitig langsamer und unbeweglicher, ganz so, als würde er eine schwere Rüstung tragen.
Das Glas, das im Übrigen eine grünlich-gelbliche wolkige Substanz enthielt, prallte gegen den Rücken des Königs und zerbrach sogleich. Zu ihrer Freude konnte Sarah erkennen, dass ihre Vermutung richtig war: Der magische Umhang des Königs schien für den Inhalt des Gefäßes kein ernsthaftes Hindernis darzustellen. Vielleicht war es ja deshalb so, weil der Traum, der darin gefangen war, nicht aus dieser Welt stammte. Fasziniert beobachtete sie, was die seltsame Flüssigkeit bewirkte. Der Mantel des Königs wirkte plötzlich ganz blass und unter dem Stoff begann sich deutlich eine Erhebung abzuzeichnen. In dem Moment, als sich der König umdrehte, begriff Sarah, dass dem Mann soeben ein Buckel gewachsen war. Rasch warf sie auch das zweite Glasgefäß nach ihm und hatte auch diesmal Erfolg: Es verfehlte zwar den Kopf ihres Widersachers knapp und zerschellte direkt über ihm an der hohen Rückenlehne seines Stuhles. Der Inhalt der Flasche aber, diesmal von einem schönen tiefen Blau, das wie ein Miniaturwirbelsturm unablässig umher wirbelte, ergoss sich über Haare und Gesicht des Königs.
Sarah stellte gleichzeitig mit Genugtuung und mit Schrecken fest, dass sie tatsächlich Recht gehabt hatte: Die Quintessenz ihrer Träume ließ den König rasch altern. All dies, was er durch seinen Zauber bewirkt hatte, allem voran die ihrem Vater gestohlene Jugend, fiel in Sekundenschnelle von ihm ab. Ehe sie zweimal blinzeln konnte stand ein alter Mann vor ihr, der sich ungläubig das Gesicht abtastete und dann voller Abscheu seine runzligen und fleckigen Handrücken und Unterarme betrachtete.
Sarah trat neben den alten Zauberer, der das Schauspiel fasziniert verfolgt hatte. Dieser legte seinen Arm um ihre Schulter und drückte sie fest an sich.
Da blickte der König, der jetzt mindestens ebenso alt wirkte wie Max Onkel, von seinen Händen auf und schaute die beiden Gefährten an. Wenn diese erwartet hatten, dass er sich jetzt endlich geschlagen gab, hatten sie sich jedoch leider getäuscht. Der König lachte kurz auf und ergriff die Flasche, die die ganze Zeit schon auf dem Tisch gestanden hatte.
Mit einem triumphierenden Blick hielt er sie in die Höhe.
„Oh nein!“, flüsterte Sarah, die das Gefäß wieder erkannte und plötzlich wusste, was sich darin befinden musste. Der alte Zauberer schaute sie fragend an.
„Er darf das nicht trinken. Es ist ein Zaubertrank, den er mit Hilfe meiner Träume hergestellt hat…“ Sarah verstummte hilflos.
„Ganz Recht, mein Kind“, krächzte der König mit Greisenstimme. „Und er wird mir jetzt schon ungeheure Macht verleihen… Es ist alles darin, was dafür notwendig ist. Ich hätte ihn gerne noch ein wenig ergänzt und verfeinert. Aber sei`s drum: Ihr werdet gleich den Tag bereuen, an dem ihr euch mir in den Weg gestellt habt…“
Obwohl Sarah und der alte Zauberer gleichzeitig auf den Tisch zu eilten, um ihren Feind an der Ausführung seines Planes zu hindern, hatte dieser die Flasche im nächsten Moment bereits entkorkt und an seinen Mund geführt. Mit blitzenden Augen schleuderte er das leere Glasgefäß anschließend gegen die Wand, wo es mit einem lauten Knall in tausend Stücke zersprang.
Sogleich wurde der König in eine grünliche Flamme gehüllt, durch die unablässig dunkle Schatten zuckten. Er hatte die Arme weit in die Luft geworfen, das Gesicht zu einem lautlosen Lachen verzerrt. Sarah und ihr Gefährte wichen zurück, wobei sich der alte Zauberer schützend vor sie stellte. Als wenn das noch irgendetwas nützen würde, dachte Sarah noch, während sie mit Entsetzen und Faszination zugleich beobachtete, wie sich der König allmählich zu verwandeln begann.
Er wurde größer, bis er die beiden sicherlich um eine Körperlänge überragte, gleichzeitig aber begann sich auch sein ganzer Körper zu verändern. Die Haut wurde ganz schuppig und grünlich. Durch die pausenlos lodernden Flammen war es schwierig zu erkennen, um was für ein Wesen es sich jetzt handeln mochte. Aber Sarah war sich schon rasch ziemlich sicher, dass dort, direkt vor ihren weit aufgerissenen Augen, ein leibhaftiger Drachen oder zumindest ein riesenhaftes Reptil entstand. Dabei wuchs das Monster, das sie jetzt mordlustig mit weit aufgerissenem Maul anstarrte, unaufhörlich weiter und weiter.
Der alte Zauberer hatte seinen Zauberstab schützend erhoben, aber Sarah wusste, dass dies ihnen beiden sicherlich nichts mehr nützen würde. Das Monster war ihnen allein an Masse und Körperkraft jetzt schon buchstäblich haushoch überlegen.
Und es wuchs immer noch.
