Donnerstag 16. Dezember 2010 16:08 Uhr
Jack
Was hatte sie da gerade zu ihm gesagt? Es war nur ein Wort, vier Buchstaben, aber es traf ihn wie ein Blitz. Dabei hatte Jack diese Frau noch nie in seinem Leben gesehen. Kein Zweifel. An diese wunderschönen blauen Augen, müsste er sich doch erinnern? Und Doch! Ein Deja Vu?
Etwas Merkwürdiges war an ihr. Trotz dieser sehr kalten Temperaturen von minus 11 Grad, trug sie offensichtlich nur einen Mantel. Und dennoch schien sie zu schwitzen. Ihre Haut glänzte. Das Gesicht war leicht errötet und sie atmete schwer. Ein paar dunkle Haarsträhnen klebten auf ihrer Stirn. Vom Meer wehte eine eisige Brise und er konnte eine Gänsehaut auf ihrem Hals sehen. Er schätzte sie auf Mitte zwanzig. Sie war bildschön, abgesehen von drei tiefen Kratzern, die über ihre rechte Wange verliefen.
Ihr Blick verfinsterte sich und sie sagte:
„Tut mir leid, ich muss los. Die Zeit wird knapp."
Jack verstand die Welt nicht mehr:„ …das sollten Sie nähen lassen. Kann ich Ihnen helfen? Wollen Sie irgendwo hin? Ich kann Sie fahren."
Sie wurde hektisch:
„NEIN, NEIN. Ich muss jetzt WIRKLICH los. ALLEIN… du kannst meinen Schuh holen. Ich werde dir später alles erklären."
Was meinte sie nun damit schon wieder? Jack schaute an ihr herunter. An einem Fuß trug sie einen ausgetretenen Turnschuh. Der andere Fuß war nackt. Sie musste doch frieren. Er schaute sie an. Sie hob den Arm und zeigte mit dem Finger Richtung Straße:
„…unter deinem Auto."
Verwirrt antwortete Jack: "Klar…. warten Sie."
Er musste sich hinlegen, um unter seinen Audi zu kommen. Und wirklich. Da lag der fehlende Schuh. Er kroch noch tiefer unter das Auto und streckte den Arm. Von hinten hörte er ihre Stimme:
" Wir werden uns Freitag kennen lernen. Folge mir nicht…ach und… ich vermisse dich… lass die Sachen einfach so liegen, wie du sie findest."
Der letzte Satz kam von weit her. Jacks Stirn legte sich in Falten. WAS? Diese Frau sprach in Rätseln. Seine Fingerspitzen berührten den Schuh. Er streckte sich noch ein wenig mehr, ergriff ihn und krabbelte wieder unter seinem Auto vor. Sie war weg. In der einzigen Richtung, in die sie laufen konnte, war nichts zu sehen. In den paar Sekunden, konnte sie doch nie so weit gekommen sein. Unmöglich.
Es dämmerte. Eine letzte, an den alten Docks verbliebene, Gasentladungslampe zündete. Der automatische Dämmerungsschalter hatte sie vermutlich, wegen der einsetzenden Dunkelheit, zugeschaltet. Diese Mastleuchte war die einzigste, die noch zu funktionieren zu schien. Der Leuchtkörper erstrahlte in einem hellem Blau, welches langsam weiß wurde.
Aber was war das? Ein schwarzer Fleck auf dem Beton. Zu klein für eine Person. Vorher hatte Jack dort nichts bemerkt. In wenigen Sekunden rannte er dort hin. Er bückte sich um es aufzuheben. Ein Lappen? Nein, es war der Mantel der Unbekannten. Und darunter der Schuh. Jack trug das Gegenstück in seiner Hand. Er schaute sich wieder um. Nichts. Was hatte sie zuletzt gesagt? ‘Folge mir nicht… und lass die Sachen so liegen, wie du sie findest.` Er legte das Bündel wieder auf die Erde. Tausend Fragen schossen ihm durch den Kopf. Wer war sie? Woher kam sie? Wohin ging sie? Wieso lässt sie hier ihre Sachen zurück? Scheinbar kannte sie ihn. Sie hatte ihn geduzt. Aber er wusste hundertprozentig, dass er sie nicht kannte. Jack rief:
„Hallo… Hey Fräulein, Ihre Sachen… hier… Sie haben sie vergessen… HALLO?". Keine Antwort. Er ging noch ein paar Schritte, kehrte dann aber wieder um. Sie hatte ihn ja darum gebeten. Er überlegte. Was hatte sie noch gesagt? `Wir werden uns Freitag kennen lernen` und `ich vermisse dich.` Das war doch ein Widerspruch. Entweder sie kannte ihn und konnte ihn somit auch vermissen. Oder aber, wenn sie ihn am Freitag erst kennen lernen sollte,
dann konnte sie ihn auch nicht jetzt schon vermissen. Er ging zurück zu seinem Auto, den Kopf nach unten gesenkt und voller Fragen. Der ganze Nachmittag war für ihn merkwürdig verlaufen. Erst der mysteriöse Telefonanruf und dann diese Frau. Wie passte das Alles zusammen?
Julia
Julia versenkte ihr Gesicht in den Händen, die mit Wasser gefüllt waren. Diese Abkühlung tat gut. Sie nahm sich eins der Wegwerfpapiere aus dem Behälter und trocknete sich ab. Der Blick in den Spiegel war getrübt. Erst als sie die Brille wieder aufsetzte wurde alles klar und scharf. Seit Julia 10 Jahre alt war trug sie nun schon diese "Sehhilfe". Damals konnte sie in der Schule die Zahlen an der Tafel schlecht erkennen und ihre Eltern gingen mit ihr zum Augenarzt..
Aber alles war nur aufgeschoben. Irgendwann musste sie wieder zurück. Also betrat sie erneut den Gastraum von Starbucks. An dem Tisch, wo ihre Tasche stand, saß noch immer Detlef Kowalski. Er grinste, als er sie sah.. Wie peinlich! Der Typ war genauso gewöhnlich wie sein Name. Schweren Schrittes ging sie zurück an ihren Platz. Und schon ging das Gespräch von neuem los. Es war aber mehr ein Monolog statt eines Dialogs. Detlef hörte sich gern selber reden. Die anderen Studenten hatten sie ja gewarnt. Kowalski nervt, hatten sie gesagt. Sie hatte Mitleid mit ihm gehabt und wollte sich nicht von Vorurteilen beeindrucken lassen. Das hatte sie nun davon.
Sie musterte ihn. Auf seiner Stirn war ein leichter Fettfilm. Irgendwie war dieser ganze Kerl schmierig und sie stellte sich vor wie ihr Finger auf der Stirn ausrutschen würde, wenn sie ihn dort berühren würde. Detlefs Hände waren blass und speckig. Die Fingernägel viel zu kurz geschnitten. Oder abgekaut? Sie traute ihm das zu. Diese Hände waren nicht von schwerer Arbeit gezeichnet -obwohl ihm das gut getan hätte- er war nur Theoretiker.
