Andy S. Falkner
Der letzte Naturo
Science Fiction Memoires
Text & Bild © Andreas Solymosi, 2019
Umschlaggestaltung: J. A. Solymosi
Titelbild: aus dem Gemälde „Lebenskunst“ von Vera Solymosi-Thurzó (Katalog-Nr. 57)
Einige Abbildungen stammen aus Wikipedia
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Email, Homepage, Facebook, Mobiltelefon – wohin entwickelt sich die Welt unter der immer stärkeren Wirkung des Internets? Wenn die unmittelbare Verbindung zwischen Mensch und Maschine Realität wird, wenn die Computer die Prozesse im menschlichen Gehirn interpretieren und auch beeinflussen, wird das unsere Zivilisation noch radikaler verändern als wir das uns heute vorstellen können. Dann findet der natürliche Mensch, der mit dem Intellinet nicht im Direktkontakt steht, keinen Platz mehr in der Welt. Der letzte Naturo verbringt den Rest seiner Tage einsam und schreibt seine Erinnerungen für den postzivilisierten Menschen auf.
Nun, da mein Freund gestorben ist, bin ich der letzte Naturo. Na ja, es kann vielleicht noch einen oder zwei weitere geben, an abgelegenen und isolierten Orten der Welt: Eine Zeit lang war es Mode abzuhauen, Kolonien zu gründen und auf einen natürlichen Lebensstil zu bestehen. Aber ich glaube nicht, dass die Rebellen erfolgreich waren: Wie hätten sie sich selbst versorgen können – niemand soll behaupten, dass sie Felder bebauten, Kühe züchteten, im Stroh schliefen. Sie lebten wohl so lange, wie sie noch Reserven hatten, und dann flohen sie zurück, denke ich mir.
Ich erkannte von vornherein, dass ich einer aussterbenden Art angehörte und rettete, was es zu retten gab. Im Alter von dreißig Jahren ließ ich mir die Neuronet-Injektion verpassen, damit mich das Intellinet zumindest lesen, wenn schon nicht schreiben konnte. Dazu hätte ich sie im Alter von ein paar Wochen als Embryo bekommen sollen, wie praktisch jeder heutzutage. Meine Eltern gehörten jedoch zu den wenigen Ultrakonservativen, die dachten, den Gang der Welt aufhalten und ihre Ideologie, sich am Natürlichen festzuhalten, umsetzen zu können. Und noch einige weitere, wie die meines Freundes, der jetzt gestorben ist, und noch die jener Hundert, die die letzten Jahrzehnte zusammen mit uns verbracht haben. Wir, hier in der Residenz der Naturos, haben uns auf einen von der Welt abgetrennten Lebensstil eingerichtet – man nahm uns kaum zu Kenntnis, und wir waren weit davon entfernt zu verstehen, was um uns herum vorging. Die Welt wurde völlig anders als wir sie kennen gelernt hatten.
Aber sie wissen auch nichts über das, was wir kannten. Deshalb habe ich mich jetzt entschlossen, wo ich alleine geblieben bin, meine Lebensgeschichte niederzuschreiben: Vielleicht wird es jemanden geben, der sie liest, beziehungsweise, der sich dafür interessiert. Denn jetzt kann niemand mehr lesen, geschweige denn schreiben. Es besteht keine Notwendigkeit: Das Intellinet hat bereits alle existierenden Schriften verarbeitet und integriert. Wenn jemand neugierig auf irgendetwas ist, reicht selbst die Neugier aus, sie sofort zu befriedigen und die Antwort zu erhalten. Dies wird wahrscheinlich das Schicksal auch dieser Schrift werden. Es sei denn, unsere Gesellschaft (wovon meine Eltern immer schon überzeugt davon waren) bricht zusammen und es entsteht der postzivilisierte Mensch. Dies ist eine Schrift für ihn, falls man wieder lesen lernen wird.
Oder vielleicht, wenn einer der Kyberos etwas über die Naturos wissen möchte. Der Wunsch reicht aus, und das Intellinet wird sofort die Antwort liefern, die es sich durch die Erfassung meines Geschriebenen erarbeitet haben wird. So etwas funktioniert bei mir viel schwerfälliger: Wenn ich auf etwas neugierig bin, kommt die Antwort ebenfalls sofort, aber ich muss sie lesen, anhören, empfangen. Das Intellinet kann mein Gehirn nur lesen, nicht beschreiben.
