Andy S. Falkner
Vorne und hinten
Trilogie (in einem Band)
Science Fiction Memoirs
Text & Bild © Andreas Solymosi
Umschlaggestaltung: nach einem Gemälde-Motiv von Vera Solymosi-Thurzó
Einige Abbildungen stammen aus Wikipedia
Alle Rechte vorbehalten
Woher weiß ich all das, was ich weiß? Vor allem das, was ich eigentlich überhaupt nicht wissen kann. Schizophrenie? Dämonen? Aliens? Mossad? Mit dieser (nahezu) Allwissenheit kann ich leicht eine Professur bekommen; ich könnte sogar Herrscher der Welt werden. Ich habe schon damit angefangen, Israel aufblühen zu lassen. Aber es scheint höhere Ziele im Leben zu geben, für die ich sogar diese Perspektive opfere.
Wenn sie mich auswählen, um der Herr der Welt zu werden, aber ich keine Lust dazu habe, was werden sie tun? Sie lassen mich und suchen sich jemanden anderen. Aber wenn sich dies zu spät herausstellt und ich schon viel zu weit bin, dann kann ich vielleicht ihre Pläne durchkreuzen.
Wie es vorne ist, das wissen wir schon, sogar doppelt. Aber wie ist es wohl hinten?
Ich wusste immer schon, dass ich anders bin. Aber ich habe nie mit jemandem darüber gesprochen. Nein, an Mädchen war ich immer interessiert, und ich wollte auch nie mein Geschlecht ändern, es geht um nichts dergleichen. Mein Aussehen ist auch in Ordnung; zwar habe ich eine etwas zu große Nase, so dass ich auch für einen Juden gehalten werden kann, aber damit hatte ich nie ein Problem. Mein Anderssein ist also etwas anders als bei allen anderen Anderen. Dass ich mit niemanden darüber sprechen sollte, wusste ich anfangs instinktiv, später wurde mir klar: Das soll mein Geheimnis bleiben.
Wenn mich jedoch jemand gründlicher angesehen hätte, wäre ich ihm vielleicht etwas eigenartig vorgekommen. Aber meine Eltern waren mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, Freunde hatte ich nur hie und da, sie waren nur Mittel zum Zweck des Verbergens: Ich versuchte möglichst wie die anderen zu sein und mich wie sie zu verhalten. Meine Lehrer waren meistens zufrieden mit mir, weil ich alles wusste, was ich sollte, oder zumindest fast alles. Ich habe es bloß einige Male versiebt, nur um mich zu tarnen: Ich wollte nicht herausstellen, in welchem Maße ich Klassenbester bin und sogar der Primus der Schule. Natürlich nicht in Sport oder in Musik – da war ich ziemlich durchschnittlich oder eher ein bisschen darunter. Aber was ich wissen musste, das wusste ich. Ich wusste nicht einmal selber, woher.
Zumindest am Anfang. Als ich mich entscheiden musste, ob ich meiner Mutter frech widersprechen oder mich mit dem Nachbarskind anlegen sollte, ahnte ich, was richtig war. Natürlich verhielt ich mich nicht immer dementsprechend, aber damals vermutete ich nur, dass ich nicht perfekt erscheinen sollte. Bei der Beantwortung verschiedener Fragen im Kindergarten und in der Vorschule (beim Rechnen oder wer wohl den Wolf getötet hat) fiel es mir jedoch oft schwer, mich nicht als Erster zu melden. Die Antwort leuchtete meistens in meinen Gedanken auf, aber gleich mit der Warnung, nicht unter den anderen aufzufallen.
Das lernte ich langsam, und so überstand ich meine Kindheit ohne jegliche Anstrengung. Sogar jetzt, wenn ich so zurückblicke, sehe ich, dass ich mir zu dieser Zeit auch eine überdurchschnittliche soziale Kompetenz angeeignet habe, obwohl mein Interesse an den Menschen (im Gegensatz zu anderen sozial Kompetenten) eher moderat ist; eigentlich sind sie mir egal. Aber ich ahnte (später sogar wusste) immer, wie ich mit ihnen umgehen sollte, um sie für meine Zwecke zu gewinnen (spielen, gemeinsames Programm vornehmen, später nach Mädchen jagen). Dies ging mir in Fleisch und Blut über, und ich musste mich später gar nicht mehr auf solche Vermutungen verlassen.