Kowalski redete immer noch und ab und zu verließ ein kleines Tröpfchen seinen Mund und landete irgendwo nach dem Zufallsprinzip auf dem Tisch. Julia zog ihre Tasse etwas näher an sich heran. Um die Chance zu minimieren, dass einer womöglich treffen könnte.
Überall glückliche Paare um sie herum. Nur sie saß ausgerechnet mit der größten Nervensäge hier. Seine Worte wurden für Julia leiser. Die Musik aus den Deckenlautsprechern lauter. Bis sich irgendwann nur noch sein Mund bewegte. Manchmal passten die Bewegungen zur Musik, manchmal nicht. Es sah komisch aus. Julias Blick war längst nicht mehr bei Detlef. Sie schaute versteinert zum Fenster, an dem Passanten vorbeiliefen. Manchmal musste sie eine Sprechpause von Detlef mit einem "Ja", "Vielleicht" oder "Malsehen" quittieren, damit er weitersprach.
Alle Menschen außerhalb des CafPs hatten es eilig. Ein Mann mit Mütze, der mit seinem Hund spazieren ging. Der Hund zog so an der Leine, dass es besser geheißen hätte, der Hund geht mit seinem Herrchen spazieren. Eine Frau in dicken Wintersachen fuhr auf einem Fahrrad am Fenster vorbei. Eine Gestalt am Fensterrand stand mit dem Rücken zum Starbucks einfach nur da. Das Geschlecht war undefinierbar. Julia entschied sich dafür, dass es eine Frau sein musste. Die Gestalt trug einen langen schäbigen Mantel. Den Kragen nach oben geschlagen wegen der Kälte. Ganz oben waren noch glatte blonde Haare zu erkennen. Und genau wegen dem Blond hatte sich Julia für ‘Frau’ entschieden. Die Blonde drehte sich um. Vom Gesicht war wenig zu erkennen, denn obschon es fast dämmerte, trug diese Frau eine monströse Sonnenbrille. Mit einer Hand hielt sie sich den Kragen zu. Die Andere steckte in der Tasche. Die Haare wirkten irgendwie künstlich an ihr. Unecht?
Alles sah merkürdig aus an dieser Frau. Einschließlich der drei Kratzer im Gesicht. Und obwohl Julia die Augen nicht erkennen konnte, fühlte sie den Blick der Fremden auf sich. Sie starrte genauso in den Laden, wie Julia nach draußen. Julia wurde verlegen und suchte sich ein anderes Objekt zum schauen. Aber sie spürte immer noch die Blicke der Unbekannten von draußen. Und so musste sie wieder hinsehen. Diesmal machte die Frau eine Kopfbewegung, die Julia zum Rauskommen bewegen sollte. Alles war besser als mit Detlef Kowalski den Rest des Tages zu verbringen. Und inmitten seiner großartigen Rede, platzte Julia ein: "Du Detlef ich muss los." heraus. Der Kowalski war sichtlich geschockt und sagte: "Aber ich bin doch noch gar nicht fertig." Und als Trotzreaktion für Julias schnelles Verschwinden, fügte er ein:
"Wir bezahlen doch getrennt, oder?" hinzu. Na typisch dachte sich Julia und kramte ein Handvoll Kleingeld zusammen, das sie auf den Tisch warf. Mit schnellen Schritten ging sie auf die Straße. Die große Blonde kam langsam auf sie zu. Und höflich wie Julia war fragte sie."Entschuldigen Sie, haben sie mich gemeint als sie nickten?" Die Fremde sagte: "Du musst mir vertrauen. Nimm das hier." Sie zog ein Kuvert aus der Manteltasche und streckte es Julia entgegen. "Du musst mir versprechen. Lies es wenn du allein bist. Tu genau das was drin steht. Es ist zu deinem Besten." Julia ging einen Schritt zurück und winkte ab. "Nein, nein. Das ist doch irgend so ein Taschenspielertrick. Ich gehe besser." Und sie drehte sich um und ging. Erst der doofe Kowalski und jetzt diese Irre. Von hinten tönte die Stimme der Fremden: " JULIA, warte." Das hatte gesessen. Sie kannte ihren Namen. Julia ging zurück. "Woher wissen Sie…?" - "Sei still. Ich weiß eine Menge
über dich. Nimm jetzt den verdammten Brief und tu was ich dir gesagt habe." Mit offenem Mund nahm Julia diesmal das Kuvert und drehte ihn in ihrer Hand. Nichts Besonderes dachte sie und steckte ihn in ihre Tasche. Sie wollte noch was sagen, aber die Unbekannte war schon in der Menschenmenge verschwunden. Merkwürdig, aber egal. Wenigstens bin ich Detlef los. Julia ging nach Haus.
„Besorg uns einen schönen Liebesfilm. Wir sitzen dann bei Kerzenlicht und Wein und heulen uns die Augen aus dem Kopf, Julia." Das waren Katjas Worte am Telefon, als sie ihren Besuch ankündigte. " … oder besser einen Horrorfilm? Nee lieber nicht. Du schläfst dann immer schlecht." Katja kicherte am anderen Ende. Und mit flüsternder Stimme fügte sie noch: "Ich hab’s…Nimm einen Porno." hinzu. Jetzt konnte sie ihr Lachen kaum noch halten. Julia musste schmunzeln und sagte: "Lass’ dich überraschen!"
Schon fand sie sich in den vielen Regalen der Videothek wieder. Die Qual der Wahl. Julia hatte schon eine konkrete Vorstellung von dem was sie sehen wollte. Nur konnte man es Katja meist nie recht machen. Letztendlich fiel die Wahl auf "Schlaflos in Seattle".
Sie stellte sich hinter die wartende Person am Tresen, hielt die Hülle zwischen Daumen und Zeigefinger und las sich die Rückseite durch. Plötzlich schlug ihr der Kerl vor ihr mit dem Ellenbogen das Cover aus der Hand. "Idiot" war ihr erster Gedanke. Beide bückten sich. Er war zuerst an der Hülle. "Tut mir leid. Das wollte ich nicht." hörte sie ihn sagen.
Und erst als beide wieder standen, übergab er ihr den Film.
Jack
Als die Sonne unterging, war Jack unterwegs zu seinem Auto. Er hatte es in einer Nebenstraße abgestellt und der bloße Anblick des Audis, erfreute ihn wie ein kleines Kind, dass gerade sein Weihnachtsgeschenk öffnet. Es war ein Quattro Baujahr 88. Jack hatte ihn auf einen Schrottplatz vor 8 Jahren entdeckt und seitdem über zehntausend Euro in den Wagen investiert. Es war eines der letzten Coupes dieser Baureihe. In einer originalen Bedienungsanleitung fand Jack den Satz, dass es sich beim Quattro um das "erste schnelllaufende Serienautomobil mit Allradantrieb" handelt. Vier angetriebene Räder waren bis Anfang der achtziger Jahre nur Offroadern vorbehalten geblieben.