Mit Schrecken kam Sarah der Gedanke, dass sicherlich gleich das Gewölbe um sie herum einstürzen würde, dessen Decke das grüne Reptilwesen fast schon erreichte.
Sarah wollte schon die Augen schließen, um nicht mit ansehen zu müssen, wie gleich die tonnenschwere Decke auf sie und ihren Gefährten niederstürzen würde. Vielleicht würde das Monster sie aber auch zuvor noch rasch zerreißen.
Da bemerkte sie etwas überaus Seltsames.
Der Drachen wurde mit einem Mal zusehends blasser und verlor an Farbe. Das furchterregende Wesen schien die Veränderung selbst zu spüren. Es schloss sein Maul mit den unzähligen spitzen Zähnen und neigte seinen riesigen Reptilkopf ungläubig zur Seite, als könnte es nicht fassen, was da gerade mit ihm geschah. Aber Sarah hatte sich nicht getäuscht: Das Untier wurde langsam aber sicher immer durchsichtiger. Schon konnte man die rückwärtige Wand durch den mächtigen dicken Leib hindurch erkennen. Die grünen Flammen hatten mittlerweile aufgehört, um das Untier herum zu lodern. Dafür spie es jetzt selbst blassgrüne Flammen aus. Dann riss es erneut sein Maul auf, und sie hörten es laut brüllen. Aber das hörte sich in ihren Ohren nicht mehr sonderlich gefährlich an, sondern nur noch ärgerlich und angsterfüllt zugleich.
Dann war nur noch ein undeutlicher Schatten zu sehen, der sich auf der ihnen gegenüber liegenden Wand bewegte, während der Urheber des Schattenbildes schon nicht mehr sichtbar war. Wenige Sekunden später war auch der Schatten verschwunden. Nur noch ein schwacher Geruch nach Schwefel lag in der Luft.
Sarah und der alte Zauberer waren alleine.
Sie blickten sich gerade fassungslos in die Augen, als sie sich auf ein neuerliches Geräusch hin nahezu gleichzeitig umdrehten.
Erneut stieß Sarah einen lauten Schrei aus. Diesmal aber nicht etwa aus Angst oder Erschrecken heraus, sondern aus Freude: Sie hatte das Jaulen und das leise Kläffen eines Hundes vernommen.
„Max!“, riefen Sarah und der Zauberer wie aus einem Munde und stürzten sich auf den Hund, der sich gerade mit zitternden Beinen aufgerichtet hatte und jetzt, noch deutlich unsicher und schwankend, auf sie zu getrottet kam.
34
Sarah hätte vor Erleichterung und Freude gleich schon wieder in Tränen ausbrechen können, und auch in den Augen des alten Zauberers glitzerte es verdächtig. Rasch hatte sich dieser vergewissert, dass Max zwar ziemlich mitgenommen war, seine Verletzungen aber glücklicherweise nicht lebensbedrohlich zu sein schienen. Offensichtlich war auch hier wieder eine gehörige Portion an schwarzer Magie mit im Spiel gewesen, die jetzt, nachdem der König verschwunden war, ihre schädliche Wirkung verloren hatte.
Max schaute die beiden Gefährten mit großen Augen an und bellte ein paar Mal. Sicherlich wollte er sie darauf aufmerksam machen, dass er doch, bitteschön, endlich wieder Menschengestalt annehmen möchte. Aber der alte Zauberer beschloss, ihm erst dann diesen Gefallen zu tun, wenn sie die ungastlichen unterirdischen Räume wieder verlassen hatten. „Du bist mir sonst schlicht und ergreifend zu schwer, mein Junge!“, hatte er ihm mit einem bedauernden Achselzucken mitgeteilt. Denn größere Wegstrecken zu laufen, das vermochte Max sicherlich noch nicht. Dieser schaute seinen Onkel einen kurzen Moment lang traurig an, schien dann aber selbst einzusehen, dass dies wohl die vernünftigste Entscheidung war.
Der alte Zauberer schaute sich prüfend um.
„Ich will nicht behaupten, dass ich verstanden habe, was da eben passiert ist. Es war ein wahrhaftig mächtiger Trank gewesen, den sich Rufus da zurechtgemixt hat. Aber, warum ist er dann einfach verschwunden? Bei meiner Ehre als Zauberer: Er hätte uns beide mit einem Hieb zerschmettern können, und ich hätte nichts, aber auch gar nichts, dagegen zu tun vermocht!“
„Wo mag er jetzt bloß sein?“
Sarah schaute ihren Gefährten, der ihr zum ersten Mal aufrichtig verwirrt zu sein schien, an und schüttelte langsam mit dem Kopf.
„Nein. Er ist nicht mehr hier!“, sprach sie mit ruhiger Stimme und fügte dann leise hinzu: „Und ich glaube auch nicht, dass er sich jetzt irgendwo anders auf dieser Welt befindet…“
Der alte Zauberer und natürlich auch sein Neffe, schauten Sarah erstaunt an. Wie konnte sie sich da so sicher sein?
„ > Isst Du eine von mir, so kann man Dich nicht mehr von Deiner Umgebung unterscheiden. Isst Du zwei von mir, dann wirst Du unsichtbar. Isst Du aber mehr als zwei von mir, so verschwindest Du für immer! 7 Zurück
1
Das gleißend helle Licht blendete Sarah schließlich so sehr, dass sie die Augenlider fest zupressen musste. Ihr Kopf schmerzte und ihr war furchtbar schwindelig. Ganz vorsichtig versuchte sie nach einer kurzen Weile erneut, die Augen wenigstens einen Spalt weit zu öffnen.
