Vertrauen
Vertrauen kann hart sein,
es ist kein Spiel.
Vertrauen kann schön sein,
denn jeder mag dieses Gefühl.
Vertrauen muss da sein.
Ich brauche es doch.
Vertrauen muss stark sein,
nur so stopft es das Loch.
Doch wenn du einmal lügst,
und es einmal versaust,
Wenn du einmal das Vertrauen eines Freundes missbrauchst,
dann wirst du es vermissen,
das Gefühl von Vertrauen,
wirst flehen,
dich danach sehnen.
Auf wen willst du jetzt bauen?
Jeder der liebt, braucht auch das Vertrauen.
Erste Begegnung
Schweigend starrte ich auf die Straße vor mir, sie hatte durch den vielen Regen eine pechschwarze Farbe angenommen. Das Wasser, das in unglaublichen Mengen vom Himmel herab klatschte, überschwemmte die großen Wiesen rechts und links am Straßenrand und ließ ein ohrenbetäubendes Trommeln auf dem dünnen Blech des Autos entstehen. Der Himmel war bedeckt von schwarzen und dunkelgrauen Wolken, die keinen einzigen Sonnenstrahl hindurch ließen. Die Scheinwerfer des Wagens waren die einzige Lichtquelle auf dem unbefahrenen Weg. Trotz des Lichts war kaum etwas zu sehen, die großen Wassermengen erschwerten das einem. Ich blendete das laute Brummen des Wagens und das Trommeln auf dem Dach vollständig aus, und seufzte erleichtert, als ich feststellte, dass es mir gelang.
Mit einem schnellen Blick fasste ich den vor Glück strahlenden Blick von Nicole – meine viel zu einsamen Mutter – auf. Ich hatte sie schon lange nicht mehr so glücklich gesehen, und wahrscheinlich war es deshalb auch so ein komisches Gefühl. Aber ich spürte, wie ihre Freude auf mich abfärbte, und das machte mich nervös, denn eigentlich hatte ich keinen Grund für solche Gefühle. Seit sie sich von meinem Vater Jan Reß getrennt hatte und ich mich entschieden hatte, mit ihm und seiner neuen Frau nach New York zu ziehen (wahrscheinlich mein größter Fehler überhaut, wenn man es mit einer Sicht der Dinge sah; aber wenn man berücksichtigte, dass ich so aus diesem traurigen, winzigen Ort herausgekommen war, war es alles andere als ein Fehler), war sie nicht mehr sie selbst gewesen, sie hatte sich dadurch vollkommen geändert. Seit dem war ich nur in den Ferien zu ihr gekommen. Nicht, dass ich nicht zu ihr wollte – ihre leblose Art wäre mir nie ein Grund dafür gewesen, sie nicht zu besuchen. Aber diese immer von Wolken bedeckte Kleinstadt war für mich mit der Zeit wie ein Gefängnis geworden. Sonne und schönes Wetter kamen hier so selten vor, dass man sich gut vorstellen konnte, nach einer längeren Zeitspanne Depressionen zu bekommen, und die Wärme hatte mir in den Wochen bei Nicole immer gefehlt – das würde sich auch nicht ändern, zu hundert Prozent.
Irgendwann brach Nicole das Schweigen.
„Freust du dich schon auf die Schule?“
Ich verzog das Gesicht, bei der Vorstellung daran. Neue Leute, neue Lehrer. Und mitten im Schuljahr dazuzustoßen war auch nicht gerade sehr aufmunternd. Es würde ein sehr schwerer einstieg für mich werden. Wie viele Jahre würde ich brauchen, um mich letztendlich wohl zu fühlen? Oder – da wohl fühlen sowieso nie eintreten würde – mich wenigstens einzuleben? Zwei Jahre? Drei? Wahrscheinlich noch mehr.
Nicole lachte kurz über meine Mimik – es klang etwas gezwungen, und doch war ihre Stimme voller Glück, so melodisch und sanft. Es hatte etwas entspannendes an sich.
Ich seufzte etwas neidisch darüber, als ich im Vergleich dazu an meine Stimme dachte.
„Ach, das wird schon Schatz!“, sagte sie aufmunternd, aber ich kannte sie zu gut, um nicht zu wissen, dass auch sie ihre Zweifel hatte.
Mein Blick schweifte zu ihr hinüber. Ihre hellbraunen Haare glänzten schwach in der Dunkelheit. Nervös kaute sie ein wenig auf ihrer Unterlippe, so dass eine Reihe glänzend weißer Zähne zu sehen war. Die roten, vollen Lippen passten perfekt zu ihrer leicht gebräunten Haut. Ihr ganzes Gesicht betonte besonders ihre haselnussbraunen Augen mit den langen Wimpern. Die hohen Wangenknochen hatten einen leichten Rot-Ton. Sie wirkte so natürlich und trotzdem unvergleichlich schön. Sie passte zu den Leuten an meiner alten Schule – zumindest von außen betrachtet. In dieser besagten Schule liefen fast alle Mädchen wie Models rum – ich hatte nie zu all den Leuten dort gepasst. Natürlich gab es auch andere Leute, die nicht so waren, aber ich konnte mich trotzdem niemandem zuordnen. Und wenn ich schon an einer Schule mit über viertausend Schülern keinen Anschluss gefunden hatte, wie sollte es dann an einer Schule mit unter vierhundert Schülern werden – hier in meiner neuen Heimat? Ich schauderte.
„Mach dir keine Sorgen, Maus!“ Sie nahm die eine Hand vom Steuer und legte sie mir sanft auf die Schulter. „Du wirst schnell neue Freunde finden“, versprach sie mir, jetzt klang sie schon zuversichtlicher. Ihre Stimme war so leise, dass ich sie kaum verstand und doch hörte ich die Führsorge aus den klingenden Tönen. Das machte mich ein wenig traurig, wenn ich daran dachte, wie ich mich vor ihr zurückgezogen hatte, wie ich sie verletzt hatte. Und doch liebte sie mich noch genauso, wie früher.
Ich zwang mich zu einem Lächeln. Nicole grinste glücklich zurück.
Wieder haftete mein Blick an ihrem Gesicht. Ich wusste, es gab hübscher Wesen als sie, irgendwo – aber hatten diese dann auch ein so reines Herz? Eine so unendliche Liebe? Ich glaubte, die Antwort zu wissen. Und sie lautete Nein.
Ich warf einen kurzen Blick in den verdreckten Seitenspiegel und betrachtete mich darin. Ich hatte die Haare von meiner Mutter, sie waren leicht gewellt am Rücken und glänzten schwach im Licht. Aber statt Hellbraun hatten sie ein holzfarbenes Dunkelbraun. Meine Lippen waren voll und blass. Ich hatte dieselbe helle und sanfte Haut wie Jan, womöglich sogar noch einen ganzen Ton heller. Sie war cremefarben weiß, ein starker Kontrast zu meinen fast schwarzen Haaren, die mir bis zur Mitte des Rückens hinabflossen. Meine Augen hatte ich, so wie die Haare, von Nicole abbekommen und ich war stolz darauf. Ich mochte die Farbe meiner Haare. Ein sattes Haselnussbraun.
„Ich weis, Mam. Ich weis ...“ Meine Stimme brach ab. Ich war eine schlechte Lügnerin, viel zu leicht zu durchschauen.
Nicole strich mir sanft über den Hals. Sie sah zufrieden aus. Hatte sie meine kleine Lüge nicht bemerkt? Das war außergewöhnlich, vor allem für sie.
„Wir sind gleich da.“ Sie nahm die warme Hand von meiner Schulter und legte sie wieder ans Lenkrad.
Gequält warf ich einen Blick nach draußen. Der Regen war inzwischen in ein leichtes Nieseln gewechselt, aber es war trotzdem noch dunkel, obwohl es erst ein später Nachmittag im Mai war.
Wenigstens etwas, sagte ich mir trocken.
Langsam fuhren wir in die Stadt. Die vielen Häuser, an denen wir vorbeifuhren, kamen mir alle bekannt vor. Ich kannte die Besitzer von jedem dieser Häuser sowohl mit Namen als auch vom Aussehen her. Ich hatte kein besonders gutes Gedächtnis, aber was blieb einem schon anderes übrig, wenn die Mutter mit der Hälfte der Stadt verwandt war und mit der andern Hälfte eng befreundet war?
Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen, um die letzten paar Minuten zu genießen, bevor ich hinaus in die Nässe musste.
Kurze Zeit später wurde der Wagen noch langsamer - das merkte ich daran, dass der Motor lauter wurde, weil Nicole wie immer vergas, den Gang umzuschalten - und meine Mutter stellte das alte Auto auf seinen gewohnten Platz am Straßenrand.
Wider Willen öffnete ich die Augen, und blinzelte aus dem Fenster. Mein nervöser Blick viel auf mein neues Zuhause, und ich schnappte kurz nach Luft. Das Haus überwältige mich. Es sah aus, wie direkt aus einem alten Film entsprungen.
Das große Haus war in einem hellen Blau-Ton gestrichen. Hinter den weißen Fensterrahmen hang ein schwerer, dunkelblauer Vorhang. Eine breite Holztreppe führte auf die Veranda, die ebenfalls aus weiß gestrichenem Holz bestand. Die alte Lichterkette, die ich noch von Weihnachten vor fünf Jahren kannte, ringelte sich um das Geländer der Veranda, die von einem niedrigen, weißen Holzdach bedeckt wurde. Durch den winzigen Vorgarten führte ein schmaler Weg aus hell- und dunkelgrauen Mosaiksteinen zur Haustür. Zwischen den langen, sattgrünen Grashalmen wuchsen die verschiedensten Blumen in allen vorstellbaren Farben - die roten gefielen mir am besten. Ein kleiner – sehr, sehr kleiner – Teich war umgeben von einer Reihe Steine, man konnte ihn in dem hohen Gras kaum sehen. Das Wasser war sehr dunkel – grau oder vielleicht sogar schon schwarz, das lag wohl an dem wenigen Licht. Um die Haustür herum wuchsen in einem großen Bogen schneeweiße Rosen – diese hatte meine Mutter am allerliebsten.
Dieses Haus war garantiert mit Abstand das schönste in der Umgebung und mein Mutter war sehr stolz darauf.
Ich hörte, wie die Autotür auf der Fahrerseite zuschlug, und schluckte. Würde ich es aushalten, so lange hier zu bleiben? Bis zu meinem Abschluss? Oder gar bis ich auszog? Panik ergriff mich bei diesem grausamen Gedanken, denn ich wusste die Antwort. Ich war mich so sicher, dass es beinah erschreckend war. Ich würde es aushalten, ja – zum Wohle meiner Mutter -, aber ich würde in diesem verlassenen Kaff verrückt werden. Ich hasste diesen Ort wie die Pest und, ich war mir ganz sicher, es würde sich auch nichts daran ändern. Ich hoffte, ich läge im Unrecht, aber es war voraussehbar, dass es sich ins Gegenteil meiner Hoffnungen entwickeln würde – so war es immer.
„Hannah. Komm, steig aus.“
Nicole war schon am Kofferraum und zog meine zwei kleinen Koffer in den Regen. Die Tropfen hinterließen kleine, dunkle Punkte auf dem Pfefferminzgrünen Stoff.
Angespannt öffnete ich die Tür und stieg hinaus in die unangenehme Kälte. Die eisigen Tropfen klatschten mir auf eine harte, unangenehme Weise auf die Haare. Ich verzog das Gesicht, dann nahm ich meine neue Regenjacke – ich und Janina, meine Stiefmutter, hatten extra für meinen Aufenthalt bei Nicole eine gekauft – von der Rückbank und zog sie mir über.
Janina hatte einen guten Geschmack, was Mode anging. Sie war immer zu darauf bedacht, einen guten Auftritt vorzulegen. Nein, einen perfekten Auftritt. In ihrem gesamten Leben musste alles perfekt sein. Sie wollte einen Ehemann – den hatte sie mit Jan nun gefunden -, ein eigenes Kind – das war schon im Anmarsch; ich hoffte darauf, dass es eine kleine Schwester werden würde -, einen tollen Beruf hatte sie auch schon als Masseurin, sie besaß ein riesiges Haus mit Pool und Sauna, das man schon fast als Villa bezeichnen konnte. Was wollte sie noch? Die Antwort war leicht: Sie wollte alles, was man haben konnte – dabei hatte sie doch schon so vieles. Sie wollte an die Spitze. Wollte berühmt werden, und dieser Wusch war auch noch dabei, sich zu erfüllen. Zusammen mit meinem Vater waren sie in ganz Europa schon ein bekanntes Tanzteam. Ich fragte mich immer noch, was Jan an ihr so toll fand. Sie hatte zwar eine Modelfigur und sah einfach spitzenmäßig aus – trotzdem nicht unbedingt besser als Nicole -, aber ihr Charakter machte sie in meinen Augen hässlich. Wahnsinnig hässlich.
Nicole kam mit den Koffern zu mir.
„Ich trag das schon für dich“, meinte sie, als ich meine Hand ausstreckte, um die Koffer entgegenzunehmen.
Ich hatte keine große Lust auf ein Gespräch, also zuckte ich nur beiläufig mit den Schultern und lief ihr schweigend nach zur Tür.
Im Schutz des Vordaches schlüpfte ich wieder aus der Jacke. Ich war Regenjacken einfach nicht gewohnt - in New York regnete es fast nie.
Ein paar Sekunden später stieß meine Mutter die Tür auf und die Wärme strömte uns entgegen – das war ein erleichterndes Gefühl. Die Wärme tat gut.
Nicole griff wieder nach meinen Koffern und ging in den weißen Flur. Langsam folgte ich ihr und sah mich um.
Die Wände des weiß gestrichenen Flurs waren größtenteils mit alten Bildern von mir und Juna – meine Hündin, die momentan noch bei Jan untergebracht war - bedeckt. Ich stöhnte leise.
Schweigend liefen meine Mutter und ich die hellblaue Metalltreppe hinauf. Oben angekommen drückte Nicole den Türgriff an der hübschen Holztür, die mir unbekannt vorkam, also musste sie neu sein, hinunter – machte sie das mit Absicht so langsam oder war ich vor lauter Spannung einfach nur sehr ungeduldig? – und in einem fast unerträglichem Schneckentempo kam das Zimmer in Sicht. Meine Mutter trat einen Schritt zu Seite, machte mir Platz, damit ich vor ihr das Zimmer betreten konnte – das war so ihre Art -, und ich drehte mich einmal, um alles ganz genau zu bestaunen.
Es gab ein großes, weißes Himmelbett an dessen Seiten hellblaue, durchsichte Seidenvorhänge hinunterbaumelten, die fast unsichtbar schienen, und leicht im kühlen Wind, der sanft durch das geöffnete Fenster hereinblies, bewegt wurden. Die Bettwäsche war ebenfalls in einem hübsches Hellblau, nur war die Farbe satter und dunkler als die durchsichtige Seide. Eine strahlend weiße Orchidee stand auf der Fensterbank und erfüllte den kleinen Raum mit einem blumigen Duft. Ein glänzend dunkelblauer Schreibtisch stand direkt neben meinem weißen Kleiderschrank und war überseht von denselben Bildern wie im Flur, sie lagen kreuz und quer auf der Schreibtischunterlage.
Mir fiel auf, dass alles dem Haus perfekt angepasst war. Die ganzen neuen Möbel, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte, waren weiß oder blau – Nicole war diesen Farben ganz klar verfallen -, und mir klappte der Mund auf. Ich erkannte mein altes Zimmer gar nicht wieder.
„Wow“, brachte ich mühsam heraus.
Nicole lachte leise.
„Ich meine es ist – wow. Nicole, du hast das doch nicht etwa alles nur für mich gemacht, oder?“, fragte ich etwas aufgebracht. „Das muss doch ein Vermögen gekostet haben!“
„Ich habe einen guten Job, Schatz“, besänftigte Nicole mich sanft und stellte meine Koffer vors Bett.
Ach ja, stimmt. Nicole war Schauspielerin. Sie arbeitet den ganzen Tag am Set, hatte dafür aber keinerlei Geldsorgen oder ähnliches. Im Gegenteil - sie wusste teilweise gar nichts mit dem vielen Geld anzufangen. Es war ihr absoluter Traumjob. Ich hatte wohl noch nie jemanden erlebt, der sich so in seine Arbeit stürzte.
Dann küsste sie mich leicht auf die Stirn – ihre warmen Lippe gaben mir etwas Vertrautes; ich wusste nicht was, und das beunruhigte mich komischer Weise - und verschwand nach unten. Sie wusste, dass ich gerne allein war, vor allem jetzt, wo es so vieles Neue gab.
So wie ich meine Mutter kannte, hatte ihr das Umgestalten meines alten Zimmers so viel Spaß gemacht, dass sie gleich mit dem Rest des Hauses weitergemacht hatte. Ich würde nachher - oder spätestens morgen - ja noch rausfinden, ob ich Recht hatte oder nicht. Aber ich war ziemlich sicher.
Also brauchte ich mir jetzt nicht den Kopf darüber zu zerbrechen. Es gibt andere Dinge, über die du nachdenken kannst - welche die wichtiger sind, sagte ich mir, aber mir fiel nichts ein, über das ich nachdenken sollte.
Mein Gehirn war wie ausgelöscht. All meine Erinnerungen waren in meinem Kopf verbrannt - oder vielleicht auch eher verätzt. Mein Kopf fühlte sie leer an – es war keine Asche übrig geblieben, nichts das auch nur den entferntesten Erinnerungsschleier zurückbringen könnte.
Darüber dachte ich eine Weile nach, um mich abzulenken. Also konnte es kein Feuer gewesen sein, beschloss ich schließlich.
Ich stellte mich an das offene Fenster. Der Himmel war grau.
Die Wärme, die Sonne und der heiße Sand des Strandes unter meinen Füßen würden mir fehlen - so sehr, dass der Gedanke daran beinah unerträglich war. Er war erschreckend schmerzlich.grau
Eine Welle Heimweh überkam mich und ich merkte, wie meine Augen nass wurden. Ich hielt die Tränen nicht auf – dazu fühlte ich mich zu schwach - und ließ sie einfach kühl über meine Wangen rinnen. Es war ein endloser Sturzbach von Wasser, der aus meinen Augen strömte.
Ich ließ mich auf die Bettdecke sinken – mit Klamotten und Schuhen – und drückte mein Gesicht schluchzend ins Kissen, um mich zu beruhigen. Der jetzt starke Winde, der in den Raum blies, wehte mein Haar hoch, damit es kurz darauf wieder auf meine Schultern sinken konnte.
Es war eiskalt, ich begann zu zittern. Es kam mir so vor, als würde das Bett unter mir beben, so stark war das rüttelnde Gefühl. Ich war so müde, dass ich mich nicht bewegen konnte. Ich fühlte mich taub, am ganzen Körper, und das Schütteln verstummt langsam.
Die Dunkelheit übermannte mich.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war es erst sieben Uhr. Das sagte mir zumindest der Digitalwecker auf meinem Nachttisch, der aus einem glänzenden Metallgestell und zwei Glasplatten – eine oben, eine unten – bestand. Aber ich hatte keine Ahnung, ob der Wecker richtig ging, oder ob ich überhaupt auf die richtige der vielen kleinen Zahlen schaute. Mit solchen modernen Dingern kannte ich mich nicht gut aus. Wahrscheinlich gehörte ich eher zu den altmodischen Jugendlichen im Alter von siebzehn Jahren, aber das interessierte ja niemanden, warum also sollte ich etwas daran ändern.
Ich schob die dünne Decke zur Seite und setzte mich auf die Bettkante. Die Seide am Bett, die wellig bis zum Boden hinabfloss, kitzelte mich an der Nase und störte meine Sicht ein wenig, also schob ich den leichten Vorhang hinter mich.
Von dort aus konnte ich mich in dem Spiegel, der an der bläulichen Wand vor mir hang, betrachten. Aber ich bestaunte zuallererst den Rahmen. Weiße Metallrosen ringelten sich am Rande des Spiegels entlang.
Dann wendete ich den Blick von den Blumen ab, und musterte mein Spiegelbild. Ich seufzte. Meine dunklen Haare waren zerzaust und ich hatte tiefe Augenringe - ich war in dieser Nacht mehrmals aufgewacht. Immer wieder hatte ich denselben Traum gehabt. Es war kein direkter Albtraum gewesen, aber trotzdem hatte er mich in dieser Nacht in Schrecken versetzt.
Ich saß im feuchten Gras auf einer hübschen, kleinen Lichtung im Wald und beobachtete die schneeweißen Wattebauschen am Himmel, wie sie durch die Luft getrieben wurden. Ich versuchte zu erkennen was für Bilder sie darstellten – Tiere, Möbel oder auch Menschen. Die Sonne am strahlend blauen Himmel blendete mich ein wenig. Von den vielen Wildblumen, die mich umgaben, kam ein verführerisch süßer Duft – er schien berauschen - und Schmetterlinge flatterten in all ihrer Pracht durch die Luft. Einer von ihnen setzte sich kurz auf meine Hand, seine kleinen Beinchen kitzelten mich, und flog dann weiter zu Seinesgleichen. Ich beobachtete die außergewöhnliche Schönheit seiner bunten Flügel. Plötzlich zog sich der Himmel zu und eiskalte Wassertropfen klatschten mir unbarmherzig ins Gesicht. Alles Licht verschwand und es war nur Leere, Dunkelheit und der Regen übriggeblieben. Kälte umhüllte mich und ich begann, panisch zu zittern.
Das war die Stelle, an der ich immer wieder aufgewacht war. Ich war mir sicher, der Traum würde keine Bedeutung haben.
Ich rieb mir verschlafen die Augen und ließ meinen Blick durch das Zimmer huschen. Ungläubig verharrte er am Fenster. Ich starrte hinaus auf den blauen Himmel.
Was war das denn? Wo war das schlechte Wetter hin?
Der Raum war von gleißendem Sonnenlicht erfüllt. Ich war sofort auf den Beinen und lief vor zum Fenster, um die Wärme auf dem Gesicht zu spüren.
Vielleicht war dies ja mein Willkommensgeschenk? Bei dieser Verstellung musst ich unwillkürlich lächeln.
„Ein Wunder“, murmelte ich und lief zu meinen Koffern, die immer noch unberührt vor dem Bett standen.
Verzweifelt suchte ich nach einem T-Shirt und einer Dreivierteljeans – ich hatte nicht mit gutem Wetter gerechnet. Nach einigen Minuten hatte ich meine dunkelblaue Lieblingsbluse und eine schwarze Dreivierteljeans gefunden.
Ich zog mir die Sachen in Rekordzeit an und schlich – Nicole wäre bestimmt nicht glücklich, würde ich sie so früh wecken - die Treppe hinunter. Ich wollte so schnell es ging ins Freie. Bei einem solchen Wetter durfte ich keine Sekunde der Wärme verlieren, schließlich musste ich bald eine lange Zeit ohne sie weiterleben.
Die normal leere Straße war heute bevölkert von der gesamten Nachbarschaft. Die kleinen Kinder spielten Ball oder malten mit Kreide bunte Bilder auf den Asphalt. Einige ältere Leute fegten oder unterhielten sich bei der Gartenarbeit über den Zaun hinweg miteinander. Die jungen Erwachsenen sonnten sich in ihren Gärten oder waren damit beschäftigt, sich um ihre kleinen Kinder zu kümmern. Jeder schien das Sonnenlicht genauso zu genießen wie ich.
Einige Leute winkten mir freundlich zu. Ich erinnerte mich noch schwach an ihre Namen – Mrs Guillaumet, Mr Jewellery und Mr Corner. Mein Kopf schien sich langsam wieder zu füllen, die Erinnerungen kamen zurück, wenn auch nur schemenhaft. Ich lächelte ihnen höflich zu und ging weiter.
Der Weg zum Stadtpark war nicht lange und ich war innerhalb von zwanzig Minuten dort. Am Rande der großen Grünfläche war eine Reihe von Tannen und zwei große Eichen standen mitten auf der Wiese. Kleine Kinder rannten vergnügt über den feuchten Rasen und eine Gruppe von den schon etwas älteren Kindern – vielleicht waren sie im Grundschulalter - sah zu, wie ihre Hunde miteinander über die Wiese rasten und miteinander tobten.
Ich setzte mich auf eine Bank, abseits der vielen Leute, die alle schon so früh aufgestanden waren wie ich – wie seltsam. In New York hätte dies niemand getan - oder vielleicht doch, wenn sonst immer ein so schlechtes Wetter war wie hier? Ich wusste es nicht.
Die Sonne strahlte mir ins Gesicht und ich blinzelte zum blauen Himmel hinauf. Es kam mir falsch vor, dieses vertraute Gefühl an einem Ort wie diesem zu verspüren. An einem Ort, den ich so abgrundtief hasste.
Der einzige Grund, der mich hierher – zu meiner Mutter – geführt hatte, war dass ich es nicht ertragen konnte, Nicole so unglücklich zu sehen. Und wenn ich sie durch meine bloße Anwesendheit wieder glücklich machte, musste ich diese kleine Qual eben über mich ergehen lassen. Es war nur ein geringer Preis. Das war ich ihr schuldig.
Leise Schritte rissen mich aus meinen Gedanken. Ich senkte den Blick vom Himmel. Ein zierliches Mädchen kam auf mich zu. Sie musste so ungefähr in meinem Alter sein. Ihre schulterlangen, braunen Haare wurden vom Wind zurückgeweht und auf ihren Hellblonden Strähnchen reflektierte das Licht ein wenig. Um ihren Mund spielte ein zartes Lächeln. Mit federleichten Schritten kam sie auf mich zu.
„Hi.“ Sie setzte sich neben mich, als wären wir alte Bekannte, oder gar gute Freunde.
Ich hatte wirklich mit allem gerechnet, nur nicht damit. Wie sollte ich denn darauf reagieren? Vielleicht mich wegsetzten? Aber das kam mir zu unhöflich vor, das war es ja schließlich auch.
„Ähm, hi“, stammelte ich verwirrt.
Sie lachte ein helles Lachen und schob sich eine längere Strähne ihres Ponys hinters Ohr.
„Ich bin Larissa“, stellte sie sich grinsend vor und musterte mich.
„Ich bin Hannah.“ Meine Stimme klang verwirrt und zwischen meinen Augenbrauen bildete sich eine Falte.
Warum war dieses fremde Mädchen zu mir gekommen? Diese eine Frage schwirrte mir schwindelerregend schnell durch den Kopf.
Sie grinste noch breiter. „Ich weis.“ Ihre braunen Augen leuchteten voller Neugierde. „Wie ist es so in New York?“, fragte sie aufgeregt.
Ich kniff die Augen zusammen und ignorierte ihre Frage. „Kenne ich dich?“, fragte ich stattdessen skeptisch und zog eine Augenbraue nach oben.
Sie überlegte kurz, dann sagte sie ruhig: „Wenn du dich noch an mich erinnerst, dann wohl schon.“
Wenn ich mich noch an sie erinnere? Was sollte das denn bitte heißen? Kannte ich sie nun oder nicht? Ich wurde aus diesem Mädchen einfach nicht schlau.
Wie hieß sie noch gleich? Larissa? In meiner Erinnerung tauchte niemand mit diesem Namen auf, niemand. Wie merkwürdig.
„Und zu deiner Info: Nicole hat kein Auge zugedrückt, mit deiner Ankunft zu prahlen, also sollte es dich nicht überraschen, wenn Fremde deinen Namen kennen.“ Sie lächelte mir zu. „Nur so als Tipp, ja?“
„Prahlen?“, rief ich mit erstickter Stimme, und ignorierte die Leute, die mich besorgt musterten.
Wer wusste alles, dass ich hier war – oder, vielleicht besser ausgedrückt, wer wusste es nicht? Und wie konnte Nicole mir nur so etwas antun – kannte sie mich denn so schlecht? Wütend biss ich mir auf die Unterlippe.
Larissa kicherte leise und nickte grinsend. Sollte ich mir Sorgen machen? Wer so ununterbrochen grinste musste doch irgendeine Krankheit haben – das konnte doch nicht gesund sein! „In der Schule wartet schon jeder auf das ‚Reß -Mädchen’.“
Reß -Mädchen? Das kam also dabei heraus, wenn man so einen ungewöhnlichen Nachnamen wie „Reß“ hatte. Na toll!
„Ist das dein Ernst?“, knurrte ich. Ich war etwas erschrocken über mich selbst. So aufgebracht kannte ich mich gar nicht. Normalerweise war ich so eine, die unangenehme Ereignisse einfach verdrängte und eine annehmbare Lösung für die Probleme suchte. Aber das ...
Larissa verzog das Gesicht. „Nicole hat es nicht böse gemeint“, verteidigte sie meine Mutter, und ich wusste, dass sie Recht hatte. Also atmete ich einmal tief durch, um mich wieder zu fassen.
„Du kennst Nicole?“, fragte ich angespannt, ich hatte mich noch immer nicht ganz im Griff.
„Klar kenne ich sie!“ Larissa lachte kurz auf. „Ich kenne hier so ziemlich jeden.“ Sie zeigte auf eine kleine Familie, die im nassen Gras picknickte. „Das sind zum Beispiel Jannika und Ben mit ihren Kindern Jessica und Sabrina.“
Ich verzog das Gesicht. Ich hatte in meiner Panik völlig vergessen, dass es unmöglich war, nicht jede einzelne Person bei Namen zu kennen – aber das hatte ich natürlich auch nicht gemeint. „Ich meinte, kennst du Nicole persönlich?“, fragte ich etwas ungeduldig.
„Nicole ist die beste Freundin meiner Mutter“, erklärte Larissa.
Aha. Jetzt ergab es natürlich einen Sinn.
Deshalb war sie also zu mir gekommen. Ob ihre Mutter sie wohl darum gebeten hatte, sich um mich zu kümmern? Automatisch wurde mein Gesichtsausdruck hart. Ich brauchte niemanden, der sich um mich kümmerte. Ich kam auch ganz gut allein zurecht!
„Ach so“, sagte kühl, und bereute es sofort. Ich musste damit aufhören! Diese Stadt verdrehte mir meinen Verstand – ich war nicht mehr Ich selbst.
Larissa schien meinen Stimmungswechsel nicht bemerkt zu haben. Zumindest grinste sie immer noch. Aber das muss bei ihr wohl nicht viel zu bedeuten haben, schloss ich aus ihrer Dauerstimmung.