Die erste Vierteldrehung am Zündschloss ließ die digitalen Armaturen zum Leben erwecken. Wieder ein Relikt aus den Achtzigern, was sich nicht durchsetzen konnte. Jack drehte den Schlüssel weiter. Er musste ihn eine Weile länger in der Position halten, als bei gewöhnlichen Autos, denn fünf Kolben in ihren Zylindern wollen erst mal bewegt werden.. Als der 2,2 Liter Motor anspringt muss Jack schmunzeln. Das feine Surren erinnerte ihn an Geräusche, die sonst nur Nähmaschinen machen. Ein metallisches Klicken beim Betätigen des Schalthebels und der Quattro ist bereit zum Fahren. Jack gab dezent Gas und der Audi fuhr sich wie ein ganz normales Auto. Erst als der digitale Drehzahlmesser die 3500 überschritt und die Ladedruckanzeige des Turbos 0,85 bar anzeigte, begann die Beschleunigungsorgie. Das alles wurde vom Fauchen des Turbos begleitet. Jacks Schmunzeln wird zum Grinsen. Das Fahren dieses Autos war noch Schwerstarbeit. Es gab hier keine
technischen Spielereien oder elektronischen Helfer wie in modernen Wagen. Viel zu schnell war Jack am Ziel.
Die Sonne ist verschwunden und gerade in diesem Moment, als Jack vorfährt, beginnt die neonfarbenen Reklame des "Oklahoma" zu leuchten. Drei ausrangierte Eisenbahnwagons stehen hier auf zirka 80 Meter, auf Asphalt verlegten Gleisen. Gitterroststufen am mittleren Wagen bilden den Eingang zu dieser Bar. Als Jack sich nähert, bewegen sich zwei Türen, begleitet von einem hydraulischen Zischen, auseinander. Nichts ist in diesem "Zug", wie es sein sollte. Die vielen Abteile sind entfernt worden und so ist ein länglicher Raum entstanden, in dem auf der Längsseite eine Theke eingebaut wurde. Jack zählt drei Leute, die auf hohen Hockern an der Bar sitzen. Nur von diesem mittleren Wagon kann man in die beiden Äußeren gelangen. Dort gibt es ausschließlich Sitzplätze mit Tischen, die aussehen, als wären sie aus einer amerikanischen fünfziger Jahre Milchshakebar.
Sven ist Schwede und ihm gehört das Oklahoma. Er ist gerade dabei ein Glas auf Hochglanz zu polieren, als Jack sich an die Bar setzt. Mit den Worten: "Und Jack? Was darf́s sein?" begrüßt Sven seinen Freund.. "Ein Bier… bitte" erwidert Jack, der noch immer angestrengt den Zug mit seinen Augen durchsucht. Nichts. Dabei hatte sie doch gesagt Freitag.. Heute war Freitag und sie ist ihm den ganzen Tag noch nicht begegnet. Er hatte gehofft sie hier vielleicht zu treffen. "Ähm… Sven. Hast du vielleicht…? Ich meine, ist hier manchmal so eine Frau? Schwarze, lange Haare. Bildschön. Die Augen. Du weißt schon. Auch schön." Sven grinst: "Hier gibt es nur schöne Frauen, Jack." Er zwinkert ihn dabei an und reibt weiter an seinem Glas. Jack lässt den Kopf hängen. Das war nicht die Information, die er haben wollte. "Sie hat eine Verletzung im Gesicht. Drei Kratzer." fügt er noch hinzu. Sven schüttelt bedauernd den Kopf.
Jack trinkt sein Bier. Er achtet penibel auf den Eingang und wartet darauf, dass endlich "die Eine" hereinspaziert. Eigentlich ist es ein Starren auf die Tür. Plötzlich surrt sein Handy in der Hosentasche. Er schaut auf das Display. Eine SMS. Beim Lesen muss er erschreckt feststellen, dass er wieder einmal etwas Wichtiges vergessen hatte. Er legt einen Geldschein auf die Theke und verschwindet ohne ein Wort.
Dank Quattroantrieb und Turboaufladung ist Jack in zehn Minuten an dem Ort, woran ihn die SMS erinnert hatte. Er schiebt die "Ware" über den Ladentisch. Die Frau hinterm Tresen kräht: "Sechs Euro." Er will sein Geld aus der Tasche ziehen, da bemerkt er eine Berührung am Ellenbogen. Etwas aus Plastik fällt auf den Boden. Jack dreht sich um, damit er dieses Etwas aufheben kann. Sein Blick fällt auf eine leere DVD Hülle.. Auf dem Cover kann er lesen "Schlaflos in Seattle" und er hebt sie auf.
Julia
Julia´s Blick wanderte von der DVD langsam nach oben. Er war gut 10 Zentimeter größer als sie selbst, hatte kurze Haare und war unrasiert. Sie schätzte ihn auf Ende zwanzig. Zuerst glaubte sie ein erstauntes Gesicht, bei ihm gesehen zu haben. Doch nun lächelte er. Julia mochte sein Lächeln auf Anhieb und sie schmunzelte zurück. Keiner sagte was und die Sekunden kamen Julia ewig vor.
“Was ist denn jetzt? Haben sie die sechs Euro oder nicht?“ rief die Besitzerin der Videothek. Julia sah wie der Fremde aus Spaß mit den Augen kullerte. Aber nur so, dass sie selbst es sehen konnte. Sie musste grinsen. Er bezahlte schließlich, war aber die ganze Zeit unruhig und warf immer wieder einen Blick über die Schulter zu ihr.