Zum ersten Mal bekam ich etwas Angst vor der ganzen Sache, als ich dreizehn war und von Bewusstseinsspaltung hörte; zuerst dachte ich, ich litt an dieser psychischen Krankheit. Aber das Wissen explodierte sofort in mich hinein: Nein! Da wunderte ich mich zum ersten Mal, woher wohl. Ich konnte sofort antworten: von hinten. Dies kam jedoch nicht von hinten, das wusste ich vorne.
Von da an differenzierte ich bewusst, was ich vorne wusste und was hinten. Ich stellte fest: Vorne wusste ich all das, was ich zuvor erlebt oder gelernt hatte, was auch andere wissen. Hinten jedoch nur Dinge, die ich vorne nicht einmal wissen konnte; zum Beispiel die Hausaufgabe, die ich gar nicht gelernt hatte oder was ich wohl an diesem Mädchen so sehr mochte und wie ich sie als Freundin gewinnen könnte. So war es kein Wunder, dass ich ohne große Mühe die Schule absolvierte, wenn auch nicht mit außergewöhnlichen aber hervorragenden Ergebnissen. Auch in meinen sozialen Beziehungen empfand ich keinen Mangel. Zum Beispiel war es mir klar, dass ich nicht zu den attraktivsten Jungen gehörte, und ich kaum ein Mädchen durch Pfeifen oder obszöne Worten erobern würde. Aber bald entdeckte ich, welche mich für mein großartiges Gehirn bewunderten und wie ich ihnen meine überdurchschnittlichen Erkenntnisse über die Zusammenhänge der Wirklichkeit am effektivsten präsentieren konnte. In solchen Freundschaften beachtete ich dann auch, dass ich am Ende nicht zu viel Schmerz verursachte, mir selbst auch nicht – so beendete ich sie nach einigem Vergnügen meistens bald. Meine soziale Kompetenz entwickelte sich weiter.
Das Wissen von hinten musste ich immer separat abrufen. Dies bedeutete eine leichte Verzögerung (vielleicht 10 Sekunden) gegenüber dem Wissen vorne; vielleicht kann ich sagen, ich musste fragen. Die Antwort kam meistens, aber nicht immer. Zum Beispiel, wie das alles funktionierte und warum, niemals. Und ob das auch manche anderen Menschen hätten, und wenn nicht, wieso lief es gerade bei mir? Aber es war klar, dass dies immer ein Wissen war, das mir normalerweise nicht zur Verfügung stand. Selten gab es Dinge, die ich auch hinten nicht wusste. Manchmal kam es sogar vor, dass ich mangels Antwort begann, darüber nachzudenken, und dann fiel es mir vorne ein.
Es war gut, immer der Schlaueste, der Klügste zu sein, und sogar noch klüger als ich mich zeigte. Ich wusste, dass ich mehr wusste als der Rest, und es war besser, das für mich zu behalten. Von meiner Klugheit veröffentlichte ich nur so viel, wieviel mir für mein unauffälliges Vorwärtskommen notwendig schien. Wie viel das ist, das wusste ich hinten immer genau.
Also, nach dem Abitur kam ich zu einer der besten Universitäten, und ich konnte sogar wählen. Ich wählte diejenige, wo es eine Chance auf ein Stipendium gab, damit ich mich nicht fürs Leben verschuldete – meine Eltern, die inzwischen schon geschieden waren, hätten kaum eine so teure Ausbildung finanziert. Natürlich musste ich um das Geld kämpfen, und hier muss ich zugeben, ich schlug meine Konkurrenten haushoch. Es war nicht schwer, da alle Antworten sofort von hinten kamen.
Meine Universitätsjahre waren die wichtigsten beim Aufbau meiner Karriere, wie bei vielen anderen auch. Gleich zu Anfang lief ich durch die besten Klubs, Vereine, Studentenverbände der Eliteschule; zu manchen musste ich gar nicht selber gehen, sie suchten die Stipendiaten auf. In so einer Efeu-Hochschule gibt es nämlich vier Klassen von Studenten: die Reichen, die wegen der Großspende ihres Vaters zugelassen wurden, oder selbst wenn nicht, für die Studiengebühren aufkommen können. Es gibt dann die mit hohem Selbstvertrauen, die das Risiko eingehen und sich auf die legitime Erwartung hin verschulden, dass ein so nobler Abschluss ihnen später einen guten Job und jede Menge Geld einbringen würde. Dann gibt es die Armen, die Minderheiten und die Sportler, die Stipendien auf dieser Grundlage erhalten; und dann gibt es die echten Stipendiaten, die dies auf der Grundlage ihrer Leistung (das heißt, ihres Könnens) erhalten. Diese letztere Klasse kann frei wählen, zu welchem Klub man gehören möchte; sie werden von den meisten umworben.
