Rezept für die Liebe
Liebesroman
J.R. König
1. deutsche Auflage, Mai 2016
Copyright © J. R. König, Leipzig
Lektorat: Lektorat & Korrektorat Satz & Silbe
Korrektorat: DFK - Korrekturen
Coverbild: Shutterstock.com / © stockcreations
Covergestaltung: Tamie
Impressum:
J.R. König
c/o Studio Delta
Angerstraße 40 – 42 Haus B
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Mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt, atme ich das erste Mal seit Stunden wieder durch. Diese Veranstaltung, auf die mich Mutter erneut geschleppt hat, ist unerträglich. Wie so oft verstehe ich nicht, warum es meinen Eltern so wichtig ist, dass ich mich in ihre Gesellschaften integriere und diese fremden Leute als Teil meines Lebens ansehen soll. Wäre es die erste Veranstaltung dieser Art gewesen, zu der mich Mutter in diesem Jahr schleppt, wäre ich noch nicht einmal so genervt gewesen. Aber wir haben erst Anfang März und ich bin bereits das fünfte Wochenende auf einem Landsitz außerhalb Dublins und versuche nicht aufzufallen.
Dass dieses Vorhaben allein schon daran scheitert, dass ich die einzige Frau in einem bunten Kleid bin, kann ja keiner ahnen. Zumindest niemand von den anderen. Mir machen diese kleinen Spielchen Spaß. Denn allein zu sehen, wie sich die Augen meiner Mutter bei meinem Anblick weiten, gibt mir ein Gefühl der Genugtuung, das ich den gesamten Nachmittag auskosten kann.
Mit geschlossenen Augen lehne ich meinen Kopf gegen das massive Holz hinter mir und sauge den Geruch der alten Bücher in diesem Raum in mich ein.
Das Anwesen der McAllaster-Familie ist mir durchaus bekannt und als Kind liebte ich diesen Raum. Schon damals schleppte Mutter mich mindestens einmal im Monat hier raus und wollte, dass ich sah, was man mit den richtigen Entscheidungen erreichen konnte. Selbst jetzt erinnere ich mich daran, wie sehr mich die aufgesetzte Freundlichkeit von Deardra McAllaster abschreckte und ich mich gern versteckte. Groß genug ist das Objekt, und so verbrachte ich viele unentdeckte Stunden genau in diesem Raum. Meistens zusammen mit Alan, dem Sohn dieser Familie. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte er mir gestohlen bleiben können. Aber lieber verbrachte ich die Zeit damit, zu lesen und mich mit ihm zu streiten, als bei unseren Eltern zu sitzen und steife Unterhaltungen zu führen.
Mutter erfuhr niemals etwas davon. Sie dachte, ich saß nebenan im Teezimmer, und lese wichtige Lektüren für die Schule. Und das mit sechs Jahren. Diese Frau wird mich niemals verstehen. Wahrscheinlich hätte sie niemals Mutter werden dürfen. Aber sicher ist es ungerecht, ihr solche Dinge zu unterstellen. Allein Dads vorbildlichem Verhalten mir gegenüber und dass er die liebevollste Person auf der ganzen Welt ist, habe ich es zu verdanken, dass ich nicht durchdrehe. Und Granny Rosi. Die beiden sind die besten Menschen, die ich kenne.
»Sind wir wirklich wieder so weit, dass wir uns gemeinsam verstecken müssen?«
Alans tiefer Bariton erschreckt mich beinahe zu Tode und ich staune nicht schlecht, als er sich aus dem alten Ohrensessel direkt am Fenster erhebt. Wie habe ich ihn übersehen können?
»Was willst du, Alan?«
Mit wenig Begeisterung trenne ich mich von meiner Tür im Rücken und bin mit wenigen Schritten bei dem Sessel, ihm gegenüber. Es sind schon immer diese beiden Ohrensessel und schon immer haben wir in ihnen so gesessen wie jetzt.
»Ich bin von dieser sinnlosen Veranstaltung geflohen. Genauso wie du. Solltest du nicht bei deinem Herzbuben David sein und dich von ihm mit winzigen Canapés füttern lassen?«
Sein Blick ist so spöttisch, dass ich entschied, er hat keine Antwort von mir verdient. »David kann sich wunderbar allein amüsieren. Gibt doch genügend Püppchen hier, die sich sicher liebend gern von ihm langweilen lassen.«
Mit einem tiefen Seufzen lasse ich mich auf meinen alt angestammten Platz fallen und nehme Alans Erscheinung in mich auf. Seine dunkelblonden Locken liegen wie gemalt auf seinem Kopf, seine Augen funkeln mich von oben herab an, wie sie es schon in unserer Kindheit getan haben und sofort wird mir wieder klar, warum ich ihn nicht leiden konnte. Und zwar noch nie.
»Das klingt aber nicht sehr verliebt, meine liebe Myra. Solltest du deinem Verlobten nicht ein wenig mehr Aufmerksamkeit schenken?«
Seine Stimme schickt mir Schauer über den Rücken, aber davon werde ich mich nicht beeinflussen lassen. Diese Wirkung hat er seit Jahren auf mich und jedes Mal will ich mich am liebsten übergeben, wenn ich in seiner Nähe bin.