Als sie die Videothek verließ, fühlte sie sich richtig gut nach der Begegnung mit diesem Mann. Plötzlich hörte sie eine Männerstimme hinter sich. “Entschuldigen Sie… woher haben Sie gewusst, dass wir uns heute treffen werden? Und genau hier? Das war echt Zufall, dass ich jetzt gerade hier war. Wie konnten Sie das wissen?“ Mitten im Satz hatte Julia sich umgedreht und den Mann von gerade eben wiedererkannt. Sie runzelte die Stirn. “Kennen wir uns?“ fragte sie. Jetzt zog auch er die Stirn in Falten und sagte: “Gestern. An den alten Docks… Ich hätte Sie fast überfahren… Und dann ihr Schuh unter meinem Auto. Dann waren Sie plötzlich verschwunden.“ Julia musste grinsen: “Gerade eben waren Sie noch ganz nett hier im Laden. Aber jetzt… Ist das ne neue Masche Frauen anzubaggern?“. Der Fremde blieb aber todernst: “Sie meinen… Sie sind nicht die Frau von gestern? Sie kennen mich nicht?“ Plötzlich riss er die Augen auf und sein Gesicht wurde heller: “Ihre Verletzung. Sie ist weg. Wie haben Sie das gemacht? ... Moment, Sie haben recht. Sie können das nicht gewesen sein.“ Während er von der Verletzung sprach, sah sie, wie er sich dabei über die Wange strich. “Dabei hätte ich schwören können, dass sie gestern… Sie sehen ihr so ähnlich.“ Der Fremde drehte sich um und war im Begriff zu gehen. Er murmelte noch etwas wie: “Entschuldigung.“
Julia wusste nicht was sie davon halten sollte. Irgendwie hatte sie plötzlich Mitleid mit ihm. “Hey warten Sie doch. Kann ich Ihnen helfen?“ Er blieb stehen und sagte ohne sie anzuschauen: “ Nee. Tut mir leid. Vielleicht drehe ich auch langsam durch. Vergessen Sie´s einfach. Tschuldigung noch mal.“ Sie versuchte ihn aufzumuntern und sagte: “Hey, ich will wissen, wenn ich eine Doppelgängerin habe.“ Sie lachte dabei. Er drehte sich wieder zu ihr lächelte gequält zurück. “Sie können mir glauben. Bis auf die drei Kratzer im Gesicht, sehen Sie genauso… aus wie sie.“ Die letzten drei Worte kamen langsam und leise aus seinem Mund. Drei Kratzer? Julia dachte nach und ihr blieb das Herz fast stehen. “Ich habe diese Frau auch gesehen.“ hörte sie sich selbst sagen. Er schaute sie erstaunt an: “Wirklich?“ Sie überlegte kurz: “Dort drüben. Vor dem Starbucks habe ich heute mit einer Frau, die drei Kratzer auf der Wange hatte, gesprochen… Und sie soll aussehen wie ich? Okay ich konnte von ihrem Gesicht nicht viel erkennen. Sie trug ne Sonnenbrille.“ Er schaute sie fragend an: “Kommen Sie. Ich lade Sie auf einen Kaffee ein und wir sprechen kurz darüber… Übrigens. Ich heiße Jack.“ Er lächelte wieder. Sie sagte nur: “Julia. Ich heiße Julia.“
Auf dem Weg zum Starbucks erzählte Jack ihr von seiner Begegnung mit der Fremden. Bis auf die Tatsache, dass sie ins seiner Erzählung schwarze Haare hatte, schien es, als ob es sich um die gleiche Person handelte.
Der Zufall wollte es, dass sie am gleichen Tisch wie am Nachmittag saßen. Nur diesmal gefiel Julia ihr Gegenüber viel besser, als vor einigen Stunden. “Warum hatte meine Frau blonde Haare? Und wieso sah alles so nach Verkleidung aus? Das war bestimmt eine Perücke.“ stellte Julia fest. “Sie wollte wohl nicht, dass du sie erkennst. Hast du eigentlich eine Schwester, die das sein könnte?“ fragte Jack. Sie lächelte: “Nee… Einzelkind. Und das ist ganz sicher Jack. Keine Geschwister.“
Plötzlich riss sie die Augen auf: “DER BRIEF.“ Jack fragte staunend: “Was für ein Brief?“ „ Ja, sie hat ihn mir gegeben und gesagt ich sollte ihn lesen, wenn ich allein bin.“ Julia kramte in ihrer Tasche. Ihr war egal ob Jack jetzt beim Lesen mit dabei war. Irgendwie hatte sie Vertrauen zu ihm. Sie öffnete das Kuvert und betrachtete den Text. Die Handschrift war krakelig. Als ob ihn jemand in Hast oder Eile geschrieben hatte. Sie konnte kaum fassen was sie da las. Als sie fertig war reichte sie Jack den Brief und sagte: “… das ist unglaublich
Jack
Jack nahm den Brief aus Julias Händen. Er sah ihre weit aufgerissenen Augen und die Fassungslosigkeit in ihrem Blick. Leise hörte er sich lesen:“ Julia!!! Nimm diese Zeilen ernst. Es kommen schwere Zeiten auf dich und Jack zu...“ Jack unterbrach und schaute Julia an:“…wie kann sie das wissen? Woher weiß sie überhaupt, dass wir uns kennen?“ und er laß weiter den Brief leise vor:“…Ihr werdet das Geld brauchen. Also weigert euch nicht das zu tun. Ihr werdet am Samstag Lotto spielen. Und ihr werdet gewinnen. Füllt alle Tipps mit von euch ausgedachten Zahlen aus. Nur Einen mit den Zahlen, die ich euch nenne. Vertraut mir einfach. Ich meine es gut. Diese kleine Investition wird sich für euch lohnen. Ich verspreche es. Und Julia, vertrau dir selbst und du wirst spielen.“ Jack murmelte die Zahlen, die dort standen vor sich her und schüttelte dabei den Kopf. Dann wurde seine Stimme wieder etwas lauter: “P.S. Jack soll morgen an dem Platz erscheinen, an dem wir uns das erste Mal trafen. Zur gleichen Zeit!!! Er soll diesmal pünktlich sein. Ich habe nicht viel Zeit. Bitte.“
Er ließ den Zettel auf den Tisch fallen. Julia hatte ihn die ganze Zeit angestarrt. „Das ist doch Blödsinn.“ waren Julias erste Worte. „Die spinnt doch total. Warum sollten wir wegen Der Lotto spielen? Ist sie Hellseherin, oder so was? Das kann sie vergessen.“ Jack faltete wortlos den Brief und steckte ihn zurück ins Kuvert. „ Ich weiß nicht Julia. Diese Frau weiß schon viel zu viel über uns. Mir gefällt das auch nicht. Aber wenn ich ehrlich bin: ein Angebot reich zu werden, sollte man wegen der paar Euro Investition nicht abschlagen.“ „ Das heißt du glaubst ihr?“ Jack strich sich mit dem Zeigefinger über das Kinn: “Nee… Ich glaube ihr nicht. Aber ich würde mich ein Leben lang ärgern, wenn ich es nicht wenigstens versucht hätte. Stell dir vor, wir spielen nicht. Morgen Abend ziehen sie genau die vorhergesagten Zahlen… Ich würde es riskieren. Was haben wir zu verlieren? Sie hat Recht. Es sind nur ein paar Euro Einsatz. Kein Risiko. Ich spendiere das Geld sogar. Lass es uns tun.“
„Ich weiß nicht“ sagte Julia. „Und was ist mit eurem Treffen morgen? Ich hab Angst. Mir ist das zu unheimlich. Du solltest da nicht hinfahren.“ „Sie hat doch keinem von uns etwas getan. Vielleicht braucht sie Hilfe. Hey sie sieht dir ähnlich. Ist vielleicht doch eine Familiensache. Ich bin zumindest neugierig.“ „JACK. Ich habe Angst um dich. Das ist ne Psychotante. Kein Mensch kann in die Zukunft schauen und Lottozahlen vorhersagen.“ „ Warte mal Julia. Du hast den Brief bekommen, da bist du mir noch nicht begegnet. Du hast mich doch erst vor einer halben Stunde getroffen. Sie hat beim Briefschreiben aber schon gewusst, dass wir den Brief zusammen lesen. Das wir uns kennen werden…. Ach. Es klingt kompliziert. Weißt du was ich meine?“ „Du hast Recht. Als sie mir den Brief gab, kannte ich dich nicht im Entferntesten. Und die Zeilen waren bereits geschrieben. Ist wie ein Zaubertrick… Genau. Als wenn ein Zauberer weiß, welche Karte du dir gemerkt hast… Das ist ein Trick, Jack. Und wir fallen darauf herein.“ „Vielleicht hast du Recht Julia. Vielleicht aber auch nicht. Ich tue es trotzdem. Ich werde spielen. Du bekommst die Hälfte. Erlaubst du es mir die Zahlen aus dem Brief zu nehmen?“ „ Mach was du willst. Für mich ist es eine Verarsche. Du wirst sehen. Du triffst sie und sie lacht dich aus, was für Idioten wir doch sind. Die ist sicher aus einem Irrenhaus abgehauen.“ Dann zwinkerte sie Jack zu und lächelte: “Aber wenn du gewinnst, nehme ich natürlich die Hälfte. Ich kann Geld immer brauchen.“ Jack lachte zurück
Julia
Keiner redete auf dem Nachhauseweg. Nur der frisch gefallene Schnee knirschte unter ihren Schritten. Julia hatte sich in Jack´s Arm eingehängt und am liebsten hätte sie sich an seine Schulter gelehnt. Sie war froh, dass Jack sie nach Hause brachte. Es war spät und keine Menschenseele weit und breit zu sehen. Die eisige Luft schmerzte beim Atmen.