Zunächst konnte sie außer dem strahlenden weißen Licht nichts erkennen. Es war ungefähr so, als versuchte man mit bloßem Auge in die Sonne zu blicken.
Erst nach und nach konnte Sarah einzelne schemenhafte Umrisse vor sich ausmachen. Genaueres erkennen konnte sie allerdings nicht.
Allmählich ließ der pulsierende Schmerz, der zeitweise ihren ganzen Kopf auszufüllen schien, ein wenig nach, so dass sie es schließlich wagte, den Kopf ein wenig zu drehen. Der sofort einsetzende Schwindel ließ sie dieses Vorhaben allerdings sogleich wieder aufgeben. Ihr war speiübel und sie fürchtete, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Sarahs erster Gedanke war, dass sie sich wieder im Schloss des Königs befinden musste, wo sie nach ihrer Entführung dorthin ja mit ähnlichen unangenehmen Beschwerden zu kämpfen hatte. Aber, lag das nicht schon Wochen und Monate zurück? Was war mit dem weißen Turm? War es denn nicht dieser, der sie jetzt so blendete?
Erst jetzt bemerkte sie, dass sie auf einem weichen Bett lag. Soweit also ihre Theorie vom weißen Turm. Aber um das kleine Turmzimmer schien es sich hier ebenso wenig zu handeln. Ihre Umgebung war ganz von leisen Stimmen und monoton piepsenden Geräuschen erfüllt, die ihr einerseits völlig fremd vorkamen, sie aber trotzdem an irgendetwas erinnerten. Nur, an was?
Warum fiel es ihr denn so scheußlich schwer, sich an das zuletzt Erlebte zu erinnern?
Nach einer weiteren kleinen Ewigkeit, sie musste wohl in der Zwischenzeit wieder in einen traumlosen Schlaf gesunken sein, war es ihr bereits ein wenig wohler zumute.
Sie versuchte, sich aus den weichen Kissen zu erheben und sich ein wenig aufzurichten. Ihre Lider waren aber immer noch schwer wie Blei, so dass sie die Augen aus Bequemlichkeit erst einmal weiterhin geschlossen hielt. Man musste ja nicht gleich übertreiben.
Und außerdem blieb sie so wenigstens vorübergehend von diesem grässlichen hellen Licht verschont, das es sogar noch schaffte, sich durch ihre fest geschlossenen Augenlider bemerkbar zu machen.
Kaum hatte sie sich mühsam in ihrem Bett aufgerichtet, als sie auch schon bemerkte, wie sich ihr jemand mit leisen schnellen Schritten näherte. Sarah fühlte, wie sie sogleich wieder sanft in die Kissen zurückgedrückt wurde. Sie versuchte erst gar nicht, sich dagegen zu wehren.
Sarah merkte schließlich, dass jemand mit ihr redete. Der Sinn der Worte erschloss sich ihr allerdings nicht, auch wenn sie ziemlich sicher war, ihren Namen herausgehört zu haben. Sonst wäre sie ja auch kaum darauf gekommen, dass es sie war, mit der hier gesprochen wurde.
Die Stimme dieses offensichtlich weiblichen Wesens, wahrscheinlich gehörte sie zu einer jungen Frau, klang sehr freundlich und beruhigend, so dass Sarah sich auch dann nicht dagegen sträubte, als sie merkte, wie ihr linker Arm ausgestreckt wurde.
Sie verspürte zunächst ein leichtes Brennen in ihrem linken Unterarm und dann ein nicht unangenehmes Wärmegefühl, das sich in Richtung ihres Oberarmes und ihrer Schulter ausbreitete. Sie merkte, wie sie sogleich wieder ganz müde wurde.
Sarah versuchte noch einmal kurz und ziemlich halbherzig, sich gegen den erneut aufkommenden Schlaf zu wehren und wurde schließlich von den Wogen eines großen wohligen Nichts davongetragen.
2
In den darauf folgenden Tagen ging es Sarah allmählich wieder besser. Zunächst hatte sie kaum ein richtiges Zeitgefühl und schlief noch die meiste Zeit des Tages, aber die Phasen, in denen sie wach war, wurden allmählich immer länger.
Schon bald hatte Sarah begriffen, dass sie in einem Krankenhaus lag, noch lange bevor sie es durch die freundliche Krankenschwester erfuhr, deren Stimme sie ganz zu Anfang, als sie gerade wieder zu Bewusstsein gekommen war, vernommen hatte.
Dass sie die Frau am Anfang nicht verstanden hatte, lag sicherlich vor allem an ihrer großen Erschöpfung, aber vielleicht auch ein kleines bisschen an dem Akzent der jungen Frau, die irgendwoher aus dem Osten stammte. Die junge Schwester hieß Anna und hatte lange, ganz blonde Haare, die sie immer zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trug.
Sobald Sarah wieder halbwegs aufnahmefähig gewesen war, das war vielleicht am zweiten oder dritten Tag gewesen, nachdem sie wieder zu Bewusstsein gekommen war, hatte Anna sich an den Rand ihres Bettes gesetzt und ihr mitgeteilt, dass sie sich keine Sorgen machen sollte. Weder um sich, noch um ihren Bruder oder ihre Eltern, die allesamt wohlauf seien und auch hier im Krankenhaus lägen.