»David bekommt genügend Aufmerksamkeit von meiner Mutter. Und jetzt hör auf. Du wirst mich nicht aus der Reserve locken können, nur weil ich mich nicht so verhalte, wie es alle gern hätten.«
»Das hast du schließlich noch nie getan, richtig?«
Spöttisch hebt Alan eine Augenbraue und sein stechender Blick geht mir durch und durch. Aber hinter seiner äußerlichen Attraktivität verbirgt sich eine verabscheuungswürdige Persönlichkeit, die er scheinbar nur mir offenbart. Soll ich mich jetzt für etwas Besonderes halten? Ich denke nicht.
»Wenn du das sagst. Können wir jetzt einfach still sein? Wenn ich plappernde Gesellschaft gewünscht hätte, wäre ich draußen geblieben.«
Die Arme vor der Brust verschränkt, lehne ich mich zurück und sehe aus dem Fenster. Dafür, dass wir erst Anfang März haben, ist es ein wirklich milder Tag und zu gern wäre ich lieber in der Stadt bei Granny, mit der Nase tief in einem Buch versunken. Draußen auf der Dachterrasse über ihrem Café und ihrer Wohnung. Der Gedanke an die kleine Oase mitten in Dublin, hoch über den Dächern der Stadt, entlockt mir ein tiefes Lächeln. Es ist ein Ort der Ruhe und der Einzige, an dem keiner auf mich einredet, warum ich schon wieder nichts mache und rum sitze.
»Warum hast du seinen Antrag angenommen, wenn du gar nicht in seiner Nähe sein willst. Oder kannst?«
Alans sanfter Tonfall überrascht mich, denn so spricht er nie mit mir. Wir kennen uns seit beinahe 20 Jahren und jedes Mal, wenn wir aufeinandertreffen, muss man aufpassen, dass wir uns nicht die Köpfe einschlagen.
»Irgendwann muss ich doch mal erwachsen werden, oder nicht?«
Wahrscheinlich das erste Mal in meinem Leben, ist Alans Blick zärtlich auf mich gerichtet und ich zucke leicht zusammen, als er seine große, warme Hand auf meine legt. In jeder Faser meines Körpers spüre ich ein unbekanntes Kribbeln, als sein Daumen über meine Haut streicht und ich zumindest für den Moment ruhiger werde.
»Und mit einer solchen Hochzeit denkst du, wirst du es? Oder willst du es einfach nur deiner Mutter recht machen, damit sie dich in Ruhe lässt?«
Es widerstrebt mir ihm zuzustimmen, aber es ist nun einmal so. Wenn ich ihr nicht endlich zeige, dass ich so sein kann, wie sie mich haben will, wird sie mich niemals machen lassen, was ich will. Wenn ich denn irgendwann weiß, was das sein soll. Energisch entziehe ich Alan meine Hand, denn das Gefühl, das er durch meinen Körper schickt, ist mehr als nur unangebracht.
»Du hast keine Ahnung, was in mir vorgeht. Hattest du noch nie und wirst du nie. Du kannst also aufhören so zu tun, als würdest du mich kennen.«
Es ist nicht meine Absicht, so unhöflich gegenüber Alan zu sein, aber selbst wenn er nett zu mir ist, sträuben sich mir die Nackenhaare in seiner Nähe. Ungeduldig springe ich auf und beginne im Raum auf und ab zu laufen. Eigentlich habe ich Ruhe gesucht und werde nur mal wieder damit konfrontiert, dass ich keine Ahnung habe, was ich will. Zumindest David nicht heiraten. Das will ich auf keinen Fall, aber das werde ich niemals offen zugeben.
Warum kann mich denn nicht einfach die Welt in Frieden lassen? Ist das wirklich zu viel verlangt?
»Myra, was hast du denn da schon wieder an?«
Es ist einer dieser Vormittage, an denen ich nicht darum herumkomme, mit meinen Eltern zu frühstücken. Mindestens einmal im Monat, zwingt mich Mutter zu dieser Zusammenkunft, und allein die Aussicht darauf zu beobachten, wie Dad und David miteinander streiten, lässt mich nicht irgendeine Krankheit vortäuschen. Ein Monat ist vergangen, seit ich irgendwann vor Alans bohrenden Fragen geflüchtet bin und bis heute geht mir nicht aus dem Kopf, dass er denkt, ich hätte eine eigene Wahl.
»Was weißt du schon von meiner Familie?«, hatte ich ihm an den Kopf geworfen und gehofft, er würde endlich den Mund halten. Seit jeher, war es immer Alan, der die unangenehmen Dinge in meinem Leben auf den Tisch brachte. Oder selbst hervorrief.
»Genug, um dir sagen zu können, dass du ganz schön bequem bist, dich ihr lieber zu beugen, als dein Leben endlich selbst in die Hand zu nehmen«, war seine Antwort. Und es ärgert mich noch jetzt, dass er die Frechheit besaß, über mich zu urteilen. Nur was, wenn er tatsächlich recht hat. Nein, so darf ich gar nicht erst anfangen. Es war Alan, mit dem ich gesprochen habe, und keiner meiner Freunde. Wenn ich denn welche hätte. Es ist unmöglich, dass er recht hat. Ich bin nicht bequem, ich habe einfach meinen Platz noch nicht gefunden.