Am Ende der Straße tauchten zwei Gestalten auf, die rasch größer wurden. Sie kamen direkt auf sie zu. Es waren Männer. Je näher sie kamen, umso besser konnte sich Julia ein Bild von ihnen machen. Beide trugen schwarze Lederjacken. Der Linke war ein Hüne. Aber eher von der massigen Sorte mit einem Stiernacken. Er hatte Glatze. Der Rechte war einen halben Kopf kleiner als sein Begleiter. Seine schwarzen Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden und er hatte Kotletten, die aussahen wie Eishockeyschläger.
Jack zog Julia vom Gehweg um den Entgegenkommenden Platz zu machen. Da betraten die beiden Männer auch die Straße und stellten sich in den Weg. Jetzt konnte Julia die Beiden besser erkennen. ´Stiernacken´ hatte nicht einmal Wimpern oder Augenbrauen. Er war total haarlos auf dem Kopf. Julia schätzte seine Körpergröße auf über 2 Meter und gut und gerne 140 Kilo Gewicht. Der Andere sah aus wie ein Südländer und er war es, der zu reden begann. “Was hat sie euch erzählt?“ fragte er. Julia sah Jack an. Er zog seine Augenbrauen nach unten und zuckte mit den Schultern. Der Zopfträger wurde lauter:“ Was hat sie euch erzählt habe ich gefragt.“ Jack zog an Julia´s Arm, um an den Beiden vorbeizugehen. Der Dicke machte einen Ausfallschritt, um sich in den Weg zu stellen. Julia sah fragend Jack an. Aus den Augenwinkeln sah sie Zopfträger´s Hand auf ihr Gesicht zu rasen. Es traf sie mit ungeheurer Wucht und es brannte sofort an der Wange. Julia hatte durch den Schlag eine 180 Graddrehung gemacht und fand sich hockend über dem Schnee wieder. Der begann sich tröpfchenweise rot zu färben. Blut.
Hinter sich hörte Julia Keuchen, Stöhnen und dumpfe Schläge. ´Der arme Jack`schoß ihr durch den Kopf. Sie drehte sich um.
Der Anblick war nicht der, den sie erwartet hatte. Zopfträger lag zusammengekauert, wie ein Embryo im Mutterleib, auf dem Boden. Er hielt sich den Bauch und jammerte. Der Zeigefinger seiner rechten Hand wies eine seltsame Verformung, in die verkehrte Richtung auf. Er war gebrochen.
´Stiernacken ´und Jack standen sich lauernd gegenüber. Der Dicke war über einen Kopf größer als Jack. ´Stiernacken´ blutete am Mund und er hatte Schweiß auf der Stirn. Plötzlich zog er ein zugeklapptes Butterflymesser aus der Tasche. Mit einem Dreifachschwung öffnete er den zweigeteilten Griff und die Klinge ragte aus seiner Hand. Jack schien unbeeindruckt. Der Dicke durchschnitt Luft, was pfeifende Geräusche erzeugte. Jack wich mit minimalen Bewegungen aus. Es sah fast aus, als ob er mit dem Großen spielte. Der wiederum wurde, mit jedem fehlgeschlagenem Angriff, nervöser. Völlig überraschend packte Jack den ausgestreckten Arm des Dicken, der gerade zustechen wollte, aber zu langsam den Arm zurückzog. Jack verdrehte ihn und das Messer fiel zu Boden. Immer noch am Arm festgehalten, hatte ´Stiernacken´ blitzschnell Jacks schweren Schuh im Gesicht. Julia war erstaunt, wie beweglich Jack war. Der Große taumelte. Jack ging in die Hocke und vollführte eine Umdrehung mit ausgestrecktem Bein dicht über dem Boden. Er fegte dem Dicken die Füße über dem Boden weg. Der fiel wie ein gefällter Baumstamm und knallte mit dem Hinterkopf auf die Straße. Jack stand auf und kam zu Julia herüber. Auf seinem Weg lag, immer noch jammernd, ´Zopfträger´. Demonstrativ lief Jack über die kaputte Hand, des am Bodenliegenden. Knochen knackten und ´Zopfträger´´ schrie weinend auf. Jack war bei Julia und sagte:“Der ohrfeigt keine Frauen mehr. Lass mal sehen… Das sieht aber gar nicht gut aus Julia.“
Kurze Zeit später sah Julia in Jack´s angestrengt wirkendes Gesicht, in ihrem Badezimmer. Er reinigte vorsichtig die Wunde an ihrer Wange. “Hast du seine Fingernägel gesehen?“ fragte Jack. “Er hat dir das Gesicht zerkratzt beim Zuschlagen. Deshalb das Blut.“. Julia schwieg. Dann starrte sie in Jack´s Gesicht, der seine Augen weit aufriss und dem der Mund offen stehen blieb. Was war? Sah es so schlimm aus? Jack deutete auf den Spiegel und sie sah hinein. Julia schaute in das perfekte Ebenbild der fremden Frau, die ihr heute den Brief gegeben hatte. Drei parallel verlaufende Kratzer auf der rechten Wange. Mit dem Unterschied, dass Julias Kratzer ganz frisch waren.
Jack
„…thats sugarcane, thats tasted good, thats cinnamon, that’s hollywood, c´mon c´mon no one can see you try…” Jack war in Gedanken versunken und lauschte der Musik im Autoradio. Diesmal war er überpünktlich am vereinbarten Treffpunkt. Er dachte an die letzte Nacht mit Julia zurück. Sie hatten beide bis in die Morgenstunden zusammen geredet. Später schlief sie im Schlafzimmer und er im Wohnzimmer auf der Couch. Als er aufwachte verließ er ihre Wohnung...