„Also, wie ist es? In New York, meine ich?“
Ich wollte nicht mehr unhöflich sein, ich wollte Ich selbst sein! Also überlegte ich kurz. „Äh, warm.“
Larissa lachte wieder. „Kein Vergleich zu hier, was?“
Sie war so aufgeregt, dass ich mich wunderte, wie sie so still sitzen konnte. Aber sie saß ganz gelassen auf der Bank, neben mir. Und schon wieder wurde ich nicht aus ihr schlau. Sie verwirrte mich.
„Nein, nicht wirklich.“ Ich schüttelte den Kopf und biss mir niedergeschlagen auf die Lippe.
Ich beobachtete die grinsende Larissa. Sie hatte anscheinend nichts zu sagen und wartete darauf, dass ich etwas tat.
„Wie hältst du dieses Wetter bloß aus?“, fragte ich nach kurzem Schweigen.
Zu meiner Verwunderung war es ganz leicht, sich mit der Fremden zu unterhalten. Auch damit hatte ich nicht gerechnet.
Dieser Tag schien mich immer und immer wieder aufs Neue zu überraschen. Was würde als Nächstes passieren? Vielleicht würde ein Meteor direkt vor mir einschlagen, und mich und alle anderen in Stücke zerreißen. Irgendwann musste das Glück ja einmal vorbei sein.
Larissa schüttelte leicht den Kopf und ein Lächeln zuckte um ihre Lippen.
Wenigsten grinst sie nicht mehr – vielleicht muss ich mir doch nicht so große Sorgen machen, dachte ich erleichtert. Es war zwar schön, dass es Menschen gab ,die immer von einer lebhaften Freude umgeben waren, aber man konnte auch zu weit gehen. Zu viel Freude konnte wirklich nerven. Doch im Grunde hatte ich nichts gegen das kleine Mädchen. Sie war auf den ersten Eindruck sehr nett.
„So schlimm ist es nicht. Aber – bleibst du nicht hier?“
„Doch.“ Ich schluckte. Larissa hatte genau das Thema getroffen, dass ich am meisten versuchte zu umgehen – daran zu denken war nicht gut. Ich schauderte bei der Vorstellung, hier für immer zu bleiben.
Larissa verdrehte die Augen. Sie grinste schon wieder. „Du wirst es überleben!“
„Ja, das wird wohl so sein. Hier gibt es aber auch keine wirklichen Gefahren“, sagte ich mürrisch und versuchte angestrengt, zu lächeln.
Es klappte. Larissa schien nicht zu bemerken, wie viel Mühe es mich kostete.
„Ich denke nicht.“ Meine neue Bekanntschaft legte den Kopf schief und musterte mich wieder. „Du bist Nicole sehr ähnlich.“
Ich lächelte sanft, diesmal war es ein ehrliches Lächeln. „Danke, Larissa. Du bist doch die Tochter von ... “ Ich versuchte Ähnlichkeit mit einem der bekannten Gesichter zu machen, die ich von früher kannte. „Mrs Marsen?“
Larissa nickte, ich Gesichtsausdruck war nachdenklich. „Das hast du gleich erkannt?“, fragte sie erstaunt.
Ich zuckte mit den Schultern. „Deine Mutter ist sehr nett.“ Ich erinnerte mich nicht mehr genau an die kleine Frau. Damals hatte sie dunkelrote Haare gehabt, die ihr glatt bis zu den Schultern gingen. An mehr erinnerte ich mich nicht, aber ich wollte höflich sein. Darauf kam es schließlich an.
„Wir haben früher zusammen unsere imaginären Hunde ausgeführt, wenn ich mich recht erinnere – du und ich waren beste Freundinnen. Weißt du noch?“ Larissa lachte wieder. Ich blendete das Lachen aus, und Larissa kam mir sofort sympathischer vor.
Ich wühlte in meiner Erinnerung. Früher – so mit fünf oder sechs Jahren – war ich tatsächlich mit einem Mädchen befreundet gewesen, das Larissa ähnlich sehen könnte – ich erinnerte mich nicht mehr an seinen Namen. Aber es waren nur schwache Erinnerungen an mein altes Leben. Ich wusste nicht genau, ob dieses Mädchen neben mir auch die gute Freundin von früher war. Aber es war doch eigentlich auch egal.
Ich musste kurz nachdenken, wie ich antworten sollte. „Kann sein“, sagte ich schließlich.
Eine ganze Weile war es still. Ich starrte auf die Rasenfläche vor uns.
„Was hältst du von der Idee, Shoppen zu gehen?“, fragte sie ganz begeistert. Larissa streckte sich. „Ich braue ein wenig Bewegung, ehe ich einroste und mein Kleiderschrank ist am verhungern.“ Sie grinste ihr wohl breitestes Grinsen – sie war kurz davor los zu lachen.
Ich dachte kurz nach. Ich müsste Nicole Bescheid sagen. Ich tastete unauffällig an meiner Hosentasche. Ich hatte mein Mobiltelefon nicht dabei. Ich verzog das Gesicht. Ich hatte schon ein wenig Lust auf einen Einkaufsbummel – zwar mit einer Fremden, aber egal - und mein Vorrat an Kleidern war im Moment minimal, da ich nur die beiden kleinen Koffer mitgebracht hatte. Auch meine Kontokarte befand sich glücklicherweise noch von meinem letzten Ausflug in die Stadt in meiner Hosentasche – sie hatte die Waschmaschine anscheinend überlebt.
„Keine Lust?“, sagte sie schließlich, als ich nicht antwortete. Larissa klang ein wenig enttäuscht.
„Ich hab mein Handy nicht dabei. Meine Kontokarte hab ich, aber ich müsste Nicole noch Bescheid geben und ...“
„Ich hab ein Handy“, unterbrach Larissa mich hastig. Sie zog das Telefon aus ihrer Hosentasche und hielt es mir hin. „Nicoles Nummer ist eingespeichert.“
Ich fragte erst gar nicht, warum sie die Nummer meiner Mutter auf dem Handy hatte – ich würde es sowieso nicht verstehen - und nahm ihr dankbar das Telefon ab. Ich kannte die Nummer auswendig und wählte schnell, bevor sie versuchen würde, mir zu erklären, wie man die Kontaktdaten abrief. Dafür hatte ich im Moment nicht genug Nerven.
Nicole war begeistert von der Idee, dass ich mit Larissa in die Stadt fahren wollte – sie klang fast so aufgeregt, als würde sie selbst mitgehen und sich wahnsinnig darauf freuen - und versprach mir, dass ich das ausgegebene Geld zurückbekommen würde. Ich hatte abgelehnt, aber weil Nicole sich nicht umstimmen lassen konnte, musste ich letztendlich nachgeben, schließlich war es nicht mein Telefon.
„Wir können los.“ Ich drückte Larissa das kleine, schwarze Ding wieder in die Hand.
„An was denkst du gerade?“, fragte Larissa auf dem Weg zur Bushaltestelle, und brach damit das anhaltende Schweigen.
„Ich frage mich, warum du zu mir gekommen bist und etwas mit mir unternehmen möchtest“, sagte ich unsicher und runzelte die Stirn. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit – ich wusste es. Aber ich machte mir Gedanken darüber, ob es ihr etwas ausmachte ihre Zeit zusammen mit mir zu verbringen. Sie langweilen wollte ich schließlich nicht, aber sie sah auch keineswegs gelangweilt aus - vielleicht war meine Sorge also ganz überschwänglich.
Larissa zuckte nachdenklich mit den Schultern. „Ich kenne dich von früher – du warst schließlich meine beste Freundin“, erinnerte sie mich, und fuhr dann fort. „Und ich wollte wissen, wie du jetzt so bist.“ Larissa machte eine Handbewegung zu mir. „Von außen hast du dich total verändert, aber sonst hast du dich nicht viel verändert – so weit ich das beurteilen kann.“ Sie kicherte. „Nur dass du nicht mehr so viel Lust auf Sandkuchenbacken hast. Denke ich jedenfalls ...“, fügte sie noch schnell hinzu.
Ich musste grinste. „Daran erinnere ich mich noch. Ich war völlig vernarrt nach Sandkuchen. Nicole musste mich immer daran hindern, die Dinger zu verspeisen!“ Langsam kam die Erinnerung zurück, aber es kam mir ziemlich kindisch vor.
„Komm, lass uns hier lang gehen. Das ist eine Abkürzung – wir wollen den Bus ja nicht verpassen!“ Larissa blieb stehen und zeigte nach rechts auf einen schmalen Weg.
Ich folgte ihr und war völlig in Gedanken versunken. Also war Larissa freiwillig zu mir gekommen.
Na ja, dachte ich mir, sie ist wohl etwas anders, als die anderen.
Larissa bemerkte meinen nachdenklichen – skeptischen - Gesichtsausdruck und lächelte ein wenig. Sie versuchte wieder ein Gespräch zu beginnen.
„Weißt du eigentlich, wie beliebt du an unserer Schule bis?“
Ich konnte einen winzigen Schleier von Eifersucht in ihrer Stimme heraushören.
„Beliebt?“, brachte ich leise hervor. Meine Stimme klang erstickt.
„Sie werden dich jagen, wie ein Löwe seine Beute“, murmelte sie leise.
Ich wusste nicht so ganz, ob sie überhaupt noch zu mir sprach. Aber sie erwartete keine Antwort, sie war viel zu sehr in ihre Gedanken vertieft. Das erleichterte mich, denn ich hatte das unangenehme Gefühl, ausgetrocknet zu sein. Jeder Atemzug kratzte in meinem Hals.
Vor Schreck riss ich die Augen weit auf und starrte Larissa fassungslos an. Der kühle Wind brannte mir in den Augen, aber ich hatte ganz plötzlich vergessen, wie man blinzelte. In meine Augen traten Tränen – ich konnte nicht sicher behaupten, warum.
Entweder weil ich, nach dreißig Sekunden offener Augen, einen stechenden Schmerz im Auge verspürte.
Oder weil ich noch immer total geschockt von Larissas Worten war.
Ich atmete tief ein – in meinem Hals kratzte es unangenehm – und versuchte mich daran zu erinnern, wie man die Lieder sinken ließ. Nach einigen Sekunden erst viel es mir ein. Ich blinzelte schnell die Tränen weg, und fühlte mich blitzartig weniger ausgetrocknet.
Ich zwang mich zu schlucken, und hatte das Gefühl gleich schreiend davonzurennen, als ich spürte wie meine Stimme wieder zurückkehrte – raus aus diesem Ort, zurück nach New York.
Ich presste meine Lippen fest aufeinander.
Jetzt bloß keinen Anfall bekommen, dachte ich panisch. Larissas Wörter rasten mir so schnell durch den Kopf, dass mir schwindelig wurde. Sie werden dich jagen, wie ein Löwe seine Beute.
Ich schloss kurz die Augen, nachdem ich mich mit einem schnellen Blick versichert hatte, dass es nichts gab, gegen das ich hätte laufen können, und öffnete sie ein paar Sekunden später wieder. Es hatte funktioniert – ich wurde ein winziges bisschen ruhiger.
Dann schnappte ich hektisch nach Luft – ich hatte wohl mal wieder unbewusst das Atmen vergessen. Das passierte mir öfters. Die kühle Luft strömte zurück in meine Lungen – ich zuckte unwillkürlich zusammen, der Schmerz war noch nicht ganz verschwunden - und mein Atem wurde wieder ruhiger.
„Ist alles ok?“ Larissas Blick verharrte in meinem.
Nein. „Ja.“
„Bist du dir sicher?“ Sie strich sich besorgt eine dünne Haarsträne hinter ihr Ohr.
Nichts war in Ordnung – nichts passte mehr zusammen. Ich und beliebt? Das konnte nicht sein – und es sollte auch nicht so sein. Diese zwei Dinge hatte sich schon immer wie zwei gleiche Pole eines starken Hufeisenmagneten abgestoßen und es war auch gut so gewesen. Ich war schlicht weg durchschnittlich, in Verbindung mit „beliebt“ hatte ich nie gestanden. Wenn ich mal das Pech hatte, im Mittelpunkt stehen zu müssen, geschah mir immer irgendeine Ungeschicklichkeit.
„Natürlich.“
Larissa lächelte ein wenig. Es war so leicht, sie zu täuschen.
Ich schluckte. Wollte ich das – sie, eine alte Freundin, täuschen? Denn war Täuschen nicht dasselbe wie Lügen? Wollte ich tatsächlich eine Freundin belügen – damit sie nicht über mich nachdachte, mich nicht in den Mittelpunkt ihrer Gedanken stellte, was ich so sehr hasste? Nein, beschloss ich. Aber ich wollte, dass sie glücklich war, dass sie sich keine Sorgen um mich machte. Das war es definitiv wert. Diese kleine Lüge enthielt nichts, worüber sie später sauer sein würde, würde sie herausfinden, dass es eine Lüge war – sie würde nicht mal einen Gedanken daran verschwenden, so wie ich es tat. Ich fragte mich, warum es mir so sehr viel mehr ausmachte Larissa zu belügen, als meine Mutter. Nicole zu belügen gab mir zwar auch immer ein schweres Gefühl im Magen, aber Larissa anzulügen – es war ein sehr komisch Gefühl, ein seltsames. Vielleicht war es, weil ich wusste, Nicole hatte meine wahren Gedanken schon längst erraten. Oder auch weil sonst niemand auf meine Lügen – so klein sie auch immer sein mochten – hereinfiel. Es war wohl das zweite.
Larissa glaubte mir – sie vertraute mir. Und ich belog sie! Wie sollte ich das bloß wieder gutmachen können?
Ich war noch immer völlig in Gedanken versunken, als wir an der Bushaltestelle ankamen. Der Weg war länger gewesen, als ich gedacht hatte – andererseits hatte ich auch gar nicht gefragt, zu welcher Haltestelle es gehen sollte-, geschätzte fünfundzwanzig Minuten. Und trotzdem war die Zeit sehr schnell vergangen – und auch still.
Als ich sah, dass die Haltestelle völlig leer war, seufzte ich. Die Leere war mal wieder typisch für hier. In New York – zumindest in dem Teil, wo ich herkam – gab es fast nie so leere Stellen.
„Was?“ Larissas braune Augen waren, genau wie zuvor im Stadtpark, erfüllt von Neugierde.
Ich verdrehte grinsend die Augen. Sie war wirklich überaus neugierig. Genau wie ich – das war mal wieder etwas Seltsames. Ich hatte noch mit niemandem außerhalb meiner Familie etwas gemeinsam gehabt.
An diesem Ort war wirklich alles seltsam. Irgendetwas stimmte mit der Kleinstadt nicht. Oder war New York einfach nur verflucht gewesen? Ich grinste noch breiter. Normalerweise sah ich es nicht gerne ein, aber ich musste zu geben, dass ich die Verfluchte war. In New York hatte der Fluch auf mir gelegen, hier auch noch?
Würde der Umzug zu Nicole vielleicht doch noch seine guten Seiten zeigen? Würde ich endlich wo hineinpassen? Würde dieser Ort, den ich so sehr verabscheute, den Fluch von mir nehmen? Mich auf eine seltsame Weise verändern, aber dass es mich letztendlich vielleicht doch auf ein glückliches Ende zuführen könnte? Konnte ich darauf hoffen? Wäre es eine Möglichkeit, dass mich diese Stadt ins positive veränderte? Ich sollte wohl lieber nicht darauf wetten.
„Was?“, fragte sie wieder, als sie mein breites Grinsen sah.
„Du bist so neugierig!“ Es war nicht die Antworte auf ihre Fragen, aber ihr zu erklären, dass ein Fluch auf mir lag, kam nicht in Frage. Sie würde mich für verrückt erklären, und am Ende müsste ich mein Leben womöglich noch in einer dieser Gummizellen verbringen.
Aber sie grinste mich ebenfalls an – wie sollte es auch anders sein? „Ich weiss.“ Dann überlegte sie kurz. „Das sagt jeder.“
Das kannte ich aus eigenen Erfahrungen. „Anders könnte ich es mir auch gar nicht vorstellen!“
Ich lachte leise, natürlich.
Larissa verstummte während meines Lachen und lauschte aufmerksam. Ich hielt sofort inne als ich das bemerkte. Sie schüttete irritiert den Kopf.
„Was?“ Ich grinste wieder. Ich hatte das Gefühl, dieses Wort würde mich in den nächsten Wochen öfters zum Grinsen bringen – und eigentlich gab es dafür keinen logischen Grund, alles was Larissa gesagt hatte, kam mir plötzlich urkomisch vor.
Tja, dachte ich. Dieser Ort verändert dich vollkommen.
Manchmal – ehrlichgesagt sogar ziemlich oft - musste ich selbst darüber nachdenken, was in mir vorging, denn meistens war es nichts Logisches.
Sie wurde etwas rot. „Ach nichts. Ich habe mich nur gerade an etwas erinnert.“
Meiner Vermutung nach, wollte sie nicht weiter darüber sprechen, also sagte ich nichts dazu – obwohl ich mich schon fragte, was gerade in ihrem Kopf vorging.
Nach einer Weile kam der Bus an. Wir bezahlten schnell und setzten uns in die letzte Reihe.
Die Fahrt in die Stadt dauerte rund eine Stunde, sie verlief sehr still. Weder Larissa noch ich sprachen auch nur ein Wort. Auch im Rest des Busses war es sehr still, nur ab und zu hörten wir ein paar Leute miteinander flüstern. Jeder genoss den Ausblick auf den blauen Himmel – für mich war es ja eigentlich nichts besonderes, aber ich versuchte mir das Bild genau einzuprägen, während die Wärme mich an der Nase kitzelte. So einen Anblick würde ich nicht mehr oft zu Gesicht bekommen, dachte ich.
Der Bus hielt in der Einkaufspassage.
Hier war die Sonne noch viel wärmer – vielleicht 25°C, schätze ich. Das war für hier sehr überraschend.
Larissa setzte ihre schwarze Sonnenbrille auf.
„Wohin?“ Sie warf ihre Haare zurück und ihr Blick wanderte erwartungsvoll durch die Menge. Es sah so aus, als suche sie jemanden.
Ich sah mich kurz um. Überall waren Menschen und ich hatte keine Ahnung, ob es die selben Geschäfte hier gab, wie in New York.
Ich zuckte mit den Schultern.
Larissa überlegte kurz. „Ok. Dann komm hier lang.“
Sie führte mich auf eine große Steintreppe zu.
„Einkaufscenter“, murmelte ich verblüfft. Also gab es zwischen den vielen kleinen Geschäften auch noch ein großes Einkaufscenter! War das nicht ungewöhnlich für diese Stadt, die man hätte auch als große Kleinstadt bezeichnen können?
„In das größte Geschäft?“ Aus Larissas Ton heraus, konnte ich feststellen, dass es mehr Befehl als Frage war.
Ohne auf meine ohnehin unnötige Antwort zu warten, strebte Larissa auf den Laden zu. Ich drängte mich zwischen den vielen Leuten so schnell es ging hindurch, um sie nicht aus den Augen zu verlieren.
Larissa wartete am Eingang und starrte in den Laden – ich konnte ihr genaues Zielobjekt nicht herausstellen, denn sie stand mit dem Rücken zu mir gewandt.
Wenige Meter hinter ihr verlangsamte ich mein Tempo und blieb schließlich zögernd stehen. Sie sah aus, als ob sie in diesem Moment in einer anderen Galaxie war – eine leere Hülle, der Geist irgendwo abseits, weit weg.
Mein Blick schweifte durch das Geschäft. Links war die Männerabteilung und rechts die Frauenabteilung. Die meisten Mädchen standen in einer langen Reihe vor den Umkleidekabinen. Die wenigen Anderen suchten sich noch ihre Sachen zurecht.
In der Männerabteilung war wesentlich weniger los. Die Umkleiden waren dort zum Großteil leer.
Larissa drehte sich zu mir. Sie runzelte leicht verärgert die Stirn. „Auf was wartest du denn?“
Ich biss mir auf die Lippe. Ich hatte nicht gewusst, dass ich sie damit verärgern würde – was auch immer ich getan hatte, denn schließlich wollte ich sie nur nicht aus ihren Gedanken werfen.
„Sorry“, murmelte ich, und versuchte es echt klingen zu lassen. Larissa nickte einmal und ging – man sollte es wohl eher „raste“ nennen – dann los, in das Kleindungsgeschäft.
Ich musste mich beeilen, um mit ihr Schritt zu halten.
Ab und an zog sie ein T-Shirt oder eine Hose aus den Regalen. Sie war so schnell, dass ich gar nicht schauen konnte.
Larissa schielte nach links – zur Männerabteilung.
Aha. Also suchte sie doch jemanden.
Ich lächelte ein wenig. „Wen suchst du?“
Larissa blieb so abrupt stehen, dass ich fast in sie hineinlief. Sie drehte sich auf dem Absatz zu mir. Ihr Gesichtsaudruck war überrascht, aber auch unsicher.
Sie zögerte. „Suchen?“
Ich verdrehte die Augen. „Dann eben nicht“, seufzte ich. Es ging mich ja auch nichts an, nicht wahr?
Larissa überlegte kurz, und versuchte dann mich abzulenken. „Sieh mal“, sagte sie schnell und zeigte dabei auf ein großes Regal. „Ich glaube, da könnte was für dich dabei sein.“ Ganz klar – sie wollte mich loswerden. Daran besandt kein Zweifel.
Ich nickte und beeilte mich, um ihr ihre Ruhe zu lassen. Ich wusste schließlich nicht, wie sie reagieren würde, würde ich ihr lieber weiterhin hinterher rennen.
Ich lief gemütlich in die hintere Ecke der Abteilung – ich hatte es nicht eilig, meine Füße taten mir schon genug weh.
Tatsächlich gab es einige hübsche Teile in dieser Ecke.
Ein paar Minuten später kehrte ich mit sechs Teilen zu Larissa zurück. Sie selbst hatte einen ganzen Arm voller Klamotten - sie musste wohl ganz schön stark sein, ich war mir nicht sicher, ob ich so einer Last standgehalten hätte.
„Bei den Umkleiden ist so viel los heute!“, sagte sie beiläufig. Sie seufzte. „Gehen wir doch einfach zu den Männerumkleiden ... Das merkt niemand.“
Ich nickte. Vielleicht würde sie dort ja finden, was – oder wohl besser gesagt, wen – sie suchte.
Statt wie Larissa die erste freie Umkleide zu nehmen, suchte ich mir eine der letzten aus, ganz hinten – dort wo niemand war, denn kein Mensch war so blöd, einmal durch das ganze Geschäft zu laufen, wenn man auch ganz vorn eine Umkleide haben konnte.
Hier hinten waren bestimmt noch zehn weitere leere Kabinen. Ich sah mich kurz um. Das Licht flackerte ein wenig an der Decke. Ich konnte die anderen Einkäufer nicht sehen, dazu müsste ich erst einmal den gesamten gebogenen Gang entlang laufen.
Als ich mich umgezogen hatte, trat ich aus der Kabine und sah mich in dem großen Spiegel neben der Tür an.
Das schwarze Top floss wie angenäht an meiner schlanken Figur entlang und die hellegraue Röhrenjeans passte auch gut. Ich war nicht so darauf aus wie andere Mädchen meines Altes, immer die modernsten Sachen zu tragen oder den halben Tag mit Einkaufen zu verbringen, so war ich einfach nicht. Aber hier, wo ich abgeschirmt von allen anderen war, fühlte ich mich beinahe wohl in einem Kleidungsgeschäft. Beinahe.
Ich würde die zwei Sachen kaufen, sie waren nicht teuer, und schließlich musste es sein - ob ich wollte oder nicht, musste ich heute etwas kaufen. Denn bald würde meine gesamte, winzige Ansammlung von Klamotten im Wäschekorb landen – und ich würde nicht im Schlafanzug das Haus verlassen wollen!
Mein Blick wanderte ein weiteres Mal über mein Spiegelbild, als ich hinter mir einen Jungen entdeckte.
Ich legte den Kopf schräg und musterte ihn. Er machte einen freundlichen Eindruck. Aber das war es nicht, was mich erstarren und mit offenem Mund in den Spiegel – auf die Person hinter mir – starren ließ.
Er hatte goldblonde, etwas längere Haare mit ein paar dunkleren Strähnchen, die ihm locker und ein wenig zerzaust über die Ohren fielen. Die Struktur seiner Haare ähnelte meinen, nur waren sie sehr viel heller und natürlich, da er ja kein Mädchen war, kürzer. Seine Haut war cremefarben weiß. Genau wie meine, nur noch heller. Das schien mir bis zu diesem Augenblick beinahe unmöglich. Allein durch unsere ähnliche Hautfarbe hätte man uns für Geschwister halten können, aber die anderen Unterschiede stachen zu stark heraus. Seine Augen waren eisblau, kristallklar und hatten eine unendliche Tiefe, man konnte so weit in sie durchdringen, das ich glaubte, seine Seele zu sehen zu können. Es kam einem so vor, als könne man sie berühren, würde man nur die Hand weit genug ausstrecken. Seine Gesichtszüge waren weich und engelsgleich – wie die eines jungen Gottes es sein würden, würde er die Erde betreten - , die vollen Lippen blass und cremefarben – nur ein wenig dunkler als seine Haut.
Sein Aussehen war unglaublich, und ich blinzelte hilflos, um die Fassung zu bewahren. Es kam mir so vor, als würde seine Gestalt meinen Blick gefangen halten. Und wahrscheinlich tat sie das auch, stellte mein Unterbewusstsein fest. Ich bemühte mich, meinen Mund wieder zuzuklappen – und musste mich anstrengen, um ihn nicht wieder auffallen zu lassen -, um nicht ganz so ... verstört zu wirken. Mir war längst klar, dass das unmöglich wäre. Nicht, wenn jemand so aussah.
Aber er war das bestimmt gewöhnt. Bei seinem Anblick musste man einfach in ein Staunen verfallen. Ich starrte ihn gedankenlos an – unfreundlich, sagte ich mir, so was macht man nicht -, unfähig, den Blick abzuwenden.
Seine klaren Augen waren auf mein Spiegelbild gerichtet. Sein durchdringender, intensiver Blick bohrte sich in meinen und ich spürte wie sich die Röte in mein Gesicht schlich. Der Junge riss erstaunt – so schien es – die Augen auf und in sein Gesicht trat etwas, dass ich nicht deuten konnte – Verwunderung, Angst, Schrecken, Verwirrtheit oder Nervosität. Und dann veränderte sich der Ausdruck in seinem Gesicht. Er sah so aus, als hätte er ... Schuldgefühle, und ich verstand den Grund nicht.
Vielleicht war ihm mein unhöfliches Anstarren unangenehm, vielleicht war er es doch nicht so sehr gewohnt, wie ich gedacht – vielleicht doch eher gehofft – hatte. Bestimmt lag es an mir, an wem auch sonst - hier war schließlich niemand.
Er verzerrte wütend – und angewidert zugleich - das Gesicht. Er sah so aus, als würde er gleich in die Luft gehen, so wie er sich anstrengte, seine Gefühlte unter Kontrolle zu halten. Ich musste mir selbst eingestehen, dass ich für einen winzigen Moment Angst verspürt hatte. Von einer Sekunde auf die andere sah der Junge aus wie versteinert, er zuckte noch nicht einmal mit der Wimper. Aber das schien ihn zu beruhigen – er atmete tief ein und schnaubte leise, sich bestimmt sehr wohl bewusst, dass ich ihn beobachtete. Oder war er so sehr in seinen Gedanken vertieft, dass er das fremde Mädchen, das ihn unverhohlener Weise benommen anstarrte, vor ihm nicht wahrnahm? Ich ließ schnell meine Haare vor das Gesicht fallen, damit es so aussah, als würde ich gar nicht auf ihn achten.
Ich warf einen unsicheren Blick durch den dunklen Haarvorhang vor meinem Gesicht. Der Junge starrte mich noch immer an. Ein unsicheres Lächeln zuckte um seine Lippen, während ich darüber nachdachte, was wohl in ihm vorging, was so sehr seine Aufmerksamkeit angeregt haben konnte, dass er so versteinert war und nicht einmal den Kopf bewegen konnte – es musste ihm doch aufgefallen sein, dass er mich unbeabsichtigt anstarrte. Oder war er sogar dafür zu tief in einer anderen Welt versunken? Sein Blick war erfüllt von Neugierde – wie Larissas es immer war, nur stärker. Und zudem sah er leicht frustriert aus – er verschränkte die Arme vor der Brust und unter dem leichten Zucken seiner Lippen erkannte ich, dass er einen Schmollmund zog.
Aber über all das konnte ich in diesem Moment nicht einen vernünftigen Gedanken fassen, nur mein Unterbewusstsein registrierte diese Dinge, und speicherte sie sorgfältig ab. In meinem Kopf war nur ein Bild. Ein Gesicht, das einem Engel glich, ein Gesicht eines jungen, unvergleichlichem Gottes. Ich fand nicht wieder zurück in die Gegenwart und starrte weiterhin gefesselt auf den Fremden. Dieses Gesicht.
Ich traute mich nicht, mich umzudrehen, um ihn nicht nur als Spiegelbild zu sehen, um mir zu versichern, dass er wirklich exerstierte. Er, dieses umwerfende Geschöpf. Also beobachtete ich den Jungen weiter im Spiegel. Es musste ziemlich dämlich aussehen, denn niemand stand so lange vor dem Spiegel. Vor allem nicht zum Nachdenken – ich hoffte zumindest, dass ich so aussah, als würde ich auf nichts spezielles achten. Aber ich war vom Anblick des Fremden wie gelähmt, er war einfach so wunderschön.
Ich fragte mich, wie es aussehen würde, wenn er versuchen würde, attraktiv zu sein - aber auch diese Frage nahm nur mein Unterbewusstsein wahr, in meinem Kopf brummte es lautstark; mein Denken war genauso versteinert wie der blasse Körper des Jungen.
Ich seufzte.
An so etwas erst gar nicht denken, ermahnte ich mich. Ich würde den Jungen niemals wiedersehen, das stand fest – und dieser Standpunkt nahm mir auch noch meine letzte Beweglichkeit, es machte mich so unfassbar traurig. Ich dachte über diese ungewöhnliche Reaktion meinerseits nach. Aber vielleicht reagierte jedes weibliche Geschöpf so – die Vorstellung, den Blick ganz von ihm abzuwenden, war fast unmöglich; und ihn nie wieder zu sehen, ohne einen Beweis, dass es ihn wirklich gab, ließ mich niedergeschlagen einen Schmollmund ziehen. Ich betete dafür, dass er diese Gefühlschwankung nicht bemerkt hatte.
Er stand bewegungslos an der Wand hinter mir. Sein Blick starr nach vorn gerichtet. Es sah fast so aus, als würde er einfach gedankenverloren in die Leere starren, und davon war ich halb überzeugt.