Ich entschied mich für die Makkabäus-Gesellschaft – die Empfehlung kam von hinten. Obwohl ich trotz meiner großen Nase kaum jüdisches Blut in mir habe (zum Glück eher mütterlicherseits), war es überraschend leicht, von der israelischen Botschaft und von verschiedenen jüdischen Gemeinden Bestätigungen über die Dazugehörigkeit meiner (oft nur eingeheirateten) Groß- und Urgroßeltern aller Art zu besorgen – vielleicht auch nur wegen des Briefkopfs der Universität auf meinen Anträgen. Ich vermute, dass diese Anträge auch von der Makkabäus-Gesellschaft angeschoben wurden, da auch sie eine Zukunft darin sahen, dass ich mich bei ihnen verpflichten sollte.
Diese anfänglich nur kleine Finanzgruppe legte zunächst das Geld von Jerusalemer Kleinbürgern mehr oder weniger legal im reichen Amerika an, dann wuchs sie aber schnell und mit der Zeit gewann sie einen kleinen wirtschaftlichen Einfluss, vor allem in der Unterstützung von Unternehmen, die in beiden Ländern tätig waren. Sie erkannten früh, dass es sich lohnt, in intellektuelles Kapital zu investieren; schon auch deshalb, weil sich die besten Köpfe der Welt in Israel befinden. Selbst diejenigen, die anderswo leben, sind meistens Juden, die kaum einen Job an der Universität von Tel Aviv oder gar im geheimen Forschungsteam des Mossad ausschlagen würden. Deshalb streifen die Makkabäer durch die efeubewachsenen Universitäten, und so kamen sie zu mir. Als ich tiefer ihre Aktivitäten durchblickte, wurden sie mir immer sympathischer, und es wurde mir klar, dass sich mein Platz unter ihnen befand. Diese Gewissheit kam von hinten.
Hier wusste ich auch, dass es besser war, nicht jeden Zusammenhang aufzudecken und nachzuforschen, wieso ich so schnell auf der akademischen Leiter emporstieg, dass ich eine feste Stelle schon im Alter von dreißig Jahren hatte. Ich könnte dies meinen Leistungen zuschreiben, zumindest wenn ich mein Maximum geboten hätte, dann wäre es offensichtlich. Aber wie immer, hielt ich mich zurück, und ich war zwar immer unter den Besten, aber nicht immer der Erste.
Weder für mich noch für die Makkabäus-Gesellschaft war die akademische Karriere das Eigentliche, sondern der Einfluss. Eine solche Professur konnte jedenfalls für diesen Zweck gut gebraucht werden. Und natürlich war es auch nicht egal, für welche Forschungsprogramme wir öffentliche Gelder erhielten und wie wir dort die neu rekrutierten Makkabäus-Studenten hineinschmuggeln konnten, die bereits ihre zukünftigen Arbeitsplätze in Israel hatten, vielleicht sogar beim Mossad. Die Gesellschaft, wie es mir inzwischen schon offensichtlich war, wollte ihren spektakulär wachsenden Einfluss für dieses kleine Land nutzen.
Ich persönlich als Wirtschafts- und Finanzexperte hatte nicht viel Platz in diesen meist ingenieurmäßigen Forschungsprogrammen; umso mehr wurde mein Wissen über strategische Entscheidungen genutzt. Darin spielte auch meine Freundschaft mit Andy eine wichtige Rolle.
