Hallo, ihr Lieben,
Maria hat mich gebeten euch ein paar Dinge zu erklären, die in der Geschichte vorkommen und die ihr nicht wissen könnt, oder gar eine ganz andere Vorstellung von den Dingen oder mythischen Wesen habt.
Ich bin Chris Müller, 325 Jahre alt und ein Orakel. Gleich vorweg: In dieser Story geht es weder um mich, noch erzähle ich sie. Ich vermittle nur ein paar Dinge, die bei uns anders sind als bei euch Menschen.
Wie gesagt bin ich ein Orakel, so wie das von Delphi, aber die Wahrheit ist: Wir können nicht wirklich ihn die Zukunft sehen. Wir greifen nur auf das große kollektive Gedächtnis des Kosmos zurück. Jede Tat, jeder Gedanke wird dort gespeichert und nie vergessen. Eigentlich sind wir die magische Form eines Analysten.
Nun wisst ihr genug von mir, also beschränke ich mich auf die wichtigeren Dinge:
Nun wisst ihr das Wichtigste und ich hoffe, die Geschichte gefällt euch. Eine Bitte habe ich noch: Überredet doch Maria, dass sie mehr über uns erzählt. Mir ist langweilig und euch meine Welt zu erklären verspricht Abwechslung.
Euer Chris
Mit seiner Tasche über der Schulter näherte sich Lian dem Portal. Er konnte es immer noch nicht fassen Sein Leben war ein einziger Trümmerhaufen. Vor sechs Monaten wurde sein Dorf überfallen, seine Schwester und ihr Mann getötet, sein drei Monate alter Neffe Olav entführt und er schwer verletzt. Er erholte sich nur langsam von den erlittenen Wunden und vor ein paar Tagen hatte man ihm gesagt, dass er gehen musste. Seine Familie und sein Freund standen nicht zu ihm. Seine Eltern gaben ihm die Schuld an den Vorkommnissen, da er der Chef des örtlichen MBD-Postens war.
Reimar, sein Freund, war sogar froh, dass er ging, denn jener würde bald den Bund der Ehe mit einer Freundin schließen. Bei Trollen war es durchaus möglich zwei Partner zu haben, was aber nicht hieß, dass die beiden einander mochten. Lian hat es Reimar nie übelgenommen, das jener auch mit Uta zusammen war. Sie sahen sich jeden zweiten Tag und sprachen nie von ihr, denn Reimar wusste, dass Lian mit einer Frau nichts anfangen konnte. Er war eben schwul und stand auch dazu.
Als ihm Reimar vor ein paar Tagen sagte, dass es aus wäre, brüllte und tobte er. Es war so schlimm, dass man ihn mit einem Zauber belegte, der ihn fesselte. Es gab eine Ratssitzung, auf der auch er anwesend sein musste. Sein Ex wollte ihm einen Gefallen tun und machte folgenden Vorschlag: Er sollte um Versetzung ansuchen, zu einem andern Ort, weit weg von seiner Heimat. Andernfalls würde man ihn an höherer Stelle melden und er dann auch noch seinen Job verlieren.
Er willigte ein, denn er sah auf diese Weise mehr Möglichkeiten, seinen kleinen Neffen zu finden.
Noch einmal guckte er sich um, aber er war allein, keiner da, um sich von ihm zu verabschieden. Plötzlich ging jedoch die Tür auf und seine beiden jüngeren Brüder kamen herein. Sie zogen ihn in eine Umarmung und ließen ihn wissen, dass sie sehr wütend über die Entscheidung des Dorfrates waren. Lian beschwichtigte die beiden, denn auch wenn es wehtat, so hatte er eine Mission zu erfüllen. Er drückte seine Brüder ein letztes Mal und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, durch das Portal. Er würde sie vermissen, aber, sobald er seinen Neffen gefunden hatte, wieder in das Dorf nach Schweden zurückkehren.