Ich stand – genau wie der fremde, junge Gott hinter mir - völlig reglos da, und versuchte mir sein Bild einzuprägen, so wie im Bus die Sonne. Die Vorstellung, dieses unvergleichliche Geschöpf nie wieder zu sehen, schmerzte fast.
Fast, sagte ich mir schnell.
Er runzelte die Stirn und seine Augen wurden so weich, wie warmer Honig. Er musterte mich neugierig.
Ich biss mir auf die Lippen. Ein Teil von mir wollte sich umdrehen und zu ihm hingehen, um ihn noch besser anschmachten zu können. Aber ein anderer, kleiner und unbekannter Teil wehrte sich – er gab mir das Gefühl von Angst, es war ein seltsamer Impuls. Ich runzelte die Stirn. An diesem Jungen war rein gar nichts beängstigendes, außer vielleicht sein wütender Blick vorhin, aber sonst rein gar nichts – was für ein seltsamer Instinkt. Aber der unbekannte Teil in mir wurde schnell zu Sehnsucht – ich wollte zu ihm gehen, mit ihm reden. Und nach einer Weile war da auch keine Angst mehr.
Inzwischen waren vielleicht zwei oder drei Minuten vergangen.
Es war ein körperlicher Kampf. Ich verkrampfte meine Beine, um sie nicht von der Stelle zu lassen. Der Junge hatte seinen Blick noch nicht von mir abgewendet, und das ermutigte mich. Blöder wunderhübscher Gott! Warum musste er mich anschauen! Ich wehrte mich gegen das Verlangen.
„Hannah?“
Ich zuckte zusammen und fuhr herum. Es war Larissa. Ich atmete einmal tief durch und warf meine Haare zurück über die Schulter, um wieder einen völlig freien Blick zu haben.
„Hier bin ich!“
Ich warf wieder einen schnellen Blick in den Spiegel, und seufzte. Der Junge war verschwunden, natürlich. Aber wo konnte er hin sein? Es gab nur eine Richtung, in die er gegangen sein konnte, aber ich war mir ganz sicher, dass in den letzten drei Sekunden niemand außer Larissa den Gang entlanggegangen war – ich hätte die Schritte hören müssen.
„Ich bin fertig. Können wir gehen?“
„Sofort“, rief ich und eilte zurück in die Kabine.
Larissa lehnte geduldig an den Spiegel und wartete auf mich.
Ich ließ die vier unanprobierten Sachen einfach in der Umkleide hängen und folgte Larissa den Gang entlang, zurück zu den vielen Regalen der Männerabteilung.
Larissas Blick wanderte sehnsüchtig durch die eine Hälfte des Raumes, und ich ertappte mich, wie mein Blick ebenso sehnsüchtig wie Larissas über die Regal wanderte.
Wo war er hin?
Dann liefen wir beide - niedergeschlagen, wie es mir schien – zur Kasse und bezahlten. Larissa hatte schon jetzt zwei Tüten.
Nach einer Weile gingen in ein kleines Cafe am Stadtplatz. Mein Blick fuhr über die Menge, während ich an meinem Café nippte.
Die Sonne brannte auf meiner Haut, genauso wie die Kälte sonst immer.
Du kannst aber auch nie wissen, was du willst, was du brauchst, sagte eine Stimme in meinem Kopf.
Ich dachte über Larissas Einkaufswahn nach. Jetzt, gegen ein Uhr, hatte ich bereits fünf volle Tüten und Larissa schon sechzehn Stück. Verrückt. Ich schüttelte amüsiert den Kopf – Larissa ging so verantwortungslos mit ihrem Geld um.
Wie eine Dreizehn-jährige!, dachte ich und lachte leise in mich hinein.
Kinder spielten im Wasser des flachen Brunnens und die restlichen Menschen saßen herum und unterhielten sich lautstark miteinander, das laute Geschrei vermischte sich zu einem einzigen lauten Summen in meinen Gedanken.
Mein Blick hielt gefesselt an einem eisblauen, kristallklaren Augenpaar, das ganz offensichtlich in meine Richtung schielte.
Ich biss mir fest auf die Lippe, um nicht bei seinem Anblick zu lächeln - oder gar Jubelschreie auszustoßen, so glücklich war ich für einen Moment.
Aber als er mit seinen vollen Lippen das schönste schiefe Lächeln formte, welches ich je gesehen hatte, überwältigte es mich und ich konnte mich nicht mehr zurückhalten. Ich lächelte benommen zu ihm.
Seine Schönheit war eine Wucht, die man nicht einfach ignorieren konnte. Ich war gedankenlos, schon wieder.
In meinem Kopf war alles vernebelt und viel zu warm. Jeder Atemzug tat gut, kühlte mein verbrennendes Gedankenvermögen ein bisschen ab.
Ich zwang mich dazu, den Blick abzuwenden. Es war wie eine Herausforderung.
Larissa rührte in ihrem Café und ich erlaubte mir einen weiteren kleinen Blick in die Menge. Hoffentlich war der Junge noch nicht verschwunden.
Ich wurde nicht enttäuscht, diesmal nicht. Das Augenpaar strahlte mich noch immer an und dieses unmenschlich perfekte Lächeln brachte mich innerlich zum Schmelzen, nicht gerade sehr angenehm, wenn einem gerade im Kopf etwas brannte – etwas verbrannte.
Ich senkte schnell den Blick. Schmerzhaft.
Ich spürte seinen Blick auf mir ruhen. Unwillkürlich musste ich lächeln, und ein Gefühl des Glücks durchfuhr mich. Es war angenehm kühl.
Aber es war ein Fehler. Ich durfte so nicht denken. Ich würde ihn nicht wiedersehen. Das war die Realität. Die traurige Wahrheit.
Ich verzog das Gesicht – warum benahm ich mich so, warum fühlte ich so? - und schielte wieder in die Menge. Das Gesicht des Jungen war amüsiert, aber wieder schienen ihn Schuldgefühle zu plagen, während sein Blick noch immer auf mir ruhte. Machte er sich lustig über mich? Ich fragte mich, warum er mich ständig ansah. Hatte ich vielleicht einen riesigen Fleck auf der Bluse oder so etwas derartiges?
Ich sah schnell an mir herunter. Kein Fleck, stellte ich erleichtert fest.
Larissa sah mich an. Ihr Ausdruck war besorgt. „Hast du etwas?“ Ich wusste nicht, was es war, dass sie in meinem Blick gesehen hatte, dass sie zu dieser Frage brachte, aber ich verschwendete auch keinen weiteren Gedanken darüber.
Ich biss mir automatisch wieder auf die Lippe. Es war eine sehr schlechte Angewohnheit geworden. „Zunge verbrannt“, murmelte ich schließlich. Diese Lüge machte mir weniger aus. Viel weniger, denn irgendwie stimmte sie ja auch ein wenig. Ich sagte ihr nur nicht ganz die Wahrheit im Bezug darauf, was verbrannte.
„Ach so.“
Damit war das Thema abgeschlossen und die restlichen dreißig Minuten verbrachte ich damit, einen weiteren körperlichen Kampf durchzuführen, um nicht aufzusehen, nicht in die eisblauen Augen zu schauen.
Ich erschauderte, als mir zum zweiten Mal klar wurde, dass es falsch war. Falscher als falsch, und falscher als es sein durfte. Es war ein Fehler, zu fühlen, was ich fühlte, wenn ich ihn ansah. Zum Glück würden wir bald wieder nach Hause fahren. Um drei Uhr fuhr heute der letzte Bus, den würden wir mit Sicherheit nehmen müssen – bis dahin dürfte Larissa auch noch ihren letzten Cent ausgegeben haben, ein Taxi kam also nicht in Frage.
Larissa bezahlte für mich mit und schob einige Minuten später den Stuhl zurück.
„So, es wird Zeit zu gehen!“, verkündete sie, und überraschte mich damit. Ich runzelte die Stirn - wir hatten erst zwei Uhr. Wollte sie nicht auch noch ihr letztes Taschengeld ausgeben? Aber ich zuckte nur mit den Schultern und stand ebenfalls auf.
So schnell wie möglich hier weg kommen, dachte ich, während ein ganz bestimmtes Gesicht in meine Erinnerung trat.
Ich wollte noch ein letztes Mal diese Augen sehen und suchte sie in der Menge. Aber der Junge war schon wieder verschwunden. Ein unangenehmen kribbeln breitete sich in meinem Körper aus. Langsam machte ich mir Sorgen um mich selbst – wie egoistisch von Mir. Ich verstand nicht, was in mir vorging, warum mein Körper diese für mich unbekannten Reaktion gab. Es verwirrte mich.
Ich ließ traurig die Haare vor mein Gesicht fallen, um mich von allen Leuten abzuschirmen, wie ich es immer tat.
Den ganzen Weg über hatte ich sein Gesicht vor Augen. Wie er mich – ich versuchte mir einzureden, was unmöglich war, denn es konnte nicht sein, dass so eine Kreatur wie er mich interessant fand oder so etwas - anlächelte und seine Augen neugierig strahlten. Wunderschön strahlten. Unglaublich. Umwerfend.
Diese ungezügelten Gedanken verwirrten mich noch mehr. Ich mochte es nicht, mir nicht im klaren über all das zu sein, was da eben passierte – mit mir passierte. Ich runzelte verärgert die Stirn, und seufzte dann, weil ich mir bewusst war, dass meine Gedanken, ohne jeden Zweifel, unlogisch waren. So unlogisch, dass selbst ich sie nicht erklären konnte. Unlogischer als die jedes anderen. Diese Tatsache frustrierte mich ein wenig.
Es war zum Verrücktwerden. Wohin ich auch sah, egal was ich dachte oder tat, vernebelte mir sein Lächeln die Sicht. Und alles andere in meinem Umfeld konnte ich nur schemenhaft erkennen. Bei seinem Anblick – meiner erfreulichen Halluzination - musste ich lächeln, aber ich wusste nur zu gut, dass er nicht da war, und das holte das unerklärliche Brennen in meiner Brust wieder hervor. Das Feuer in mir kribbelte stark, stärker als es mir je möglich erschienen war, so etwas zu fühlen. Aber es tat nicht weh. Zumindest nicht richtig. Es war nur sehr unangenehm.
Ich verzog das Gesicht, um die seltsamen Gedanken – das Bild – aus meinem Kopf zu vertreiben. Und meine Muskeln spannten sich an, um das kühle Brennen loszuwerden. Beides unmöglich- ich könnte so lange weitermachen wie ich wollte, es würde nichts nützen. Ich seufzte verärgert, es war schon wieder ein Geheimnis meines Unterbewusstseins – oder was auch immer dies alles auslöste -, das ich nicht lösen konnte. Ein unlösbares Geheimnis. Nervenzermürbend. Ich war mir nicht sicher, ob es überhaupt jemanden gab, der so viele Geheimnisse über sich selbst hatte – und sie nicht kannte.
Wenn ich sie nicht kannte, wer dann? Wer sollte von meinen Geheimnissen wissen, wenn ich es selbst nicht tat?
Es war wirklich sehr komisch. So etwas war mir noch nie passiert.
Ich versuchte darüber nachzudenken, aber ich konnte mich nicht richtig konzentrieren. Zum Einen war, durch das Bild in meinem Kopf, ein lautes Summen in meinen Ohren entstanden, und zum Anderen ging mir eine Frage nicht mehr aus dem Kopf.
Wer war er?
Larissa begleitete mich noch bis zur Haustür und ich winkte ihr höflich hinterher, als sie sich mit einem netten „Bis morgen“ verabschiedete.
Nicole wartete schon in der Küche auf mich.
„Hallo, Mom!“, rief ich, während ich die Tüten im Flur abstellte, und seufzte, ich war kein Stückchen weiter gekommen, in dem Versuch meine Gedanken zu entschlüsseln.
„Na, wie war’s?“
Ich überlegte kurz. „Es hat Spaß gemacht. Es war.. interessant.“ Es war eine Halbwahrheit. Es hatte nicht viel Spaß gemacht, trotzdem aber mehr als ich mir erhofft hatte. Allerdings war es sogar sehr interessant gewesen. Und das war es immer noch.
„Willst du etwas essen?“
„Kein Hunger!“, rief ich schnell und hastete durch das Wohnzimmer, hinaus in den Garten. An die frische Luft.
Das Gras war schon fast ganz trocken und ich legte mich auf den Boden, um die Sonne im Gesicht zu genießen, das Brennen zu spüren – es war ein anderes Brennen, als das, das in meiner Brust tobte, es war ein angenehmes und vertrauliches Gefühl. Meine Haare breiteten sich über meinem Kopf aus und eine kleine Stränge fiel mir in die Augen. Ich strich sie schnell aus meinem Gesicht und blieb dann völlig reglos liegen, um diesen Moment nicht zu zerstören – obwohl das wahrscheinlich gar nicht möglich war. Mir kam alles so falsch vor. Unecht, als würde ich träumen. Einen Moment dachte ich darüber nach, und war unentschlossen, ob es nun Traum oder Realität war. Zu neunundneunzig Prozent tendierte ich auf Traum hinzu. Darüber dachte ich auch wiederum nach – Albtraum oder Traum? Es stand fünfzig-fünfzig.
Der Anblick des fremden Jungen ging mir wieder durch den Kopf und nun wäre es, auch wenn ich es wollte – und das war definitiv nicht der Fall -, unmöglich gewesen, mich zu bewegen. Meine Knochen zerschmolzen zu warmer Butter und das Surren wurde noch ein Stück lauter; ich war überglücklich, dass mir das erst jetzt passierte – ich wollte mir gar nicht erst vorstellen, wie ich im Café vom Stuhl gerutscht wäre, weil meine Knochen dabei waren, sie vollständig in Nichts aufzulösen. Ich versuchte diese peinliche Vorstellung auszublenden und schloss die Augen.
Ich konzentrierte mich völlig auf die makellosen Züge und die eisblauen Augen. Ich atmete tief ein, um meine Gedanken zu ordnen. Ich war ganz wirr im Kopf.
Traum, beschloss ich zuversichtlich. So etwas konnte in keinem Albtraum vorkommen.
Es war ein Fehler, an ihn zu denken. Und das wusste ich irgendwie – aber ich wusste nicht, woher -, trotzdem konnte ich es nicht wahrhaben. Ich wollte es nicht wahrhaben. Also dachte ich nicht daran, sondern einzig und allein an ihn.
Das war eine Lösung der Dinge, mit der ich Leben konnte: Ich Träumte einen verrückten Traum. Und deshalb gab ich mir die Erlaubnis, an ihn zu denken. Würde ich später aufwachen, würde ich nicht traurig sein, dass er nicht bei mir war - es gab ihn schließlich nicht -, so wie ich es wäre, würde ich jetzt wach sein. Aber das war unmöglich, also konnte ich an ihn denken, ohne danach die Folgen zu spüren.
Das nächste was ich sah, war der dunkelgraue Himmel. Ich musste wohl eingeschlafen sein, in meinem Traum war ich eingeschlafen – ging das? Langsam schwand die Zuversicht, dass es ein Traum war, und plötzlich war ich mir dessen so unsicher, dass ich fast in Panik ausbrach – ich machte mir Sorgen über meine geistige Gesundheit, wenn das kein Traum war ... wenn all diese merkwürdigen Dinge passiert waren – der Junge und die seltsamen Reaktionen meines Körpers - ... dann musste etwas mit mir nicht stimmen. Hatte ich mir meinen Kopf gestoßen? Das würde die Reaktionen erklären. Aber würde es auch den Jungen erklären. Hatte ich ihn mir nur eingebildet? Ich war vollkommen verzweifelt. Ich schnaubte niedergeschlagen. Meine Geheimnisse würden mir wohl auf ewig verschlüsselt bleiben.
Ich setzte mich auf und schüttelte mein Haar, um die paar Grashalme, die sich in ihnen festgesetzt hatten, zu entfernen. Die Kälte brannte unangenehm auf meiner Haut, schon wieder ein Brennen – wann würde ich endlich einmal nicht brennen? Ich schauderte und stand auf, um zurück ins Haus zu gehen.
Nicole saß auf dem Sofa und sah sich ihre Lieblingssendung an, wie jeden Abend auch.
„Ich geh in mein Zimmer“, sagte ich hastig, als ich an ihr vorbeilief. Sie nickte kurz und konzentrierte sich dann wieder voll auf den Fernseher. Sie kannte die Folge bestimmt schon in und auswendig. Ich verstand nicht, wie man solch eine Begeisterung auf etwas verschwenden konnte, das nicht existierte.
Ich schnappte mir die Tüten, die ich davor hatte liegen lassen, und trug sie hinauf in mein neues Zimmer.
In meinem Zimmer angekommen begann ich, in den zwei Koffern nach meinem mattgrauen Schlafanzug von Esprit zu suchen. Mein Vater hatte ihn mir als Erinnerung mit hier her gegeben.
Ich seufzte froh darüber – oder auch erleichtert. Ich wusste, dass er mich vermisste. Wenigstens einer, dachte ich stirnrunzelnd.
„Er wartet bestimmt schon auf eine Benachrichtigung, das ich den Flug überlebt habe“, murmelte ich und stöhnte laut auf, bei der Vorstellung, wie Jan alle zwei Minuten die E-Mails abrief. Und, ich war mir ganz sicher, das tat er. So ist er nun mal.
Vor meinem Fenster raschelte es laut. Ich riss erschrocken den Kopf in die Höhe. Ein dünner Ast schlug fest gegen die Scheibe und brachte das Glas des Fensters zum Zittern, ein paar dünnere Zweige kratzten darüber. Es hörte sich an, als ob jemand mit den Fingernägeln über eine Tafel fuhr. Ich spürte, wie mein Körper danach verlange, mir die Ohren wie eine Zehnjährige zuzuhalten und das betäubende Geräusch verklingen zu lassen. Aber ich tat es nicht, starrte stattdessen mit vor Schreck geweiteten Augen aus dem Fenster.
Nur der Wind, sagte ich mir beunruhigt. Ich war überrascht darüber, dass ich Gänsehaut bekam. Es fühlte sich nicht so an, aber – hatte ich Angst?
Ich rappelte mich vom Boden auf und öffnete das Fenster. Es war Windstill. Ein kalter Schauder lief mir über den Rücken.
Bestimmt irgendein Tier, versuchte ich mich zu überzeugen, war aber nicht besonders gut darin. Ich beobachtete noch kurz den Baum; der Ast schwang noch ein wenig nach Links und Rechts. Aber er raschelte nicht mehr.
Ich lief zurück zu meinem Koffer und zog das Shirt und die passende kurze Hose schnell heraus. Ich hatte mich in Windeseile umgezogen und holte meinen Laptop aus einem Fach im Koffer. Ich legte ihn vorsichtig auf das himmelblaue Kopfkissen und lies mich auf die Decke sinken, machte es mir so bequem wie es auf einem fremden Bett in einem fremden Zimmer ging.
Als ich eine Verbindung zum Internet hatte, loggte ich mich schnell im E-Mailcenter ein.
Dann begann ich zu tippen.
Hallo Dad,
Hier ist schönes Wetter. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Vielleicht erinnerst Du Dich noch an Larissa? Ich war früher sehr gut mit ihr befreundet. Sie ist immer noch sehr nett zu mir.
Heute war sie zusammen mit mir in der Stadt einkaufen.
Ich habe den Eindruck, dass alle hier sehr nett sind.
Nicole geht es gut. Sie hat sich sehr verändert.
Liebe Grüße,
Hannah
Ich schickte die Mail ab und setzte mich auf die Bettkante, während der Computer herunterfuhr. Als der Bilderschirm schwarz war, klappte ich ihn zu. Ich schob ihn unter das große Bett und zog mir die Decke bis zum Hals. So kam ich mir viel sicherer vor, so als ob mich hier niemand finden könnte. Abgeschirmt von der Außenwelt. Es war schön warm, und ich fühlte mich wohler.
Vor meine Augen schwebte wieder dieses Bild - das Bild von dem göttlichen Jungen, anbetungswürdig. Ich versuchte mit aller Kraft, dieses Gesicht aus meinem Kopf zu verbannen und nicht an ihn zu denken. Später würde ich es möglicherweise bereuen. Ich würde es bereuen.
Nach wenigen Minuten wurde mir klar, dass es nichts nützen würde. Der Schmerz – oder möglicherweise das Verlangen - würde nur umso größer werden, wenn ich es verdrängte, und ich würde an diesem Tag nicht mehr einschlafen können. Und am nächsten vielleicht auch nicht, falls ich auch dann nicht aufgeben würde.
Ich gab auf. Ich kam mir so hilflos vor.
Dieses Mal war das Surren in meinem Kopf seltsam und auf eine unerklärliche Weise angenehm. Ich verzog verwirrt das Gesicht.
Lächelnd schlief ich ein.
Mails
Ich hatte nicht damit gerechnet, aber der nächste Tag wurde noch schlimmer als der vorige. Sonntag – und Nicole arbeitete trotzdem. Ich hatte nichts anderes übrig, als den ganzen Tag allein im Haus zu verbringen – wo sollte ich hingehen, allein? Also lies ich mich auf dem Ledersofa im Wohnzimmer nieder und schmollte eine bisschen, den zugeklappten Laptop auf dem Schoß. Nach einer Weile kam ich mir ziemlich lächerlich vor. Also beschloss ich, Jan eine Freude zu machen und ihm eine weitere Nachricht zu schicken.
Wie erwartete hatte er mir schon geantwortet. Immer wieder hatte er mich angefleht zurück nach New York zu kommen. Janina vermisse mich ja so schrecklich. Ich stöhne. Natürlich, dachte ich ironisch.
Die Mail war sieben Seiten lang.
Hallo Dad,
Mir geht es gut bei Nicole, und es macht viel Spaß!
Ich möchte nicht von hier weg, aber falls ich meine Meinung ändern sollte, wirst du der Erste sein, der davon erfährt. Versprochen.
Ich vermisse dich,
Hannah
Es würde ihn bestimmt beruhigen. Ich hatte ihm so oft schon beteuerte, dass ich mich auf einen längeren Aufenthalt bei Nicole freute, warum glaubte er mir einfach nicht? Wahrscheinlich kannte er mich zu gut. Er würde sich spätestens in den nächsten Tagen noch am Telefon melden, also musste ich in meinen Mails nicht allzu ausführlich sein. Gut so.
Ich hatte noch eine E-Mail. Sie war von meiner Brieffreundin Kathrin. Sie war ein bisschen älter als ich, ich hatte sie letzte Sommerferien in Florida kennen gelernt. Ich erzählte ihr ausführlich von allem, der Reise hierher, dem Haus, wie mein Zimmer aussah, dass sich alles verändert hatte, meinen neuen Freunden, dass das Wetter besser war, als ich zu hoffen gewagt hatte bevor ich wegzog, und wie nett Larissa zu mir war. Ich erzählte ihr, dass ich mit Larissa Einkaufen gegangen war. Von Larissas Einkaufswahnsinn schrieb ich ihr auch. Kathrin würde bestimmt ihren Spaß über diese Nachricht haben - sie hasset es, Einkaufen gehen zu müssen. Alles bis ins kleinst Detail, ich hatte mich schon zu lange nicht mehr gemeldet.
Aber eine Sache hatte ich nicht erwähnt. Sie war so unbedeutend, dass es sich nicht lohnte, davon zu schreiben, auf keinen Fall - davon versuchte ich mich zumindest zu überzeugen. Der Junge war bestimmt nur eine Illusion meiner Fantasie gewesen. So etwas konnte es einfach nicht geben. So etwas wundervolles, perfektes ... Nur eine Illusion!, rief ich mich selbst zur Vernunft.
Ich schaltete meinen Laptop wieder aus. Dann lief ich zum Schreibtisch, schob die vielen Bilder zu einem geordneten Stapel zusammen und legte meinen Laptop daneben auf die Holzplatte.
Ich setzte mich auf den weißen Ledersessel neben meinem Schreibtisch, er war groß und weich, und schloss mit einem lauten Seufzer die Augen. Ich legte den Kopf in den Nacken, lehnte mich zurück und sank tief in das Polster hinein. Nach ein paar Minuten griff ich nach dem Stapel von Bildern vor mir. Ich sah mir eins nach dem anderen an. Es waren Bilder von mir, in jedem möglichen Alter. Vom Kindergarten hin bis jetzt. Ich war erstaunt darüber, dass die Bilder alle in so guter Verfassung waren. Sie hatten keine Eselsohren, waren nicht verstaubt oder voller Fingerabdrücke. Nicole hatte diese Bilder überall in der Wohnung verteilt und auch in ihrem Portemonnaie befanden sich ein paar ihrer Lieblingsschnappschüsse, in einem kleineren Format versteht sich. Ich war ein wenig gerührt darüber, aber vor allem machte es mich traurig. Ich schüttelte benommen den Kopf, wollte die Gedanken vertreiben, und sah mir wieder die Bilder an. Auf dem ersten Foto waren wir alle drauf. Jan, Nicole und ich.
Ich erinnerte mich noch gut an diesen Tag. Ich war fünf oder sechs Jahre alt gewesen, als es geschossen wurde, und wir feierten als Familie Weihnachten. Ich trug ein knielanges Kleid, das mit weinroter Seide überzogen war. Das dunkle Haar fiel mir wellig über den Rücken und die kleinen, schwarzen Lackschuhe glänzten. Die Weihnachtskugeln am Baum reflektierten das Licht an die Wand. Meine großen Augen glitzerten voller Vorfreude auf die Geschenke, die unter den weiten Ästen des Baumes versteckt waren. Ich strahlte vom einen Ohr bis zum anderen und meine Wangen glühte. Nicole lehnte an der Couch und beobachtete mich liebevoll. Sie schielte ein wenig zum Fotographen hinüber - es musste Jan sein, das war deutlich zu sehen. Ihre Lippe waren zu einem breiten Lächeln geformt und ihre Augen glitzerten so wie meine auch. Es war nicht zu übersehen. Nicole war über und über glücklich. Wunschlos.
Wenn ich mir dieses Bild ansah, war es schwer zu glauben, dass sie sich nur ein Jahr später trennten. Wir hatten alle zusammen gehört. So war es früher gewesen. Jetzt nicht mehr. Immer wieder wurde ich zwischen Nicole und Jan hin – und hergerissen. Wir waren keine Familie mehr. Eigentlich war ich damit schon längst durch und hatte die Lage akzeptiert, aber jetzt spürte ich die Tränen in meinen Augen. Eine von ihnen lief über meine Wange bis zu meinem Mund, sie fühlte sich warm an. Ich hob meine Hand, um die Träne fortzuwischen, da bemerkte ich, dass ich zitterte. Ich leises Schluchzen entfuhr mir. Ich ließ die Hand wieder sinken und blinzelte die übrigen Tränen weg. Sie sollten nicht da sein, sonst kam ich ja auch klar mit dem Stand der Dinge. Aber jetzt, wo ich sehen konnte, wie glücklich wir einmal waren war es anders. Es war so schwer, zu glauben, dass es nicht so sein sollte.
Ich nahm das Foto und schob es vorsichtig hinter alle anderen. Ich riskierte keinen weiteren Blick auf die Bilder und legte den Stapel zurück neben meinen Laptop.
Den Rest des Tages verbrachte ich damit, mich um den Haushalt zu kümmern. Nicole hatte so wenig Zeit mit ihrem Job. Da war es doch das Mindeste, ihr ein wenig zur Hand zu gehen. Aber als Ablenkung genügte es mir nicht. Egal wohin ich schaute, ein blasser Nebel verschleierte mir die Sicht mit einem Bild. Die Person in meinem Kopf, zu schön um wahr zu sein, sah neugierig aus. Aber etwas an dem Jungen wirkte seltsam. Ich dachte eine Weile darüber nach. Er sah so verschlossen aus, als versuche er, sich von allen abzuschirmen. Ein Geheimnis lag in seinem Gesicht. Und er musste es geheim halten, aber etwas in mir verlangte danach, es zu wissen. Ich drehte das Radio so laut, dass ich unfähig war zu denken. Gott sei dank.
Es war ein schrecklicher Fehler gewesen, an ihn zu denken. Jetzt waren die Schmerzen nur noch größer; ich spürte das Loch in meiner Brust. Was war das, warum war das so? Ich hatte eine mögliche Erklärung dafür. Aber, nein! Das konnte es bestimmt nicht sein.
Abends legte ich mich früh ins Bett. Am nächsten Tag erwartete mich die Hölle. High School. Mitten im Halbjahr, na toll. Bei der Vorstellung an den nächsten Tag lief es mir kalt den Rücken hinunter. Und wenn ich ehrlich war, gab ich zu, hatte ich Angst davor. Ich war feige, wie immer.
Es klopfte an der Tür und ich fuhr erschrocken zusammen, so dass ich beinahe vom Bett fiel.
„Aufstehen!“, rief Nicole.
Ich stöhnte leise und schob die Decke zu meinen Füßen. Meine Hände zitterten.
Heute war das Wetter noch immer schön, das verwirrte mich ein wenig, da ich hier war. Und hier war das Wetter nie schön. Ich stand auf und durchwühlte die Einkaufstüten, die noch immer ungerührt dastanden, bis ich mein schwarzes Top fand. Es war noch nicht gewaschen, aber das war mir herzlichst egal. Ich mochte den Geruch von neuen Sachen, sollten die anderen doch denken, was sie wollten. Letztendlich würde ich so oder so allein dastehen.
Ich schlüpfte schnell in das Top und, als ich die Hellgraue Jeans gefunden hatte, auch noch in diese.
Mit meinem Waschbeutel unterm Arm verschwand ich ins Badezimmer. Ich putzte mir so sorgfältig wie ich es gewohnt war die Zähne und kämmte mir meine verknoteten Haare bis sie mir wellig und weich über die Schultern fielen. Ich band sie mir zu einem lockeren Pferdeschwanz. Schon jetzt lösten sich ein paar Strähnen aus dem Gummi.
„Noch zehn Minuten, bis du los musst“, rief Nicole mir eilig aus der Küche zu. „Ich hab dir eine Schale Cornflakes hingestellt.“ Ich hörte, wie Nicole ihren Stuhl zurückschob. „Aber ich muss jetzt auch gehen.“ Sie eilte in den Flur.
Ach ja. Sie musste zu einer neuen Aufnahme für einen Werbespott. Sie würde den ganzen Tag nicht da sein.
„Tschüss, Mom. Hab dich lieb.“
„Ich dich auch.“
Damit verschwand sie aus der Tür und hinterlies mir das leere Haus. Sie vertraute mir blind. Sie kam noch nicht einmal auf den Gedanken, ich könnte hier das totale Chaos anrichten.