Andy kam von irgendwo aus der Tiefe Russlands an die St. Petersburger Universität, wo er Mathematik studierte. Ungeachtet der miserablen Umstände (besonders im Vergleich zu unseren), begeisterte er sich immer dafür, was für eine qualitative Grundausbildung er dort bekommen hatte; ohne die hätte er niemals in der technologisch meilenweit fortschrittlicheren westlichen Welt bestehen können. Er schwärmte hauptsächlich für zwei seiner Professoren, die sein mathematisches Denken fürs ganze Leben geprägt hatten. Einer von ihnen, ein „schlafender Makkabäus“, hob ihn aus dieser Umgebung heraus und besorgte ihm ein Stipendium, das irgendwo in den Verstecken Israels seine Quelle hatte. Oder vielleicht war es gar kein Stipendium, sondern gleich eine Stelle; wir sprachen nie über diese Dinge, ich konnte nur aus manchen seiner Kommentare schließen, dass es dort direkte Nutzer seiner Forschungen gab. Diese Rückschlüsse kamen teilweise von hinten, also war ich auch damals schon ziemlich sicher. Von hier wusste ich, dass der Name seines Mäzens in der IT-Welt nicht unbekannt war: Sein Vater war einer der Begründer der sowjetischen Informatik. Er wurde zu keiner Konferenz aus dem Land gelassen, obwohl er vielfältig eingeladen wurde, weil man Angst hatte, dass er (wie viele seiner Kollegen) nicht zurückkehren würde. Dann kam der Zusammenbruch des Systems, er fuhr mit seinen Vorträgen durch die Welt, und doch behielt er den Lehrstuhl von St. Petersburg. Er schien einen auch für seinen Sohn besorgt zu haben, selbst wenn er ihn gemäß Andy durchaus verdient hatte. Als schlafender Makkabäus rekrutierte er solche Talente aus dem Rest der russischen Juden, die bis dahin dem wachsenden Antisemitismus im Land standhielten.
Also Andy promovierte als Spezialist für statistische Analysen an unserer Abteilung für Informatik und erhielt auch mit meiner Unterstützung als Prodekan eine Juniorprofessur. Er hätte eine auch in Israel oder gar in Russland bekommen können, aber wir hatten eine um Größenordnungen bessere Infrastruktur, die er benötigte, um aus großen Datenmengen Informationen zu extrahieren. „Big Data“ war für mich als Produzenten von Wirtschaftstheorien ebenfalls nicht uninteressant, obwohl ich dazu von hinten alle nötige Information erhielt. Fast alle. An dieser Stelle entdeckte ich einen wesentlichen Unterschied: Mein Wissen hinten war nicht kreativ. Es schien, als ob ein Computernetzwerk im Hintergrund verborgen wäre, das mir alle Informationen der Welt (oder vielleicht sogar mehr) zur Verfügung stellen würde, aber keine Ideen. Das stellte sich gerade durch unseren Gedankenaustausch mit Andy heraus, worauf dann unsere immer enger werdende Freundschaft gründete. Ich nenne es zurecht Gedankenaustausch, weil ich mit meinem Wissen von hinten wesentlich zu seinem Vorwärtskommen beitrug, während er mir mit seiner mathematischen Intuition viel Neues sagen konnte, was mich (vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben) überraschte. Ich war viel zu sehr an die Omniszienz gewöhnt, die ich zwar verstecken musste, aber nie ihre Grenzen erreichte. Nun, jetzt stellte sich heraus, dass sie doch nicht so ganz omni war.
Als ich das zum ersten Mal erkannte, löste das einen neuen Prozess aus: Ich verlor mein totales Vertrauen zum Hinten. Seine Begrenztheit erregte in mir den Verdacht, ob ich mich wirklich auf ihn voll verlassen konnte und ob das Ganze in eine Richtung führen würde, die ich im Endeffekt nicht wünschte. Ich hatte keine Ahnung, wer oder was dahinter stand. Es war offensichtlich, dass sich seine Quelle nicht in mir, in meinem Gehirn befand. So konnte ich nicht wissen, ob es wirklich das Beste für mich wollte oder mein volles Vertrauen missbrauchen würde. Solche Konflikte gab es früher, aber nur in kleinen, unbedeutenden Dingen: Ich verhielt mich in einigen Frauenangelegenheiten anders, als ich hinten wusste, dass es richtig wäre; oder manchmal weigerte ich mich, anderen zu schaden (obwohl ich an der Stelle sonst überhaupt keine besonderen Hemmungen hatte). Zum Beispiel, ein Klassenkamerad hatte mal irgendwo betrogen und ich verriet ihn nicht. Hinten wusste ich jedoch, dass es richtig gewesen wäre. Und dann ging ich mit einigen Mädchen weiter, vor allem emotional, was dann später sowohl ihnen als auch mir wehtat. Es wäre besser gewesen, auf hinten zu hören.