Es dauerte nur einen Augenblick und schon war er von der Wartehalle seines Heimatlandes in eine Ankunftshalle in Österreich teleportiert. Diese Art zu Reisen war sehr angenehm, aber auch aufwendig, denn man durfte es nicht ohne Genehmigung tun. Zu viele Portale gleichzeitig aufzumachen hatte man verboten, warum auch immer. Ihm war der Grund herzlich egal, da er nun seinen Zielort erreicht hatte.
Er war noch ganz gedankenversunken, als er mit einem Mal angesprochen wurde. Lian sog den Duft des Mannes ein, weil er wissen wollte, mit welcher Art er es zu tun hatte. Überrascht riss er die Augen auf. Der Mann vor ihm maß ungefähr eins siebzig, hatte braune Augen und Haare. Das Erstaunlichste aber war, dass es sich um kein mythisches, sondern ein menschliches Wesen handelte. Es wussten nur wenige dieser Spezies von ihrer Existenz, dadurch arbeiteten kaum welche für die Vereinigte Föderation.
„Ihrem erstaunten Blick nach zu urteilen haben Sie erkannt, dass ich ein Mensch bin. Mein Name ist Michael Steiner und ich lebe schon seit Jahren unter euch. Ich bin Sozialarbeiter und für die Vereinigte Föderation der mythischen Wesen tätig. Falls es Sie stört, dass ich ein Mensch bin, übergebe ich Ihre Betreuung an einen Kollegen.“ Mit einem gezwungen wirkendem Lächeln wartete der Mann auf eine Antwort.
War es im egal oder nicht? Momentan wusste er es nicht. Er zuckte mit den Schultern und bot seine Hand zur Begrüßung. „Ich bin Lian Johansson und um ehrlich zu sein: Zurzeit will ich nur wissen, wo ich wohne und wann ich mich bei meinen neuen Vorgesetzten melden muss.“
Der Mensch nickte, ging voraus und zeigte ihm den Weg zum Auto. Sie fuhren ungefähr eine halbe Stunde. Steiner erklärte ihm, dass es sich um eine Wohnsiedlung handelte, wo sie unter ihresgleichen waren. Das hieß, er musste sich nicht verstellen.
In der Siedlung angekommen, parkte Steiner das Auto vor einem Mehrparteienhaus. Er nahm seine Tasche und folgte dem Menschen ins Gebäude. Die Wohnung befand sich im zweiten Stock. Es gab zwar einen Lift, aber Steiner nahm die Treppe. Also wusste jener, dass Trolle mit engen Räumen Probleme hatten. Er folgte dem Mann und als er die letzte Stufe nahm, sperrte Steiner bereits die Tür auf. Sie traten nacheinander ein und Lian staunte nicht schlecht. Im Eingangsbereich standen seine eigenen Möbel aus der Heimat. Wie ging das so denn schnell?
„Du fragst dich, wieso deine Möbel schon hier sind? Ganz einfach: Ein Frachtzauber. Wie das genau funktioniert, weiß ich allerdings nicht es. Da vorn ist die Küche. Wir müssen noch einiges besprechen. Hast du schon mal unter Menschen gelebt? Wie geht es dir nach dem Überfall?“ Steiner ging voraus und ließ ihn stehen.
Lian schnaubte, folgte und schnauzte: „Wie ich mich fühle geht dich gar nichts an und nun hau ab, ich will duschen.“
Er stürmte aus der Küche, suchte das Schlafzimmer, warf seine Tasche aufs Bett, holte saubere Sachen heraus und ging ins Bad. Das war gleich nebenan. Er knallte die Tür zu und sperrte den Fremden aus.
Michael starrte dem Troll hinterher. Ihm wurde klar, dass es ein Fehler war gleich über die Ereignisse in Schweden zu sprechen. Lian lebte jetzt aber unter Menschen und wenn er sich nicht gut unter Kontrolle hatte, könnte er einigen Schaden anrichten. Das Zuschlagen der Badezimmer holte ihn aus seinen Gedanken. Er deckte den Tisch und stellte Kaffee auf.