Jack bemerkte zuerst gar nicht den Schatten an seiner Seitenscheibe. Er erschrak und war aus seinem Tagtraum gerissen. Neben ihm stand die Fremde in ihrem schäbigen Mantel. Er öffnete die Tür und wollte aussteigen. Sie sagte:“ Können wir im Auto reden? Mir ist kalt.“ „Klar, warum nicht.“ erwiderte Jack. Als sie um den Audi lief schaute er in seine drei Rückspiegel, ob er irgendwas Verdächtiges sehen konnte. Nichts. Sie nahm neben ihm Platz und atmete tief aus. Er sah sie an. Wahnsinn. Genau wie Julia. Sie lächelte. Und sie hatte sogar Julia´s Lachfalten, die Jack so mochte.
„Ach Jack. Es tut so gut dich zu sehen.“ begann sie. „ Ich schätze sie haben mir eine Menge zu erklären. Wieso kennen sie mich? Und warum sehen sie Julia so verdammt ähnlich? Inklusive der drei Kratzer“. Sie schwieg und schaute nach unten. Dann begann sie zu reden. „Oh Jack, wenn du wüsstest. Ich wieß gar nicht wo ich anfangen soll…Es wird sich ziemlich haarsträubend und phantastisch für dich anhören. Aber es ist die Wahrheit. Ich denke, dass eine Lüge glaubwürdiger wäre als das, was ich dir jetzt erzähle. Bitte lass mich ausreden und stelle deine Fragen erst danach.
Also gut. Zunächst einmal. Ich bin deine Julia, die du gestern erst kennen gelernt hast. Nur kenne ich dich jetzt schon über eine Woche… Und das hier, ist nicht meine Zeit. Ich bin hier nur zu Besuch. Für knappe 2 Stunden. Wenn ich will jeden Tag. Und ich werde dir immer acht Tage im Voraus sein.“ Jack runzelte die Stirn. Was redete sie da?
Sie fuhr fort: “Du weißt es noch nicht, aber ich hatte einen Bruder. Er studierte hier in der Stadt Atomphysik. Sein Studienkollege und er haben etwas entdeckt. Und das hat sie das Leben gekostet.“ Sie begann zu weinen. Jack reichte ihr ein Taschentuch. „Danke.“ schluchzte sie. „ Ich versuche es dir zu erklären. Ich habe nicht das Fachwissen um es zu verstehen. Es ist schwierig…. Pass auf. Vor einem halben Jahr wurde in Cern in der Schweiz der weltgrößte Teilchenbeschleuniger in Betrieb genommen. Frag mich nicht wie das funktioniert. Es kam sogar in den Nachrichten. Mein Bruder hat es mir erklärt. Es ist ein riesiger unterirdischer geschlossener Ring, in dem winzige, atomare Teilchen auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden. Die Forscher simulieren damit den Urknall und versprechen sich neue Erkenntnisse über die Entstehung des Universums… Kritiker haben damals schon prophezeit, dass durch diese Experimente schwarze Löcher auf der Erde entstehen können… Und genau das ist passiert, Jack. Mein Bruder und der Andere haben genau hier eins entdeckt. Schwarze Löcher sind Wurmlöcher. Stell dir vor, ich zeichne auf einem Blatt Papier zwei Punkte. Die kürzeste Verbindung zwischen den Punkten wäre eine Gerade, richtig?“ Jack nickte. „Falsch. Die kürzeste Verbindung ist, wenn ich das Blatt falte und die Punkte aufeinander lege. Das nennt man Raumkrümmung. Egal wie es funktioniert. Es funktioniert genau hier und einigen anderen Stellen auf der Erde. Ich weiß nur von Diesem hier. Es ist nicht zu sehen. Mein Bruder hat es berechnet. Seine Gleichung stimmte und sie haben es hier nachts an den Docks lokalisiert. Es hat irgendwas mit der Erdrotation zu tun. Es passiert immer zur gleichen Tageszeit und es ist konstant für besagte zwei Stunden. Der Studienkollege ist zuerst durchgegangen. Er machte einen Zeitsprung von acht Tagen in die Vergangenheit. Sie haben die Dauer des Lochs falsch berechnet. Er hat es nicht geschafft und starb in der Vergangenheit. Er kann nicht zweimal in der gleichen Zeit existieren. Das geht nicht. Verstehst du? Mein Bruder hat die Gleichung korrigiert und versucht das vergangene andere Ich seines Kollegen, der ja vor den acht Tagen noch lebte, zu warnen. Leider haben ihn die beiden Sicherheitsleute aus Cern, die du gestern Nacht getroffen hast, vorher erwischt.“ Wieder begann sie zu weinen. „… und schließlich sind wir beide durchgegangen. Vor ungefähr vier Tagen meiner Zeit. Und deswegen gibt es mich für zirka zwei Stunden zweimal in deinem Leben… Jetzt kannst du Fragen stellen wenn du magst.“
Jack wollte einige Sachen wissen: “Okay. Ich habe viele Fragen. Erstens: Du sagst, wir sind beide durchgegangen. Wo ist dann zum Beispiel mein anderes Ich aus der „Zukunft“? Zweitens: Warum sind wir überhaupt durchgegangen? Drittens: Weshalb diese alberne Verkleidung als du deinem anderen Ich den Brief gegeben hast? Viertens: Hast du Beweise für deine Behauptungen?“ Julia nickte: „Ja, verstehe Jack. Also: Der erste Beweis werden die Lottozahlen heute Abend sein. Ich weiß, dass ihr gespielt habt, denn ich habe das Geld. Der zweite Beweis sind meine Kratzer im Gesicht. Schau sie dir an. Sie sind doch besser verheilt als bei der jüngeren Julia… die Verkleidung. Richtig. Ich habe mich deshalb verkleidet, weil ich weiß wie skeptisch ich bin. Darum führe ich auch das Gespräch hier und heute erst mal nur mit dir. Du wirst mir glauben, das weiß ich. Stell dir vor, du begegnest jemandem, der so aussieht, wie du selbst. Und Der erzählt dir was von Lottozahlen. Wie glaubwürdig ist das? Deshalb habe ich mich bei dem treffen mit mir selbst… sagen wir mal unkenntlich gemacht. Außerdem geht nur Organisches durch das Wurmloch. Das heißt alles Anorganische wird zurückgelassen. Aber umschließe ich etwas Kleines mit der Hand oder passt es in den Mund, kann ich es mit rüber nehmen. Deshalb komme ich auch nackt hier in dieser Zeit an. Das erklärt auch die Sachen, die ich trage. Ich habe sie hier gefunden. Mehr habe ich nicht in dieser Zeit... Was wolltest du noch wissen?“ „Wo ist der „Zukunftsjack“ wollte ich noch wissen. Du sagtest wir sind beide durchgegangen.“ Julia begann wieder zu weinen. Sie konnte sich kaum beruhigen. Jack hielt es für echt. Sie beruhigte sich:“ Das ist der Grund warum ich hier bin Jack. Ich bin hier, weil du in meiner Zeit tot bist. Und ich versuche dich zu retten.“
Jack
KNARCK! Jack wird aus seinem Traum gerissen. Die Treppe! Mit etwas Glück findet er sofort zurück in seinen Traum. Seine Augen bleiben geschlossen. Was passierte gerade? Eine Insel? Ja! Die Sonne brennt, Jack liegt im heißen Sand und träumt. Hinter ihm rauscht das Meer. Er kann hören wie die Möwen...