Sie wünschte mir nicht viel Glück in der Schule, und dafür war ich ihr sehr dankbar. Dieses Thema anzuschneiden, war das letzte was ich gebrauchen konnte.
Ich suchte nach meinem dunkelgrauen Rucksack. Nach wenigen Minuten fand ich ihn ganz unten im Koffer und während ich ihn mit einem Block und Kulis, die ich in einem Regal neben dem Telefon entdeckt hatte, ausstattete, schlüpfte ich gehetzt in meine schwarzen Stiefel. Ich schnappte mir auf dem Weg zur Küche meine dünne Kapuzenjacke – sie war hellblau.
Durch das große Fenster fiel Sonne in den Raum und ich lies mich erleichtert auf einem Stuhl fallen, um zu frühstücken. Ich löffelte die Cornflakes in Windeseile in mich hinein. Die Sonne blendete mich, aber das hielt mich nicht davon ab, sie anzustarren. Wer weiß, wie lange sie noch blieb.
Nach einigen Minuten machte ich mich auf und zog mir im Gehen die Jacke über. Ich wusste, wo sich die Schule befand, früher war ich schon oft an ihr vorbeigelaufen, und war in weniger als dreißig Minuten dort. Der Weg kam mir kürzer vor, denn ich war schon wieder völlig in Gedanken vertieft.
Der Schulhof war voller fremder Leute, die mich neugierig anstarrten.
Oh Nein, dachte ich grimmig. Ich versuchte die Personen um mich herum zu ignorieren und lief stur an ihnen vorbei.
„Hannah?“ Ich drehte mich abrupt um. „Hannah! Hier bin ich.“
Mein Blick suchte in der Menge, bis ich auf die schokoladenbraunen Augen von Larissa stieß. Sie winkte mir fröhlich zu. Ich ging langsam in ihre Richtung. Ich war misstrauisch, denn neben ihr standen zwei andere Mädchen in unserem Alter – würde Larissa tatsächlich nett zu mir sein, wenn ihre Freundinnen mich sahen? Die Mädchen an ihrer Seite sahen sympathisch aus und lächelten nett. Ich lächelte etwas gezwungen zurück.
„Maike, Vanessa? Das ist Hannah.“
Aha. Maike und Vanessa.
„Wissen wir“, sagte die Blondhaarige der beiden. War es Maike oder Vanessa? Ich stöhnte und die drei Mädchen grinsten mich amüsiert an.
„Ich bin übrigens Maike“, sagte eine der beiden. Maike war also die mit den schwarzen Haaren, ich versuchte es mir einzuprägen.
„Dann bist du Vanessa“, schlussfolgerte ich. Es war logisch. Maike unterdrückte ein Lachen, sie hielt sich die Hand vor den Mund und kicherte leise.
Das blondhaarige Mädchen nickte und hielt mir ihre Hand hin. Ich griff danach und schüttelte sie sanft. Ihre Hand war ebenso klein und zierlich wie meine, sogar noch kleiner und zierlicher. Aber sie war sehr warm.
„Huch, bist du kalt“, rief sie etwas erschrocken, als unsere Finger sich berührten, und zog schnell ihre Hand aus meiner. Dann grinste sie mich entschuldigend an.
„Das höre ich öfters.“ Ich lächelte gequält.
„Damit können wir leben.“ Vanessa schüttelte ihre hellen Haare nach hinten aus und blies den Pony leicht nach oben, um ihn aus den Augen zu haben.
Larissa verfing sich in ein Gespräch mit Maike und Vanessa wandte sich mir zu.
„Na, wie war der Start?“, fragte sie mit höflichem Interesse.
„Ähm.“ Ich dachte kurz über ihre Frage nach. „Ganz gut.“
Sie lachte gelassen. „Ich kann es mir vorstellen. Ich komme selbst aus der Stadt.“ – sie machte eine kurze Pause – „Ich glaube, wir sind im gleichen Mathekurs. Wenn du willst, kannst du neben mir sitzen. Da ist noch ein Platz frei.“
„Gern.“ Es war gut, neben jemanden zu sitzen, den ich schon kannte. Ich erinnerte mich an meinen neuen Stundenplan. Wir hatten jetzt Mathe, soweit ich wusste jedenfalls. „Raum drei?“
Vanessa nickte. „Wollen wir gehen?“
Ich zuckte mit einem Blick zu Larissa und Maike die Schultern. Es sah nicht so aus, als wären sie am Ende ihres Gesprächs angelangt.
„Leute, wir gehen!“, sagte Vanessa.
„Ist es schon so spät?“ Larissa warf einen schnellen Blick auf die Uhr an ihrem Arm und verzog das Gesicht. „Oh, dann lasst uns gehen“, sagte sie hastig.
Sie lief zusammen mit Maike vor Vanessa und mir her. Wir liefen schweigend nebeneinander. Ich hatte den Eindruck, ich würde mich gut mit Vanessa verstehen. Sie war wohl meistens sehr still, keine große Rednerin. Und das war mir auch Recht so. Ruhe war mir lieber als ständiges Gequatsche.
Ich folgte dem Gespräch von Maike und Larissa.
„Und, wie war’s in der Stadt?“, fragte Maike neugierig.
„Ich hab viele Sachen gefunden. Eine super tolle Sommerjacke.
Maike tippte sie leicht mit dem Ellenbogen an. „Darauf wollte ich nicht hinaus. Hast du ihn gesehen?“, beharrte sie, ihr Stimme war kaum noch ein Flüstern.
Ich hatte es gewusst, sie hatte ganz klar jemanden gesucht. Vielleicht hätte ich doch weiter nachhaken sollen.
Larissa biss sich leicht auf die Lippe und schüttelte traurig ihren Kopf.
„Aber er hatte zu Jasmin gesagt, er würde Samstag in die Stadt fahren. Ich habe es ganz genau gehört!“ Es klang so, als müsste sie sich verteidigen. Maike starrte nachdenklich geradeaus.
„Naja, vielleicht hatte er ja seine Pläne geändert. Ich meine, ich und Hannah waren überall, wo es sich lohnt, hinzugehen.“ Nun war auch Larissa nachdenklich geworden.
„Tschüss, Larissa. Tschüss, Maike.“ Vanessas Stimme lies mich zusammenzucken. Sie war so still gewesen, dass ich sie völlig vergessen hatte.
Wir liefen eine schmale Treppe hinauf, die uns zu Haus Vier führte. Es sah aus wie ein rötlich brauner Bauklotz, mit einer weißen Tür. Vanessa betrat zuerst den Raum und zeigte mit dem Finger zum Pult.
„Da musst du hin. Mr Johnson wartet bestimmt schon. Viel Glück.“
Ich ballte meine Hände zu Fäusten, um mich unter Kontrolle zu halten. Ich war total angespannt.
Vanessa lief zu ihrem Tisch hinten im Klassensaal und ich musste mich meiner Angst ganz allein stellen und hinter dem Türrahmen hervortreten.
Mr Johnson war nett, auf den ersten Eindruck jedenfalls. Er erklärte mir schnell, was gerade im Unterricht durchgenommen wurde, bevor er mich auf den einzigen freien Platz, der sich glücklicherweise neben Vanessa befand, schickte. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich gut mit meinem Mathelehrer verstehen würde.
„Hattest du ein Glück. Ich musste mich damals vor allen vorstellen“, erzählte Vanessa leise.
Bei dieser Vorstellung wurde mir ganz übel und ich verzog mein Gesicht.
„Spätestens bis Ende des Tages kennst du sowieso die ganze Schule, jeden vom Aussehen und die meisten bestimmt auch schon beim Namen.“ Vanessa grinste. „Und sie kennen dich“, fügte sie schnell hinzu.
Ich wusste nicht, ob das eine Aufmunterung sein sollte und ob es für mich gut oder schlecht zu sein hatte. Im Moment war ich mir über gar nichts mehr im Klaren.
Während Mr Johnson den Aufbau einer Tierzelle beschrieb, stellte Vanessa mir leise alle Schüler der Klasse vor.
„Das ist Fabienne, die mit den schulterlangen, gelockten Haaren. Sie ist die Schulsprecherin und so ziemlich die beliebteste im ganzen Jahrgang“, erzählte sie mir mit einer Spur von Neid in der Stimme. „Und neben ihr sitzt Maike. Du kennst sie ja. Also ich mag Fabienne nicht besonders, aber sie ist neben Larissa und mir Maikes beste Freundin. Damit muss ich mich abfinden und wenn Maike sie nett findet, wird da wohl auch was Wahres dran sein.“
Maike warf einen Blick über die Schulter. Sie lächelte Vanessa und mir fröhlich zu. Zum Glück konnte sie uns nicht hören. Ob es sie verletzen würde, dass wir über eine ihrer besten Freundinnen sprachen?
„Und einen Tisch weiter sitzen Maik und Mark. Sie sind Zwillinge, und Maik ist seit zwei Jahren mit Maike zusammen.“ Vanessa kicherte ein wenig. „Sie passen wirklich gut zusammen, und sein Bruder, Mark, ist umwerfend! Maike findet es nicht gut, dass ich auf Mark stehe, immerhin sieht er aus, wie ihr Freund!“
„Natürlich“, murmelte ich mitfühlend. Ich konnte Maike irgendwie verstehen, obwohl ich noch nie in so einer Lage gesteckt hatte. Nicht annähernd. Zwillinge. Das war schon Pech.
„Aber Mark ist ja auch nett und so. Na ja – ich möchte dir jetzt nicht von Mark vorschwärmen. Damit werde ich dir das nächste halbe Jahr noch genug auf die Nerven gehen können.“
Das machte mir wenig aus. Und außerdem konnte ich nicht sagen, Mark wäre hässlich. Er sah relativ gut aus mit seinen kurzen, blonden Haaren, die ihm zerzaust vom Kopf abstanden. Und somit war Maik genauso hübsch – natürlich kein Vergleich zu dem Jungen mit den eisblauen Augen.
„Einverstanden.“ Ich lächelte ein wenig.
„Da vorn in der Ecke sitzen Jennifer und Jessica. Sie sind schon seit ich denken kann beste Freundinnen – seit dem Kindergarten bestimmt. Unzertrennlich wie Zwillinge. Und als ob das nicht reicht, sie sehen sich auch noch zum Verwechseln ähnlich.“ Vanessa grinste und fuhr fort. „Der große Junge mit den schwarzen Haaren ist Marco. Sein Vater ist Bauingenieur, seine gesamte Familie schwimmt nur so im Geld und er wohnt in einer Villa, wirklich ein unglaubliches Haus! Ich hab es mir Mal von Außen angesehen. In den Ferien fährt er immer nach Brasilien. Da kommt er auch ursprünglich her. Alle Mädchen aus dem elften Jahrgang stehen auf ihn, wahrscheinlich hat das viel mit dem Gehalt seiner Eltern zu tun“, sagte Vanessa abschätzig. „Aber nur weil sie sich zu jung für Alec Stix fühlen. Er sieht so viel älter aus, als er eigentlich ist. Larissa hat irgendwo aufgeschnappt, er seie erst achtzehn. Ich finde er sieht wesentlich älter aus.“
Vanessas Augen verschmolzen und sie starrte verträumt auf die Tafel. An was sie wohl gerade dachte? „Aber er hat sich erst für ein Mädchen interessiert. Sie waren mal für knapp eine Woche zusammen, aber das hat dann wohl nicht so zwischen ihnen geklappt. Jetzt sind sie beste Freunde, schon komisch. Sie sehen aus wie Geschwister. Richtig gruselig ist das, wenn man mal darüber nachdenkt!“
Vanessas Blick fuhr suchend durch den Raum. „Weißt du, ich mag ihn sehr, aber wie gesagt, hat er kein Interesse an Mädchen. Er trifft sich nie mit Mädchen und hat auch nie eine Freundin. Er und seine Familie schirmen sie aber grundsätzlich von allen ab. Ganz im Ernst, ich habe noch nie seine Stimme gehört. Wir haben alle Wetten am laufen, wer zuerst mit ihm zusammenkommt. Natürlich mache ich da auch mit.“ Ich konnte sogar hören, wie ihr Herz lauter schlug. „Aber nur so zum Spaß“, sagte sie schnell.
Ich dachten an den Tag in der Stadt zurück. „Hast du ihn gesucht? Neulich, meine ich ...“
„Gesucht? Wann habe ich jemanden gesucht?“ Sie schien verwirrt.
Ach ja, das war zusammen mit Larissa gewesen. „Ähm, ach so. Nein. Entschuldigung. Ich habe eben vergessen, dass ich mit dir und nicht mit Larissa rede. Tut mir Leid.“ Ich wurde rot.
„Und wann hat Larissa jemanden gesucht?“, fragte sie neugierig.
„Am Samstag, in der Stadt.“ Die Antwort kam reflexartig heraus.
Vanessa zuckte mit den Schultern. „Kann sein. Sie macht bei den Wetten auch mit. Alec ist der Einzige, den sie nicht rumkriegt.“
Vanessa lachte leise. „Ich hoffe inständig, dass sie es nicht schafft. Sie nimmt das Leben so verständlich, als ob sie alles haben könnte!“ Sie verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. „So ist sie eben“, kicherte Vanessa leise.
„Komisch, Alec ist heute gar nicht in der Schule.“ Vanessa seufzte. Es klang irgendwie erleichtert. Ich verstand diese Reaktion nicht, aber ich hatte noch genug Zeit, um die Menschen hier zu studieren. Also sollte ich mir jetzt nicht den Kopf darüber zerbrechen.
Die restliche Stunde verlief still. Ich versuchte mich zu konzentrieren, aber das Gesicht des Jungen war schon wieder in meinen Gedanken. Schrecklich – ich hatte das Gefühl, dass es niemals enden würde.
Nach der Stunde war Pause, und ich setzte mich zusammen mit Vanessa an eine der vielen Picknickbänke; sie waren alle leer, die meisten Schüler hatten sich in das feuchte Gras gelegt. Die Wiesen waren überfüllt. Ich sah, wie ein Mädchen aus meinem Mathekurs, die ebenfalls im Gras lag, sich aufrichtete; sie hatte lauter grüne und braune Flecken auf der weißen Jacke – ein Grund für mich, auf der Bank sitzen zu bleiben. Larissa und Maike suchten die gesamte Schule nach Alec ab, ich wusste immer noch nicht wer dieser junge war, aber es interessierte mich auch nicht, deshalb hackte ich nicht weiter nach. Dafür war die Ruhe zu angenehm.
Ich fuhr mit den Fingerspitzen über das feuchte Holz der Bank. Vanessa saß auf der Tischplatte vor mir und streckte ihr Gesicht zum Himmel, sie genoss die Sonne auf ihrer Haut so wie ich es tun sollte. Aber dieser ungewöhnlich warme Tag kam mir trotz allem noch kalt vor. So als wäre er es nicht wert, von mir beachtet zu werden.
Ich beobachtete das harmonische Geschehen um mich herum. Das hohe Gras schwankte im leichten Wind, das laute Gerede meiner Mitschüler verschwamm zu einem einziges Summen, es dröhnte in meinen Ohren, und ich blendete es aus. Ich nickte unmerklich mit dem Kopf zu einer Melodie, die mir durch die Gedanken schoss, ich kannte sie nicht, fand sie aber zu fesselnd, um an etwas anderes zu denken.
Mein Blick blieb ein einem zierlichen Mädchen hängen. Die dünnen, roten Haare hingen ihr strähnig in einem schicken Stufenschnitt bis zu den Schultern, ein leichter Braunstich lag darin. Ihre Haut war bleich und sie war auffallen schön. Sie stach ganz offensichtlich aus der Menge heraus. Ein Stern am schwarzen Himmel, könnte man sagen. Die Leute machten ihr Platz, so als hätte sie einen höheren Rang als sie, möglicherweise hatte sie das auch. Sie sah jünger aus als ich. Vielleicht war sie in der zehnten Klasse? Ihre Gesichtszüge hatten etwas kindliches, ungewöhnlich für ihr Alter. Aber was war hier schon gewöhnlich, dachte ich sarkastisch. Sie hatte einen dunkelroten Schmollmund, der einen starken Kontrast zu ihrer weißen Haut bildete, und große, rundliche Augen. Sie waren in einem seltsamen Orangerot. Die Farbe ihrer Augen machte mich aus einem unerklärlichen Grund nervös, sie beunruhigte mich, aber trotzdem war es wohl eine der schönsten Farben, die ich bisher zu sehen bekommen hatte. Die vollen Lippen bildeten ein perfektes Lächeln, wie ein Engel , als sie mit kleinen, raschen Schritten durch die Menge marschierte – man konnte wohl kaum sagen, sie würde laufen oder gehen; es klag wie eine Beleidigung, wenn man sah, mit welcher Anmut sich die Schülerin bewegte. Ihre Augen glänzten vor Vorfreude auf etwas, das ich nicht sehen konnte.
„Wer ... ist das?“, brachte ich leise hervor. Ich war überrascht von dieser Schönheit. Ich hatte nicht gewusst, dass es so etwas gab.
Vanessa folgte meinem Blick. „Amy“, antwortete sie knapp. Ihre Stimme war barsch. Dann sah sie mich an. Als sie meinem fragenden Blick begegnete, fuhr sie fort. „Amy Stix.“ Sie sagte es so, als müsste ich sie kennen. Als wäre es unmöglich, es nicht zu tun. Als wäre sie eine Berühmtheit, die sich auf dieser Schule vor all seinen Fans zu verstecken versuchte. Aber mir sagte der Name nichts. „Sie ist wunderschön, ja“, sagte sie frustriert.
Ich legte den Kopf schief und betrachtete Amy genauer. Sie trug eine weiße Bluse, dazu eine Bluejeans. Ihre schmalen Füße waren nur mit dünnen Riemchen an den glitzernden Schuhen befestigt. Ich fragte mich, wie sie mit einem so hohen Absatz so elegant laufen konnte. Für mich wäre es unmöglich gewesen.
„Sie ist Alecs Schwester“, sagte Vanessa ungeduldig, als würde es ihre Schönheit erklären. Für mich erklärte es jedoch nicht das Geringste.
Das Mädchen verschwand in die Cafeteria, und ich wandte den Blick ab. Ich dachte eine Weile über das rothaarige Mädchen nach, sie erinnerte mich an etwas, schwach; ich wusste nicht, an was.
Mein Magen knurrte laut und Vanessa hielt mir automatisch ihren Apfel hin. Sie war großzügig.
„Danke“, murmelte ich schnell und griff danach.
Die nächste Stunde hatte ich in Raum Sieben, Biologie, und Larissa rannte mit mir nach Pausenende schnell dorthin. Ich hätte beinah den Anfang des Unterrichts verpasst und Larissa, die in einem anderen Haus Unterricht hatte, hatte bestimmt Ärger bekommen, das machte mir ein schlechtes Gewissen.
„Hannah Reß?“, rief der Lehrer am Pult mir zu, als ich die Klasse betrat.
Ich nickte und lief auf dem alten Mann zu.
„Setz dich bitte neben Stephanie Paules.“ Er zeigte auf einen freien Platz. Ich lief zu dem Tisch und zog den Stuhl zurück. Er schrammte über das Linoleum. Dann ließ ich mich fallen und starrte auf die dunkelgrüne Tafel vor mir.
„Hi, ich bin Stephanie.“, hatte sich das Mädchen vorgestellt. „Ich freue mich so, dich kennen zu lernen. Ich hätte nie in meinen wildesten Träumen auch nur gedacht, dass du neben mir sitzen könntest, Hannah!“, sprudelte es aus ihre heraus. Sie sprach meinen Namen mit so einer Bewunderung aus, dass mir ganz komisch wurde. Ich verzog das Gesicht.
Und dann war sie nicht mehr zu stoppen. Die ganzen fünfundvierzig Minuten lang hatte sie geredet, als hätte sie einen Text auswendig gelernt und in doppelter Geschwindigkeit vorgetragen. Zum Großteil der Stunde blendete ich ihren Wortschwall aus, aber manchmal war es einfach zu anstrengend.
Nach dem Klingeln war ich sofort erleichtert aufgesprungen, ohne mich zu verabschieden, um nicht in ein weiteres Gespräch mit dem braunhaarigen Mädchen verwickelt zu werden. Ich war mir durchaus bewusst, dass ich unhöflich war, aber was machte es schon aus, wenn ich mich nicht gut mit meinen Klassenkameraden verstand - war ja nur für den Rest meines Lebens.
Ich flüchtete den Gang hinunter, mit dem Gefühl im Hinterkopf, verfolgt zu werden. Von Stephanie. Brr.
Ich schlängelte mich zwischen allen anderen Schülern durch, ihre Blicke klebten auf mir, was mich noch schneller voran trieb. Endlich kam der Ausgang in Sicht. Ich atmete erleichtert aus und raste hinaus auf den Parkplatz, wo Maike und Vanessa schon warteten. Ich sah, wie Larissa zusammen mit zwei Mädchen davonging. Ich konnte sie nur von hinten sehen, aber sie waren sich ähnlich.
„Larissa geht mit Jessika und Jennifer vor“, erklärte Maike, als ich völlig außer Puste bei ihnen ankam. „Was ist los?“, fragte sie und zog eine Augenbraue hoch, als sich mich skeptisch musterte.
Ich stöhnte. „Nichts. Ich hatte es nur eilig, da raus zu kommen.“
„Warum denn das?“, fragte Vanessa neugierig.
„Stephanie“, keuchte ich.
Sie verdrehte die Augen und lachte eise in sich hinein. Ich warf ihr einen finsteren Blick zu. Sie presste ihre Lippen zusammen, konnte sich ein breites Grinsen jedoch nicht verkneifen. Ich starrte wütend an ihr vorbei in die Leere, aber ihr eindringlicher Blick blieb mir nicht vorenthalten. Ich schielte einen Augenblick lang zu ihr hin. Sie starrte mich fragend an, während es um ihre Lippen immer noch zuckte. Ich blendete den Drang, stöhnend die Augen zu verdrehen und ihr wie eine fünfzehnjährige die Zuge heraus zu strecken, aus.
In der dritten Stunde saß ich neben Larissa, Maike und Vanessa am Tisch vor uns.
Madame Carm, die Französischlehrerin, warf einen kritischen Blick auf mich, aber dachte anscheinend nicht weiter über die Neue nach. Die schlanke Frau, Mitte dreißig, ignorierte mich von diesem Zeitpunkt an, und ich war froh darüber – so konnte ich unbemerkt tief auf den Stuhl rutsch, mich von den drängenden Blicken der anderen abschirmen und auf die hellbraune Tischplatte vor mir starren. Ich unterhielt mich hauptsächlich mit Larissa. Sie quasselte über alles mögliche, ein bisschen erinnerte sie mich an Stephanie Paules. Ich verzog das Gesicht. Larissa schien meine Desinteresse nicht aufzufallen, also folgte ich weiterhin meinen Gedanken. Und versuchte etwas Logisches herauszusieben, sie waren wie immer völlig wirr und unverständlich. Für mich war es kaum fassbar, dass es Leute gab, die ihre eigenen Gedanken nicht verstanden. Oder womöglich, schoss es mir durch den Kopf, war ich die einzige, der es so erging.
Ab und zu warfen Vanessa oder Maike, die uns – oder eher Larissa - gespannt belauschten, etwas ein. Maike starrte mich neugierig an, nicht auf die selbe Weise wie die anderen. Sie runzelte die Stirn und ihre Augen glänzten im Licht, sie strahlten Besorgnis aus, ganz sicher konnte ich mir natürlich nicht sein. Als ich den Blick erwiderte, lächelte sie vorsichtig und legte den Kopf schräg, während sie mich musterte. Die anderen hingegen gafften einfach nur zu mir hinüber, und bemerkten dem Anschein nach nicht, dass so was unhöflich war – andere Leute einfach anzustarren.
In der nächsten Stunde hatten wir ein weiteres mal Französisch, und wir konnten in der alten Ordnung sitzen bleiben. Ich war hin- und hergerissen, einerseits wollte ich nichts anderes mehr, als schnell weg von all den Leuten, die nichts besseres zu tun hatten, als mich unverhohlener Weise anzustarren. Andererseits hatte ich auch keine große Lust, jetzt aufzustehen und mit den anderen zur nächsten Stunde zu trotten.
Als endlich die surrende Schulklingel ertönte, war ich zutiefst erleichtert, dem Ende des langweiligen Schulmittags ein wenig näher zu sein. Als ich gerade meine Bücher zusammenklaubte und in der Tasche verstaute, kam eine Durchsage. Der Direktor begrüßte alle Schüler und Lehrer. Die Stimme flackerte, und ich konnte mir schon denken, wie alt die Lautsprecher ungefähr sein mussten. Alle im Raum erstarrten in der Bewegung und lauschten mit einer Mischung aus Neugier und Desinteresse. Als die raue Stimme bekannt gab, dass fünfte und sechste Stunde ausfallen würden, wurde es wieder lauter. In den Reihen gab es ohne Zweifel Meinungsunterschiede. Ein großes Mädchen hinter mir stöhnte auf und raunte ihrer Tischnachbarin etwas unverständliches ins Ohr. Ein paar Jungen am anderen Ende des Klassenzimmers jubelten. Ich seufzte fröhlich und schwang mir die Tasche über die Schulter.
Kein Sport! Ich fühlte mich mit einem Mal viel wohler an dieser Schule, als nur wenige Sekunden zuvor. Meine Stimmung hellte sich sofort auf und ich konnte es gar nicht abwarten, an die frische Luft zu kommen.
Ich begleitete Vanessa mit zu ihrem hellblauen Smart.
„Hast du Lust, noch mit zu mir zu kommen?“, fragte Vanessa, während sie das Auto ausschloss.
„Macht dir das den nichts aus?“ Ich war überrascht – normalerweise war es mir nicht vergönnt, dass andere meine Gesellschaft mochten.
„Nein, ich habe heute noch nichts vor.“ Vanessa warf ihre Tasche in den Kofferraum. „Also?“
„Ok“, sagte ich unsicher, hin- und hergerissen. Eigentlich hatte ich mich auf einen gemütlichen Tag alleine in meinem Zimmer gefreut, aber vielleicht ... würde ein Tag mit Vanessa auch ganz nett sein.
„Gut. Dann steig ein.“
Sie lies sich selbst auf den Fahrersitz fallen und schlug die Tür zu. Dann wartete sie kurz, bis ich mich zu ihr gesetzt hatte. Ich lehnte meinen Kopf an den hellgrauen Stoff und blinzelte zum Himmel hinauf.
Ich hatte nicht gedacht, dass ich so schnell Anschluss finden würde. Ich hatte nicht gedacht, dass ich überhaupt Anschluss finden würde. Ich war endlos verwundert – ich hatte damit gerechnet, dass es mindestens so schlimm sein würde, wie in New York. Vielleicht lag es daran, dass alle meine alten Mitschüler mich schon gekannt hatten, als ich die peinlichen Phasen der Pubertät durchmachte, und in mir noch immer das selbe Mädchen sahen.
Vanessa parkte aus und fuhr vom Parkplatz. Sie fuhr vorsichtig, aber schneller als ich. Ich war es nicht gewohnt, schnell zu fahren, und spürte wie sich die leichte Panik in meine Gedanken schlich. Ich lies mir nichts anmerkten.
„Und was wollen wir dann so machen?“, fragte sie beiläufig.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Auf was hast du denn Lust?“, beharrte sie.
„Ich weiss nicht, Vanessa. Auf was hast du denn Lust?“, fragte ich freundlich.
Sie verstummte und schien zu überlegen. „Das ist eine gute Frage“, murmelte sie, ihre Stimme war so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob sie noch mit mir sprach. „Vielleicht wäre Schwimmen eine gute Idee.“ Dann drehte sie ihren Kopf zu mir und sah mich abwartend an, und ich wusste, sie hatte mit mir gesprochen.
Ich schwamm sehr gerne, zumindest wenn ich es allein tat. Aber egal. „Klar. Aber ich muss vorher noch meine Sachen zu Hause holen.“
Zu Hause. Brr. Ich schauderte. Bei Nicole war nun mein zu Hause.
„Liegt sowieso auf dem Weg.“ Vanessa parkte den Wagen am Straßenrand ein. „Wartest du hier? Ich hole schnell meine Schwimmsachen.“ Und schon war sie weg.
Ich starrte ihr hinterher auf das kleine, weiße Haus.
Zehn Minuten später wurde die Tür vom Haus wieder aufgerissen und Vanessa lief auf mich zu.
Innerhalb von kurzer Zeit waren wir vor Nicoles kleiner Märchenvilla angekommen.
Ich runzelte die Stirn – ich hatte ihr gar nicht verraten, wo ich wohnte, seltsam. Aber ich dachte nicht weiter darüber nach.
Ich drückte vorsichtig den Griff hinunter und stieg aus. „Ich bin gleich wieder da“, sagte ich und schmiss die Tür zu. Auf dem Weg zum Haus stolperte ich ein paar Mal, und hörte Vanessa hinter mir leise lachen.
In meinem Zimmer suchte ich mir schnell ein Handtuch und den knallroten Bikini, den ich letztes Jahr von Nicole zum Geburtstag bekommen hatte, heraus – ich hatte keinen anderen. Dann schnappte ich mir noch meinen abgegriffenen Geldbeutel und verstaute die Sachen so schnell ich konnte in einer selten benutzten Handtasche – ich ging nicht oft aus.
Die Fahrt dauerte nicht lange, sie verging schweigend.
Wir bezahlten den Eintritt und verschwanden dann kurz in den Umkleiden. Als ich heraustrat, wartete Vanessa mit einem Handtuch unterm Arm schon auf mich.
Sie trug einen schneeweißen Bikini, der eine seltsame Kombination zu ihrer gut gebräunten Haut hatte, aber mir gefiel es. Ihre hellblonden Haare hatte sie zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden, die Spitzen streichelten ihr über den Nacken. Ungeduldig starrte sie auf ihre Flipflops.
„Hübscher Bikini“, sagte Vanessa auf dem Weg zu den Becken.
Ich wurde rot und starrte betreten zu Boden. „Danke“, murmelte ich.