Kaum war er fertig, kam sein Schützling zur Tür herein. „Was machst du noch hier? Ich will meine Ruhe haben. Ich brauche keinen Aufpasser. Also bitte, geh jetzt.“
„Das geht noch nicht, aber je eher du alles kapierst, umso schneller sind wir fertig und du bist mich für heute los. Also: Hast du schon unter Menschen gelebt? Ja oder Nein?“ Er setzte sich an den Küchentisch und löffelte Zucker in seinen Becher.
Sein Gegenüber schnaubte resigniert und nahm ebenfalls Platz. Er trank einen Schluck Kaffee und begann zu reden; erklärte, das keiner von dem, was gesprochen wurde, erfuhr; er aber Lians Vorgesetztem eine Einschätzung über dessen Gemütszustand geben musste. Sein Schützling nickte einsichtig.
Ihr Gespräch dauerte länger als gedacht. Es wurde schon finster. Michael schaute auf seine Armbanduhr und sah, dass es Zeit fürs Abendessen war.
Er streckte sich. „Zieh dich an. Wir fahren zu meiner Familie.“
„Was soll ich bei deiner Familie? Ich bleibe lieber hier und mache es mir vor dem Fernseher gemütlich.“
Michael lachte laut. „Du glaubst wohl, dass es Zufall ist, dass dein neuer Chef und ich denselben Familiennamen haben. Da muss ich dich enttäuschen: Er ist mein Vater.“
„Mein neuer Chef ist ein Troll, soviel ich weiß und kein Mensch.“
„Tut mir leid. Er ist mein Adoptivvater. Wir sind eine sehr ungewöhnliche Familie. Komm jetzt, ich hab Hunger.“
Er merkte, dass sein Schützling nur wiederwillig nachgab, aber es half nichts. Es war seine Aufgabe, dass sich Lian in dieser Umgebung zurechtfand. Jener war nicht mehr in dem kleinen Dorf in Schweden, in dem es nur Trolle gab. Außerdem nahte Ende Februar, damit in ein paar Wochen der erste Frühlingsvollmond. An diesem Tag waren ungebundene Trolle unkontrollierbar. Sie könnten Leute verletzen oder, noch schlimmer, entdeckt werden. Einen über zwei Meter großen grauen Troll, der im Paarungsrausch war, nahmen selbst die Menschen wahr.
Steiner ging ihm auf die Nerven. Seit seiner Ankunft wich der Mann ihm nicht von der Seite. Dabei war er schon 30 und kein kleines Kind mehr.
Auf der Treppe fiel ihm ein, dass er weder wusste, wie er wieder nachhause kam noch morgen zur Arbeit. Als sie ins Auto stiegen, fragte er also danach.
Der Mensch grinste. „Ich nehme dich mit. Meine Wohnung liegt genau unter deiner und mein Büro befindet sich auch ein Stockwerk unter deinem Büro.“
Das Wort ‚unter‘ ließ ein Bild in seinem Kopf erscheinen, auf dem Steiner wirklich unter ihm lag, und zwar nackt und vor Erregung zitternd. Sein Schwanz wurde steinhart. Er musste seine Erektion zurechtrücken und hoffte, dass Steiner es nicht sah.
Entweder hatte er Glück, oder der Mensch besaß Taktgefühl. Jedenfalls guckte Steiner stur geradeaus. Eh er sich versah, stand der Wagen schon wieder. Irritiert schaute er seinen Chauffeur an.
„Du warst total in Gedanken und hast mich wohl völlig ausgeblendet. Wir waren eine halbe Stunde unterwegs. So, und jetzt einmal durchatmen und raus mit dir. Dein Boss hasst Unpünktlichkeit und ich lass mir nicht wegen dir den Kopf abreißen.“
Lian stieg aus und sah staunend an der Hausfront hoch. Das Gebäude war riesig. Wie konnte sich ein Beamter so etwas leisten?