Ich rebellierte gegen hinten immer nur in meiner Beziehung zu Menschen. Selbst wenn ich dies hinten missbilligte, tolerierte ich das, und nur selten, in wichtigen Angelegenheiten, kam ein intensives schlechtes Gewissen, dem ich dann auch vorne nachgab. All diese Dinge kamen mir in den Sinn, als in mir (vorne) der Zweifel auftauchte. Gleichzeitig versuchte ich, dies vor Hinten zu verstecken. Ich wusste nicht, ob das möglich war oder ob dieser Jemand oder dieses Etwas, das dies alles betrieb, einen vollen Zugang zu meinem ganzen Bewusstsein hatte, alles sah, was ich sah, beziehungsweise noch viel mehr; ob es alle meine Gedanken vorne kannte. Bis dahin beruhte mein totales Vertrauen auf dem immer schon vorhandenen natürlichen Zustand und der Erfahrung, dass es sich lohnt, mich auf es zu verlassen. Dies wurde nun durch die Entdeckung der Unvollkommenheit erschüttert.
Ich begann zu experimentieren und Dinge mit der Absicht auszudenken, dies nur vorne zu wissen. Entweder war ich hinten sehr gerissen, und ich ließ mich vorne in dem Wissen, dass ich die Dinge vor Hinten verstecken konnte, oder die Versuche waren erfolgreich und es war wirklich möglich. Zum Beispiel schien mir, dieses ganze Zweifelsding vorne behalten zu können. Meine Erkundungen hinten, ob mein Vertrauen zu den Informationen, die von hinten kommen, jemals erschüttert werden würde, kam die entschiedene Antwort: Nein! Warum sollte das passieren? Wenn es immer besser geklappt hatte, wenn ich auf Hinten hörte, warum sollte ich meine gute Praxis ändern? Und es war wahr: Auch den Preis für den Fall musste ich bezahlen, wo ich aus dem rein rebellischen Geist heraus meinem Mitschüler nicht geschadet hatte.
Nun, ich behielt meine Erkenntnis vorne, dass ich zwar schlau war, aber nicht perfekt und nicht kreativ. Von Andy bekam ich Tipps, die ich in meinem Forschungsprogramm mit Gewinn verwendete, und verbarg es vor mir selbst, dass ich sie hätte auch selber entdecken sollen, wenn ich es nur gekonnt hätte.
Andy wollte übrigens mit Hilfe von Big Data Information gewinnen, deren Existenz ohne sie versteckt bleiben würde. Seine Algorithmen wurden in Wissenschaft, in den unterschiedlichsten Branchen von Politik und Wirtschaft verwendet: sei es Genetik, Ausbruchswahrscheinlichkeit von Krankheiten, die Reaktion der Wähler auf bestimmte Ereignisse oder die klassische Anwendung: die Vorhersage von Aktienkursen und des Wetters. Das Hauptproblem dieser Algorithmen war, dass man ihnen die richtigen Fragen stellen musste. Wenn jemand in der falschen Richtung suchte, konnte er sogar eine falsche Antwort bekommen. Das Geheimnis von Big Data ist, dass sich die Information in der riesigen Menge an Daten verbirgt. Auf welche Weise sie von dort herausgefischt werden kann, dazu braucht man Experten, und es gab nur wenige von ihnen. Andy arbeitete daran, seine Algorithmen intelligent (oder zumindest intelligenter) zu machen, dass sie Dinge offenbaren, über die sie niemand fragen würde. Das Problem liegt in erster Linie darin (wie er als Mathematiker auf der Basis der Mengenlehre selbst mir einleuchtend erklärte), dass die Anzahl der möglichen Zusammenhänge in einem Datensatz mit dessen Größe exponentiell steigt: Zweimal die Menge der Daten können theoretisch viermal, zehnmal so viele tausend Mal (genauer gesagt, 1024 Mal) mehr Korrelationen enthalten und falls vorhanden, aufgedeckt werden. Auf der anderen Seite sichert eine größere Menge an Anfangsdaten zuverlässigere Information. Natürlich kann kein reeller Computer damit Schritt halten. Also versuchte Andy, dieses Wachstum mit verschiedenen schlauen Überlegungen abzuschneiden.
Er erzählte mir als Beispiel (von dem ich natürlich weitreichende Schlussfolgerungen gezogen habe), dass die israelischen Sicherheitskräfte Terrorakte durch Big Data verhindern. In Rahmen eines Pilotprogramms wurden aus dem Gefängnis entlassenen Terroristen ohne deren Wissen Mikro-Spurverfolger implantiert, und aus ihren Bewegungsmustern konnten schon mehrere Terrorchefs identifiziert und beseitigt werden. Ich staunte über die Technologie, wie diese Tracker-Daten so weit von der Landesgrenze entfernt herausgelesen werden konnten, woraufhin er mysteriös lächelte:
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 11.04.2018
ISBN: 978-3-7438-6500-6
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