KNARCK! Mist, wieder die Treppe! Jack öffnet die Augen einen kleinen Spalt. Sein Wecker mit Leuchtzahlen zeigt 1:33Uhr an. Es ist stockdunkel im Zimmer und totenstill.
KNARCK! Jack ist hellwach. Das kann kein Zufall sein. Die knarrenden Geräusche kommen von der hölzernen Treppe, die in sein Schlafzimmer führt. Manchmal knackt sie bei Temperaturschwankungen und eigentlich immer wenn man auf ihr läuft.
KNARCK! Das vierte Mal! Hier ist Jemand! Jack´s Herz rast. Kalter Schweiß auf der Stirn. Was tun? Das Schlafzimmer ist eine Sackgasse. Nur die Treppe führt hinein oder raus.
KNARCK! Fünf! Dieser Jemand ist sich bewusst, dass er Geräusche macht und geht absichtlich langsam hinauf. Dreizehn Stufen bis nach oben. Jack lauscht angestrengt nach anderen Geräuschen. Sind das leise Atemgeräusche?
KNARCK! Sechs! Jack hält den Atem an. Sein Puls hämmert in seinen Ohren. Er sitzt im Bett und ist hellwach. Das Licht anschalten? NEIN! Keine gute Idee. Lass es aus!
KNARCK! Sieben! Noch sechs Stufen und er ist oben. Jack überlegt verzweifelt, ob sich irgend eine Waffe hier befindet. Ein Messer? Fehlanzeige. Was hat der Andere? Was will er?
KNARCK! Acht! Mit jedem Ächzen scheint sich Jack´s Puls noch mal zu beschleunigen. Seine Schlagadern am Hals pulsieren.
KNARCK! Neun! Das Bett in dem Jack liegt, kann der Fremde erst sehen, wenn er ganz oben ist. Immerhin, eine Vorteil. Aber der Vorteil schwindet und ist auf vier Stufen geschrumpft.
KNARCK! Zehn! Jack sitz wie gelähmt im Bett.
KNARCK! Elf! Keine Idee.
KNARCK! Zwölf! Noch ein Schritt...
Julia
Wieso passt der Schlüssel nicht? Julia versucht vergeblich ihre Wohnung aufzuschließen. Ist sie auf der richtigen Etage? 307. Richtig! Warum klappt das dann nicht? In ihrer letzten Verzweiflung dreht sie am Knauf. Die Tür gibt nach. Hey, sie war gar nicht abgeschlossen. Erleichtert betritt sie den Flur. Das Licht geht automatisch an. An der Garderobe sieht sie Jennifers Jacke. Ah, sie hat aufgeschlossen. Eigentlich wollte ihre Mitbewohnerin heute Nacht bei ihrem Freund schlafen. Egal, Julia ist erleichtert, dass sie nicht allein in der Wohnung ist. Jennifers Tür ist zu. Sie schläft bereits.
Julia ist auch todmüde. Ein Blick auf´s Handy. Keine Nachrichten, keine Anrufe. Das Jack sich nicht gemeldet hat? Und es ist schon 1:50Uhr morgens. Ihre Stiefel und ihre Jacke liegen bereits in ihrem Zimmer. Das Handy wirft sie auf das Bett. `Bloß nicht hinsetzen sonst schläfst du hier im Sitzen ein` denkt sie sich.
Das Bad ist genau gegenüber von ihrem Zimmer. Beim Zähneputzen sieht sie ihr Bett im Spiegelbild. Wenn sie sich schräg vor´s Waschbecken stellt, kann sie sogar den Kleiderschrankspiegel im Schlafzimmer sehen. Mit etwas Übung hat sie es hingekriegt, dass sie sich selber beim Zähneputzen zugucken kann. Auch jetzt probiert sie es.
Aber was sie da sieht, lässt ihr das Blut in den Adern gefrieren. Eine schwarze Hand verschwindet im riesigen, dreitürigen Schrank. Zahnpasta tropft aus Julia´s Mund. Scheiße, was war das? Das war eindeutig eine menschliche Hand. Da ist jemand und versteckt sich im Kleiderschrank. Eine Gänsehaut zieht über Julia´s Arme und über den Rücken. Plötzlich friert sie. Sie schaut in ihre weit aufgerissenen Augen des Spiegelbilds.
Jennifer wecken. Aber unauffällig. Das Zimmer liegt am Ende des Ganges. Der Einbrecher soll nichts merken. Geräuschlos öffnet sie Jennifers Zimmer. Der einfallende Lichtstrahl erhellt das Dunkel soviel, dass Julia sich zurechtfindet. Sie schleicht an das Bett ihrer Freundin und rüttelt an ihren Arm. „Jennifer... Wach auf!“ Die Hand fühlt sich sehr kalt an. Und irgendwie liegt Jennifer merkwürdig verdreht da. Die Stellung des Kopfes will gar nicht zur Stellung des Körpers passen. „Jennifer?“ Jetzt begreift Julia. Ihre Mitbewohnerin liegt mit gebrochenem Genick im Bett und der Mörder ist immer noch hier.
Geschockt findet sich Julia im Flur wieder. Mist! Was soll sie tun?
Die Polizei! Aber ihr Handy liegt auf ihrem Bett. ´Nein, du gehst da nicht rein.` schießt ihr durch den Kopf.
Einfach abhauen. Julia schleicht zur Eingangstür, vorbei an ihrem Schlafzimmer. Sie wirft hastig einen Blick hinein. Eine Schranktür ist offen, aber niemand ist zu sehen. Julia rennt jetzt bis zum Eingang. Nur noch ein kleines Stück. Geschafft. Sie drückt die Klinke herunter, aber die Tür gibt nicht nach. Julia bricht innerlich zusammen. Der Mörder bewegt sich frei in der Wohnung. Julia lehnt mit dem Rücken an der verschlossenen Tür. Sie rutscht nach unten in die Hocke.
Aus der Küche kommt ein Geräusch. Ein metallisches Klicken. Es klingt wie aus einem Film. Jemand zieht den Verschluss eines automatischen Gewehres nach hinten und lässt ihn nach vorn schnippen. Damit wird die erste Patrone aus dem Magazin in den Lauf gebracht. Der Schlagbolzen ist mit Federkraft gespannt und in Lauerstellung. Die Waffe ist scharf.