Seine Frage musste ihm wieder mal ins Gesicht geschrieben stehen, denn Steiner antwortete: „Es gehört nicht meinen Eltern, sondern ist konfisziert worden. Sie haben nur die Erlaubnis hier zu wohnen, so lange sie sich um magische Wesen kümmern, die niemanden sonst haben. Du wirst aber gleich mehr erfahren. Komm mit rein.“
Als sie auf die Haustür zugingen, sprang diese auf und ein Mann erschien. Er war älter als sie und zierlich gebaut.
Als sie bei im ankamen, begrüßte er sie und stellte sich vor: „Hallo Lian. Ich bin so frei und sage einfach mal du. Wir sind hier alle nicht sonderlich förmlich. Ich bin Andreas und der knurrige alte Troll hinter mir ist Markus, dein neuer Boss. Ich bin Leiter der Gerichtsmedizin und verarzte auch kleinere Verletzungen, jedenfalls bei den Leuten aus der Abteilung. Wir sind Michaels Eltern, wie du vielleicht schon erfahren hast. Kommt rein, die anderen warten schon.“
Er reichte erst Andreas die Hand, anschließend Markus. Gemeinsam gingen sie in die Küche, die riesig war und wo an einem runden Tisch einige Leute saßen. Markus räusperte sich laut, woraufhin alle Lian ansahen, dann stellte er sie nach der Reihe vor.
„Das sind unsere Kinder und ein paar Freunde. Das ist Sebastian, wie du ein Troll und ab morgen dein Partner. Neben ihm sitzen Lara, Thomas, Roman, Bernhard, Davit und Erik. Leider konnten nicht alle hier sein, aber irgendwann lernst du sie noch kennen. Die letzten beiden sind Boris, ein Vampir, aber harmlos und Corina, unser Hausdrache. So, jetzt kennst du alle. Setzt euch und lasst uns essen.“
Lian war entsetzt. Wie konnte Markus so etwas beleidigend über die Frau sagen?
Er hörte ein leises Lachen und eine sanfte Stimme sagte: „Er hat mich nicht beleidigt. Ich bin wirklich ein Drache und wohne hier. Und du, mein Junge, mach nicht immer diesen dummen Scherz mit unseren Gästen.“ Die letzten Worte waren an Markus gerichtet.
Lian wollte ihr die Hand entgegenstrecken, aber Steiner flüsterte ihm zu, dass Corina nicht berührt werden wollte. Das hatte etwas mit ihrer Vergangenheit zu tun.
Das Essen verlief gesellig. Er erfuhr einiges, erzählte ebenfalls seine Geschichte und kam sich dabei fast schon schäbig vor, angesichts der Schicksalsschläge, die die anderen erlitten hatten. Steiner, dessen Geschwister und die beiden anderen waren alle Gefangene eines reichen Arschlochs gewesen, der sich seltene Sklaven hielt. Der Vampir und der Drache, die Jahrhunderte in dieser Knechtschaft zugebracht hatten, trauten sich nicht mehr aus dem Haus. Ein ähnliches Schicksal erwartete wahrscheinlich auch seinen Neffen. Er würde alles tun, um Olav zu retten.
Es war spät, als Steiner und er nach Hause fuhren. Am nächsten Morgen musste er früh raus, denn um acht Uhr begann sein Dienst. Sein Chef hat ihm sogar erlaubt, die Ressourcen des MPDs zu nutzten, um seinen Neffen zu suchen. Er war heilfroh über diese Unterstützung.
Texte: Maria Linde
Bildmaterialien: Pixabay
Lektorat: Sissi Kaiserlos
Tag der Veröffentlichung: 13.03.2018
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