Wir legten unsere Handtücher auf eine Liege und gingen über den rutschigen Boden zu den Becken – es grenzte an Zauberei, dass ich es schaffte, nicht hinzufallen. Ich war schon immer sehr sportlich gewesen, auch wenn ich mein Talent – oder wohl eher seine Folgen – hasste. Früher war ich jedes Jahr in die verschiedenen Mannschaften der Schule gewählt worden, ob ich wollte oder nicht, musste ich teilnehmen. Für mich glich Sport Folter. Aber trotz meiner unangenehmen Begabung, schaffte ich es oft nicht einmal über eine gerade und feste Oberfläche zu laufen, ohne zu stürzen. Ich war ein Ass an den Geräten und beim Turnen, das war klar, aber nie besonders gut beim Laufen – der wichtigsten Disziplin im Sport. Ich könnte schließlich nicht alles haben, hatte mich mein Sportlehrer aufgemuntert. Dabei wollte ich doch überhaupt nicht sportlich sein, nicht im geringsten, aber ohne beim normalen Schritttempo der Länge nach hinzuschlagen, wäre vielleicht doch ganz nützlich.
Zuerst schwammen wir ein bisschen zum Aufwärmen. Ich schwamm schneller als Vanessa, und war deshalb auch früher fertig mit den zehn vereinbarten Bahnen. Ich wartete am Beckenrand auf sie.
Den größten Teil des Tages verbrachten wir bei den großen Rutschen. Es war an diesem Tag wenig los, und wir mussten nie lange anstehen. Vanessa rutschte vor mir los. Ihr Freudenschrei hallte durch die Röhre zu mir hinauf, und ich lächelte – schön, wenn sie den Tag genoss.
Gegen sieben Uhr verließen wir das Schwimmbad.
Meine nassen Haare hinterließen einen dunkeln, feuchten Abdruck auf der Rückenlehne in Vanessas Auto. Ich entschuldigte mich kurz, aber sie winkte ab. Es würde ja schließlich wieder trocknen, hatte sie gesagt.
Vanessa setzte mich bei Nicole ab und fuhr dann weiter. Ich winkte ihr hinterher, aber sie war schon um die Ecke gebogen.
Nicole war noch immer am Set, und so betrat ich das einsame Haus. Mit Nicole mir ein Haus zu teilen kam mir ein wenig so vor, als würde ich allein hier wohnen.
Ich lief die Treppe in den Keller hinunter, und warf Handtuch und Bikini in die Waschmaschine. Ich setzte mich auf den kalten Boden im Wäscheraum und beobachtete die Kleidungsstücke, die in der Wäschetrommel herumgeschleudert wurden. Nach einer Weile wurde mir vom Zuschauen ganz schwindelig, und ich konnte nur erahnen, wie sich die dreckigen Klamotten fühlen mussten. Ich sprang mit einem Satz auf und ging dann hoch in mein Zimmer, um wieder einmal meine Mails abzurufen.
Ich holte meinen Laptop heraus und schaltete ihn an. Während er hochfuhr räumte ich ein paar meiner Kleidungsstücke schon in den Schrank. Der Computer brauchte nicht lange, um sich ins Internet einzuwählen. Dann öffnete ich das E-Mailcenter.
Zwei neue Nachrichten im Postfach. Die eine, wie erwartet, von Jan. Die andere Adresse wurde unterdrückt.
Ich öffnete die Mail meines Vater zuerst. Diesmal war sie nur kurz.
Hallo Schatz,
Ich hoffe, du hattest heute einen schönen Tag.
Ich war mit Janina Einkaufen. Das sollte nicht zur Gewohntheit werden! Wenn das so weiter geht, gehe ich pleite! Haha.
Ich vermisse dich auch,
Dad
Ich erzählte ihm von Maike und Vanessa, und von dem Tag im Schwimmbad. Es war ein langer Text, den ich schrieb – eher wie ein Tagebucheintrag, als wie ein Brief.
Aber schließlich sendete ich ihn ab.
Ich zögerte kurz, öffnete die andere Mail aber doch.
Hallo Hannah,
Ich hoffe, du hast dich schon eingewöhnt. Das wird dir die Schulzeit bestimmt erleichtern.
An die Leute hier muss man sich erst ein Mal gewöhnen, aber ich glaube ein paar von ihnen sind ganz ok. Ich kenne sie nicht sehr gut. Aber ich bin mir sicher, alle werden nett zu dir sein.
Maike und Vanessa sind zwei sehr freundliche Mädchen, so weit ich das beurteilen kann. Larissa ist manchmal etwas ... - wie soll man sagen? - ... egoistisch, aber dafür immer guter Laune.
Vielleicht habe ich dir ja geholfen, sie besser einzuschätzen. Ich hoffe sehr.
Wie findest du es bei deiner Mutter so?
LG Alec
„Alec?“, rief ich überrascht - wäre Nicole da, hätte sie mich wahrscheinlich gehört.
Ich las die Mail noch ein zweites Mal, und konnte es noch immer kaum fassen.
Alec war doch dieser beliebte Junge, nicht wahr? Und warum schickte dieser Fremde mir eine E-Mail? Oder erlaubte sich jemand einen Scherz mit mir? Oder gab es mehrere Alecs? Und woher hatte er – oder wer auch immer – meine Web-Adresse?
„Soll ich ihm antworten?“, murmelte ich leise vor mich hin.
Hallo Alec(!?) , schrieb ich in die erste Zeile.
Wer bist Du? Ich kenne Dich zumindest nicht. Oder doch?
Und woher hast du meine E-Mailadresse?
Um zu deiner Frage zurückzukehren (eigentlich geht es Dich ja nichts an): Bei Nicole ist es toll. Ich weiss nicht, was ich sonst noch dazu sagen sollte.
Hannah
Klang das zu unfreundlich? Egal, schließlich kannte ich ihn nicht. Und es ging ihn wirklich nichts an.
Ich schickte auch diese Mail ab.
Ich war so gespannt auf eine Antwort, dass ich meinen Laptop erst gar nicht zuklappte, und einfach auf dem Kopfkissen liegen ließ.
Ich stand auf und lief vor zum Fenster. Sofort klatschte wieder einer der Äste gegen die Scheibe, aber es war immer noch windstill und ich hatte auch kein Tier sehen können.
Langsam zweifelte ich ernsthaft an meiner Zurechnungsfähigkeit – bildete ich mir den Ast, der noch immer vor meinem Fenster hin- und herschwankte, nur ein?
Ich lief wieder zurück zu meinem Laptop und rief die Mails erneut ab. Tatsächlich hatte ich eine neue E-Mail im Postfach.
Ich öffnete sie gespannt.
Ja – Ich heiße Alec, wie bereits gesagt.
Ich bin in einem Deiner Kurse - Mathe.
Und, so weit ich mich erinnere, warst Du doch am Samstag in der Stadt? Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Dich gesehen habe.
Zu der zweiten Frage sage ich zu Deiner eigenen Sicherheit lieber nichts. Glaub mir, es ist besser für Dich.
Du hast Recht. Es geht mich nichts an. Tut mir Leid, wenn ich zu aufdringlich war. Aber falls es Dir nichts ausmacht, meine Frage zu beantworten, könntest Du mir zum Beispiel verraten, wie Dir das Essen bei Deiner Mutter schmeckt oder so etwas derartiges.
Alec
Ich erstarrte, während ich die Mail ein drittes Mal durchließ, und mir etwas einfiel.
Alec, der Mädchenschwarm und daraus zu schließen mit guten Aussehen, war Samstag in der Stadt gewesen und hatte mich gesehen. Außerdem seine Schwester Amy – wunderschön und mit einer weißen Haut. Seine Neugierde mir gegenüber ...
War es da nicht möglich, dass er der Junge mit den braunen Haaren und den eisblauen Augen war? Ich schluckte. Wenn das so war ... Was war dann?
Ich wusste es nicht, aber ich konnte hören, wie mein Herz lauter und unregelmäßig schlug – ich konnte mir nicht erklären, was das zu bedeuten hatte.
Während ich tippte, zitterten meine Hände so stark, dass ich mir Mühe geben musste, die richtigen Buchstaben zu treffen.
Ich glaube, ich habe schon von Dir gehört. In der Schule, meine ich.
Und Ja – ich war am Samstag in der Stadt. Wo hast Du mich denn gesehen? Beschreib Dich doch mal. Vielleicht habe ich Dich ja auch gesehen.
Aber ich wüsste schon gerne, woher Du meine Web-Adresse hast. So schlimm kann es ja nicht sein!
Was findest Du denn so interessant daran, wie ich das Essen bei Nicole finde?
Hannah
So würde ich herausfinden, ob Alec tatsächlich der Junge war, dessen Gesicht mir schon wieder die Sicht vernebelte und meine Konzentration stark abschwächte.
Ich wurde ganz aufgeregt vor Neugierde und rief schon wenige Sekunden später wieder meine Mails ab.
Schon wieder eine neue Nachricht. Wie schnell konnte er bloß tippen?
Ich öffnete sie.
Was hast Du denn von mir so alles schon gehört? Es gehen viele Gerüchte um, die nicht unbedingt wahr sind.
In einem Geschäft im Einkaufscenter und im Café am Stadtplatz.
Also, ich habe hellbraune Haare und blaue Augen.
Es ist schlimmer, als Du denkst. Vertrau mir, bitte! Ich flehe Dich an ...
Alec
Er hatte meine letzte Frage einfach ignoriert. Aber es war ja auch nicht wichtig. Vielleicht hatte er sie ja einfach übersehen. Wichtig war jetzt nur eines - Alec war der Junge, und er schrieb mir Mails! Mein Herzschlag wurde noch schneller und lauter – ich hatte nicht geglaubt, dass das noch ging.
Was ist denn bloß los mit mir?, fragte ich mich verwirrt.
Ich habe von Dir nur gehört, dass du Mal mit Deiner jetzigen besten Freundin zusammen warst. Für eine Woche oder so.
Ich denke, ich habe Dich auch gesehen. Eisblaue Augen und blasse Haut?
Hannah
Ich überlegte kurz, bevor ich auf „Senden“ drückte – hatte ich noch etwas von ihm gehört? Das mit den Wetten würde ich lieber auslassen ... Mir viel nichts mehr ein.
Auf meine E-Mailadresse ging ich auch nicht mehr ein – wenn er mich schon so bat ... Wie hätte ich Nein sagen können – es war unmöglich -, und sendete ab.
Eine Minute später rief ich meine Mails wieder ab, und war diesmal überhaupt nicht überrascht, schon eine Nachricht vorzufinden.
Ja, mit Jasmin. Für eine Woche ist richtig ... Aber das ist schon eine Ewigkeit her.
Ziemlich blass. Du bist aber auch nicht gerade sehr braun!
Ich muss jetzt meinen Laptop ausschalten. Meine kleine Schwester will ran.
Schlaf schön!
Bis morgen,
Alec
Verwundert ertappte ich mich, wie ich mich fragte, was wohl eine Ewigkeit in seinen Augen war.
Es schmerzte, dass er vom PC weggehen würde. Sehr sogar. Aber die Tatsache, dass er „Bis morgen“ gesagt – geschrieben - hatte, ließ mich breit lächeln.
Mach Dich nicht über mich lustig!
Wie heißt Deine kleine Schwester? Ich habe leider keine Geschwister. Aber ich wünschte, ich hätte eine kleine Schwester. Das wäre so toll!
Okay, bis morgen,
Hannah
Aus irgendeinem Grund wollte ich unbedingt, dass er mich kannte und viel – wenn möglich sogar alles – über mich wusste. Ein sehr seltsames Verlangen.
Ich schickte auch diese Mail ab und klappte meinen Laptop zu, verstaute ihn dann unter meinem Bett.
Am nächsten Morgen sprang ich viel zu früh und ohne Nicoles Wecken hellwach aus dem Bett.
Das Wetter wurde wieder schlechter und es nieselte leicht, also suchte ich in den Tüten nach meinem neuen Langarmshirt. Es war weiß – leicht gelblich – und hatte einen V-Ausschnitt. Es lag eng an, war aber sehr bequem. Ich fand, es sah elegant aus. Dann schlüpfte ich schnell in eine Röhrenjeans, sie war im Used-Look. Schließlich verschwand ich im Bad. Ich putzte mir meine Zähne extra lange, um keinen Mundgeruch zu haben, würde Alec mir tatsächlich über den Weg laufen. Ich war mir ganz sicher, irgendetwas stimmte nicht mit mir. Und was es auch immer war, wollte zu diesem Jungen.
Ich kämmte mir meine Haare sorgfältig und schüttelte sie dann nach hinten aus.
Dann warf ich einen schnellen Blick in den Spiegel. Ich war zufrieden mit mir. Zwar völlig durchschnittlich, aber annehmbar.
Ich rannte kurz in die Küche und löffelte die Schale mit Cornflakes leer, die Nicole mir hingestellt hatte. In diesem Moment saß meine Mutter wohl auf der Couch und sah Fern, sie musste erst in einer halben Stunde los.
Meine Tasche stand schon an der Tür bereit und ich zog mir schnell meine weinfarbenen Chucks an. „Ich muss los!“, rief ich Nicole zu und verließ das Haus.
Auf dem Schulhof waren erst ein paar Schüler. Die meisten saßen noch in ihren Autos und hörten Musik.
„Hi, Hannah! Auch schon da?“, hörte ich die Stimme von Maike hinter mir.
Ich fuhr herum.
„Ja“, antwortete ich knapp, ich hatte jetzt keine Zeit für ein Gespräch mit Maike.
Mein Blick fuhr suchend über den Parkplatz.
„Du wirst nicht glauben, was ich dir jetzt erzähle!“ Ich verdrehte heimlich die Augen – egal was es war, es würde mich wohl kaum mehr interessieren, als die Möglichkeit Alec zu begegnen. Maike strahlte mich an, dann wurde sie leiser – flüsterte. „Ich habe gestern Abend eine Mail von Alec bekommen.“
Ach, du auch?, wollte ich sie anschreien, traute mich aber nicht. Ich war niedergeschlagen über die Tatsache, dass ich nicht das einzige Mädchen war, das von Alec Mails bekam. Ich war richtig traurig. Ein kleiner Teil in mir war wütend auf Alec, aber der andere Teil in mir schaffte es nicht, wütend zu werden – so sehr er sich auch anstrengte. Außerdem konnte Alec ja nichts dafür, dass ich nun dieses unangenehme Brennen im Magen verspürte, und das wusste ich. Es tat fast richtig weh.
Meine Hand fuhr automatisch an den Bauch. „Ich glaube, mir ist übel“, brachte ich mühsam heraus.
„Soll ich dich zu Krankenschwester bringen?“, sagte Maike besorgt.
Ich nickte schwach. Mein Magen brannte noch immer wie Feuer, und der Schmerz hielt an.
Woran lag das, und – was mich noch mehr beschäftigt - was hatte Alec ihr geschrieben?
Bei dem letzten Gedanken flammte das Feuer erneut in einer heißen Stichflamme auf und vernichtete meine Lunge – sie wurde auf schmerzhafte und qualvolle Weise langsam verbrannt. Meine Atemzüge wurden kürzer, und ich schnappte hektisch nach Luft, als ich meine Lunge nicht mehr spürte.
„Soll ich dich stützen?“, fragte Maike leise und besorgt, als wir uns auf den Weg zum Krankenzimmer machten.
„Hannah, Maike! Hallo!“ Vanessa rannte zu uns, ich hörte ihr leisen Schritte hinter mir – sie wurden immer lauter. „Was ist denn mit dir los? Du siehst überhaupt nicht gut aus.“ Sie sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und ausnahmsweise grinste sie Mal nicht. „Geht ihr zur Krankenschwester?“
„Wir sind gerade auf dem Weg“, meinte Maike hastig.
„Ich komme mit. Ja? Bis zum Klingeln sind es noch ein paar Minuten und wir haben dann eh Mathe. Ich kann bei ihr bleiben.“
Ich nickte dankbar. Alles was ich nicht wollte, war alleine in einem kleinen Raum zu sitzen – ohne Ablenkung.
Die Frau in der Krankenstation sah ganz aufgebracht aus, als sie mich sah. Ich wusste nicht, dass ich so schlimm aussehen musste. „Leg dich doch erst ein Mal hin, Schätzchen.“ Sie deutete auf eine große weiche Couch. „Es kann nur einer von euch dableiben. Tut mir Leid“, sagte sie dann an meine neuen Freundinnen gewandt.
„Das haben wir ja schon ausgemacht. Tschüss Vanessa, Tschüss Hannah. Gute Besserung!“ Maike verließ den Raum zusammen mit der kurzhaarigen Frau.
Nach wenigen Minuten kehrte die leichte Farbe in mein Gesicht zurück. Das Brennen war noch nicht verschwunden, aber der Schmerz hatte nachgelassen. Oder man konnte wohl eher sagen, dass ich mich langsam daran gewöhnte.
„Ich wollte dir noch was erzählen“, begann Vanessa leise. „Denkst du, du kannst mir folgen?“, fragte sie zweifelnd.
„Ja“, sagte ich mit heiserer Stimme, es war nicht mehr als ein Flüstern.
„Eine gute Nachricht für dich.“ Sie begann zu strahlen. „Eigentlich soll ich niemandem davon erzählen.“, fuhr sie langsam fort.
Jetzt wurde ich ungeduldig. „Komm auf den Punkt, Vanessa“, drängte ich sanft.
„Ich hab eine Mail von Alec bekommen. Gestern Abend.“
Die Flamme in meinem Bauch versetzte mir einen schmerzhaften Stich in die Seite und ich zuckte heftig zusammen. Jegliche Farbe wich wieder aus meinem Gesicht, und schon wieder wurde ein großes Loch in meine Lunge gebrannt. Ich rang um Luft.
Was war das denn bitte für eine gute Nachricht?
„Oh. Geht es dir wieder schlechter?“, rief Vanessa mit vor Schreck weitaufgerissenen Augen, und stand urplötzlich neben mir.
Ich versuchte zu lächeln. „Es geht schon.“
„Also gut“, startete sie zögerlich einen neuen Versuch. Sie beobachtete jede meiner Bewegungen kritisch, ehe sie vorfuhr. „In der Mail stand, ich solle nett zu dir sein und viel mit dir unternehmen, damit du dich leichter einlebst.“
Mein Mund klappte auf und das Brennen war Augenblicklich verschwunden. Ich merkte wie sich meine Augen weiteten und mein Herz wieder schneller und lauter klopfte. Ich hoffte, Vanessa würde es nicht schlagen hören, denn ich hörte es laut und deutlich. Ich spürte, wie ich rot anlief.
Vanessa strahlte mich an. „Kennst du ihn?“
„N-Nein“, stammelte ich. „Ich habe ihn nur in der Stadt gesehen. Aber wir haben uns nicht unterhalten.“
Vanessa dachte kurz darüber nach. „Naja. Ich musste ihm versprechen, immer ein Auge auf dich zu haben.“ Sie zwinkerte mir zu.
Aber dann fuhr sie sich verlegen durch die Haare. „Eigentlich sollte ich gerade dir nichts davon erzählen, hatte er gebeten. Das musste ich auch versprechen. Ich hoffe, er ist mir nicht böse.“ Dann lachte sie leise. „Aber eigentlich habe ich mit ihm sowieso nichts zu tun, also kann es mir herzlichst egal sein.“
„Woher hat er denn dann deine Web-Adresse?“ , platzte ich mit meiner Frage, die mich schon die ganze Zeit beschäftigte, heraus.
Vanessa runzelte die Stirn. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ich weiss es nicht.“ Sie biss sich nachdenklich auf die Unterlippe.
„Aber wenn er dich mag, hat Larissa zumindest keine Chance bei ihm. Und das ist etwas Gutes.“ Sie lächelte sanft. „Findest du ihn gut?“
„Ich kenne ihn nicht“, meinte ich, bedacht darauf, mir die Wahrheit nicht anmerken zu lassen. Ich war mir zwar nicht sicher, ob ich ihn nun gut fand oder nicht, aber zumindest hatte ich nichts gegen ihn.
Ich war völlig in Gedanken über ihre Frage versunken, als es mir plötzlich klar wurde. Wie ein Blitzschlag traf mich die Erkenntnis.
Natürlich fand ich ihn gut, deshalb sah ich immer sein Gesicht, wie in diesem Moment auch. Das war der Grund! Ich mochte ihn. Mochte ihn zu sehr. Mehr, als er mich je mögen würde, das war mir bewusst. Und doch war es mir in diesem Moment egal, denn ich war so erleichtert darüber, dass ich nun wusste was mit mir los war. Aber wie ging das? Ich kannte ihn doch nicht einmal!
Plötzlich ging die Tür auf; die Frau kam wieder herein. „Geht es dir besser?“
Ich nickte leicht und stand auf.
„Liebes?“ Sie tippte Vanessa auf die Schulter. „Ich habe den Eindruck, sie ist ein wenig blass. Fährst du sie bitte nach Hause? Ich werde euch beide selbstverständlich für heute entschuldigen“, sagte die Frau leise und schielte zu mir herüber.
Vanessas Blick huschte zu mir. „Mache ich. Komm, ich fahr dich nach Hause, Hannah.“
Ich zuckte mit den Schultern und folgte ihr zur Tür hinaus.
Draußen lachte Vanessa laut auf. „Du siehst völlig normal aus, Hannah! Ich schätze, du bist immer so blass, nicht?“
Ich wurde rot. „Ja.“
„Also. Dann machen wir uns mal einen schulfreien Tag, oder?“
Dagegen gab es nichts einzuwenden. „Klar.“ Aber dann blieb ich abrupt stehen. „Nein!“ Ich schrie es fast.
„O Gott! Was ist denn?“, fragte Vanessa panisch.
Ich wurde noch röter und biss mir auf die Lippe. „Lass uns lieber in der Schule bleiben.“
Vanessa sah mich verwirrt an. „Warum?“
Ich schluckte.
„Du findest ihn doch gut!“ Es klang wie ein Vorwurf, aber Vanessa kicherte.
„Ganz bestimmt nicht“, log ich gereizt, aber meine Stimme klang ein wenig zu hysterisch.
Vanessa zog ihre Augenbrauen nach oben. „Sicher.“ Ihre Stimme war voller Ironie.
Ich schüttelte leicht den Kopf. Sie glaubte mir kein Wort, sie durchschaute mich genau wie meine Mutter es immer tat.
„Also bleiben wir hier.“ Sie seufzte. „Und wenn er gar nicht da ist?“
Er hat es aber gesagt, wollte ich einwerfen, aber meine Stimme versagte - er hatte schließlich nichts versprochen. „Ach, gehen wir.“
Vanessa nickte zufrieden. „Alles klar. Dann komm!“ Sie packte mich am Arm und zog mich Richtung Parkplatz, darauf bedacht, mich ins Auto zu kriegen, bevor ich es mir anders überlegen könnte.
„Ganz ruhig, Vanessa. Du bekommst schon deinen freien Tag, aber tu mir den Gefallen und setz mich schnell zu Hause ab.“ Ich legte den Kopf schief. „Und lass mich bitte vorher los“, fügte ich hinzu.
Vanessa nahm ihre Hand von meinem Arm. „Geht es dir wieder schlechter?“
„Ja.“ Das war nicht gelogen. Mir war tatsächlich ganz übel, denn mir war klar, dass ich Alec erst morgen sehen konnte. Jetzt da ich bescheid wusste, konnte ich es gar nicht abwarten, ihn zu sehen.
Vanessa hielt nach wenigen Minuten vor Nicoles Haus. „Danke für’s Fahren.“
„Ich hab dir zu danken, für den freien Tag.“ Sie lachte leise und fuhr davon, während ich zur Tür lief und aufschloss.
Nicole war schon weggefahren und ich würde den gesamten Tag daheim verbringen, allein.
Das Erste, was ich tat, war meinen Laptop ins Wohnzimmer zu holen und es mir auf der Couch gemütlich zu machen, während er hochfuhr.
Drei neues Mails.
Ich öffnete sie wie immer nach der Reihe.
Die Erste von Jan, natürlich.
Hallo meine Kleine,
Schön, dass Du so schnell neue Freunde findest.
Ich rufe demnächst mal an, wenn ich dazu komme.
Hab Dich Lieb,
Dad
Ich begann zu tippen.
Hallo Dad,
Mach das ruhig. Ich habe immer Zeit für Dich.
Ich vermisse Dich,
Hannah
Nicht sehr lang, aber er würde anrufen. Also sendete ich ab.
Die zweite Mail war von Kathrin.
Sie hatte einen eigenen Laptop bekommen und könnte nun öfters schreiben. Außerdem hatte sie zusammen mit ihrer besten Freundin geplant, in den Urlaub zu fahren und in den nächsten Ferien würde sie mich gerne besuchen, und Larissa, die anderen und meine Mutter kennen lernen.
Ich schrieb ihr, dass ich mich über einen Besuch sehr freuen würde.
Um mehr zu schreiben, war ich gerade nicht im Stande, denn ich hatte ja noch die dritte Nachricht. Sie war vor drei Minuten abgeschickt worden.
Ich öffnete auch diese.
Meine Schwester heißt Amy. Sie ist sechzehn.
Glaub mir, wenn Du erst einmal eine hast, möchtest Du keine mehr. Aber manchmal können kleine Geschwister auch sehr nützlich sein.
Gute Besserung! Kommst du morgen in die Schule? Ruhe Dich liebe noch ein bisschen aus, Du wirst nichts verpassen.
Liebe Grüße Alec
Ich verzog das Gesicht. Er war also in der Schule. Diese Tatsache versetzte mir wieder einen heftigen und brennenden Stich in die Seite. Ich stöhnte laut.
Hey Alec,
Wie kommt es, dass Du von der Schule aus Mails schreiben kannst?
Ich bin morgen wieder in der Schule. Mir ist nur ein wenig übel! Ich hätte eigentlich auch in der Schule bleiben können, aber ich wollte Vanessa einen freien Tag spendieren.
Liebe Grüße Hannah
Ich verschickte diese Mail und holte mir ein Glas Wasser. Jetzt würde ich sicher länger auf eine Antwort warten müssen, denn es war mitten im Unterricht.
Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, rief ich trotzdem die E-Mails ab und hatte überraschender Weise eine neue Nachricht.
Ich öffnete sie.
Ich habe mich abholen lassen, weil es mir nicht so gut ging, aber jetzt geht es mir wieder besser.
Ich werde morgen auch wieder da sein.
Liebe Grüße Alec
Oh. Ihm ging es auch nicht gut, dachte ich besorgt. Ich hatte das drängende Verlangen, ihn zu trösten.
Dann Dir auch gute Besserung – auch wenn es Dir schon wieder gut geht.
Sagst du mir jetzt das wegen meiner E-Mailadresse? Ich kann Geheimnisse für mich behalten.
Liebe Grüße Hanna
Ich hatte nur mit zittrigen Fingern getippt, ich war furchtbar nervös.
Eine Minute später hatte ich schon eine neue Nachricht.
Danke.
Nein – Frag bitte nicht mehr. Zu Deiner eigenen Sicherheit, nicht vergessen, ok?
Ich muss jetzt wieder vom PC weg. (Diesmal muss mein Vater ran, wegen etwas geschäftlichen)
LG Alec
PS: Du hast das „H“ am Ende von Deinem Namen vergessen!
Ich seufzte. Schade, dass ich nicht weiter mit ihm schreiben konnte. Das machte mich traurig, und ich verbrachte niedergeschlagen den Rest des Tages auf der Couch.
Am nächsten morgen hatte ich genug Zeit, mich fertig zu machen, denn mal wieder war ich hellwach aus dem Bett gesprungen. Ich versuchte mir einzureden, dass es etwas mit meinen Freunden zu tun hatte. Aber ich kannte den Grund nur zu gut – und er beunruhigte mich.
Als ich den Parkplatz betrat, kamen Vanessa und Maike mir schon entgegen.
„Geht es dir besser?“, fragte Vanessa besorgt und musterte mich mit ernster Miene. Als sie sah, dass es mir gut ging, lächelte sie breit. Sie wurde immer mehr wie Larissa, stellte ich fest.
„Ja“, bestätigte ich ihre Annahme knapp. Dann wandte ich mich Maike zu. „Hi, Maike“, begrüßte ich sie schlicht.
„Hi, Hannah.“
Die ersten fünf Stunden verliefen langsam und ich langweilte mich, denn die Themen hatte ich alle schon durchgenommen. Ich brauchte nicht aufzupassen.
Heute hatte ich kein Mathe, und so weit ich herausgestellt hatte, war Alec nur in diesem Kurs mit mir gemeinsam, genau wie er gesagt hatte.
Nach der fünften Stunde lief ich gemeinsam mit den Mädchen in die Cafeteria. Wir setzten uns an einen großen Tisch, wo Vanessas andere Freunde schon warteten - Mark und Maik, Jessica und Jennifer, Fabienne, Daniela und Kim. Sie waren eine große Gruppe, und sie nahmen mich in ihre Gemeinschaft auf – so schien es mir. Ich war überrascht, mal wieder.
Ich suchte die Cafeteria nach dem Jungen ab.
Als ich ihn entdeckte, war ich sofort bester Stimmung. Ich starrte ihn ungläubig an – er war tausendmal schöner, als ich es in Erinnerung hatte.
An seinem Tisch hatten sich drei Jungen und vier Mädchen versammelt. Die zierliche Amy starrte auf das leere Tablett vor sich. Ihr leuchtend rotes Haar zitterte in der Briese, die durch das offene Fenster hineinwehte. Das Mädchen neben ihr tauschte einen langen, vielsagenden Blick mit dem Jungen ihr gegenüber, er streckte gerade seine Hand nach etwas aus, verharrte aber in der Bewegung. Blitzschnell drehte er sich zu mir um, der Ausdruck, der in seinen Augen lag, war erfüllt von Angst und Abscheu. Ich zuckte zurück, war jedoch nicht im Stande dazu, wegzuschauen. Der große, schwarzhaarige Junge, der neben ihm saß, legte ihm eine Hand auf die Schulter. Ich betrachtete den schwarzhaarigen genauer. Seine schneeweiße Haut bildete einen seltsamen Kontrast zu den Pechschwarzen Haaren. Er warf einen kurzen Blick über die Schulter, er sah nicht ängstlich aus – eher neugierig. Er strahlte Freundlichkeit aus und lächelte. Die blonde Schönheit neben ihm warf dem Jungen einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte, und rammte ihm den Ellbogen in die Seite. Am Ende des Tisches saßen zwei Mädchen, sie glichen sich wie ein Ei dem anderen. Beide hatten dieselbe weiße Haut und hellbraune, lange Haare mit einem Rotstich. Ihre Augen glänzten eisblau – mir war sofort klar, dass die beiden mit Alec verwandt sein mussten. Sie waren wohl die jüngsten am Tisch, vielleicht vierzehn Jahre alt. Im selben Moment sahen beide zu mir hinüber und fingen plötzlich an zu kichern. Der Junge neben ihnen warf einen strengen Blick auf sie. Seine blonden Haare standen in alle Richtungen ab. Vom Aussehen her könnte man ihn locker für einen Studenten halten. Er war bestimmt der älteste. Zusammen waren sie acht, und sahen alle umwerfend schön aus.