Jack
Jack zieht tief die eisige Nachtluft in die Lungen. Noch schlimmer war die Kälte aber auf dem nacktem Oberkörper. Dreizehn Meter über dem Erdboden hatte Jack nur eine Schlafanzughose an. Das Dach hatte eine geschätzte Neigung von fünfundvierzig Grad. Aber es war der letzte Ausweg. Vollmond und gute Sicht. Jack´s Ziel war der Gitterrostlaufsteg, der eigentlich für den Schornsteinfeger gemacht wurde. Er verlief über den gesamten Wohnblock zwei Meter über ihm. Die Dachziegel waren rutschig und kalt. Aber er erreichte ihn. Er blickte sich um zu dem offenstehendem Dachfenster, seiner letzten Fluchtmöglichkeit. Eine menschliche Silhouette füllte das Fenster aus. Nur ein schwarzer Kopf war zu erkennen. Ein grün leuchtender Punkt in der Mitte des Kopfes... Scheiße! Der Kerl hatte ein Nachtsichtgerät. Und wer immer es war, er konnte Jack besser sehen als andersrum. Plötzlich begann ein roter Punkt auf den Ziegeln zu tanzen. Er sprang auf Jack´s Fuß und dann auf die Hose. Instinktiv rannte Jack los. Er versuchte auf dem schmalen Steg so gut wie möglich die Balance zu halten. Um ihn herum zersprangen Dachziegel. Es klang wie schweres, zerbrechendes Geschirr. Begleitet wurde das Geräusch von schallgedämpften Schüssen. Die einzige Chance, dem zu entkommen, war die andere Seite des Daches. Aber da gab es keinen Laufsteg. Jack schwang sich über die Spitze des Daches. Der einzige Halt waren die Dachsteine, an denen er sich festklammerte. Er würde versuchen langsam und kontrolliert das Dach hier herunter zu rutschen. Die Schüsse hatten jetzt aufgehört. Aber dann folgte ein Schuss und der Dachstein unter Jack´s rechter Hand zersprang. Er kämpfte um sein Gleichgewicht. Dann folgte ein weiterer Schuss. Und auch die linke Hand verlor ihren Griff. Jack konnte sich nicht mehr halten und knallte mit dem Rücken auf das Dach. Mit dem Kopf voran rutsche er der Dachrinne entgegen. Keine Möglichkeit, um das Rutschen aufzuhalten. Jack flog ungebremst über die Dachkante. Freier Fall mit Erdbeschleunigung aus Zwölf Metern Höhe... Sag gute Nacht Jack!.
Jemand
Anatolie gehörte zum Bravoteam. Zwei Team´s zu je zwei Mann. Vor der Haustür wartete Nikolai. Seine Aufgabe war zu warten bis die Zielperson in der Wohnung war und dann die Tür von außen zu verschließen. Beide standen in Funkkontakt miteinander. Ein leichtes Spiel. Nur eine Frau. Das Problem mit der Mitbewohnerin hatte Anatolie schon gelöst. Und auch bei der eigentlichen Zielperson sollte es wie ein Raubüberfall aussehen. Mit hektischen Schritten rannte die Frau an der Küchentür vorbei und rüttelte an der Eingangstür. Anatolie schmunzelte. `Sbasibo Nikolai`. Anatolie machte seine AK74 schussbereit und schob sie auf den Rücken. Für den Ernstfall. Dann zog er sein Messer, das er immer mit der Klinge nach oben an seiner Brust trug, aus seiner Halterung. Er verließ das Dunkel der Küche und betrat den erleuchteten Flur.
Der Baseballschläger traf ihn mit voller Wucht an den Knien, die sofort ihren Dienst versagten. Anatolie kippte nach vorn. Wie konnte er bloß den Schläger übersehen. Im Fallen sah er, wie sein Opfer neben der Küchentür kauert. Sie schaute ihn mit hasserfüllten Augen an und ließ den Schläger ein weiteres Mal auf ihn niedersausen. Knochen in seiner rechten Hand brachen. Vor Schmerz ließ Anatolie das Messer fallen. Die Frau nahm es auf und rannte davon in´s Schlafzimmer. Mit einer zittrigen linken Hand betätigte Anatolie den Funk:“ Idi sjuda Nikolai!“. Weinge Sekunden später sprang die Eingangstür auf. Der Lauf von Nikolai´s Kalaschnikow schob sich ins Innere. Mit ein paar Zeichen der gesunden Hand machte Anatolie Nikolai begreiflich, dass die Frau sich in der zweiten Tür rechts versteckt hielt. Mit der Waffe im Anschlag verschwand Nikolai im besagtem Zimmer.
Anatolie sank erschöpft zu Boden. Er saß keine zwei Sekunden, da betrat ein Mann die Wohnung. Er war nur bekleidet mit einer Schlafanzughose. Durchgeschwitzt, zerkratzt und mit einer blutenden Hand beäugte ihn der junge Mann. Kein Zweifel. Es war die Zielperson des Alphateams. Irgendwie hatte er es geschafft zu entkommen. Der Fremde ging in die Knie und schaute Anatolie in die Augen. Dabei legte er den Kopf zur Seite wie ein Hund. Dann sah Anatolie die blutende Faust des jungen Mannes auf sein Gesicht zu rasen.... Dunkelheit!
Anatolie erwachte. Keine Ahnung wie viel Zeit vergangen war. Aber es war nicht zu spät. Aus dem Schlafzimmer kamen Geräusche. Ächzen, dumpfe Schläge, brechende Knochen. Eine Frau schreit. Mit der linken Hand zieht Anatolie die Walther aus ihrem Halfter. Die Hand zittert. Die Frau stolpert in den Flur. Sie sieht Anatolie und seine Pistole und ändert schlagartig die Richtung ins Bad. Dann hört er sie schreien:“ JACK, VORSICHT!... KOMM INS BAD!“ Im gleichen Moment betritt die männliche Zielperson den Flur. Anatolie feuert sein Magazin leer. Aber der Rückschlag lässt die Waffe nach oben abgleiten. Er war nie eine guter Schütze mit der linken Hand. Der Mann ist aus dem Flur verschwunden und die Badezimmertür ist verschlossen. Aus dem Schlafzimmer taucht Nikolai auf. Er zieht den rechten Fuß nach und der linke Arm hängt leblos an seinem Körper. Mit seiner gesunden Hand greift Nikolai nach der Handgranate, die an seinem Gürtel hängt. Er zieht den Splint mit den Zähnen heraus. Dann steckt er die Granate unter dem extrabreitem Spalt der Badezimmertür, der wegen des fehlendem Fensters vorhanden ist, hindurch. Dann geht er an einer Wand in Deckung. Großer Gott, was wird das für eine Schweinerei geben in diesem kleinem Raum.
Einundzwanzig! Anatolie hält sich die Ohren zu. Zweiundzwanzig! Der Auftrag wäre damit erfüllt. Dreiundzwanzig! Ein ohrenbetäubender Knall und die Badezimmertür fliegt aus ihren Angeln, auf die andere Seite des Flurs. Geschafft!
Julia
Als sie die Augen öffnete, sah sie Jack´s Gesicht in Großaufnahme direkt vor sich. Ein feiner Nebel überall. Jack begann zu sprechen. Aber Julia hörte nichts, bis auf ein Dauerpfeiffen im Ohr. Ist das der Tod?
Jack löste sich von ihr. Jetzt merkte sie erst, dass sie lebten. Seine Körperwärme fehlte ihr plötzlich. Julia richtete sich auf. Die gusseiserne Badewanne hatte ihnen beiden das Leben gerettet. Kaputte Fliesen, Staub in der Luft. Es drang ein wenig Licht durch den Flur ins Badezimmer...
Tag der Veröffentlichung: 13.06.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Manuela, die viel besser schreiben kann als ich