Mit dieser Mutter, werde ich nie frei entscheiden können. Oder wie soll ich mir das aufgezwungene Praktikum in Davids Steuerbüro erklären. Vielleicht bin ich nur dazu da, Kaffee zu kochen und bei Meetings alle zu bedienen. Aber es ist schlimmer, als ich es mir je hätte vorstellen können. Sobald wir morgens das Büro betreten, bin ich anscheinend nicht mehr Davids Verlobte, sondern nur noch seine Angestellte. Und ich bin mir selbst nach zwei Wochen noch nicht sicher, ob mir das wirklich gefällt. Doch wem sollte ich mein Unwohlsein erklären? Mutter will unbedingt, dass ich lerne, was es bedeutet, selbst zu arbeiten und Dad ist der Meinung, ich müsste nur durchhalten, und dann würde sie von alleine aufgeben. Beide Varianten behagen mir überhaupt nicht. Diese steifen Personen, die für David und seinen Vater arbeiten, beäugen mich jeden Morgen aufs Neue, als komme ich von einem anderen Stern. Aber niemand würde mich in diese unbequemen Köstümchen bekommen, in denen ich mich fühle wie eine Presswurst.
Anscheinend versteht keiner in meiner Familie, dass ich so nicht arbeiten und leben will. Dass mir die Art des Lebens meiner Eltern nicht behagt und ich nur allein entscheiden will. Aber das wird immer ein Wunschtraum bleiben.
»Ein wunderbares Kleid aus dem Edel-Second-Hand-Laden bei mir um die Ecke«, antworte ich Mutter, nachdem ich erst sie und dann Dad mit den obligatorischen Wangenküsschen begrüße. Denn wie es sich gehört, hat David mich von zu Hause abgeholt und wir sind dann gemeinsam zu diesem Frühstück gefahren. David schüttelt beiden die Hände und lässt sich neben Mutter nieder.
Natürlich, von ihr hat er auch keine unangenehmen Fragen zu erwarten, die er nicht bereit ist zu beantworten. Denn Dad überlegt sich meist schon vor diesen Treffen, wie er David dieses Mal aus der Reserve lockt. Ob allein zu meinem Vergnügen oder auch zu seinem eigenen, kann ich nicht sagen, aber es gefällt mir, dass er sich nicht scheut, David zu zeigen, dass er mit seinem Gelaber nicht bei jedem ankommt. Wieder frage ich mich, warum ich mir diesen Mann an meiner Seite gebe, aber als ich das zufriedene Lächeln meiner Mutter entdecke, ist es mir klar.
Wenigstens einmal, soll sie sich keine Sorgen um mich und meine Zukunft machen. Das ist sicher sehr ungewohnt für sie, und solange ich kann, will ich ihr diese Zufriedenheit nicht nehmen. Meine Mutter ist kein schlechter Mensch, das habe ich nach vielen Jahren verstanden, aber sie versteht mich einfach nicht. Und wenn ich sie für einen kurzen Zeitraum glücklich machen kann, werde ich es tun.
Solange bis ich es überhaupt nicht mehr aushalte und David mir wieder an die Wäsche will. Denn auch wenn wir schon seit über einem Jahr zusammen sind, haben wir kein einziges Mal miteinander geschlafen. Es fühlt sich falsch an. Ich liebe diesen Mann nicht. Einzig und allein meiner Mutter wegen bin ich mit ihm zusammen und spüre jeden Tag ein wenig mehr, dass es ein Fehler war, es nicht zu beenden.
»Schon wieder? Ich habe dir doch gesagt, dass du Besseres verdient hast als diesen Schund. Deine Grandma hätte dich niemals dort mit hinnehmen dürfen.«
Abfällig schüttelt sie den Kopf und widmet sich danach wieder ihrem Lieblingsschwiegersohn in spe.
»David, sag mir, wie macht sich Myra in deiner Kanzlei? Denkst du, sie könnte fest angestellt werden, wenn das Praktikum vorbei ist?«
Ihr Tonfall ist so ekelhaft süßlich, dass ich meinen Würgereiz mit einem kleinen Keks runterspüle, die bereits auf dem Tisch stehen. David ist anzusehen, dass ihm die Frage unangenehm ist, denn wenn es nach ihm geht, würden wir gleich morgen heiraten, danach würde ich schwanger werden und sein Hausfrauchen, das nicht zu arbeiten hat. Wenn Mutter es auch nicht offen zugibt, so stimmt sie diesem Plan vollkommen zu, denn sie selbst hat auch nur ein paar Monate gearbeitet, bevor mein Dad um ihre Hand angehalten hat. Ein Widerspruch in sich, denn auf der einen Seite, soll ich Verantwortung im Job lernen, auf der anderen Seite Davids Anforderungen entsprechen. Je nachdem, was Mutter gerade mal wieder wichtiger ist.