Alecs sah jeden von ihnen eindringlich an. Seine Miene war streng und angespannt, aber seine Augen verrieten Sorge.
Und dann sah er mich an.
Ich senkte so schnell ich konnte den Blick und wurde rot wie eine Tomate.
„Leute, seht ihr das? Alec starrt Hannah an“, sagte Vanessa leise und kicherte.
Ich sah, dass Larissas Gesichtsausdruck sofort hart wurde. Ihr Blick huschte zwischen mir und Alec hin und her.
Ich warf vorsichtig einen Blick zu der sonderbaren Gruppe.
Er, der mit abstand schönste von allen, hatte den Blick gesenkt und starrte wütend auf die Tischplatte.
Ich zuckte leicht zusammen, als sein wütender Blick meinen traf. Er verzog finster das Gesicht, und fauchte dann die kleine Blondine böse an, als sie versuchte ihn zu beruhigen. Ich konnte nicht hören, was er sagte, aber der Wortwechsel sah nicht freundlich aus.
Er drehte sein Gesicht wieder in meine Richtung und in seinen eisblauen Augen glitzerte die Wut. Er atmete tief ein und drehte seinen Kopf dann ruckartig weg. Seine Bewegung war so schnell, dass das Bild vor meinen Augen verschwamm.
Ich biss mir auf die Lippe - neulich war er doch noch so freundlich gewesen, bei den Mails und im Geschäft hatte er auch so anders gewirkt. Dieser Ausdruck in seinem Gesicht machte mir Angst. Ich sah, wie die Wut sein Gesicht verzerrte, und plötzlich sah er weniger schön aus. Und ich bemerkte auch, dass er nur mir diesen Blick zuwarf. Wenn er nicht mich ansah - und mir wütende und beängstigende Blicke zuwarf, sollte ich wohl hinzufügen -, starrte er beweglos auf das leere Tablett vor sich, die Muskeln angespannt und die Hände zu Fäusten geballt.
Vanessa tippte mich an. „Was hat der denn?“, fragte sie ein wenig abschätzig. „Der schickt dir die ganze Zeit böse Blicke!“
Danke, Vanessa!, fauchte ich sie im Stillen an. Als ob ich das nicht schon selbst bemerkt hätte.
Und um mir ihren Verdacht zu bestätigen – als hätte er uns belauscht – schickte er noch so einen dieser Blicke.
Ich verzog wütend mein Gesicht. Wenn er sauer war und irgendwelche Probleme mit mir hatte – warum auch immer, es gab schließlich keinen Grund dazu – konnte er diese auch allein mit mir klären, und nicht in der gesamten Öffentlichkeit breittreten.
Unsere Blicke trafen sich. Ich konnte genau sehen, wie er zusammenzuckte, als er mein ebenso wütendes Gesicht sah, und schnell seinen Kopf in die andere Richtung wendete.
Vanessa schüttelte nachdenklich den Kopf. „Hat er irgendein Problem mit dir?“ Sie überlegte einen Moment. „Ich dachte ihr kennt euch nicht!“, meinte sie vorwurfsvoll.
Ich ignorierte sie und biss sauer in den Apfel.
„Lass deine Wut doch nicht an dem armen Obst aus!“, lachte Mark, als ich in seinen umherschweifenden Blickwinkel kam, und bemerkte sofort, als Alecs Kopf zu unserem Tisch herumschnellte. Für einen winzigen Augenblick konnte ich sehen, wie die nackte Panik seine Kontrolle übernahm. Er sah zutiefst geschockt aus, die Wut war wie weggewischt. Ich konnte keine vernünftige Erklärung für diese Stimmungsschwankung ausmachen. Aber dann schaute er wieder weg.
Auch Mark versuchte ich zu ignorieren, aber das war nicht so leicht, denn sein lautes Lachen echote in meinem Ohr wieder. Aber ich tat mein Bestes.
In den nächsten drei Stunden versuchte ich mich zu konzentrieren, was aber völlig erfolglos blieb. Die Themen langweilten mich zu Tode, und so waren meine Gedanken wieder zu Alecs und meiner letzten Begegnung zurückgelangt. Ich starrte auf das leere Blatt vor mir und zählte immer wieder die Linien darauf, um wenigstens etwas zu tun zu haben.
Nach der achten Stunde fuhr Vanessa mich schnell nach Hause. Sie hatte mir angeboten, mich am nächsten Tag abzuholen und mit zur Schule zu nehmen.
Der Tag verging schneller als gewöhnlich - ich hatte viel zu erledigen. Die Hausaufgaben und, da Nicole mal wieder nicht da war, auch noch der Haushalt. Ich wusch die dreckige Wäsche, putzte das ganze Haus und räumte die Spülmaschine ein. Aber leider waren das alles nur Aufgaben, bei denen mein Denken unterfordert war – nur meine Hände waren beschäftigt, und ich musste wieder an den Vormittag denken ...
Der nächste Morgen verlief planmäßig. Ich machte mich fertig und stand überpünktlich vor dem Haus. Vanessa holte mich mit ihrem Smart ab, und wir erreichten kurz nach dem Anfang der ersten Stunde die Tür. Ich schluckte schwer – bestimmt würde Alec da sein, ich hatte kein gutes Gefühl dabei.
Als wir den Raum betraten nahm ich als erstes die wütenden eisblauen Augen wahr. Ich zuckte automatisch zurück, riss mich aber einen Augenblick später wieder zusammen.
Ich lief durch Alecs Reihe zu meinem Tisch und warf genau neben ihm die Haare zurück, um ihm meine nicht vorhandene Abneigung zu beweisen. Schrecklich, dieses Spiel.
Vanessa passte an diesem tag besonders im Unterricht auf – ganz untypisch für sie, aber ich vermutete, dass es etwas mit dem neuen Thema zu tun hatte. Naja, für sie neu, denn auch das hatten wir an meiner alten Schule schon durchgenommen, und ich konnte Alec weiterhin beobachten, ohne etwas zu verpassen. Immer wenn er seinen Kopf nach hinten drehte, und mir diese schrecklichen Blicke zuwarf, senkte ich meinen Kopf und ließ die dunklen Haare als einen Vorhang mein Gesicht verdecken. Das Spiel, das ich nicht spielen wollte, da ich nicht so war, wie die Figur, die ich sein musste, spielten Alec und ich die gesamte Stunde lang. Zumindest war es für mich nichts weiter als ein Spiel, für ihn höchstwahrscheinlich Realität – sein unerträglicher Hass war Wirklichkeit, und nicht nur eine Lüge, die dazu diente mich verrückt zu machen oder in den Wahnsinn zu treiben. Am Ende von Mathe räumte ich meine Sachen schnell zusammen, und lief an ihm vorbei, wobei ich ihm einen Blick zuwarf, der so finster war, wie ich es hinbekam – es war nicht leicht, sauer zu sein, wenn man in so ein Gesicht sah. Es wäre leichter gewesen, ihn anzuschmachten, und es wäre mir auch lieber gewesen. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie er beschämt seinen Blick senkte und sein Buch unter dem Tisch in einem Rucksack verstaute.
Was sollte das denn jetzt? Mit dieser Reaktion hatte ich nicht gerechnet.
Beim Mittagessen setzte ich mich wieder zu den anderen an den großen Tisch. Alec war nicht in der Cafeteria, und die sieben anderen saßen allein und schweigend am Tisch. Sie sahen niedergeschlagen aus – sogar die hübsche Blondine, auch wenn sich in ihren leuchtend grünen Augen unbeschreiblich großer Hass verbarg.
Alec verbrachte diese Freizeit wohl anderweitig. Wo war er wohl hin? Trotz seiner Feindseligkeit mir gegenüber machte es mich ganz rasend, nicht zu wissen wo er steckte. Meine Stimmung sank noch tiefer als zuvor.
Am Nachmittag stellte ich mich unter die Dusche und lies das heiße Wasser an meinen Nacken prasseln. Ich spürte nach und nach wie sich meine verspannten Muskeln langsam entspannten und weicher wurden. Ich seufzte und stieg aus der Dusche. Ich schlang das große Handtuch fest um meinen Körper und lehnte mich an die beheizte Wand, um die Wärme bei mir zu haben, ich war noch nicht bereit, sie loszulassen. Nach einer halben Stunde an der Heizung war ich langsam sogar vollkommen trocken, und ich ging in mein Zimmer, um mir meinen Schlafanzug anzuziehen.
Kaum hatte ich das Handtuch beiseitegelegt, wurde mir kalt und ich beeilte mich umso mehr mit dem Umziehen.
Während ich mir meine noch leicht feuchten Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz band, fuhr ich meinen Laptop hoch.
Ich hatte eine neue Nachricht von Jan, aber ich öffnete sie nicht, sondern machten den Computer wütend wieder aus. Ich wusste, ich hatte mir Hoffnungen gemacht, von jemand anderem eine Nachricht bekommen zu haben. Aber, so wie die Dinge im Moment standen, war das sehr unwahrscheinlich.
Mach dir nichts draus, sagte ich mir, konnte mich aber selbst nicht so richtig überzeugen.
Ich war wütend auf Alec - unerklärlicherweise. Er hätte mir wenigstens eine E-Mail schicken können.
Aber er ist nicht verpflichtet dazu, und wir sind auch nicht befreundet, sagte ich mir, um mich zu beruhigen. Es half nichts.
Ich schob den Laptop an seinen Platz unters Bett und kuschelte mich in meine warme Decke.
Die Tage vergingen.
Alec war genauso abweisend, wie an jenem Tag und jede Mathestunde spielte ich meine Rolle in dem Spiel – immer die selbe Aufgabe. Ich fühlte mich wie ein Schauspieler, der dazu gezwungen wurde, ein Stück vor einem riesigen Publikum vorzutragen. Und jede Stunde stellte ich am Ende seinen beschämten Blick fest, der davor jedes Mal ganz sicher wütend und finster war. Langsam begann ich, mich auch für die Sache zu schämen, schließlich waren wir nicht mehr im Kindergarten und konnten Probleme wie vernünftige Erwachsene lösen. Oder?
Aber ich hatte das komische Gefühl, dass wir das nicht konnten, denn war er nicht in allem so anders? Ich stellt mir eine kleine Liste zusammen, wie er und auch seine Freunde sich von uns unterschieden, bis jetzt hatte ich nur zwei Punkte gefunden: Die Schönheit und die blasse Haut.
Die Tage waren eintönig. Nach der Schule brachte mich Vanessa nach Hause, dann begann ich mit den Hausaufgaben und half im Haushalt, um Nicole zur Hand zu gehen, da sie sowieso nie da war. Jeden Tag rief ich meine Mails ab und jedes Mal stellte ich niedergeschlagen fest, dass es keine von Alec waren. Ich ignorierte die anderen einfach und öffnete sie erst gar nicht, dazu war ich nicht in der Stimmung.
An schönen Tagen legte ich mich im Garten auf eine Decke und genoss die Sonne. Mit meinen Freunden traf ich mich kaum, nur um zum Lernen oder eine Gruppenarbeit fertig zu stellen. Nicole merkte von meiner Niedergeschlagenheit nichts, denn für sie kratzte ich immer meine Fröhlichkeit zusammen.
Und so verging die Zeit – mal schneller, mal langsamer.
Juni
Juli
August
September
November
Dezember
Neuschnee
An diesem Tag im Januar war es anders, als an den
üblichen routinierten Tagen - es war kälter.
Am frühen Morgen wurde ich von einem seltsamen Geräusch geweckt. Ich fuhr in meinem Bett hoch und starrte erschrocken aus dem Fenster, von dort kam das Geräusch. Ein Ast kratzte über die Scheibe – es tat in den Ohren fast weh, so laut war es, und ich überlegte, ob ich mir die Ohren zuhalten sollte. Aber das kam mir zu kindisch vor. Diese Situation erinnerte mich an etwas, das in der nicht allzu lang entfernten Vergangenheit lag. Ein dürrer Zwei klatschte gegen die Scheibe, und ich erinnerte mich. Die Äste hatten sich schon seit Monaten nicht mehr so bewegt, und ich musste feststellen, dass es wieder windstill war und auch kein Tier in der Gegend - aber diesmal waren die Äste des Baumes anders, sie waren weiß. Ich wanderte mit meinem Blick den Baumstamm hinunter bis zum Boden.
Schnee. Es war der erste Schnee in diesem Jahr.
Ich stöhnte, aber ein Teil von mir freute sich. Ich hatte noch nie Schnee außerhalb des Fernsehers gesehen, und ich wusste nur eines über die kalten, einzigartigen Flocken – Schnee kam, wenn es zu kalt für Regen war.
Ich schauderte, aber dann betrachtete ich die weiße Decke über den Dingen draußen weiter und fand ihren Reitz. Der Schnee hatte etwas sehr beruhigendes. Er veränderte die Sicht der Dinge. Es sah so wunderschön aus.
Wunderschön – meine Gedanken schweiften, ohne dass ich etwas dagegen hätte tun können, zu Alec. Ich musste mich selbst in den Arm zwicken.
Alec hasst dich, er verabscheut dich, Hannah. Vergiss ihn.
Es war sehr schwer, die Worte zu denken. Stechend. Schmerzhaft. Unerträglich. Ich seufzte. Ich würde nie über ihn hinwegkommen, das wusste ich. Aber wollte ich das denn? Es war so ein unvergleichliches Gefühl, dass ich jedes mal empfand, wenn ich ihn sah, und nicht einmal sein unübersehbarer Hass machte die Wucht der Gefühle zunichte. Sein Hass tat einfach nur unerträglich weh – jedes einzelne Mal, wenn er mich mit einem seiner Blicke strafte, wenn seine wunderschönen, vor Wut glühenden Augen sich in meine bohrten, war es, als würde mein Herz zerbrechen, und das machte mich wütend. Aber die Wut hielt nur so lange an, bis ich seine blauen Augen sah, dann war alles vergessen. Aber immer, wenn er mich an sah, dachte ich im selben Moment: „Lass liegen. Ist nur mein Herz. Komm, tritt doch noch mal drauf.“ Und dann schaute er jedes Mal schnell weg.
Ich hatte mich automatisch auf den Weg ins Badezimmer gemacht und die Zähne geputzt. Ich lächelte in den Spiegel und stellte fest, dass sie ebenso weiß waren, wie der Schnee. Diese unsinnige Erkenntnis brachte mich zum Grinsen.
Ich zog mir schnell einen dicken Pulli und meine neusten Jeans, die mittlerweile schon alt waren, an.
Ich lies mein Frühstück aus, packte mir nur einen Apfel ein. So hatte ich es mir in letzter Zeit angewöhnt, denn spätestens nach der dritten Stunde würde mein Magen knurren, egal ob ich davor etwas aß oder nicht.
Vanessa holte mich wie immer pünktlich ab und wir kamen wie immer gerade so zum Klingel in den Raum. Heute war es mal wieder Raum drei – Mathe. Ich müsste also wieder in die Rolle des hassenden, zickigen Mädchens schlüpfen und Alec finster anfunkeln. Das war inzwischen so sehr zur Gewohnheit geworden, dass ich es ganz unbewusst tat. Aber trotzdem versetzte es mir jedes mal einen Stich im Herz, und die Wunde begann auch nicht zu heilen. Es schien mir, als würde sie immer größer werden und sich langsam entzünden.
Kaum hatte ich den Raum betreten funkelte ich auch schon in seine Richtung. Ich achtete gar nicht auf den Blick des Jungen mit den verzaubernden Augen, damit meine Knochen stabil blieben und nicht in mir davon schmolzen. Ich wollte es noch heil bis zu meinem Tisch schaffen.
Ich hatte herausgefunden, dass es der beste Weg war, die Stunde ohne Vorfälle zu überleben, wenn ich nicht auf Alecs Aussehen achtete. So fing die Stunde dann auch an. Ich konzentrierte mich darauf, was der Lehrer erzählte und starrte Alec dabei unbewusst böse an. Wie gesagt – ganz automatisch.
Vanessas Ellbogen drückte leicht in meine Rippen. „Alec sieht heute anders aus“, flüsterte sie vielsagend.
Jetzt wanderte auch meine Konzentration zum ihm. Er sah völlig normal aus, soweit ich das beurteilen konnte. Er trug ein lockeres, weißes Hemd, bei dem die oberen drei Knöpfe offen waren – ich wanderte schnell mit meinem Blick weiter, ehe ich nicht mehr aufhören könnte, auf die Andeutung seiner muskulösen Brust zu starren. Die Ärmel waren hochgekrempelt bis knapp unter den Ellbogen. Dazu eine dunkelgraue Jeans, und eine dünne Silberkette mit einem kleinen Anhänger baumelte an seinem Hals. Er trug wie üblich schwarze Turnschuhe, und auch seine Haare vielen ihm wie an jedem Tag leicht über die Ohren. Seine blaue Winterjacke hing an der Stuhllehne. Ich achtete darauf, ihm nicht ins Gesicht zu sehen.
„Sein Gesicht“, half Vanessa mir auf die Sprünge, als ich nicht antwortete.
Ich stöhnte leise – sie konnte es nicht gehört haben, dazu hatte sie eine zu schlechte Wahrnehmungsfähigkeit.
Warum musste sich gerade sein Gesicht verändern? Seit so vielen Monaten hatte ich darauf geachtet, gerade sein Gesicht nicht zu beachten. Bis jetzt hatte ich es fast immer geschafft, es zu ignorieren, aber jetzt war die Neugier zu stark, um zu wiederstehen. Ich lies meine Haare zu einem Vorhang werden – so wie vor einigen Monaten – und spähte hindurch. Ich wartete mit halb geschlossenen Augen, bis er sich wieder zu mir hindrehte, atmete einmal tief durch und öffnete seufzend die Augen ganz, darauf vorbereitet, seinen wütenden Blick zu empfangen. Ich dachte daran, wie seine blauen Augen vor Wut gefunkelt hatten. Auch jetzt glänzten seine Augen, als unsere Blicke sich begegneten.
Ich starrte überrascht in sein freundliches Gesicht, es sah so schön aus wie schon lange nicht mehr, und das lang daran, dass kein Schimmer des Hasses gegen mich darin war.
Ich blinzelte, überwältigt von seinen engelssamten Zügen, die ich schon so viele Monate nicht mehr bewundert hatte. Jetzt kam seine Schönheit wie ein Schlag. Er war so perfekt. Ich brauchte einen kleinen Moment, um mich wieder zu fassen.
Um seine vollen Lippen spielte ein kleines, zauberhaftes Lächeln, und die tiefe seiner Augen hielt mich gefesselt.
Was war das alles? Hatte der Neuschnee ihn so sehr verändert? Ich konnte mir diese positive Wendung nicht erklären, rätselte aber fieberhaft darüber.
Er seufzte erleichtert.
Hatte er also aufgegeben, sein Spiel zu spielen? Gab er sich geschlagen?
Die Blondine neben ihm, die wahrscheinlich Jasmin war, stumpte ihn an und er wand seinen Blick langsam ab, wiederwillig. Die zwei unterhielten sich leise und angeregt. Sie schienen zu streiten.
„Gesehen?“ Vanessa schaute mich ungeduldig an.
„Ähm, was denn?“, fragte ich verwirrt. Ich starrte weiterhin verduzt in Alecs Richtung. Ich war noch ganz benommen.
Sie schüttelte spöttisch den Kopf. „Na, Alec. Er sieht anders aus. Früher war er noch nie so - “ Sie überlegte kurz. „aufgebracht gewesen, wie in den letzten Monaten.“
Der Kopf des Jungen fuhr herum. Er warf mir einen neugierigen Blick zu. Seine Augen voller Vertrauen und Erwartung.
Mensch, sag mir doch, was du erwartest!, hätte ich ihm fast durch die halbe Klasse zugerufen.
Wie sollte ich tun, was er wollte, wenn ich nicht wusste, was zu tun war? Es war alles so schrecklich kompliziert.
Sag es mir doch einfach!, dachte ich leicht angesäuert. Und dann sanfter: Ich möchte dir doch helfen, sag mir, was zu tun ist.
Sein Blick wurde noch weicher, und seine Augen verschmolzen, ich musste mich bemühen, einen klaren Gedanken zu fassen. Und als hätte er meine Gedanken gehört, zuckte er mit den Schultern. Sein Blick immer noch auf mich gerichtet. Aufmunternd lächelte er mir zu. Seine weißen Zähne glitzerten im Licht der Neonleuten an der Decke.
Ich schluckte, als ich bemerkte, dass nicht nur Vanessa auf die Antwort wartete - Alec wartete ebenso gespannt auf sie.
„Äh, eigentlich nicht. Er hat sich ganz normal verhalten gehabt“, sagte ich, und hoffte, dass es die Antwort war, auf die Alec gewartet hatte.
Vanessa starrte mich verwirrt an. „Aber ... Er war doch so ... seltsam. Das habe ich mir doch nicht eingebildet! Du musst es auch gesehen haben.“
Ich schüttelte den Kopf, entschlossen meine Lüge durchzubringen. „Nein, Vanessa, du musst dich täuschen.“
„Also langsam werde ich wirklich irre!“, sagte sie leise. Es war wohl eher an sie selbst gerichtet, als an mich.
Ich schielte vorsichtig zu Alec hinüber. Er lächelte noch breiter als zuvor. Er sah sehr zufrieden aus.
Ok, dachte ich, wenn du möchtest, dass dein Verhalten ein Geheimnis bleibt, wird das auch so sein.
Das war eine Aufgabe an mich. Ich würde ihn nicht enttäuschen. Aber eine Frage blieb – nämlich, warum er das wollte.
Ich fügte einen weiteren Punkt meiner Liste hinzu: Er wollte unauffällig bleiben.
Diese Stunde begannen wir, ein neues Spiel zu spielen. Es gefiel mir besser als das alte. Er warf alle paar Minuten einen freundlichen Blick über die Schulter und lächelte mir zu. Ich lächelte ebenso freundlich, mit einem Blick, der vor Enthusiasmus glitzerte, zurück.
Ja, das neue Spiel war wesentlich angenehmer.
„Normalerweise sieht Alec nie jemanden an!“, sagte Vanessa leise zu mir, als es geklingelt hatte, und zog eine Augenbraue hoch. „Und erstrecht lächelt er niemanden an.“ Sie betrachtete Alec skeptisch und wandte sich dann wieder mir zu. „Aber ich würde sagen, das ist bei seiner ganzen Familie so.“
Sofort hatte sie meine Aufmerksamkeit. „Die sieben anderen gehören alle zu seiner Familie?“, frage ich neugierig.
„Ja. Ich dachte du wüsstest das.“
„Nein.“ Ich dachte an die außergewöhnliche Gruppe, und stellte fest, dass ich noch ein paar Punkte hinzufügen konnte. Jedes Mal, wenn ich sie in der Mittagspause beobachtete, aßen sich nichts und bewegten sich nicht, wie eine Statue saßen sie so vollkommen wie immer da.
„Da gibt es Amy Stix, seine Halbschwester. Die mit den roten Haaren.“
„Ich weis wer Amy ist“, drängte ich. Jetzt, wo ich endlich einmal die Chance hatte, etwas über die Familie zu erfahren, würde ich sie mir nicht entgehen lassen – meine Mitschüler sprachen so wenig über sie, es interessierte sie nicht mehr, und ich traute mich nicht, nachzufragen.
Vanessa sah mich missbilligend an, aber das war mir egal. „Dann sind da noch die Zwillinge, Juliet und Julien Stix, sie sind direkt mit Alec verwandt. Seine Geschwister.“ Ich wusste sofort, wen sie meinte. Juliet und Julien sahen Alec so ähnlich, das sie nichts Anderes als Geschwister sein konnten.
„Dann Steve Juan, der blonde. Er ist der Cousin von Amy. Und Steves Halbschwester ist Jasmin Juan, das ist das blonde Mädchen“, sagte sie abfällig – in ihrer Stimme schwang Verärgerung mit, nicht zu überhören.
Sie machte eine kurze Pause und überlegte. „Dann der große, schwarzhaarige. Das ist Fabien Salu. So weit ich weiß, wurde er von der Familie Stix adoptiert. Er kommt aus Frankreich oder so. Dann sind da noch Annalen und Marcus Jous. Ich glaube, Mr Stix ist ihr Onkel und sie wohnen bei ihm, weil ihre Eltern verstorben sind.“
Ich speicherte alles sorgfältig ab, um später nach weiteren Informationen nachhaken zu können, falls wir noch einmal auf das Thema zu sprechen kamen. „Danke“, murmelte ich und packte meine Sachen zusammen.
Alec verließ als erster den Raum. Er lief mit großen Schritten durch den Raum, er sah so anmutig aus, als hätte er die Zeit, jeden seiner Schritte genau zu überdenken. Ich stellte mir vor, wie ich neben ihm herlaufen würde; schon nach wenigen Sekunden wäre ich meterweit zurückgefallen. Wahrscheinlich wäre er sogar schneller, wenn ich rennen würde. Aber ich verdrängte den Gedanken – er war zu schmerzvoll, denn ich würde niemals neben ihm herlaufen.
Jasmin war noch im Klassensaal, als ich gemeinsam mit Vanessa durch die Reihe von Tischen lief. Jasmins grünen Augen funkelten wütend, und auch ihr Ausdruck hatte etwas beängstigendes an sich. Sie erinnerte mich an Alec, wie er noch vor ein paar Tagen gewesen war. Aber sie war nicht im geringsten so beängstigend.
Ich konzentrierte mich auf ihr Aussehen, denn darauf hatte ich noch nie richtig geachtet, da sie noch nie ohne Alec gewesen war, und meine Aufmerksamkeit dann immer ihm galt, und ihre Eleganz traf mich wie ein Schlag auf den Kopf.
Sie trug eine dunkelgraue Jeans, dazu kalkweiße Stiefel mit Schleife und einem Absatz, mit dem ich mich nie trauen würde, auch nur einen Schritt zu wagen. Ein silberner Gürtel blitzte an ihrer Hose, und das enge violette Top floss an ihrer Modelfigur hinab – es war bauchfrei, obwohl es Mitten im Winter war. Die hellblonden Haare lagen leicht gewellt auf ihrem Rücken und gingen Haargenau bis zum Ende des Tops. Sie hatte die selbe Kette wie Alec an, und weiter nach oben zu schauen, traute ich mich nicht – ihre unglaubliche Schönheit stellte jedes Mädchen in den Schatten, vor allem mich, und plötzlich war ich mir ganz sicher, dass mit der Familie etwas nicht stimmte. Ihre Schönheit war nicht nur unglaublich, sie war unmenschlich. Ich versuchte, das Bild – Jasmin neben mir – zu verdrängen. Der Unterschied war beißend.
Das Brennen flammte auf und ich stöhnte laut. Ich war mir nicht sicher, aber könnte es Eifersucht sein? Ich hatte keine Erfahrung mit solchen Dingen – Liebe, Jungs, Eifersucht; das war mir alles noch so fremd.
Jasmin war genau wie Alec - wunderschön. Eine weiße, cremefarbene Haut, glitzernde Augen, die eine unendliche Weite hatten, und sanfte Züge, wie die eines Engels.
Ich packte Vanessa, die gemütlich hinter mir lief, am Arm und zog sie vorwärts, um schnell die Klasse hinter uns lassen zu können, weil erstens Jasmin mir Angst machte, und zweitens das Brennen in meinem Magen noch nie so unerträglich gewesen war wie an diesem Tag.
„Was ist denn?“, beschwerte sie sich draußen.
Ich überlegte kurz. „Ich wollte nur ganz schnell an die frische Luft“, log ich.
Vanessa runzelte die Stirn und sah mich nachdenklich an. Dann breitete sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus. „Du bist sonderbar!“, teilte sie mir ihre Feststellung mit und kicherte. „Ich kenne niemanden, der so ...“, sie überlegte kurz, „anders ist.“
Ich ignorierte sie so gut es ging.
Bis zur Mittagspause hin konnte ich keinen anständigen Gedanken fassen – ich war zu aufgeregt; vielleicht hatte Alec seine Meinung doch noch einmal geändert, das musste ich wissen, ehe ich mir irgendwelche unerfüllbaren Hoffnungen machte. Natürlich waren sie, auch wenn er mich nicht mehr hasste, unerfüllbar.
Ich wollte gerade die Tür zur Cafeteria öffnen, da stürmte Vanessa auf mich zu.
„Hannah! Hannah!“, rief sie, und wäre fast gegen mich gerannt. Stolpernd blieb sie vor mir stehen.
Ich starrte sie verdattert an.
„Rate mal, was passiert ist?“ Ihre Stimme schwang fast über vor Freude.
Ich zuckte die Achseln und grinste sie an. „Sag schon“, drängte ich, obwohl ich eigentlich den Grund gar nicht so genau wissen brauchte – mir reichte es schon, wenn sie glücklich war.
Sie lächelte breit. „Mark hat mich um ein Date gebeten!“
„Das ist ja toll, Vanessa!“, sagte ich halbherzig – ich freute mich natürlich für sie, aber etwas verstimmte mich: Für sie würde es vielleicht ein Happy End geben, sie hatte eine Chance, das zu bekommen was sie wollte, aber für mich nicht. Denn das was ich wollte war unerreichbar. „Ihr habt bestimmt einen tollen Abend zusammen“, sagte ich niedergeschlagen.
„Ja, bestimmt“, sagte Vanessa aufgeregt, sie hatte meinen plötzlichen Stimmungswechsel nicht bemerkt.
Da erinnerte ich mich wieder, wo wir waren und was mich schon den ganzen Tag beschäftigt hatte. Ich wandte mich von Vanessa ab und lief in die Cafeteria. Vanessa war sofort neben mir und zog mich zur Essensschlange – ich hatte keine Zeit, um zum Tisch der Familie Stix zu schauen.
Ich kaufte mir nur ein Wasser, ich war zu aufgeregt, um etwas zu essen. Dann wartete ich auf Vanessa.
„Hast du denn keinen Hunger?“, fragte sie verwirrt, als sie mit ihrem Tablett auf mich zukam.
Ich schüttelte schnell den Kopf.
Larissa, Maike, Mark und Maik warteten schon am Tisch auf uns. Ich machte mich auf den Weg zu ihnen, wobei mein Blick an einer anderen Gruppe von Schülern hängen blieb – der Tisch der Familien Stix.