Allerdings seien sie allesamt noch zu geschwächt, um einander gleich sehen zu können, aber das sei nur eine Frage der Zeit. Auf jeden Fall ginge es bei allen wieder rasch bergauf.
Auf Sarahs Frage hin, was denn eigentlich passiert sei, und wie es sein konnte, dass sie hier im Krankenhaus lag, erhielt sie zunächst keine befriedigende Antwort. Anna murmelte etwas von einem Autounfall, klang dabei aber irgendwie nicht sehr überzeugend.
Ihr selbst kamen die Erinnerungen an das, was sie erlebt hatte, ziemlich schnell wieder zurück. Da war der hohe Turm, den sie alle hochgestiegen waren. Ihr schien es, als hätte er bis weit in den Himmel gereicht. Dann das Licht, das immer heller und gleißender wurde. Und dann war da nichts mehr. Keine Erinnerung an das, was danach gekommen war. Wie war sie, wie waren ihre Eltern hierher in das Krankenhaus gekommen?
Überhaupt, warum lagen sie überhaupt alle in einem Krankenhaus? Sicherlich, der Kampf mit dem bösen König hatte sie ganz schön mitgenommen. Sie hatte einiges an Blessuren davongetragen…. Sarah befühlte die dicken Verbände um ihren rechten Oberarm und ihr Bein. Auch am Kopf trug sie einen Verband.
Trotzdem verstand sie es nicht: Ihr und vor allen Dingen dem Rest ihrer Familie war es eigentlich noch recht gut gegangen, als sie die andere Welt verlassen hatten. Nichts im Vergleich zu dieser elenden Schwäche, die sie jetzt verspürte und die sich nur ganz allmählich besserte.
Erst am darauf folgenden Tag, oder vielleicht war es auch später, wie schon gesagt, sie hatte ihr Zeitgefühl verloren, erzählte ihr Anna, dass man sie alle halb verdurstet im Auto liegend gefunden hatte. Eigentlich sei sie gar nicht befugt dazu, ihr das alles zu erzählen. Dafür hätten sie eigentlich speziell ausgebildete Kräfte, aber sie sei der Meinung, dass Sarah ein Recht darauf habe, endlich etwas zu erfahren. Sie verstünde gar nicht, warum die Ärzte und Psychologen sich so zieren würden.
Das Ganze sei überhaupt ein großer Zufall und eigentlich ein richtiges kleines Wunder gewesen, dass man sie überhaupt entdeckt hatte. Ihr Wagen habe nämlich in einem längst nicht mehr im Betrieb befindlichen Tunnel gestanden. Dieser alte Straßentunnel sei bereits vor vielen Jahren von einem moderneren Tunnel abgelöst worden, der zudem den aktuellen Sicherheitsbestimmungen entsprach, was man von seinem Vorgänger sicherlich nicht mehr behaupten konnte.
Wie sie nun in diesen alten Tunnelabschnitt gelangt waren, das konnte allerdings beim besten Willen niemand sagen. Zwar gab es noch eine Verbindungsstraße zwischen der alten und der neuen Straßenröhre, die noch aus der Bauzeit der jetzigen Anlage stammte. Diese sei aber mit einem Tor fest verschlossen und somit eigentlich unpassierbar gewesen.
Zufälligerweise sei aber ein Mann aus dem Nachbarort über einen der alten Notausgänge in den Tunnel vorgedrungen, weil er vermutete, dass seine seit Tagen verschwundene Katze dort irgendwie hineingelangt war und nicht wieder herausgefunden hätte.
Mit dieser Vermutung habe der junge Mann im Übrigen, zumindest auf den ersten Blick, absolut recht gehabt. Kaum im Straßentunnel angekommen, sah er auch schon eine Katze im Schein der mitgebrachten Taschenlampe auftauchen. Komischerweise behauptet er aber, dass er später gemerkt habe, dass es sich hierbei gar nicht um seine Katze gehandelt hatte. Wie dem auch sei, er folgte ihr und traf zu seinem großen Erstaunen auf das Auto von Sarahs Familie. Erst vermutete er, es handele sich um ein gestohlenes Fahrzeug, das hier versteckt worden war. Es war ja schließlich noch viel zu neu, um im alten Tunnel „vergessen“ worden zu sein.
Anna schüttelte ungläubig mit ihrem Kopf, als sie dies erzählte.
„Als er mit der Taschenlampe durch die Scheiben leuchtete, sah er euch schließlich. Er musste sicherlich erst geglaubt haben, ihr wärt allesamt tot. Zum Glück war er nicht gerade ängstlich und traute sich, näher nachzuschauen. Dabei bemerkte er rasch, dass ihr zwar alle noch am Leben, aber bewusstlos und offenbar völlig entkräftet und halb verdurstet wart. Der Mann ist dann rasch wieder ans Tageslicht gestiegen und hat über sein Mobiltelefon Hilfe herbeigeholt.“
Oben, am Eingang zum Noteinsteig, sei ihm dann im Übrigen seine Katze um die Beine gestrichen, diesmal aber ganz sicher seine eigene, wie er wohl nicht müde wurde zu betonen.
Schließlich waren sie alle in das nächstgelegene Krankenhaus gebracht worden, wo man bei allen vieren eine bedrohliche Entwässerung festgestellt habe.