»Wenn bis dahin eine Stelle frei wird, sicher. Wir können immer arbeitswillige Sekretärinnen gebrauchen«, lächelt er sie an und greift nach meiner Hand. Zu einem fröhlichen Gesichtausdruck gezwungen erwidere ich den leichten Druck, den er ausübt und lächele ihn so aufrichtig an, wie ich kann. Mein Verlobter ist ebenfalls kein schlechter Mann und ich bin mir sicher, dass er eines Tages eine Frau sehr glücklich machen wird. Nur bin eben nicht ich diese Frau. Und ich kann nicht anders, als Alan im Stillen zuzustimmen. Ich kann David nicht heiraten.
»Als ihr zukünftiger Mann und ebenso baldiger Chef der Kanzlei, wirst du doch sicher in der Lage sein und eine entsprechende Stelle für Myra schaffen können, oder etwa nicht?«
Die anderen beiden sehen zu Dad und ich klatsche ihm innerlich Applaus. Denn wenn David eines nicht leiden kann, dann, wenn man ihm vor Augen führt, dass er eben noch nicht die Kanzlei führt und bei seinen Aufgaben und Vorhaben immer die Zustimmung seines Vaters benötigt.
»Sicher, Vater muss es nur abnicken«, bringt mein Verlobter durch zusammengepresste Zähne hervor und ich kann mein Kichern nicht unterdrücken. Er sieht so zerknirscht aus, dass es in mir ein wirklich gemeines Glücksgefühl auslöst. So sollte man nicht über den Mann denken, den man heiratet. Aber seit ich für mich beschlossen habe, dass Alan zumindest in dieser einen Sache recht hat, kann ich mit Zuversicht nach vorn blicken.
»Du kannst morgen übrigens allein ins Büro gehen«, teile ich ihm aus diesem Grund auch mit und ignoriere den säuerlichen Blick meiner Mutter. Viel zu lange habe ich versucht, sie zufriedenzustellen und diese halbe Stunde mit ihr und David zusammen, mit den Dingen, die sie schon jetzt wieder von sich gegeben haben, bringen mich dazu, meine guten Vorsätze über Bord zu werfen. Über ein Jahr hat sie glücklich sein dürfen, jetzt bin ich endlich wieder dran.
Alan würde sicher Applaus klatschen, um mich danach gleich wieder mit einem dummen Spruch zur Weißglut zu bringen. Aber er ist nicht hier und mein Herz schreit danach, David nicht mehr ansehen zu müssen.
»Was heißt hier, du kommst nicht mit? Dein Praktikum geht noch vier Wochen. Du kannst nicht einfach aufhören. Was sollen denn die Leute denken?«, beginnt David und klingt damit wie eine männliche Ausgabe meiner Mutter. Und allein diese Tatsache, schreckt mich noch weiter ab und bekräftigt mich in meiner Kurzschlussreaktion.
So sanft wie möglich, entziehe ich meinem nun Ex-Verlobten die Hand, die er begonnen hat, schmerzhaft festzuhalten. Mein Blick gleitet über sein entsetztes Gesicht, zu dem meiner Mutter, bis zu Dad, der bereits zu ahnen scheint, was in mir vorgeht. Seine Lippen ziert ein wissendes Lächeln, denn auch wenn er Mutter abgöttisch liebt und ihr jede Spitze gegen mich verzeiht, so ist es ihm am Wichtigsten, dass ich glücklich werde. Niemals hätte Dad Mutter offen widersprochen, aber er kann mir allein mit seinen Blicken zeigen, dass er mich unterstützt.
»Und seit wann interessiert es mich, was andere denken?«
Geräuschvoll schnappen Mutter und David gleichzeitig nach Luft, denn für diese beiden gibt es nichts, das wichtiger ist.
»Du brauchst diese Referenz, Myra. Was willst du denn sonst machen? Du hast keine Ausbildung, du hast keine Ahnung und ohne unser Geld, hättest du noch nicht einmal eine Wohnung. Ohne Davids Großzügigkeit würdest du immer noch einfach so dahin dümpeln und wüsstest nichts mit dir anzufangen und womöglich immer noch in diesem Zentrum arbeiten.«
Ich sehe Mutter die Abscheu an, doch das Einzige was sie mit ihrer kleinen Ansprache erreicht hat, ist, dass ich mich in meiner Entscheidung bekräftigt fühle.
»Die Arbeit in dem Zentrum hat mich glücklich gemacht. Und ich glaube, das war ich schon seit fünfzehn Monaten nicht mehr.«
Ohne hinzusehen, weiß ich, dass David sich bei meinen Worten anspannt, denn genau das ist der Zeitrahmen, seit dem wir zusammen sind. Es tut mir von Herzen leid, dass er wegen mir verletzt wird. Aber es ist an der Zeit endlich wieder die Myra zu werden, die ich gut leiden kann. Und nicht die Tochter, die es nur ihrer Mutter recht machen will. Auch wenn ich vor 20 Minuten noch genau das behauptet habe.