Jasmin starrte vor sich an die Wand, die Schultern gestrafft und das Kinn angehoben. Wie immer sah sie umwerfend schön aus, und bei dem Gedanken, dass sie einmal mit Alec zusammengewesen war, bekam ich fast einen Herzstillstand. Wenn sie, der Grundstein der Schönheit, Alec nicht genug beeindruckte, um mit ihm zusammen sein zu können, wie sollte dann ich es? Ich war mir schon vorher klar darüber gewesen, dass ich nie auch nur so etwas ähnliches wie eine Beziehung zu Alec haben könnte, aber jetzt war ich noch sicherer. Anscheinend war in mir ein kleines Pflänzchen der Hoffnung herangewachsen, nur um jetzt umso schmerzvoller zertrampelt zu werden.
Ich löste meinen Blick von dem wunderhübschen Wesen. Amy lächelte mich herzlich an, und die Zwillinge Juliet und Julien kicherten amüsiert, während sie mich mit großen Augen beobachteten.
Und dann sah ich Alec an.
Und sah, dass er es nicht tat. Alec saß angespannt auf seinem Stuhl. Ich konnte den leeren Ausdruck in seinen Augen sehen, während sich sein Gesicht in eine harte Maske verwandelte. Ich schreckte ein wenig zurück. Das war nicht der vollkommene und überirdische Junge aus meinen Träumen. Noch nicht einmal war er wie der wütende Junge aus den letzten Monaten; es war schlimmer, ihn so wie jetzt zu sehen, denn, wenn man ganz genau hinsah, konnte man sehen, dass etwas anders in seinem Gesicht war. Ein Gefühl, dass ich noch nie bei ihm sehen oder erahnen konnte. In seinem Blick lag Schmerz. Alecs Mundwinkel waren ein winziges Stück heruntergezogen und seine Lippen bebten ganz leicht. In seinen Augen glänzte etwas, auf den ersten Blick, hätte ich schwören können, dass Tränen sich in seinen Augenwinkeln versteckte. Aber es konnten keine Tränen sein. Seine kristallblauen Augen waren viel heller als sonst. Es sah aus, als wären es nicht länger blaue Kristalle. Seine glitzernden Kristallaugen wirkten durchsichtig, nur mit einem Hauch Blauschimmer. Und ein richtiger Junge würde doch niemals in der Schule weinen. Das wäre falsch. Und bei Alec wäre es noch falscher.
Ich wusste auch nicht, was er für einen Grund hätte, zu weinen. Aber was wusste ich schon?
Ich war nur ein kleines Menschenmädchen. Und – so idiotisch und unhöflich es auch immer war – konnte ich mir nicht vorstellen, dass Alec auch so etwas war. Ein unbedeutendes Wesen unter vielen. Der eine wie der andere. Nein, Alec und seine Familie waren mehr. Ich hatte das Gefühl, dass sie nicht unbedeutend sein konnten. Sie mussten etwas Besonderes sein, etwas das die Welt allein durch ihre bloße Anwesenheit veränderte – zum Guten oder zum Schlechten. Sie waren nicht so wie wir. Mit dem Gedanken daran, dass sie so etwas langweiliges wie ein Mensch sein könnten, konnte ich mich – so sehr ich es auch wollte – nicht anfreunden.
Sie waren keine Menschen!
Ich schüttelte den Gedanken ab, und bereute es sofort. Denn statt der Furcht, die Wahrheit erraten haben zu können, kam der Schmerz. Ich hatte Alec so lange schon heimlich beobachtet. Hätte er seine Meinung geändert, wäre er nun nicht so abweisend.
Ein fester Stich in die Seite und ich zuckte stark zusammen.
Ich ließ den Kopf fallen und trottete weiter zu meinen Freunden. Maik stand auf, schob mir den Stuhl zurück und wartete, bis ich mich hingesetzt hatte. Er lächelte mich besorgt an. Dann ließ er sich neben mir fallen und starrte mir intensiv in die Augen. Maike unterhielt sich angeregt mit Larissa, aber Mark und Vanessa beobachteten uns heimlich, das entging mir nicht.
Maik wandte den Blick nicht ab, und ich tat es auch nicht – ich war zu schwach dafür. Meine Mundwinkel sanken nach unten und ich schloss die Augen. Ich wusste, wie sich mein Körper benahm, kurz bevor ich in Ohnmacht viel, und war deshalb beunruhigt.
Bitte nicht hier in der Schule, dachte ich flehend.
„Hey! Hey, Hannah?“
Ich öffnete meine Augen halb. Verschwommen nahm ich war, wie Maik mich immer noch anstarrte. Jetzt sah er aber eher hilflos aus.
„Ist alles ok mit dir, Hannah?“, sagte er leise, sein Gesicht ganz knapp vor meinem.
Ich schloss wieder meine Augen und legte den Kopf in den Nacken. „Ja. Ja, alles ist ok“, flüsterte ich. Mir stiegen fast die Tränen in die Augen – das war bei mir immer so, wenn ich niedergeschlagen war; eine erniedrigende Eigenschaft. Ich glaubte es kaum, dass es mich so mitnahm, nur weil eine Person, mit der ich noch nie im leben ein Wort gewechselt hatte, mich hasste.
„Hannah?“, sagte eine ruhige Stimme leise neben mir.
Ich riss erschrocken die Augen auf und fuhr hoch. Maik wich ein wenig zurück.
Neben mir stand Vanessa. Sie beugte sich leicht zu mir hinab. „Geht es dir gut?“, fragte sie eindringlich.
Ich blinzelte verwirrt. „Ähm, ja, geht schon.“
„Hannah, du siehst gar nicht gut aus. Soll ich dich nach Hause bringen?“, bot Maik begeistert an. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie Maike mich böse von der anderen Seite des Tisches anstarrte. Larissa neben ihr sah nicht weniger wütend aus.
Ich konnte mir Larissas Reaktion nicht erklären, während ich mit Maike mitfühlte. Zudem war ich selbst auch nicht sonderlich begeistert darüber, dass Maike es gar nicht abwarten konnte, mich hier heraus zu schleppen und im Auto nach Hause zu transportieren. Ein paar ewige Minuten allein mit Maik. Na toll!
Ich schüttelte leicht den Kopf. „Nein, nein. Alles ok“, wimmelte ich ihn ab.
„Ich finde das nicht gut, Hannah. Maik hat Recht, am besten, er bring dich nach Hause.“ Vanessa kniff die Augen zusammen. „Jetzt gleich“, fügte sie hinzu, und ihre Stimme gab mir schon zu verstehen, dass sie kein Nein dulden würde.
Maik packte mich an der Schulter und zog mich auf die Beine. Dann legte er meinen Arm an seinen Hals und mit seiner Hand packte er mich an der Hüfte und presste mich gegen ihn.
„Bring sie schnell nach Hause. Ich sage im Sekretariat Bescheid“, sagte Vanessa, während Maik vorsichtig probierte, ob ich selbst stehen konnte. Ich schaffte es, zwar mit zittrigen Knien, aber ich brach nicht zusammen, was mich vor Erleichterung leise seufzen ließ.
Ich stolperte langsam neben Maik her, bis wir die Cafeteria verlassen hatten.
Wie aus heiterem Himmel stand plötzlich Felix Wagner aus meiner Biologiestunde vor mir. Ich kannte ihn nicht sonderlich gut, aber er machte einen netten Eindruck. „Hannah? Oh Gott! Was ist denn mit dir los?“
„Sie ist plötzlich zusammengeklappt“, teilte Maik ihm mit. „Nimm du sie doch bitte. Ich muss noch etwas erledigen“, sagte Maik und sah mich entschuldigend an.
Felix war sofort Feuer und Flamme. Ich beobachtete ihn, als Maik mich an Felix weitergab. Er hatte Strohblonde Haare und ein hübsches Gesicht.
Maik verschwand in einem Klassenraum, während Felix mich weiterschleppte. Ich kam mir hilflos vor, ich war unfähig, etwas zu sagen oder mich mehr als nötig zu bewegen. Zudem wurde ich hier herumgereicht wie eine Barbiepuppe, und das gefiel mir nicht.
„Ich schaffe das schon“, jammerte ich, als Felix fragte, ob er mich tragen sollte.
„Lieber kein Risiko eingehen, oder?“
Ich schaute ihm ins Gesicht und sah, dass er das völlig ernst meinte.
Also überließ ich mich meinem Schicksal und ließ mich von Felix auf die Arme heben. Mir war es egal, dass mein Kopf an seiner warmen Brust lag und ihm das auch zu gefallen schien.
Mit großen Schritten trug er mich zum Parkplatz, so als ob er eine Feder in der Hand hätte und nicht ein 55 Kilo schweres Mädchen. Mein Gewicht machte ihm nicht das geringste aus, und plötzlich nahm ich die vielen Muskeln an seinen Armen wahr.
Wow, dachte ich. Er musste wirklich stark sein.
Felix platzierte mich in seinem Auto, schnallte mich an und setzte sich grinsend neben mich.
Ich beobachtete ihn für kurze Zeit. Er war wirklich hübsch, keine Frage. Bestimmt war er größer als Jan – und wahrscheinlich auch tausendmal muskulöser als er es je sein würde. Sein jungenhaftes Gesicht sah zu sanft aus für einen solchen Sportler, aber es machte ihn auf eine eigenartige Weise hübsch.
Umso weiter wir uns vom Schulgelände entfernten, desto besser fühlte ich mich. Und jetzt nahm ich auch den unbekannten Weg wahr, über den wir fuhren, es war ganz klar ein Umweg. Ob Felix sich so schlecht hier auskannte?
„Was war denn eigentlich mit dir los?“, fragte Felix nach einer Weile.
„Mir war schlecht“, antwortete ich knapp.
Der Motor heulte laut auf, und ich merkte, wie der Wagen immer langsamer wurde.
„Verflucht!“, schimpfte Felix und stieg aus, ohne mir Bericht zu erstatten.
Ich starrte aus der Windschutzscheibe. Unter der Motorhaube qualmte es.
Aha. Da lag das Problem also.
Felix hob die Motorhaube hoch, ich starrte gegen das verrostete Blau des Wagens und wartete.
Das Radio war aus und von Felix ließ sich auch nach weitern zehn Minuten nicht sehen.
Ich drückte die Tür auf und lief um den Wagen zu Felix.
„Ist alles ok?“, fragte ich.
„Natürlich. Aber das könnte noch eine Weile dauern.“
Ich runzelte die Stirn. „Soll ich nach Hause laufen?“
„Wie du willst“, sagte Felix desinteressiert und beugte sich wieder nach vorn in den Qualm - er bastelte besorgt an dem Auto herum und ich nahm es ihm nicht übel, hätte ich ein Auto, würde ich auch Angst haben, dass es kaputt ginge, vor allem, wenn es so ein altes Modell war wie dieses.
„Wo muss ich lang?“, fragte ich schnell.
„Immer die Straße geradeaus, dann rechts. Dann ist da gleich so ein schmaler Weg. Den kannst du lang laufen. Ab da kennst du den Weg bestimmt“, sagte Felix automatisch.
„Ok. Bis morgen“, rief ich schon im Gehen.
Ich strich mir meine dunklen Haare hinter das Ohr und schob einen großen Stein vor mir her.
Nach einer Weile gabelte sich die Straße, ich lief rechts, so wie es mir Felix erklärt hatte.
Ich konnte nicht aufhören an Alec zu denken. Ich wollte es nicht, ich tat es ganz unbewusst – aus reiner Gewohnheit – und jede vergehende Sekunde schmerzte unerträglich. Ich legte mir eine Hand fest an den Bauch, so als würde ich versuchen, den Schmerz zu vertreiben. Aber es half nichts. Ich spürte nur, wie meine Knie immer schwächer wurden.
Rechts und links von der Straße führte jeweils ein schmaler Weg fort.
Super, dachte ich nur – wäre ich bloß im Auto geblieben. Ich entschied mich für Rechts.
Neben mir waren große, hohe Häuser ohne Fenster. Die Wände waren in einem dreckigen Grau und berührten teilweise schon meine Schultern, so eng war es. Vielleicht hätte ich doch den anderen Weg nehmen sollen. Ich fühlte mich nicht wohl und warf einen schnellen Blick über die Schulter, als ich ein Knacksen hinter mir hörte, aber dort war niemand. Automatisch wurde ich schneller.
Nach mehr als zehn Minuten erst trat ich wieder auf eine breite Straße. Ich atmete erleichtert aus, aber die Gegend kam mir fremd vor.
Die vielen, neuen Häuser passten nicht zu meiner Wohngegend. Ich war noch nie an diesem Ort gewesen.
Aber trotzdem wollte ich nicht den langen, engen Pfad zurücklaufen. Es musste doch noch einen anderen Weg geben.
Ich lief lustlos mitten auf der Straße entlang.
Etwas Kaltes tropfte auf meinen Arm und ich sah nach oben. Der Himmel zog sich schlagartig zu, über mir türmten sich schwarze Wolken.
Ich blieb einen Moment stehen und starrte in die Dunkelheit über mir. Der Regen trommelte auf meine Haut und der eisige Wind brannte unangenehm.
Ich ging hilflos weiter. Die hübschen Häuser sahen alle verlassen aus, und ich traute mich nicht, zu klingeln, um zu fragen wo ich mich befand oder mich ins Trockene zu retten.
Hinter mir donnerte es laut und ich zuckte zusammen. Das Geräusch hallte in meinen Ohren wieder, bis es langsam verklang.
Ich schlang mir meine Arme um den Körper.
Schon nach wenigen Minuten entdeckte ich einen breiten Weg, der zum Feld führte. Ich lief ihm nach – alles war besser, als diese leblose Gegend hier.
Der einsame Feldweg führte weiter nach Norden. Unter meinen Schuhen spritzte der Schlamm zur Seite und bedeckte meine Hose mit braunen Flecken. Der Wind pfiff leise um meine Ohren, es hörte sich an, wie ein schlechtes Flötenspiel und ich spielte mit der Versuchung, mir die Ohren zuzuhalten. Aber ich war ja kein zehn-jähriges Mädchen mehr.
Ich war eine fast erwachsene Frau, dachte ich zitternd.
Ich legte die Strecke innerhalb einer oder zwei Stunden zurück. Sie endete in einer Sackgasse.
Vor mir war ein kleiner Hang, vielleicht fünf Meter hoch und mit einer Steigung von sechzig Prozent.
Ich hielt mich an einem kleinen Baum fest und suchte mit meinen Schuhen halt auf der matschigen Erde.
Die dünnen Äste kratzten an meinen nackten Armen entlang, während ich mich hochzog.
Nach ein paar Minuten gelangte ich endlich auf eine gerade Fläche. Vor mir waren ein Paar Bahnschienen. Es war ein Bahndamm auf den ich geklettert war.
Ich blieb vor den Schienen stehen und starrte in die Dunkelheit. Über mir kreisten ein paar Vögel, dann verschwanden sie langsam in den Wolken.
Mit zittrigen Beinen machte ich einen Schritt vorwärts. Die Bahn erstreckte sich bis zum Horizont und ich folgte dem verrosteten Metall.
Unter meinen Schuhe knirschten die kleinen, nassen Steinchen. Über mir grollte der Himmel und ich zuckte wieder zusammen.
Ich wollte so schnell wie möglich von hier weg. Ohne meinen Füßen den Befehl dazu gegeben zu haben rannten sie los.
Die dunklen Wälder zogen an mir vorbei.
Hinter mir hörte ich ein seltsamen Rascheln, ich drehte mich im Rennen um. Das Geräusch wurde immer lauter und ich blieb stehen. Ich starrte in die Richtung aus der das Geräusch kam.
Nach einer Weile sah ich zwei Lichter vor mir, sie rasten auf mich zu, aber ich zu schwach um mich zu bewegen. Ich wusste nicht, was das war, diese zwei großen Lichter.
Das Ding kam immer näher, und ehe ich begriff, was es war, war es keine zehn Meter mehr von mir entfernt.
Der große Zug schoss auf mich zu.
Es war zu spät um auszuweichen. Ich schloss die Augen und wartete auf den Tod.
Es verging nicht einmal eine Sekunde, als mich ein harter Schlag traf. Ich wurde zur Seite geschleudert.
Um meinen Körper herum wurde es eiskalt. Meine Schulter knallte gegen etwas hartes.
Ab da fühlte ich nichts mehr. Und ich wusste, dass ich tod war.
Tod
„Hannah?“, flüsterte eine wunderschöne Stimme an meinem Ohr. Eiskalte Lippen berührten ganz sanft meine Haut an der Senke unterhalb meiner Kehle.
Ich konnte diese samtene Stimme sofort einordnen, sie klang wie ein sanftes Glockenspiel. Diese Stimme war mir so vertraut, als würde ich sie schon seit dem Tag meiner Geburt kennen, und trotzdem war sie mir unbekannt. Tausend Kolibris schlugen in meinem Bauch Purzelbäume.
Ich spürte seinen eisigen Atmen an meinem Hals. „Hannah?“, hauchte die Stimme besorgt. „Bitte sag doch etwas.“
Ich blinzelte mit den Augenliedern - dass eisige Kribbeln an meiner Haut verschwand; er wich ein wenig zurück.
Ich öffnete meine Augen und erblickte sein wunderbares Gesicht ganz nah über meinem. Alecs blaue Augen ruhten einzig und allein auf mir, und die Intensität seines Blickes ließ mich davon schmelzen. Über seine Lippen zuckte ein Lächeln – ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. So nah war ich ihm noch niemals gewesen, sein nahezu perfektes Gesicht war noch viel unbeschreiblicher als von der Ferne.
Ich fragte mich, wie sich seine Haut anfühlen musste. Sie sah so weich und zerbrechlich aus - ich musste mich zusammenreißen, um nicht meine Hand zu heben und mit den Fingerspitzen ganz sanft über seine Wange zu fahren. Die Mächtigkeit des Wunsches - oder viel mehr des Verlangens - war überwältigend, aber ich schaffte es zu wiederstehen.
„Ich bin im Himmel“, murmelte ich leise und lächelte glückselig, während ich ihn weiter unbefangen anstarrte.
Seine Stirn legte sich in Falten. „Nein, Hannah. Es ist alles gut.“ Und obwohl in seiner ernsten Stimme ein Hauch von unterdrückter Wut lag - es war nicht zu überhören -, war sie das schönste, was ich jemals hatte mitbekommen dürfen.
Ich starrte ihn verwirrt an. „Wie meinst Du das?“, fragte ich benommen – ich hatte noch immer alle Bilder im Kopf, bis ins kleinste Detail sah ich den näherkommenden Zug vor mir, spürte ich den Schlag. Im Inneren schrie meine Seele bei dem Gedanken daran.
„Es ist dir nichts passiert“, sagte er deutlich. In seiner Stimme schwang Schmerz mit, aber ich konnte mir nicht erklären, warum. Doch der Grund für diese Stimmung interessierte mich nicht weiter - allein die Tatsache, dass Alec litt, egal wieso oder wie viel, war schmerzhafter, als die ganzen letzten Monate. Seinen Hass zu spüren und seine Blicke zu sehen war nicht halb so schlimm. Mein Leiden war das eine, aber sein Schmerz etwas ganz anders.
„Aber -“ Ich stockte kurz. „Der Zug, der Aufprall und -“ Im letzten Moment hielt ich mich zurück es auszusprechen: „Und du!“, hätte ich gesagt, denn wie war es möglich das er jetzt hier war – er wäre nicht hier, wäre ich nicht im Himmel!
Er versteinerte einen Moment und richtete sich dann auf. „Es ist nichts passiert“, wiederholte er barsch und wandte für einen Moment seinen Blick ab - diese Zeit reichte mir, um dasselbe zu tun und schnell wegzuschauen, bevor ich es gar nicht mehr schaffen würde.
Ich drehte meinen Kopf zur Seite, um meinen Blick von dem unerträglich schönen Jungen abzuwenden. Ein stechender Schmerz zuckte durch meinen Rücken. Ich spürte, wie mein Körper sich verkrampfte. Und hörte einen ohrenbetäubenden Schrei, er hallte durch den Raum.
Als ich die Schmerzen wieder unter Kontrolle hatte, blieb ich ganz still liegen, und erst jetzt wurde mir klar, von wem der Schrei kam – von mir. Mein Atem war keuchend. Noch immer konnte ich den Schmerz ein wenig spüren. Ich achtete darauf, mich nicht auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Meine Arme und Beine fühlten sich an wie Steine, selbst hätte ich es gewollt - und das war ganz sicher nicht der Fall - wäre ich nicht in der Lage dazu gewesen, meine Glieder zu bewegen.
Ich öffnete die Augen und starrte Alec erschrocken an - in meinem Blick lag Angst, es war diese Art von Angst, die man nicht kontrollieren konnte. Und obwohl das Gefühl der Angst nicht in meinem Körper war, wusste ich, dass andere sie sehen konnten, die unterdrückte Angst.
Alec drückte sich gegen die Wand, vielleicht fünf Meter von mir entfernt und blickte auf den Boden. Als er mich endlich wieder ansah - es kam mir vor wie eine Ewigkeit -, war sein Gesicht eine harte Maske. Sein Anblick war überwältigend.
„Hannah?“, sagte er entschuldigend, mit dieser Stimme, die mir den Atem verschlug. „Das wollte ich nicht. Es tut mir sehr leid.“ Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, und doch die Reue nicht überhörbar.
Ich begriff seine Worte nicht. „Was sagst du da?“
Aber er antwortete nicht. Die Stille zog diesen unerträglichen Augenblick in die Länge und ich war mit meinen Kräften am Ende - Was sollte ich von alldem halten? Das was hier geschah war nicht normal, so wie alles in meiner Welt - mir schien es, als würde nichts mehr der Realität entsprechen.
Hinter mir öffnete sich eine Tür und ich war dankbar über das Geräusch - ich hoffte, dass nun dieses unerträgliche Schweigen gebrochen würde, denn ich hatte so viele Fragen. Ich traute mich jedoch nicht, mich umzudrehen. Leise Schritte kamen auf mich zu. „Sie ist aufgewacht“, stellte die Person fest. Die liebliche Stimme des Mädchens klang besorgt. „Wie geht es ihr?“
„Das siehst du doch selbst“, zischte Alec leise - mit einem scharfen Unterton, der mir einen kleinen Schlag versetzte. Diese harte Stimme ließ mich in Gedanken zurück in die Vergangenheit fahren.
„Sie kann uns hören, nicht wahr?“
Alec lief ganz langsam auf das Mädchen zu, und verschwand damit aus meinem Blickwinkel. Ein paar Sekunden später kniete er sich wieder vor mich. Erst jetzt begriff ich, dass ich auf einem Bett lag.
„Wo bin ich?“ Meine zitternde Stimme hallte in meinen Ohren wieder und verebbte langsam in einem leisen Summen. Mein Kopf schwirrte, und plötzlich hatte ich Angst um mein eigenes Wohlbefinden - wie egoistisch von mir.
Alec lächelte mich besorgt an, und meine Gedanken wurden ganz unfokussiert. In meinem Kopf drehte sich alles, und es wäre das Beste gewesen, hätte ich meinen Blick schnell abgewandt.
Aber ich tat es nicht. Ich wollte diesen Augenblick genießen, diesen Traum. Oder war es doch der Himmel? Ich konnte es nicht ganz einordnen. Gab es im Himmel solchen Schmerz? Oder konnten Träume so realistisch sein? Mir wurde ganz schwindelig, aber ich starrte Alec weiter an. Ganz bewusst.
Er schloss für einen kurzen Moment die Augen, und als er sie wieder öffnete sah ich den Widerwillen in ihnen - urplötzlich kam alles mit einem Schlag zurück: Seine Feindseligkeit mir gegenüber, seine Abneigung gegen mich, dieser Hass; alles drang zurück in mein Bewusstsein. Die ganze Zeit schon hatte ich mich daran erinnert, seinen wütenden Blick vor Augen gehabt, aber diese eine Frage schoss mir erst jetzt in den Kopf: Wieso war er jetzt hier? Bei mir.
Alec musterte mich einen Moment, und ich hatte Zeit ein wenig nachzudenken, während er seinen Blick von meinem Gesicht trennte.
Das alles konnte nicht real sein. Der Zug, Alec, diese Schmerzen. Es war der beängstigendste Tag meines Lebens - und doch auch der schönste, mit großem Abstand.
Er streckte seine Hand nach mir aus, seine Fingerspitzen berührten ganz sanft meine Stirn - in meinem Magen breitete sich eine Sekunde lang ein unglaubliches Gefühl aus.
Und dann versank ich in meiner eigenen, kleinen Traumwelt.
Das grelle Licht des nächsten Tages weckte mich. Müde und verwirrt lag ich in meinem Bett und blinzelte in die Sonne. Vage Bilder eines Traumes schoben sich in mein Bewusstsein. Ich stöhnte und legte mich auf den Bauch, um weiterzuschlafen, doch dann erinnerte ich mich wieder an den seltsamen Traum.
„Oh!“ Ich sprang so schnell auf, dass ich nicht sofort das Gleichgewicht fand und ein wenig taumelte.
Ich war überrascht, als ich feststellte, wieder in meinem Zimmer zu sein. Ich schaute an mir herunter; ich trug meinen Schlafanzug. Benommen ließ ich mich auf die Bettkante sinken – ich konnte mich nicht erinnern, mich umgezogen zu haben. Ehrlich gesagt: Ich konnte mich an gar nichts erinnern.
Ich stand auf, um das Fenster zu schließen, als sich irgendetwas an die Schwelle meines Bewusstseins drängelte. Unschlüssig verharrte ich in der Mitte des Zimmers.
Meine Gedanken kreisten um die letzte Nacht. Nachdenklich fuhr ich mir über das Haar; als meine Fingerspitzen an meinem Hals entlang glitten, erstarrte ich. Wie eine Adonisstatue stand ich da und starre gedankenverloren aus dem Fenster, auf den vertrauten, alten Kirschbaum, während meine Finger an der Stelle an meinem Hals liegen blieben. Unter meiner Haut kochte das Blut und brannte.
Ich wagte nicht, mich zu rühren, während meine Finger spitzen über die schmerzende Stelle meines Halses fuhren - immer wieder.
Meine Gedanken schwirrten mir durch den Kopf. Dieser Traum war das realste gewesen, das ich je mitbekommen hatte und doch so unmöglich, dass allein dieser Grundgedanke die Realität des Traumes zu einem traurigem, unerfüllbaren Wunsch machte. Es war nicht möglich, dass dieser eine Traum der Wahrheit entsprach - zu vieles stimmte dagegen: Sein Hass, meine Besessenheit, die unübersehlichen Unterschiede zwischen uns, und nicht zu allerletzt, die Tatsache, dass er etwas anderes war als ich und meine Artgenossen.
Er war nicht wie wir. Dessen war ich mir inzwischen sicherer als der mathematischen Grundlage, dass Eins plus Eins Zwei ergab. Es gab so viele Gründe dafür, und einer von ihnen war dieser merkwürdige Traum, der mich immer noch erschaudern ließ.
Und obwohl mein Verstand stark dagegen protestierte, konnte ich mir nicht aus dem Kopf schlagen, dass der Traum der Wahrheit entsprach. Ein kleines, unbedeutendes Fünktchen in mir glaubte daran - so stark und mit einer überwältigenden Sicherheit, dass es gegen meine Meinung stand halten konnte, es gab keinen Gewinner und keinen Verlierer an diesem Morgen.
Ich sackte benommen auf den Boden - die Hand am Hals, das pulsierende Gefühl unter der Haut und ein flaues Kribbeln im Magen.
Konnte es sein, dass der Traum wahr war? War es eine Möglichkeit?
Wie sonst könnte ich das bedrohliche Quietschen der Räder noch hören? Wie sonst den beißenden Geruch von verrostetem Metall in der Nase haben? Und wie sonst seinen eisigen Atem an meinem Hals noch spüren - dieses Gefühl, das mir noch immer ein leises Flattern in die Magengrube zauberte?
Ich schüttelte den Kopf und schloss das Fenster. Während ich angestrengt damit beschäftigt war, meine Gedanken zu sortieren, machte ich mich auf den Weg ins Badezimmer, wo mir der Geruch von Waschmitteln entgegenkam - meine Nase brannte. Ich lief durch den Raum und riss das Fenster auf. Kühle, morgendliche Luft strömte in mein Gesicht und ich atmete den vertrauten Geruch der Wiesen und Felder ein. Eine wohlige Stimmung verbreitete sich im Raum.
Erschöpft von der letzten Nacht begann ich mir die Zähne zu putzen bis ich einen frischen Atem hatte. Eine Weile stand ich einfach nur da und starrte in den Spiegel - er war schon alt und ein bisschen verkratzt, ein Geschenk meiner verstorbenen Großmutter. Meine Haare sahen aus wie ein Heuhaufen und unter den Augen hatte ich tiefe Ringe, die wie Blutergüsse mein Gesicht entstellten.
Ich holte mir hastig eine Bürste aus meinem Zimmer und versuchte, die Knoten aus meinem Haar zu entfernen. Eine halbe Ewigkeit später gab ich es auf und sprang in die Dusche. Das heiße Wasser rann an meiner Haut entlang. Ich blieb bewegungslos stehen und genoss die Hitze, die sich in meinem Körper ausbreitete. Meine braunen Haare gingen mir im Gesicht und kitzelten mich am Kinn.
Ich hörte, wie jemand an der Tür klingelte, und sprang aus der Dusche, riss ein Handtuch von der Heizung und schlang es fest um meinen Körper. Im Gehen warf ich einen Blick in den Spiegel. Erleichtet stellte ich fest, dass wenigstens meine Haare glatt geworden waren. Ich zog die Badezimmertür hinter mir zu.
Ich rannte die Treppe hinunter und riss ohne zu zögern die Tür auf; eine Hand am Türknopf, die andere fest um meinen Körper geschlungen. Verunsichert starrte ich in die Leere vor mir – niemand war zu sehen, die Straße war leer -, und schloss die Tür wieder.
Ich lief langsam wieder hoch und verschloss die Tür meines Zimmers. Fröstelnd durchsuchte ich meinen Kleiderschrank, bis ich endlich mein dunkelblaues Top in den Händen hielt. Ich schlüpfte rasch in das Oberteil und die unvermeidlichen schwarzen Jeans.
Ein bekanntes Geräusch durchfuhr das Zimmer. Ich zuckte zusammen und starrte auf das geöffnete Fenster - von dort kam das Rascheln. Ein leichter Windstoß blies mir mein nasses Haar über die Schulter und ließ die Tür zu fallen. Ich schlich durch das Zimmer und streckte meinen Kopf aus dem Fenster. Der Wind pfiff in meinen Ohren.