Sicherlich hatten sie mindestens drei Tage im Auto gelegen, bevor sie gefunden wurden. Diese Vermutung deckte sich schließlich auch mit der Aussage ihrer Großeltern, die vergeblich auf ihre Ankunft gewartet und bereits noch in derselben Nacht eine Vermisstenmeldung bei der Polizei aufgegeben hatten.
Das alles erfuhr Sarah natürlich nicht auf einmal. Als es ihr besser ging, sprach mehrfach ein Polizist mit ihr, und auch die Ärzte und das andere Pflegepersonal erzählten ihr im Laufe der insgesamt zwei Wochen, die sie im Krankenhaus verbrachte, einiges über den Vorfall.
Überhaupt schien dieses seltsame Ereignis das Gespräch in der Gegend zu sein.
Sogar die Reinemachefrau, die kaum deutsch sprach, versuchte Sarah mit Hilfe einiger weniger Brocken Deutsch aber dafür mit vielen ausladenden Gesten über das Erlebte auszufragen.
Sarah hatte im Übrigen zu diesem Zeitpunkt schon längst den Entschluss gefasst, niemandem etwas von der anderen Welt zu erzählen.
Während ihrer Zeit im Krankenhaus hatte Sarah viel Zeit nachzudenken. War es wirklich so gewesen, dass sie das alles nur geträumt hatte, in einer wirren Fieberphantasie, halb verdurstet auf dem Rücksitz des Wagens sitzend?
Sie konnte es einfach nicht glauben. Natürlich hatte sie ihren Eltern und auch ihrem kleinen Bruder gegenüber vorsichtige Andeutungen gemacht, um herauszufinden, was sie noch wussten. Zu ihrer Enttäuschung hatte sie rasch erfahren müssen, dass ihre Eltern sich lediglich an den merkwürdigen Straßentunnel entsinnen konnten und wie sie dort ohne einen Tropfen Benzin im Tank stecken geblieben waren. Sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater beharrten darauf, dass sie beschlossen hatten, im Auto auf Hilfe zu warten, nachdem sie zuvor mehrfach vergeblich nach einem Notausgang oder einem Telefon gesucht hatten.
Auch von ihrem kleinen Bruder bekam sie keine wirkliche Bestätigung dafür, dass sie sich das alles nicht nur einbildete.
Je mehr Zeit verstrich, desto häufiger ertappte sich Sarah dabei, selbst ein wenig daran zu zweifeln, dass sich alles so zugetragen hatte, wie sie es in Erinnerung hatte.
Aber es gab noch einige Ungereimtheiten, die einfach nicht zu der Erklärung passten, die sich die Polizisten, Psychologen, Ärzte und wer weiß noch wer zurechtgereimt hatten.
Da waren diese merkwürdigen Wunden, die sie überall am Körper trug. Keine davon war wirklich ernst zu nehmen. Es handelte sich einfach nur um zahlreiche Kratz- und Schürfverletzungen. Sarah war in diesen Angelegenheiten sicherlich keine Spezialistin, aber sie hatte als unternehmenslustiges Mädchen schon genug Blessuren auf Sport- und Spielplätzen davongetragen, um sagen zu können, dass ihre Wunden mit Sicherheit nicht alle gleich alt waren. Einige waren noch ganz frisch, andere wiederum schon fast verheilt. Natürlich hatte sie die Krankenschwestern und auch die Ärzte darauf angesprochen. Eine befriedigende Erklärung dafür hatten diese allesamt nicht gehabt! Der eine Arzt murmelte etwas davon, dass sie sicherlich vor ihrer Fahrt beim Spielen hingefallen sein musste und auch schon ein paar Mal zuvor. So etwas passiere Kindern nun einmal.
Sarah war darüber ein wenig verstimmt. Schließlich hatte sie ja, ohne das an die große Glocke hängen zu wollen, zuvor gewissermaßen die Welt gerettet!
Sie bekam auch keine vernünftige Antwort, als sie dem jungen Assistenzarzt ihre Hand- und Fußgelenke zeigte. Diese trugen nämlich noch deutliche Spuren ihrer Fesseln. Der junge Mann hatte daraufhin nur irgendetwas davon gemurmelt, dass er in der Ambulanz noch viel zu tun habe und jetzt gehen müsse.
Sarah hatte ihm aber nur zu deutlich ansehen können, dass ihm das Ganze nicht so recht geheuer zu sein schien… Gerade dieser junge Arzt kam im Übrigen nie wieder in ihr Zimmer. Sarah begegnete ihm noch ein paar Mal auf einem der Gänge, aber er tat dann immer so, als hätte er sie nicht erkannt oder als wäre er gerade sehr beschäftigt.
Überhaupt verhielten sich die meisten der Personen, die hier mit ihr zu tun hatten, etwas merkwürdig. Erst einmal traten sie betont fröhlich und ungezwungen auf. Aber, wenn Sarah schließlich anfing selbst Fragen zu stellen, wurden alle plötzlich schweigsam und ausweichend. Schließlich machte sie es sich zur Angewohnheit, einfach auf das Spiel einzugehen und nach außen hin zu akzeptieren, dass alles eben nur ein komischer „Unfall“ gewesen war und sie tatsächlich drei Tage im Auto gelegen hatte. Sobald sie sich dermaßen „kooperativ“ zeigte, waren ihre Gesprächspartner sichtlich erleichtert.