»Das kann doch nicht dein Ernst sein. Als unsere Tochter ist es nicht deine Aufgabe, solchen Menschen zu helfen.«
»Aber ich WILL ihnen helfen. Für sie zu backen oder zu kochen oder den Kindern vorzulesen. Genau das, macht mich glücklich«, beharre ich weiter und sehe in den Augen meiner Mutter, dass sie es nie verstehen wird. Nicht heute, nicht morgen und auch nicht in fünf Jahren. Denn im Zentrum kann ich nichts verdienen. Es ist ehrenamtlich.
»Wirst du krank oder sowas? David, natürlich wird sie morgen früh mit dir ins Büro gehen. Mach dir keinen Kopf. Sie legt sich dann hin, und dann ist alles wieder gut.«
Mutter spricht, als sei ich gar nicht am Tisch und tätschelt David die Schulter. Dieser sieht so überrumpelt aus, dass er noch immer keinen Ton von sich gibt. Ich für meinen Teil habe genug gesagt, stehe auf und gebe Dad noch einen Kuss auf die Wange.
»Ich schicke dir deine Sachen ins Büro, David. So viele sind es ja nicht. Wenn ihr mich entschuldigt, ich geh Granny Rosi besuchen.«
Wieder schnappen zwei Personen am Tisch nach Luft, während mein Dad mir zuzwinkert.
»Was soll das bedeuten, Myra? Das kannst du mir doch nicht antun«, meldet sich nun auch endlich David zu Wort. Aber es ist zu spät. Meine Entscheidung steht. Und egal, wie traurig er aussieht, ich werde sie nicht ändern.
»Das bedeutet, dass du und ich, ab sofort getrennte Wege gehen. Und das nicht nur beruflich. Es tut mir wirklich leid, aber David, deinen Ring kannst du zurückhaben«, versetze ich ihm den Todesstoß, streife den teuren Diamantring vom Finger und lege ihm diesen auf den Tisch. Die Last, die von meinen Schultern fällt, ist nicht mit Worten zu beschreiben.
»Ruf mich heute Abend an«, teile ich ihm mit und erhalte ein Nicken von Dad.
»Myra, komm zurück!«, ruft Mutter mir hinterher, aber das erste Mal seit fünfzehn Monaten kann ich sie einfach ignorieren. Mein Grinsen hätte in diesem Moment nicht größer sein können, als ich auf die Straße trete und zögerliche, warme Sonnenstrahlen auf mein Gesicht treffen.
Mich überrascht die Geschäftigkeit der Dubliner um diese Uhrzeit nicht. Es ist vielleicht Sonntagvormittag, das heißt aber noch lange nicht, dass die Menschen zu Hause bleiben. Ich lasse mich von dem Strom tragen und lande plötzlich auf der Camden Street inmitten Dublins größten Lebensmittelmarkt. Der Duft von frischem Obst und Gemüse zieht in meine Nase, ebenso der von Gewürzen, Kaffee und Brot und hält mich gefangen. Ich fühle mich angekommen, zwischen all den lächelnden Menschen, die mich nicht für meine Klamotten oder meine fehlende Entscheidungsfreude verurteilen.
Wie von selbst lasse ich mich durch die Menschenmenge treiben und stehe wenig später vor dem kleinen Café meiner Grandma in der Pleasants Street. Es ist so klein, dass die meisten Touristen daran vorbei eilen. Niemand nimmt sich einen Moment Zeit und sieht sich um. Die Innenstadt von Dublin ist jeden Blick wert und ich kann nicht verstehen, wieso man sich selbst so hetzt, wenn man sich doch eigentlich im Urlaub befindet. Natürlich ist Irlands Hauptstadt geschäftig und voll unruhiger Menschen, aber wenigstens einige Sekunden Zeit kann man sich doch nehmen.
Wie jedes Mal, wenn ich vor Grannys Laden stehe, dem Cinnamon Cakes lächele ich selig. Denn allein die Auslage zaubert jedem ein Lächeln ins Gesicht. Allerlei bunte Törtchen und auch mein Lieblingsgebäck sind zu sehen. Ein kleines Blätterteiggebäck, gefüllt mit Kirschkonfitüre und Vanillecreme. Unzählige dieser Dinge habe ich bereits verspeist und das, seit ich so klein war, dass ich kaum laufen konnte. Mutter war nie damit einverstanden, dass ich mich so gut mit Rosi verstehe. Aber sie ist schon immer meine Vertraute und mehr Mutter für mich als meine wirkliche.
»Du siehst so seltsam zufrieden aus, Myra.«
Unweigerlich zucke ich zusammen, als ich diese eine Stimme vernehme, und drehe mich ganz langsam um. Nur einen Moment lang wird meine Laune getrübt und ich schlucke schwer, als ich Alans gesamte Erscheinung aufnehme. Wie auch beim letzten Mal, sind seine Locken wie gemalt, jedoch hat der Wind einige Strähnen gelöst. Seine Augen haben dieses Funkeln, das mich schon als Kind durcheinanderbrachte, und auch jetzt, ist es schwer, es zu übergehen. Dieser Typ ist ein ausgewachsener Mistkerl und weiß es zu gut. Genauso gut, wie er weiß, welchen Einfluss sein Aussehen, und sein aufgesetzter Charme, auf alle Welt hat. Auf alle. Außer auf mich.
