1.Kapitel
Das schwache Licht des nächsten Tages weckte mich. Müde und verwirrt lag ich in meinem Bett und blinzelte in die Sonne. Vage Bilder eines Traumes schoben sich in mein Bewusstsein. Ich stöhnte und legte mich auf den Bauch, um weiterzuschlafen, doch irgendetwas drängelte und drückte an der Schwelle meiner Wahrnehmung.
Ich tastete nach meinem Handy und warf einen kurzen Blick auf den Wecker. Acht Uhr.
Ich zog mir die Decke über den Kopf und zog genervt die Beine an. Aber es nützte nichts, ich konnte einfach nicht mehr einschlafen, so müde ich auch war.
Aus dem Flur nahm ich Schritte wahr. Es musste mein Vater sein. "Wo gehst du hin?", rief ich ihn zu.
Die Türklinke wurde heruntergdrückt und die Tür öffnete sich. Meine Vater stand ein paar Meter von mir entfernt und grinste mich an. "Zur Arbeit."
"Du hast verschlafen", erinnerte ich ihn gähnend. "Viel Spaß."
"Werd ich haben." Plötzlich war seine Stimmung nicht mehr so gut. Er verließ mein Zimmer und schloss die Haustür auf.
"Hab dich lieb", rief ich ihm nach, aber er war schon weg.
Stöhnend streckte ich mich und schaltete das Radio an. Ein paar Minuten erlaubte ich mir noch, dann sprang ich aus dem Bett. Ich schlüpfte rasch in meine Jeans von gestern und ein pinkes Oberteil und raste in den Flur, wo ich mir eine dünne Decke um die Schultern legte. Auf der Kommode lagen noch immer meine Schminksachen. Ich brauchte nur eine Viertesstunde um mich zu Schminken, ich beeilte mich. Ich benutzte nie Make-Up, aber Kajal und Wimperntusche fehlten bei mir nicht.
Auf dem Weg in mein Zimmer drehte ich mich einmal zu der Musik und schnappte mir das Telefon.
Ich wählte die Nummer meiner Nachbarin ein. Das kleine, dünne Mädchen kannte ich seit ihrem ersten Tag in dieser Stadt. Larissa und ich verstanden uns von Anfang an gut, damals waren wir fünf gewesen. Und jetzt waren wir immerhin schon zwölf Jahre alt. Diese Freundschaft würde nicht allzuschnell enden.
Ich drückte das graue Telefon an mein Ohr und stellte die Musik leiser, als jemand abnahm.
"Hallo, Leiendecker."
"Hi Lari", begrüßte ich sie fröhlich und lies mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen.
"Was gibt's?"
"Esst ihr gerade oder so?"
"Nein."
"Gut. Ich wollte nur schnell fragen, ob du heute Zeit hast?" Eigentlich müsste ich gar nicht auf die Antwort abwarten - wir trafen uns fast jeden Tag, selbst wenn Besuch da war; wenn ich fragte hatte sie immer Zeit und umegekehrt genauso. Meistens kam sie nach der Schule noch mit zu mir. Und wenn wir uns einmal nicht sehen konnten, schrieben wir Sms, telefonierten oder schrieben uns durch's Internet.
"Nein."
Ihre Antwort kam wie ein Schlag ins Gesicht. "Wieso?", fragte ich verwirrt.
"Ich habe keine Zeit", sagte sie uninteressiert und zum ersten Mal kam mir ihre Stimme unfreundlich vor.
"Was machst du heute?" Ich spürte selbst, dass meine Stimme gekränkt klang, und konnte nur hoffen, dass sie es nicht bemerkte.
"Ich treffe mich mit jemandem."
"Mit wem denn?", wollte ich wissen.
"Mit der Becci."
"Ach so." Rebecca ging in unsere Klasse. Anfangs mochten wir sie nicht, aber irgendwann in der sechsten Klasse begannen wir, uns mit ihr zu treffen. Seit dem waren wir ein Team und schwer trennbar. Wir setzten uns für den jeweils anderen ein, egal was geschah.
"Wir könnten uns zu dritt treffen?", schlug ich mit einem Blick auf den Kalender vor. Es war der erste Mai, ein Feiertag, den man mit seinen Liebsten verbringen sollte. Schon jetzt freute ich mich riesig auf den gemeinsammen Abend mit meinen zwei besten Freundinnen. Ich war mir sicher, dass Larissa nichts dagegen hätte, sie verstand mich wahrscheinlich sogar besser als ich mich. Sie wusste alles von mir, und ich alles von ihr. Eine Gelegenheit wie diese kam nicht oft vor - es würde ein schön warmer Tag werden, es gab etwas zu feiern und wir drei könnten endlich mal wieder etwas zusammen unternehmen. Das letzte Treffen lag schon so weit zurück, denn Rebecca wohnte in Habitzheim, es war nicht weit von Reinheim entfernt, aber bei so viel Schule blieb einem kaum Zeit. Wenn wir uns zu dritt trafen hatten wir immer viel Spaß, wir machten die unsinnigsten Dinge und konnten einfach zusammen lachen.
"Nein."
Ihre Worte - wie Schüsse. Für einen Moment blieb mir die Luft weg. "Wieso?", fragte ich mit erstickter Stimme.
"Ich treffe mich nicht gern zu dritt."
Ich verstand gar nichts mehr. Früher hatten wir doch auch immer so viel Spaß, und das lag nicht einmal so lange zurück.
"Und das weist du auch", fügte sie barsch hinzu.
"Nein", flüsterte ich - sie konnte es nicht gehört haben. Ich schluckte und wartete einen Augenblick darauf, dass sich meine Stimme wiederfand. "Aber morgen ist doch der erste Mai!", bat ich sie traurig, und ich wusste, dass sie meine schlechte Stimmung bemerkt haben musste.
"Ja und?"
"Komm schon. Ich möchte nicht am ersten Mai alleine daheim sein! Bitte!"
"Nein."
Ich atmete tief durch. "Ist gut", meinte ich und legte auf.
Das Telefon fiel mir aus der Hand und knallte auf den Boden, wo es in seine einzelnen Bestandteile zerviel. Ich verstand nicht, was mit meiner besten Freundin los war - sie kam mir fremd vor. Eine kleine, unerwünschte Träne staute sich in meinen AUgenwinkeln, ich wischte sie schnell weg und hatte sofort meine ganze WImperntusche an der Hand kleben.
Ich schniefte traurig und sammelte das Telefon wieder auf.
Tag der Veröffentlichung: 10.05.2010
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