3
Es war am Vorabend ihre Entlassung aus der Klinik, als Anna noch einmal in ihr Zimmer kam, um sich von ihr zu verabschieden. Die blonde Frau war Sarah in den zwei Wochen ziemlich ans Herz gewachsen, nicht nur weil sie eine der wenigen Personen in diesem Haus war, die ihr gegenüber ganz normal auftrat, ohne sie ausfragen und dann von einer an den Haaren herbeigezogenen Theorie überzeugen zu wollen. Diese Zuneigung schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. An diesem Abend merkte Sarah gleich, dass Anna noch etwas mit ihr besprechen wollte, aber nicht so recht zu wissen schien, wie sie damit anfangen sollte. Etwas verlegen saßen sie sich beide schließlich an dem runden Esstisch vor dem Fenster gegenüber. Es war bereits dunkel draußen und Sarah hatte Anna gerade eingeladen, sie doch einmal besuchen zu kommen, sollte sie irgendwann in der Nähe ihrer Heimatstadt sein. Aber wie es nun einmal mit solchen Vereinbarungen war, Sarah fühlte, dass sie es sicherlich nicht schaffen würden, weiter Kontakt miteinander zu halten. Früher oder später würde jede von ihnen wieder ihr eigenes Leben führen und man würde sich sicherlich immer mal wieder aneinander erinnern und dann sagen: „Schade, dass wir so lange nichts voneinander gehört haben. Man müsste sich doch wenigstens mal wieder anrufen…“ Wobei man diesen guten Vorsatz am nächsten Tag mit Sicherheit schon wieder vergessen hatte.
Jetzt hatte Anna wohl endlich Mut gefasst und holte ein flaches Paket aus ihrer Tasche, das sie Sarah mit einem verlegenen Lächeln reichte.
Ein Abschiedsgeschenk? Es fühlte sich ziemlich leicht an, vielleicht etwas zum Anziehen? Sarah entfernte das Papier.
Mit einem erstaunten Aufschrei breitete sie den Gegenstand aus.
Es war ein Kleid. Aber nicht irgendein neues, sondern das Kleid, das sie am letzten Tag ihrer Abenteuer in der anderen Welt getragen hatte. Es sah ganz schön mitgenommen aus und roch zugegebenermaßen auch nicht mehr sonderlich frisch.
Auf Sarahs fragenden Blick hin, erklärte ihr Anna, dass sie dieses Kleid angehabt habe, als man sie in das Krankenhaus gebracht hatte. Das sei ihr, die sie an diesem Abend Nachtdienst hatte, merkwürdig vorgekommen, da der Rest von Sarahs Familie ganz alltägliche Kleidungsstücke getragen hatte. Sie dagegen hatte dieses altmodische schäbige Ding an, das offensichtlich in der letzten Zeit so einiges mitgemacht hatte. Natürlich war nicht nur ihr diese Merkwürdigkeit aufgefallen. Auch die für den „Fall“ verantwortlichen Beamten waren wohl sehr irritiert gewesen. Schließlich handelte es sich um eine normale, gut situierte Familie, die gerade auf dem Weg zu einem Besuch bei den Großeltern war. Und da war ausgerechnet die Tochter gekleidet, als wäre sie direkt aus dem Märchen von Aschenputtel gestiegen. Ihre Eltern hätten übrigens fest darauf beharrt, das Kleid nicht zu kennen. Ihre Tochter habe wie üblich Jeans und T-Shirt getragen.
Anna wusste, dass das eigentlich nicht wahr gewesen war, aber sie hatte nichts gesagt und das merkwürdige Kleid einfach an sich genommen, als sie es eines Tages in einem Müllcontainer der Klinik liegen sah. Instinktiv habe sie gefühlt, dass es ein Geheimnis in sich trug.
Vielleicht würde es Sarah ja ein wenig dabei helfen, ihre Erinnerung wiederzuerlangen, erklärte Anna schließlich und schaute sie ein wenig forschend und neugierig an.
Sarah überlegte nur kurz. Dann nickte sie und fing an zu erzählen.
So saßen sie sicherlich die halbe Nacht hindurch, wobei Anna sie nur manchmal unterbrach, wenn sie ein Wort nicht genau verstanden hatte.
Schließlich hatte Sarah alles erzählt, und Anna schaute sie nur noch mit großen blauen Augen an.
„Danke, dass du mir das alles erzählt hast…“, sprach sie schließlich mit leiser Stimme. Dann fügte sie nach einer Weile hinzu: „Nicht wahr, du hast das bisher noch niemandem gesagt?“ Das klang wie eine Feststellung, so dass Sarah nur lächelnd mit dem Kopf schüttelte.
Dann, als Sarah bereits an der Tür stand, um Anna hinterher zu blicken, nachdem sie sich endgültig voneinander verabschiedet hatten, drehte sich diese noch einmal zu ihr um und sagte leise: „Ich glaube dir, Sarah…“
Sarah saß daraufhin noch sicherlich eine Stunde wach im Bett und betrachtete das Kleid. Sie fühlte sich jetzt zum ersten Mal seit den zwei Wochen wieder frei und richtig erleichtert. Sie hatte sich das ganze also nicht eingebildet!
Kurz bevor sie einschlief entdeckte sie noch etwas, was in der Tiefe einer der Taschen des Kleides in einer Falte steckte.
Es waren zwei kleine grüne Beeren.
Sarah wickelte sie sorgfältig in ein wenig Metallfolie ein und steckte sie in ein Fach ihrer Handtasche.