»Was machst du denn in diesem Teil Dublins? Deine teure Wohnung ist doch auf der anderen Seite. Ich dachte immer, die Innenstadt ist dir zu nervig.«
Vielleicht will ich nicht viel mit ihm zu tun haben, aber trotzdem weiß ich zu viel von ihm. Mal davon abgesehen, dass Mutter mir von jeder Änderung in Alans Leben stolz berichtet, als sei er ihr Sohn, landen wir auf den gesellschaftlichen Anlässen seiner Familie immer in diesem Raum voller Bücher und unterhalten uns. Es wiederstrebt mir jedes Mal aufs Neue, meine Zeit, mit ihm zu verbringen, aber lieber frotzele ich mit Alan herum, als mir die oberflächlichen Gespräche der anderen Gäste zu geben. Und so lange ich ihn nicht außerhalb von diesen Veranstaltungen sehen muss, bin ich froh.
»Das stimmt so auch. Aber der Markt ist ein guter Grund, zumindest sonntags, meine Meinung zu ändern. Außerdem wollte Thea her.«
Ich nicke nur wissend, denn ich habe keine Lust darauf, dass er mir wieder vorschwärmt, wie toll seine Freundin ist. Seit fünf Jahren sind sie ein Paar und jedes Jahr frage ich mich erneut, wieso er sie nicht heiratet, nach all der Zeit.
»Hochzeitsvorbereitungen?«, stichele ich, denn allein dieses Thema bringt Alan in Verlegenheit. Auch dieses Mal windet er sich unwohl vor meinen Augen, bevor er sich mit den langen, schlanken Fingern durch die blonden Strähnen fährt. Es ist eine so bekannte Handlung von ihm, und doch folge ich jeder Bewegung. So sehr ich diesen Mann auch verabscheue, er ist äußerst attraktiv. Neben ihm fühle ich mich wie dauerhaft in einem Kartoffelsack gesteckt, mit fettigen Haaren und Akne. So schlimm sehe ich zwar nicht aus, aber er gibt einem das Gefühl. Und wenn dann noch seine reizende Freundin neben ihm auftaucht, sind meine Minderwertigkeitskomplexe auf ihrem Höchstpunkt. So wie jetzt.
»Liebling, warum bist du denn plötzlich verschwunden? Oh, hi Myra«, und bedenkt mich mit einem mitleidigen Blick, während sie mein Kleid betrachtet. Bereits das zweite Mal an diesem Tag, fühle ich mich darin unwohl, obwohl es eines meiner Lieblingsstücke ist. Leuchtend gelb, mit großen blauen und roten Kreisen. Es ist ein wenig Retro, geht bis zu den Knien und hat keine Ärmel. Ich bin vielleicht nicht so schlank wie diese Frau, aber mein Kleid kaschiert durch die farbenprächtige Verzierung meine unschönen Rundungen.
»Dir auch einen schönen guten Tag, Thea«, begrüße ich sie mit dem süßesten Lächeln, das ich gerade zustandebringe, und sehne mich danach, in den kleinen Laden einzutreten und mich mit einem frischen Blech Blätterteigtaschen zu verstecken. Hoch oben, über den Dächern der Stadt.
Ohne auf mich weiter einzugehen, hängt sich Thea an den Arm ihres Langzeitfreundes, der seinen Blick jedoch nicht von mir nimmt. Noch nie bin ich mir so nackt vorgekommen, wie unter diesem Blick. Und genauso will ich mich niemals in Alans Nähe fühlen.
»Schatz, ich möchte nach Hause. Du hattest Recht, die Innenstadt ist an einem Sonntag nichts für uns.« Anscheinend willkürlich verteilt sie Küsse auf seiner Wange und seinem Hals, während ihre Hand über seinen flachen Bauch streicht. Alan jedoch scheint es nicht zu bemerken und für einen Moment frage ich mich, wie es wäre, wenn ich an ihrer Stelle bin. Nur kurz verengen sich seine Augen, bevor dieses schiefe Grinsen auf seinen Lippen auftaucht. Und genau das war der Moment, in dem ich aus meinen fehlgeleiteten Gedanken auftauche und schnell den Kopf schüttele.
»Genau, Alan. Du solltest schleunigst deine Fast-Verlobte aus der wilden Großstadt schaffen.«
Bevor ich mich wegdrehe, zwinkere ich ihm noch einmal zu und bemerke zufrieden das Zucken seines Unterkiefers. Thea dagegen schenkt mir einen Blick, der mich wohl tot umfallen lassen soll, doch meine gute Laune ist zurück und ich danke Alan im Stillen, dass er ein so zuverlässiger Stimmungsaufheller ist.
Beschwingt betrete ich nun endlich das Café meiner Grandma und mein Lächeln wird nur noch breiter, als ich sie hinter dem Tresen sehe und sie mit ihrem typischen Lächeln einen Kunden bedient.