Weil sich meine Eltern vor gut eineinhalb Jahrhunderten entschlossen, mich als Naturo zu belassen. Wahrscheinlich aus politischen Gründen, da mein Vater davon träumte, von den Konservativen als Präsident gewählt zu werden. Diese Naturmanie war schon zu jener Zeit dabei, aus der Mode zu kommen, aber er erkannte das zu spät. Wenn ich jüngere Geschwister bekommen hätte, hätten sie die Injektion vermutlich bereits in utero erhalten, und ihre gesamte Persönlichkeitsentwicklung hätte unter der Steuerung des Intellinets stattgefunden. Aber ich entwickelte mich im Mutterleib und nach der Geburt noch auf natürliche Weise: Wenn ich hungrig war, brüllte ich, und meine Mutter stand in der Nacht auf, um mich zu stillen. Sie dachte, ich würde dadurch ein glücklicherer Mensch werden als die Kyberos, wie sie sie damals spöttisch nannten. Heute ist dies bereits ein anerkannter, salonfähiger Begriff, beziehungsweise er wird gar mehr verwendet, da dies das Normale ist: Naturos gibt es nicht mehr, außer mir.
Die Kybero-Babys brüllen in der Nacht nicht, ihre Mütter können schlafen: Sie werden über die Kristalle der Neuronet-Injektionen vom Intellinet ruhiggestellt. Diese – wie heutzutage jeder weiß, aber vielleicht nicht meine postzivilisierten Leser – haften an den einzelnen Neuronenzellen. Mit deren Hilfe können sie dann von außen manipuliert, d.h. gelesen und/oder beschrieben werden: Sie können den aktuellen Zustand und die aktuelle Aktivität der Zellen lesen und sogar durch Schreiben verändern. Natürlich nicht einfach so, weil dies das hochempfindliche Nervensystem ruinieren würde, sondern das Ganze wird nur durch sehr fein gezielte, winzige Impulse in die gewünschte Richtung gelenkt. Dies ist bei einem Embryo oder Baby nicht sehr schwierig, da es noch keine ausgebildete Persönlichkeit hat: Die Grundstruktur ist bei jedem Menschen so weit ähnlich, dass sich ein intelligentes Computersystem damit nach ein paar Tagen der Analyse gut auskennt. Für diejenigen, bei denen (wie bei mir) dies nicht geschehen ist und sich ohne Analyse komplexe Persönlichkeitsstrukturen entwickelt haben, ist dies nur sehr oberflächlich möglich und nur als Ergebnis eines sehr langen und anstrengenden Trainings. Selbst heute, nach mehr als hundert Jahren Übung, nehme ich manchmal wahr, dass das Intellinet mich nicht ganz klar versteht: Ich muss ihm meine Gedanken wiederholt, intensiver und klarer vermitteln. Im Falle eines Kyberos ist die Struktur dermaßen feinkörnig bekannt, dass die auf den Nervenzellen sitzenden Kristalle die Gedanken nicht nur unmittelbar verstehen, auch deren Zustand verändern, und so einen neuen Gedanken auch erzeugen können; auf diese Weise kommt die „Antwort“, die Reaktion des externen Systems auf den inneren Impuls. Ein solcher Eingriff würde bei mir unvorhersehbare Folgen haben: Das Nervensystem eines jeden erwachsenen Menschen ist in dermaßen individuellen Strukturen organisiert, dass es unmöglich ist, es nachträglich zu „entschlüsseln“. Nur während sich die noch unentwickelten Verbindungen des unbehandelten Gehirns langsam ordnen, können die Veränderungen beobachtet und interpretiert werden. Man kann in diesen Prozess auch eingreifen, damit die resultierenden Strukturen zukünftig gesteuert werden können, sodass das externe System „schreiben“ kann: Die Kommunikation erfolgt in beide Richtungen. Bei mir wurde das – im Gegensatz zu
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 03.09.2019
ISBN: 978-3-7487-1453-8
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