Dann schlief sie endlich ein, ein zufriedenes Lächeln im Gesicht.
4
Zehn Monate später
Erst im darauf folgenden Frühjahr konnte Sarah den geplanten Besuch bei den Großeltern nachholen. Es waren Schulferien, und Sarah war froh, dass sie ohne ihre Familie fahren durfte. So hatte sie ihren Opa und ihre Oma ganz für sich alleine (und damit ihre ganze Fürsorge inklusive aller Kuchen). Es war überhaupt das erste Mal, dass sie alleine, ohne Begleitung wenigstens eines Elternteils verreisen durfte. Man hatte daheim festgestellt, dass Sarah im Laufe des vergangenen Jahres irgendwie „erwachsener“ geworden sei. Obwohl sie in der Familie eigentlich nie wieder so richtig darüber gesprochen hatten, fühlte Sarah, dass die Entscheidung ihrer Eltern irgendwie mit dem schlechten Gewissen ihres Vaters zusammenhängen musste, der es bis heute nicht so richtig verwunden hatte, dass eigentlich er es gewesen war, der ihr Unglück im Tunnel zu verantworten hatte. Schließlich hätte er ja auch rechtzeitig tanken können. Sarahs Einwand, dass dies doch gar nichts damit zu tun gehabt habe, dass sie in dem toten Teil des Tunnels gelandet waren, erntete lediglich verständnislose Blicke und hatten einen raschen Themenwechsel zur Folge („Sarah, hast du eigentlich schon für die Französischarbeit nächste Woche gelernt?“).
Sarah hatte im Übrigen daraufhin nie wieder einen Versuch gemacht, mit ihren Eltern über ihre seltsamen Erlebnisse zu reden. Einmal hatte sie ihrer besten Freundin gegenüber ein paar Andeutungen gemacht. Aber als diese sie nur komisch angesehen hatte und einige Tage später von anderen Mädchen ihrer Klasse plötzlich komische zweideutige Bemerkungen kamen, beschloss Sarah erstens, nie wieder mit jemandem darüber zu sprechen und zweitens, ihre beste Freundin zu ihrer Ex-Freundin zu erklären.
Jetzt saß Sarah zufrieden in einer schattigen Ecke des Gartens ihrer Großeltern und beobachtete gerade ihren Opa, der aus dem Haus zu ihr herüberkam. Er hatte eine Flasche selbstgekelterten Apfelsaft und zwei Becher dabei und ließ sich ächzend in den Gartenstuhl neben dem seiner Enkelin fallen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, denn es war der erste richtig warme Tag des Jahres. Sarah betrachtete belustigt die buschigen weißen Augenbrauen ihres Großvaters, denen seine Frau immer wieder und letztlich vergeblich mit der Nagelschere zu Leibe rückte.
Sie fragte sich, ob auch ihr Vater eines Tages wohl so einen kugelrunden Bauch bekommen würde. Nun, einen nicht übersehbaren Ansatz dazu trug er ja bereits, auch wenn man ihn bloß nicht darauf ansprechen durfte.
Sarah vermutete, dass ihr Opa etwas mit ihr besprechen wollte, sonst hätte er sicherlich die Kühle seines Wohnzimmers und ein Nickerchen im Fernsehsessel der Hitze im Garten vorgezogen.
Der alte Mann plauderte ein wenig mit seiner Enkelin, bevor er endlich auf den Punkt kam. „Weißt du, mein Kind. Das war damals wirklich sehr seltsam gewesen. Ich meine, letztes Jahr, als ihr uns besuchen wolltet und dann nicht ankamt…“
Sarah nickte. Sie wusste sehr gut, auf welches Ereignis sich ihr Opa bezog. Sie hatte sich schon gewundert, warum das Thema bisher, sie war jetzt schon den dritten Tag hier, bislang so sorgfältig vermieden worden war.
„Genau an diesem Tag dachte ich, dass ich auf dem besten Wege bin, verrückt oder wenigstens senil zu werden…“
Sarah nickte verständnisvoll. Sie konnte sich gut vorstellen, dass die beiden Alten sicherlich vor Angst um ihre Familie halb wahnsinnig geworden waren. Aber ihr Großvater schüttelte den Kopf.
„Nein, das was ich meine, passierte schon bevor wir euch vermissten.“
Sarah blickte ihren Opa aufmerksam an.
„Es war am Nachmittag. Deine Großmutter bereitete gerade einen Kuchen für euch vor und hat mich in den Garten geschickt, um Erdbeeren zu pflücken. Dort habe ich dann etwas sehr seltsames erlebt…“ Der alte Mann kratzte sich ein wenig verlegen an der Glatze.
„Nun. Es war plötzlich alles ganz anders. Es ist schwer für mich das in Worte zu fassen. Irgendwie war mir, als wäre ich durch einen unsichtbaren Vorhang gelaufen. Es war zwar alles noch da: Garten, Bäume, und auch das Haus stand noch an seiner gewohnten Stelle, als ich mich umdrehte. Aber trotzdem stimmte etwas nicht.“
Sarahs Opa suchte nach den richtigen Worten, was bei ihm eigentlich wirklich nur sehr selten vorkam.