Das Ladenlokal ist schon beinahe winzig, mit seiner anderthalb Meter breiten Theke, dem schmalen Durchgang in den hinteren Bereich und den drei Tischchen vor den Fenstern. Und an jedem sitzen zwei Personen, die sich über ihre dampfenden Tassen hinweg unterhalten. Hier drin ist mein Lächeln echt und ich fühle mich sofort wie zu Hause, als mich die vielen Gerüche umgeben. Unverkennbar hat Granny ihren Lieblingskakao mit Zimt- und Vanillenote zubereitet. Wohlig suhle ich mich in der Wärme, die mich umgibt und schließe Granny fest in die Arme, als sie den Kunden abkassiert hat. Natürlich, ohne sein Trinkgeld anzunehmen.
Sie selbst riecht wie ihr Kakao und eine leichte Schicht Mehl rieselt aus ihren hochgesteckten weißen Haaren.
»Mein Liebling«, begrüßt sie mich fröhlich und allein diese beiden Worte aus ihrem Mund lassen mich vergessen, wie schlecht ich mich in Mutters Gegenwart gefühlt habe.
»Ich habe David verlassen«, lasse ich sie sofort wissen und sie nimmt die Neuigkeit lächelnd entgegen.
»Deine Mutter wird nicht sehr erfreut sein, nehme ich an? Und das Praktikum ist auch abgesagt?«
Ich nicke und nehme meine Tasse entgegen. Und damit bin ich zu Hause.
Während die Glocke über der Tür einen neuen Kunden ankündigt, drücke ich Granny einen Kuss auf ihre weiche Wange und steige die Treppen hinauf, vorbei an ihrer Wohnung direkt über dem Café bis auf ihr Dach. Das gesamte Haus gehört Rosi und schon seit meiner Kindheit ist hier oben mein Lieblingsplatz. Mit viel Liebe zum Detail arrangierte Granny bereits Anfang des Jahres Pflanzen auf ihrer Dachterrasse, verstaute sie unter Schutzhüllen, bis es warm genug ist, dass sie ohne Hilfe überleben können. In diesem Teil des Jahres ist es noch nicht so grün, wie in wenigen Wochen und dennoch reicht es zu wissen, wie schön alles aussehen wird. Natürlich ist meine Aussage, wir befinden uns hier über den Dächern der Stadt, ein wenig übertrieben, denn wenn man es genau sieht, ist Grannys Haus das Niedrigste. Aber ich fühle mich dennoch, als sei ich ganz oben.
Mein Herz wird warm, als ich sehe, dass sie bereits meinen Schaukelstuhl an seinen angestammten Platz gestellt hat, und setze mich tief in meinen Mantel gekuschelt darauf. Die Finger heizen sich von allein an der heißen Tasse auf und mit kleinen Schlucken genehmige ich mir meinen Kakao.
»Es war unhöflich, Thea so auflaufen zu lassen. Oder mich.«
Ich wundere mich keine Sekunde lang darüber, dass Alan hier auftaucht. Granny hat eine Schwäche für ihn. Und ich kann es ihr nicht verübeln. Er hat seine guten Tage und trotzdem ist es mir unerklärlich, was er hier sucht. Nie zuvor habe ich ihn in diesem Stadtteil gesehen und das, obwohl wir mitten in der Stadt sind.
»Ich wüsste nicht wieso. Ihr seid so lang zusammen, und deine Mutter, wie auch meine, erzählen doch seit Monaten, dass es endlich so weit sei, sie zu fragen. Was also Alan McAllaster, hält dich zurück?«
Mein Blick ist weiterhin auf die Häuser vor mir gerichtet und ich nippe erneut an meinem Getränk. Ich höre Alans schwere Schritte über die Dachterrasse und hebe den Blick, als er direkt vor mir an der Brüstung lehnt.
In seinen Augen ist eine unbekannte Schwere sichtbar geworden, die mich innehalten lässt.
»Deine Verbindung mit ihr, ist wie meine mit David. Nur dass du viel länger durchhältst, als ich es je könnte«, schlussfolgere ich und sehe Alan an, dass meine Worte ihn überraschen.
»Du bist schlauer, als du aussiehst, McKee«, ein unwiderstehliches Schmunzeln tritt auf seine vollen Lippen.
»Das versuche ich dir schon seit mindestens zwanzig Jahren beizubringen. Warum nur, hast du an mir gezweifelt?«
So langsam gefällt mir dieses Spiel. Alan ist sicheres Terrain. Er kann mir nicht gefährlich werden. Denn im Gegensatz zu mir, würde er sich seiner Familie niemals wiedersetzen. Das liegt nicht in Alans Natur. Und deswegen kann nun ich amüsiert die Augenbraue heben und mich in meinem Stuhl zurücklehnen und den letzten Rest meines abgekühlten Kakaos trinken.
»Was macht eigentlich dein Verlobter?« Wahrscheinlich denkt Alan, er kann mich so endlich aus der Reserve locken, aber meine Laune ist einfach zu gut. Die Trennung von David und das Widersetzen gegen Mutter, sowie sein eigenes Unwohlsein, treibt mich in Höchstform.