Ich trat wieder zurück und schloss angespannt das Fenster. Plötzlich kam ich mir gar nicht mehr sicher vor - ich erinnerte mich noch ganz genau, das Fenster zuvor schon einmal geschlossen zu haben, und Nicole war in der Arbeit. Ein eisiger Schauder lief über meinen Rücken und rasch verriegelte ich das Fenster.
Ich fühlte mich beobachtet, alles in meinem Zimmer kam mir bedrohlich vor. Ängstlich rutschte ich an der Wand hinab und zog die Beine fest an den Körper. Ich versteckte mich neben meinem Bett. Unruhig rutschte ich auf dem Boden hin und her.
Nach einer Weile sprang ich dann doch auf und schlang schnell eine Schale Cornflakes herunter, bevor ich wieder hoch lief. Die Tür zum Bad stand offen, nervös ging ich herein und setzte mich auf den Rand der Badewanne. Mein Blick fuhr durch den Raum, und blieb am Spiegel hängen.
Vor Schreck viel ich fast rückwärts vom Rand, fing mich aber noch rechtzeitig ab. Ich schwang die Beine in die Wanne und presste mich an die feuchte Wand.
Der Boden war bedeckt von silbrigen Splittern; an die Decke wurde ein kleines Lichtspiel reflektiert. Diese ganzen Splitter waren mir zuvor noch nicht aufgefallen, es gab keine mögliche Erklärung dafür. Ich traute mich nicht, zu dem zerstörten Erbstück aufzuschauen.
Völlig außer Atem rannte ich aus dem Badezimmer und polterte die Treppe hinunter. Ich wählte rasch die Nummer meiner Mutter. Es war besetzt, also beschloss ich kurzer Hand Larissa zu besuchen, schließlich war es Samstag. Ich kannte ihr Adresse, sie wohnte nicht weit weg.
Schon nach wenigen Minuten stand ich vor dem kleinen, gelben Häuschen. Larissa öffnete die Tür. "Hallo, Hannah", sagte sie verwundert und starrte mich an, wie ich mit tropfnassen Haaren dastand und kaum Luft bekam. Ich fuhr mir verlegen durch das Haar. "Möchtest du reinkommen?", fragte sie unsicher und trat einen Schritt zurück, um mich rein zu lassen.
Ich beeilte mich, die kleine Treppe hinauf zu gehen ohne zu rennen. Das Ergebnis war mangelhaft; ich stolperte und viel Larissa fast vor die Füße - sie schloss grinsend die Tür hinter mir.
Ich setzte mich schnaufend auf eine Treppenstufe und schloss meine Augen - es drehte sich alles.
"Was ist los?" Larissa glitt auf den Boden und musterte mich eindringlich. "Stimmt etwas nicht mit Nicole, oder mit Jan?"
Ich fuhr hoch. "Nein, nein!", erklärte ich schnell. "Es geht ihnen prima."
"Was ist es dann?" Dafür, dass sie so klein war, war sie heute sehr scharfsinnig im Umgang mit Leuten.
"Nichts." Das letzte was ich jetzt brauchte, war darüber zu reden. Also lies ich das Thema fallen.
"Gut", sagte sie etwas beleidigt und wandte sich ab. Ein paar Minuten lang saßen wir schweigend da.
Und dann fing es an. "Hast du schon gehört, dass Delia mit Devin zusammen ist?! Also meiner Meinung nach, passen die zwei fürchterlich zusammen! Und dieser Neue.. Ah.. Er ist so süß! Denkst du, er hat eine Freundin? Aber eigentlich kommt er nicht in Frage für mich; er ist bestimmt ein paar Zentimeter kleiner als ich!" Sie ließ mir keine Zeit, um zu antworten, also ließ ich es einfach über mich ergehen. Ich nickte ab und zu, obwohl ich ihre Fragen kaum mitbekam. In meinem Kopf war ich nicht mehr in der Realität - in meinem Kopf lag ich auf einem großen, weißen Bett, während zwei eisblaue Augen mich mit einem Lächeln musterten.
"Und auf welchen Jungen stehst du im Moment?", fragte sie völlig ernst und diesmal stoppte ihr Redeschwall. Wohl oder übel müsste ich ihr antworten.
Ich dachte einen Moment nach, und fast rutschte mir sein Name heraus. Ich senkte schnell den Blick - ich wollte es nicht sagen, unter keinen Umständen wollte ich das, und Larissa durfte es nicht bemerken. Aber ich verriet mich - ich lief rot an.
Larissa zog ihre Augenbrauen hoch. "Ich weiß es", flüsterte sie versteinert. "Habe ich Recht; Es ist er, nicht wahr?" Ihre Stimmte triefte nur so voller Mitleid.
Ich biss mir auf die Lippen. "Wer?", fragte ich ganz unschuldig.
Larissa starrte mich benommen an. "Wer wohl?" Ich machte auf unwissend und schaute sie fragend an. "Hannah!", stöhnte sie. "Ich meine Alec! Natürlich - Alec. In den letzten Wochen war ich wohl blind. Es ist unübersehbar!"
Mit gesenktem Blick schweiften meine Gedanken ab. War es tatsächlich so auffällig? Was dachten die andern? Was dachte er?
"Oh, Hannah! Du verschwendest deine Zeit mit ihm!"
Ich kniff die Augen zusammen. "Gefühle sind schwer zu beeinflussen", flüsterte ich.
"Du kennst ihn kaum", wandte sie ein.
"Vielleicht sogar besser als du!", fauchte ich, sprang auf und verließ das Haus. Auf der Straße blieb ich erst einmal ziemlich ratlos stehen. Was sollte das?
Aber jetzt konnte ich meinen Auftritt nicht mehr rückgängig machen, was würde es also bringen, jetzt wieder zurück zu laufen.
Mit hängenden Schultern und triefenden Haaren lief ich zurück zu dem kleinen Märchenhaus meiner Mutter. Ich blieb verunsichert davor stehen, aber als ich den Wagen von Nicole in der Einfahrt entdeckte, gab ich mir einen Ruck und klingelte.
Aus dem Flur kamen Schritte und ein fröhliches Pfeifen drang zu mir hinaus. Kurz darauf ging die Tür auf.
„Ist etwas passiert?“, fragte Nicole und musterte mich – ich wusste nicht, was sie in meinen Augen sah.
„Im Bad …“, flüsterte ich tonlos.
„Hannah? Ist alles in Ordnung mit dir?“ Sie fasste mir besorgt an die Schulter und zog mich in den Flur.
„Ja. Natürlich ist alles in Ordnung.“
Nicoles Augen schweiften durch den Raum. „Warte hier.“
Sie lief mit schnellem Schritt die Treppe hinauf und verschwand im Badezimmer, ich hielt den Atem an.
„Hier ist nichts, Schatz!“, sagte sie und kam wieder aus dem Badezimmer. „Komm doch hoch und schau.“
Tatsächlich war der Spiegel noch ganz – verkratzt und verdreckt, wie immer. Ich schüttelte benommen den Kopf.
Aber …
Ich blinzelte aus dem Fenster in die Sonne. Sie blendete mich, aber ich wandte den Blick nicht ab. Stunden stand ich so da, beobachtete den Verlauf der Sonne und achtete nicht darauf, wie mir das grelle Licht die Tränen in die Augen trieb. Jedoch beunruhigte mich der Gedanke, dass es nicht nur die Sonne sein musste. Denn es gab so vieles unglaubliches in meinem Leben, unheimlich unglaublich. Diese Dinge, die nicht real sein durften, da sie gegen alles wiedersprachen, was man mir beigebracht hatte. Und das Wissen was ich besaß, das das die anderen meiner Art nicht hatten, sollte nicht existieren. Es war ein verbotenes Wissen, es war falsch zu wissen, dass Alec nicht so war wie ich. Aber plötzlich hatten Richtig und Falsch keine große Bedeutung mehr für mich.
Es war mir egal, was Alec war. Es war mir egal, was das für Folge für mich hatte. Angst schlich sich in mein Bewusstsein – war es ihm egal, was ich war? Denn ich war nur ein kleiner, unbedeutender Mensch wie jeder.
Aber diese Frage sollte ich mir nicht stellen, denn es war nicht wichtig. Ich war nicht gut genug für ihn, und der Gedanke, dass eine andere es war, war unerträglich.
Mit Tränen in Gesicht rannte ich in mein Zimmer und lies mich in das große Bett fallen. Schluchzend zog ich mir die Bettdecke über den Kopf. Nach einer Weile schlief ich ein.
Ich sitze an einem kleinen Bach umgeben von Blumen auf einer Wiese. Die Schatten der Bäume halten mich in der Dunkelheit gefangen. Ein schwarzer Schmetterling fliegt über mir hinweg in das grelle Licht.
Ich springe auf und folge ihm. Überall wo ich hingehe verfolgt mich der Schatten. Die Kälte schleicht langsam in meinen Körper.
Das kleine Tier verschwindet im Wald, wird immer schneller. Ich beginne zu rennen.
Die dunklen Fichten ziehen an mir vorbei und die Äste streifen dann und wann meine Arme.
Der Wald endet an einer Mauer. Sie reicht mir knapp über den Kopf. Niedergeschlagen lehne ich mich an den eisigen Stein. Ich sehe erschöpft an mir herunter. Die schwarzen Jeans sind zerrissen und verdreckt. Das Top zerfetzt.
Mut fasst mich und ich klettere ohne darüber nachzudenken über die Mauer.
Auf der anderen Seite bleibe ich für einen Moment fassungslos stehen. Überall sind Menschen in eleganten und teuren Kleidern. Langsame Musik wird gespielt und überall wo man hinsieht sind weiße und rote Rosen.
Ich schiebe mich an einer kleinen Frau in einem rosa Seidenkleid vorbei und gelange an einen breiten, roten Teppich. Die meisten Besucher drängen sich aufgeregt neben mich.
Plötzlich wird alles still. Und dann, ganz leise beginnt sie, erfüllt eine ruhige Melodie den gesamten Garten. Erst in dem Moment, als ich die Melodie erkenne, verstehe ich, wo ich mich befinde. Auf einer Hochzeit.
Beschämt blicke ich an mir hinunter und will schnell weggehen, aber die Leute versperren mir den Weg. Ich bin gefangen und da kommt schon das glückliche Paar. Kinder in blauen Kleidern und mit vielen Rosen geschmückt laufen voran und werfen mit Blumen.
Die Braut trägt ein atemberaubendes, weißes Kleid und aufwendigen Stickereien. Das blonde Haar trägt die Schönheit hochgesteckt, weiße Rosen wurden hinein geflochten. In ihrem Gesicht liegt ein sanftes Lächeln und ihre blauen Augen strahlen vor Glück.
Mein Blick wandert langsam von ihrem perfekten Gesicht ab, zu dem Mann neben ihr. Ihrem Verlobten. Mir stockt der Atem als ich ihn ansehe. Das goldblonde Haar hängt ihm zerzaust bis zu den Ohren. Die hellbraunen Strähnen glitzern in der Sonne. Er trägt einen schwarzen Anzug, der einen starken Kontrast zu seiner schneeweißen Haut bildet.
Alec.
„Hannah? Wach auf, Schatz.“ Mich rüttelte etwas an der Schulter. „Es ist nur ein Traum!“
Ich blinzelte in die Sonne und wische mir ein paar Tränen aus dem Gesicht. Nicole nahm mich in den Arm.
„Du hast schlecht Geträumt, Hannah“, sagte sie beruhigend.
„Ja“, flüsterte ich.
„Ich.. Ich werde dann mal gehen.“ Sie verschwand aus dem Zimmer und lies mich allein zurück.
Ich starrte in die Dunkelheit vor meinem Fenster. Die Uhrzeiger sagten mir, dass es nach Mitternacht Uhr war.
Schluchzend legte ich mich wieder zurück und schief ein, traumlos.
Neues Kapitel
Am nächsten Morgen erwachte ich von dem Motorengeräusch eines Autos. Ich schwang mich aus dem Bett und stellte mich ans Fenster. Nicoles Wage bog um die Ecke und verschwand.
Mein Magen knurrte und ich polterte die Treppe hinunter in die Küche. Hastig verschlang ich eine Schale Cornflakes.
Eine Weile saß ich da und war ganz in Gedanken versunken, als jedoch Alec sich in meinen Kopf schob, sprang ich eilig auf, spülte die Schüssel und ging unter die Dusche.
Ich benutze ein neues Shampoo – es roch nach Rosen. Sorgfältig massierte ich es in mein Haar, als meine Hand am Hals erstarrte. Immer noch und an derselben Stelle – dieses Pulsieren. Wie eine gebogene Linie zeichnete sich das Brennen an meinem Hals entlang. Man spürte es sofort, es war geschwollen. Ein stechender Schmerz durchzuckte mich und ich riss meine Hand weg. Ein kleiner Schrei entfuhr mir.
Ich brauchte nicht einmal eine Minute, um mir den Schaum aus dem Haar zu spülen, dann nahm ich mir ein Handtuch und schlang es fest um meinen Körper, bevor ich die Duschkabine verließ.
Ich beobachtete mein Spiegelbild, während ich vorsichtig meine Haare über die Schulter schob. Eiseskälte durchfuhr mich, als ich die Stelle an meinem Hals sah.
Ein dunkelroter Halbkreis zierte meinen Hals. Wie ein Bluterguss. Ich ging etwas näher heran und erstarrte.
Von der gebogenen Linie gingen kleine, blaue Striche aus. Wie mit einem Pinsel aufgezeichnet bildeten sie ein geschlängeltes Muster. Es sah aus wie ein verschlungenes S.
Und diesen Teil bringe ich später noch irgendwann ein:
„Ich bin nicht gut für dich, Hannah“, sagte er, und seine Stimme klang so überzeugend, dass ich mich zusammenreisen musste, um es nicht selbst zu glauben – ich wusste es besser. Er war gut für mich. Nur ich war nicht gut für ihn. Nicht gut genug, kein bisschen.
„Warum?“, fragte ich herausfordernd, angriffslustig. Sollte er es mir doch einfach ins Gesicht sagen. Ich wollte hören, dass ich nicht gut genug war für ihn. Ich wusste es, ja. Aber es zu hören würde mir das geben, was ich brauchte, um ihn loszulassen. Ich würde loslassen können … Ich würde es durchhalten, die Wahrheit aus seinem Munde zu hören … Das würde ich schaffen! Oder … vielleicht auch nicht?
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf seinen Rücken. Er antwortete nicht, starrte einfach weiter geradeaus. Und das machte mich unsicherer, nahm mir meine Entschlossenheit.
Er seufzte, stand auf und lief langsam zu einer großen Fichte. Dort drehte er sich mit einer Anmut, die ihm nicht bewusst sein konnte, zu mir um. Sein Gesicht war eine harte Maske; er unterdrückte seine Gefühle – was für welche es auch immer waren.
Ich rutschte vorsichtig von dem großen Stein. Unschlüssig blieb ich stehen, wo ich war, und beobachtete Alec, jede seiner Bewegungen – er schien das Selbe zu tun.
Seine Haltung war angespannt, er hatte die Schultern gestrafft und sah mich forschend an. Auf seiner Stirn hatte sich eine kleine Sorgenfalte gebildet, aber der Ausdruck, der in seinen Augen lag, war weich und nachdenklich – zum dahinschmelzen, einfach unglaublich dieser Blick.
Aber dann – es war nur der Bruchteil einer Sekunde – huschte etwas über sein Gesicht, was mir Sorgen bereitete. Für diesen kleinen Augenblick war sein Gesicht schmerzverzerrt, aber er hatte sich sofort wieder im Griff.
Ich wurde aus seiner Mimik einfach nicht schlau.
Zögernd kam er mit großen Schritten wieder auf mich zu. Während er lief fuhr er sich nervös mit einer Hand durch die Haare. Anderthalb Meter vor mir blieb er stehen – die Entfernung kam mir vor, wie einige Kilometer, aber ich spürte seine Nähe so sehr, dass es mir nichts ausmachte, was in meinem Kopf vorging, was für Gefühle sich hinter meinen Gedanken verbargen.
Ich sah ihm fest in die Augen – was natürlich ein Fehler war. Ich spürte es sofort wie meine Knie weich wurden Ich hatte Mühe, aufrecht zu stehen.
Ich atmete tief durch, und versuchte, meine Stimmer wiederzufinden, während er mich weiterhin skeptisch beobachtete. Er sah nachdenklich und zugleich auch ein wenig belustigt aus – ein Lächeln zuckte um seine Lippen.
Wieder wurde ich nicht aus ihm schlau. Hatte ich einen Witz verpasst?
„Warum?“, sagte ich wieder, drängend. In meiner Stimme schwang Unsicherheit mit, aber ich wusste, dass meine Augen vor Ungeduld funkeln mussten – eine schlechte Angewohnheit, die oft falsch verstanden wurde. Ich war nicht wütend, nein, nur ungeduldig.
Er zögerte einen elend langen Moment, in dem ich seine unmenschlich schöne Stimme nicht hören konnte, und sagte dann wiederwillig, mit leiser Stimme: „Ich bin giftig.“
In den Worten lag ein mir unbekannter Unterton, der mir ein wenig Angst machte – nicht Angst vor ihm, Angst um ihn.
Ich brauchte einen Moment, bis die Worte in meinem Kopf angekommen waren, aber sie ergaben für mich keinen Sinn.
„Giftig“, wiederholte ich leise, und blinzelte in die grelle Sonne.
Er nickte steif, und streckte vorsichtig seinen Arm aus. Er berührte kurz meinen Ellbogen – für meinen Geschmack viel zu kurz -, und ließ seinen Arm ausgestreckt. Als ich nicht reagierte, tippte er mich noch einmal sanft an – seine kühle Haut war so weich, ich wollte das Gefühl nie wieder loslassen. Diesmal verstand ich. Ich hob den Arm, und er legte seine rechte Hand auf meine linke – das war das erste mal, das er mich für längere Zeit berührte. Dann zog er meinen ganzen Arm leicht zu sich heran.
„Sieh genau hin“, flüsterte er fast unhörbar, schon wieder diesen Unterton in der Stimme – diesmal achtete ich genauer auf ihn. Ich konnte ohne allzu große Sicherheit sagen, dass man Schmerz und Qual heraushörte. Erschrocken zuckte ich zusammen und starrte ihn entsetzt an. Was konnte mir entgangen sein, das ihm solchen Qualen zusetzte?
Er drehte meinen Arm, der locker im Griff seiner kalten Hand lag, und fuhr mit einer Fingerspitze langsam von meiner Handfläche bis zur Armbeuge - in meinem Magen entstand ein Gefühl des Glücks, es überwältigte mich. Dann ließ er seine Hände sinken, und das Glücksgefühl schwand, bis wenige Sekunden später eine leise Trauer mich erfasste. Es war wirklich kindisch, dass mich das traurig machte. Schließlich konnte er mich nicht für immer berühren, geschweige denn dass er es wollte. Also war es ohnehin unmöglich.
Ich zog den Arm näher an mein Gesicht. Seine weiße Fingerspitze, hatte an den Stellen, wo er mich berührt hatte, eine schimmernde, silbrige Linie hinterlassen. Dort reflektierte meine Haut die Sonne, und ein kleines Lichtspiel wurde mir an die dunkelblaue Bluse geworfen. Die Linie war nur ein silbriges Schimmern auf meiner cremeweißen Haut – kaum sichtbar, nur wenn man genauer hinsah -, aber sie brannte wie Feuer.
Ich fuhr die Linie langsam mit meinen Fingern nach, und sah, wie sie allmählich verblasste. Das Brennen schwand mit dem Schimmern.
Ich ließ meinen Arm fallen und sah Alec aufmerksam an. In seinem Blick lag der selbe Ausdruck, wie in meinem – Aufmerksamkeit wurde darin wiedergespiegelt.
Irgendetwas war anders an ihm, aber ich kam nicht drauf, was es sein könnte.
Seine Augen? Nein, unmöglich. Sie hatten dasselbe Eisblau, wie immer.
Sein Mund? Nein, ebenfalls nicht möglich.
Seine Haare? Nein.
Seine Nase? Nein.
Sein Körper? Nein – der vor allem nicht. Er war ebenso wunderschön und gottgleich wie an jedem anderen Tag auch.
Und da fiel es mir plötzlich auf. Die Veränderung war so offensichtlich. Ich riss erschrocken über mich selbst, dass ich es nicht sofort bemerkt hatte, die Augen weit auf, denn es war so unübersehbar, wie ein Elefant im Wohnzimmer. Ich war richtig geschockt über meine Unaufmerksamkeit.
Als mir einen winzigen Augenblick später klar wurde, wie lächerlich es war, über sich selbst erschrocken zu sein, lächelte ich beschämt.
Ich war einen Moment in Gedanken versunken. Natürlich – wie sollte es anders sein? – kreisten sie um Alec. Seine Haut! Sie glitzerte genauso silbrig, wie mein Arm vorhin – wunderschön. Und es fiel auch genauso wenig auf. Man musste sich wirklich konzentrieren, um darauf zu kommen, denn auf seiner Haut, die noch weißer war als meine eigene, war das Simmern schwächer.
Ich wollte wissen, ob Alec sich über mich lustig machte, nur aus Höflichkeit ein Lachen unterdrückte – wie man es von einem gut erzogenen Gentleman nun mal erwartete.
Aber als ich aufsah, war da nichts. Außer Bäume und Boden war nichts zu sehen. Überrascht wich ich einen Schritt zurück, und stolperte dabei über etwas – einen Ast oder ,die wahrscheinlichere Möglichkeit, meine eigenen Füße. Ich fing mich mit meinen Händen auf der feuchten Erde ab, und stieß mich benommen nach vorn auf die Knie. Bevor ich aufstand schüttelte ich den Deck von meinen Händen.
Ich sah mich ängstlich um. Hatte ich mir das alles nur eingebildet und war allein in den Wald gegangen? Oder war das hier nur ein Traum, der mir zu hundert Prozent real vorkam?
Aber da entdeckte ich ihn, und Erleichterung übermannte alle anderen Gefühle. Er saß auf einem großen Felsen – die Knie angezogen und die Arme fest um die Beine geschlungen. Er starrte mit ausdruckslosem Blick in das Dunkelgrün der Bäume.
Ich lief leise – so leise es auf einem Boden voller raschelndem Gestrüpp eben möglich war - auf den Fels zu, und legte eine Hand an den kalten Stein. Die Kälte kam mir bekannt vor …
„Alec“, flüsterte ich mit zitternder Stimme, und fragte, mich was nur mit ihm los war. Warum lachte er nicht? Er musste meine Gedanken doch gehört haben, er musste wissen, dass ich mich über mich selbst erschrocken hatte. War das nicht Grund genug, mich auszulachen? Ich blinzelte durch die Wimpern zu ihm hoch.
Er saß immer noch wie versteinert da, mit einem ausdruckslosen, leblosen Blick.
Verdammt noch mal, Alec!
Ich war mir klar, dass er meine Gedanken hören konnte – das war ja auch der Sinn der Sache.
Er senkte kurz den Blick - er sah überrascht aus.
Plötzlich nahm ich einen Schatten direkt neben mir wahr. Ich fuhr erschrocken zusammen, und schrie auf. Der Schrei hallte durch die Bäume. Schließlich verebbte das Echo in der Dunkelheit und einen kurzen Augenblick war es still. Dann drehte ich mich ängstlich um, auf alles gefasst.
„Entschuldige, wenn ich dich erschreckt habe“, sagte Alec leise mit seiner Samtstimme.
Ich sah ihn verwundert an. Wie konnte man so schnell sein?
Sein Lächeln war entschuldigend, seine Augen warm, aber er sah besorgt aus.
„Hast du..“
Er ließ den Satz unvollendet und drehte mir einfach den Rücken zu – das macht mich ein wenig wütend, aber ich schluckte die Wut schnell herunter.
„Was hab ich?“, sagte ich leise, mit heiserer Stimme.
„Hast du denn gar keine Angst vor mir?“, fragte er zweifelnd und drehte sich vorsichtig wieder zu mir.
Ich grinste. „Warum sollte ich denn Angst vor dir haben?“, sagte ich scherzhaft – ich wusste genau, dass er nicht ungefährlich war, und dass ich wahrscheinlich auch Angst haben sollte - aber ich hatte keine Angst.
Alec fand das nicht sonderlich witzig. Er nahm zum zweiten Mal an diesem Tag meine Hand in seine – ich schloss zufrieden die Augen, öffnete sie aber sogleich wieder - und strich mir sanft über den Handrücken.
Sofort begann meine Haut zu schimmern und zu brennen – das nahm ich gerne hin, wenn er mich nur berührte.
Ich seufzte zufrieden.
Er runzelte ärgerlich die Stirn, dann schüttelte er geistesabwesend den Kopf und schließlich lächelte er zärtlich – aber der Ausdruck, der in seinen Augen lag, war traurig. Unruhe und Besorgnis erfassten mich.
„Was?“, fragte ich neugierig, und riss ihn damit aus den Gedanken. Ich musste es wissen, und ich wusste, dass er das auch wusste.
„Ach, nichts ...“, sagte er schnell – aber ich hatte ihn durchschaut -, und blinzelte benommen in die Sonne.
„Was?“, beharrte ich.
Er gab auf.
„Du ... du solltest Angst haben. Du solltest wegrennen. Das ist nicht normal. Du darfst dein Leben nicht so aufs Spiel setzten!“ Seine Stimme nahm einen harten Ton an.
Ich biss mir wütend auf die Lippe. „Ich kann mein Leben aufs Spiel setzten, wie ich will!“, fauchte ich ihn an.
Erst sah er ebenso wütend aus wie ich, aber dann entspannten sich seine Züge und er lachte leise. „Hannah, bitte“, flüsterte er. Seine Stimme klang so sanft und rührend – wie könnte ich ihm bloß etwas abschlagen? Egal was er wollte, ich würde es tun, würde es ihm geben.
Mir stockte der Atem. Ich brauchte einen Moment, um mich zu fassen.
„Alles, was du willst“; hauchte ich.
Wieder dieses wunderschöne leise Lachen.
„Sag mir eins ...“
„Ja?“, sagte ich, benommen von dem Klang seiner Stimme.
„Wieso willst du dein Leben denn aufs Spiel setzen?“, fragte er ernst. Er wartete tatsächlich auf eine Antworte, also begann ich, zu überlegen.
„Weil ich das doch gar nicht tue“, - er wollte wiedersprechen, aber ich redete schnell weiter, - „In deinen Augen, ja. Aber nicht in meinen.“
Ich zögerte kurz. „Ich vertraue dir, Alec. Klar – es ist leichtsinnig, vielleicht auch völlig unsinnig. Aber mein Leben ... das setzte ich dabei nicht aufs Spiel – nicht in meinen Augen. Und wenn du das anders siehst, ist das schließlich nicht mein Problem, liege ich da richtig?“ Ich lächelte zaghaft.
Alec zog eine Augenbraue hoch und sah mich zweifelnd an. „Denkst du wirklich so?“
Ich lachte heiser, es war ein angespanntes und nervöses Lachen. „Du weißt doch selbst – sogar wahrscheinlich noch besser als ich -, was ich denke. Warum muss ich es dir da noch sagen?“
Er musterte mich skeptisch. „Man kann seine Gedanken manipulieren.“
„Als ob ich wüsste, wie das geht!“
„Du kannst mehr, als du dir zutraust. Glaub mir, schließlich weiss ich besser als du, was in deinem Kopf vorgeht – das sind deine Worte.“
„Aber was, wenn ich meine Gedanken ständig manipuliere?“, sagte heiter und grinste ihn an.
Darüber dachte er einen Moment nach, und antwortete schließlich ernst: „Das glaube ich nicht. Manche deiner Gedanken sind sogar ganz logisch ...“ – er grinste kurz – „Wie gesagt, manche. Aber natürlich hast du wiederum auch Recht. Oft verstellt Deinesgleichen seine Gedanken so, wie sie möchten.“
Er zögerte kurz. „Ich kann mir nie sicher sein, ob ein Mensch auch das fühlt, was er denkt – bei Meinesgleichen ist es dagegen unmöglich, sich selbst vorzumachen, etwas anderes zu fühlen. Darum kann man euch wirklich beneiden – manchmal wünschte ich, auch dem Glauben schenken zu können, was so absurd wie unmöglich ist.“
„Meine Gedanken sind völlig rein und unmanipuliert. Keine einzige Lüge. Warum sollte ich mir selbst etwas vormachen?“
Mist, dachte ich nervös, und biss mir auf die Lippen.
Jetzt wusste er natürlich auch, wie verfallen ich ihm war und wie stark jede seiner Berührungen auf mich wirkte. Er hatte es natürlich auch schon davor gewusst, aber immer mit dem Gedanken – oder wahrscheinlich eher dem Wunsch - im Hinterkopf, dass ich meine Gedanken manipulieren könnte. So eine absurde Vorstellung!
Er wich ein paar Schritte zurück. Natürlich war es ihm unangenehm, zu wissen, was ich für ihn empfand – eine völlig nachvollziehbare Reaktion.
Auch wenn ich darauf eingestellt gewesen war, gab mir seine Abfuhr – wenn man diese Reaktion so nennen konnte – einen schmerzhaften Stich in die Seite. Ich zuckte zusammen und wandte den Blick ab.
Mist, Mist, Mist, Mist, Mist … Warum musste er bloß Gedanken lesen können!?
„Hannah“, sagte er vorsichtig, seine Stimme klang bekümmert.
Ich blickte nicht auf.
„Das wäre nicht richtig.“ – er hielt einen Moment inne – „Es ist schon jetzt ganz falsch“, flüsterte er, und ich wusste, dass er nicht den Gedanken an seine Fähigkeit anspielte.
„Was ist ganz falsch?“, flüsterte ich traurig zurück-
Er überging meine Frage einfach. „Ich verspreche dir jetzt etwas, hörst du, Hannah?“
Ich legte den Kopf schräg und nickte.
„Ich werde mich aus deinem Kopf fernhalten. Wenn du das lieber hast. Ab jetzt. Versprochen. Du sollst deine Gedanken nicht für mich verstellen, damit ich mir etwas einbilden kann.“
Er glaubte, ich würde meine Gedanken verstellen? Damit er sich etwas einbilden kann? Warum sollte ich wollen, dass er denken würde, ich wäre in ihn verliebt, wenn es gar nicht so wäre? Und warum für ihn?
Was hatte das zu bedeuten? Ich verstand es einfach nicht. Was meinte er mit seinen Worten? In meinem Kopf ergaben sie keinen Sinn.
Tag der Veröffentlichung: 25.11.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle Vampir-Fans.
(Es ist Twilight sehr ähnlich, aber keine Kopie!)