„Aber das war nicht das schlimmste. Ich habe gedacht, dass vielleicht mein Kreislauf ein wenig durcheinander war. Aber das, was dann kam, konnte ich mir damit auch nicht mehr erklären… Plötzlich standen drei Männer vor mir, mitten in meinem Garten. Wer weiß, wie die da so plötzlich hereingekommen waren. Die drei sahen aus, als wären sie direkt aus einem Film entsprungen. Sie hatten ganz bunte Uniformen an, die furchtbar altmodisch wirkten und waren bis an die Zähne bewaffnet.“
Noch bevor er die Männer darauf ansprechen konnte, was sie hier zu suchen hätten, blaffte einer von ihnen, wahrscheinlich war es der Anführer, ihn schon an, was ihm denn einfiele und ob er die Vorschriften denn nicht kennen würde. Sarahs Großvater hatte verständlicherweise nur mit offenem Mund dagestanden und nichts zu erwidern gewusst. Daraufhin hatte ihn der Anführer der Männer zum Gemüsebeet geführt, das gleich hinter dem Haus lag. Dort deutete der Mann mit strenger Miene auf die Pflanzen und hob tadelnd den Finger.
„Ich habe sie alle nachgemessen! Genau 27 der Pflanzen sind höher als 30cm…“
Als Sarahs Großvater darauf nichts zu erwidern wusste, zog einer der Soldaten einen Zettel heraus und drückte ihn dem verdutzten Mann in die Hand. Bis zum nächsten Tag habe er Zeit, seinen Garten gemäß den geltenden Gesetzen anzupassen, wurde ihm beschieden. Und dann war der Blick des Anführers auf das Haus der Großeltern gefallen. Sie haben sichtlich entsetzt reagiert und völlig fassungslos auf die Antenne und die Satellitenschüssel auf dem Dach gezeigt. Dann, berichtete Sarahs Opa, hätten die Soldaten doch tatsächlich ernsthaft darüber debattiert, ob sie ihn zur Sicherheit lieber gleich mitnehmen oder erst einmal bei ihren Vorgesetzten Bericht abstatten sollten.
„Und wie ging es weiter?“, fragte Sarah mit großen Augen, die schon eine ziemlich genaue Vorstellung darüber hatte, was ihrem armen ahnungslosen Opa da widerfahren war.
„Tja, eigentlich war da nur wieder dieses komische Gefühl, das mit dem unsichtbaren Vorhang, meine ich. Und dann waren die komischen Knaben wieder allesamt verschwunden.“
Er habe sich bisher seiner Frau noch nicht anvertraut. Sarah sei die erste, der er von diesem komischen Erlebnis erzähle.
Jetzt habe er ernsthafte Bedenken, das Ganze könnte ein Vorbote für einen Schlaganfall oder ähnliches sein. Aber zum Arzt wollte er auch nicht gehen. Der würde ihn doch gleich für verrückt erklären.
„Aber, ich habe jetzt richtig Angst, diese Halluzinationen könnten wieder auftreten…“
Sarah merkte, dass ihr Opa noch nicht alles gesagt hatte.
Sie schaute ihn an und war etwas überrascht, als ihr dieser daraufhin verschämt seinen Blick senkte.
Der Großvater seufzte und erhob sich von seinem Sitz. „Komm mit, Sarah. Ich möchte dir noch etwas zeigen…“
Er führte seine Enkeltochter zum Gemüsegarten.
„Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Vielleicht lag es ja daran, dass ihr dann verschwunden wart und wir drei schreckliche Tage lang um euch gebangt haben. Aber ich habe dann angefangen, nur zur Sicherheit, verstehst du, hier und da ein paar kleine Veränderungen vorzunehmen.“ Er zeigte auf die Pflanzen vor Sarahs Füßen.
„An alle Anweisungen konnte ich mich leider nicht mehr erinnern. Aber ansonsten habe ich seitdem immer darauf geachtet, dass die angeführten Pflanzen ihre vorgeschriebene Höhe nicht überschritten…“ Er räusperte sich verlegen. „Stell dir vor: Ich gehe heimlich mit der Nagelschere bewaffnet hierher. Wenn das deine Großmutter sehen würde!“
Sarah betrachtete ihren Großvater liebevoll.
„Keine Angst, ich werde es niemandem weitererzählen. Aber eine Sache wäre da noch.“
Sie machte eine kunstvolle Pause und deutete dann auf den Schnittlauch, der inmitten des Gemüsebeetes stand.
„Der Schnittlauch darf nur 25cm hoch sein. Und noch etwas: Der Rosenkohl da vorne muss ganz raus. Der ist nämlich verboten. Wegen der Geruchsbelästigung, verstehst du?“
Ihr Großvater schaute sie mit offenem Mund an.
„Genau! Das war es, was da noch auf dem seltsamen Zettel gestanden hatte. Aber, um Himmels Willen, Sarah, woher weißt du das bloß?“
Sarah umarmte den verdutzten Mann und drückte ihm einen dicken Kuss auf die stoppelige Wange.
„Das ist mein kleines Geheimnis. Ich denke, wir erzählen einfach niemanden von unserem interessanten Gespräch. Das ist jetzt unser gemeinsames Geheimnis. Was meinst du? Und übrigens: Ich bin mir ziemlich sicher, dass du keine Angst mehr vor irgendwelchen Halluzinationen haben musst!“
Und sie fing an zu lachen.
Ihr Großvater schaute sie einen Moment lang erstaunt an.
Dann lachte er ebenfalls.
Bis ihm die Tränen von der Wange kullerten.
Ende
Tag der Veröffentlichung: 01.12.2010
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