»Du meinst Ex-Verlobter. Keine Ahnung, wahrscheinlich im Arm meiner Mutter heulen, während Dad die beiden auslacht.«
Nur einen winzigen Moment lang weiten sich Alans Augen bei meinen Worten, doch er findet einfach zu schnell seine Fassung wieder. Das aber wundert mich nicht. Alan McAllaster ist schon immer eine harte Nuss und gerade deswegen mag ich die kleinen Reibereien mit ihm. Dass sie jetzt auch außerhalb sinnloser Prestigeveranstaltungen stattfinden, macht es umso besser. Warum ist mir das nicht schon eher eingefallen?
»Ich bin sichtlich erstaunt, Myra. Aber ich gebe großzügig zu, mich in dir geirrt zu haben. Und das für eine sehr lange Zeit. Ich bitte um Verzeihung.«
Gerade als ich bereits eine weitere bissige Antwort auf der Zunge habe, wird die schwere Tür zum Aufgang aufgerissen und der Kunde, den Granny vorhin zuletzt bediente, bevor ich hochging, sieht sich suchend um. Erst jetzt erkenne ich Grannys Lieblingsstudenten, der immer einen Muffin umsonst bekommt, weil er sich so nett mit ihr unterhält.
»Miss McKee, Ihre Grandma«, ruft er über die gesamte Terrasse und sofort bin ich auf den Beinen. Ich vernehme nicht das Klirren meiner Tasse oder die Rufe von Alan. Alles was für mich zählt ist, Granny, die zusammengesunken hinter der Theke sitzt und die Augen kaum offen halten kann. Mein Herz zerbricht, als ich ihre eiskalte Hand ergreife und neben ihr auf die Knie falle. Nur ganz wenig kann sie meinen Druck auf ihre Finger erwidern, und trotzdem ziert immer noch dieses aufmunternde Lächeln ihre Lippen.
»Was hast du?«, bringe ich stammelnd hervor, aber Granny schüttelt einfach nur den Kopf.
»ALAN, ruf den Krankenwagen«, brülle ich ihm entgegen, nachdem ich seine Schritte hinter mir höre.
»Nicht«, flüstert sie in meinen Armen, ihre Atmung noch ein wenig flacher. »Das bringt nichts«, spricht sie gebrochen weiter und die ersten Tränen brennen mir in den Augen.
»Lass mich nicht allein«, wispere ich nahe ihrer Wange und schmiege mich an ihren zitternden Körper.
»Du bist nicht allein, mein Liebling. Du hast deine Familie. Du hast Alan.« Ein starker Hustenanfall schüttelt ihren Körper und ich presse sie noch ein wenig enger an mich. »Alan? Du spinnst doch? Und du wirst nicht gehen. Du bist doch gesund«, und ich versuche, so gut es geht, meine Tränen zu unterdrücken.
»Nein, meine Süße«, wieder dieser trockene Husten, der ihren ganzen Körper schüttelt, »ich bin nicht gesund. Schon lange nicht mehr. Aber ich wollte in kein Krankenhaus. Dein Vater musste es mir versprechen.« Nach jedem Wort muss sie eine Pause einlegen und wirkt so zerbrechlich in meinen Armen.
»ALAN, verdammt wo ist der Krankenwagen?«, brülle ich schon wieder quer durch den Laden und zucke selbst unter meiner Stimme zusammen.
»Er ist gleich hier«, antwortet mir Alan und kniet sich neben mich. Unter einem Tränenschleier kann ich ihn gerade noch wahrnehmen, widme mich dann aber wieder meiner Granny, die mit geschlossenen Augen in meinen Armen liegt.
»Gib nicht auf, meine Kleine. Gib niemals auf, du selbst zu sein«, spricht meine Grandma weiter und ich spüre, dass mit jedem Wort mehr Energie aus ihr schwindet. »Bitte, Granny, halte durch. Der Arzt ist gleich da«, versichere ich ihr, drücke mich gegen sie und will mit aller Macht meine Lebenskraft auf sie übertragen. Ich hätte alles getan, damit sie leben kann, denn ohne sie, ist mein Leben trostlos und nicht lebenswert. Ich bin so auf sie fixiert, dass ich sogar überhöre, dass Dad weiß, was mit ihr los ist.
»Myra, bitte. Lass mich gehen.«
Dieses Mal spüre ich den Druck an meiner Hand stärker und ich schlucke die folgenden Tränen mit aller Kraft runter. Mir ist klar, dass ich nicht gegen sie ankomme. Auch wenn die Wut über ihr Schweigen langsam übermächtig wird.
»Ich hätte dir helfen können«, aber sie schüttelt nur den Kopf. Selbst in diesem Moment, so schwach wie nie zuvor in ihrem Leben, ist sie stärker als ich. Und sie wird es immer sein.
»Du darfst nicht sterben. Was soll denn mit dem Laden werden?«
Ich habe aufgehört die Tränen zu stoppen und mir ist es auch egal, dass Alan mich in diesem schwachen Moment erlebt. Hier geht es nicht um uns, sondern nur um Granny. Und das sie bereit ist zu gehen. Denn um nichts anderes geht es hier. Und ich hätte nicht gedacht, dass mein Herz noch hätte weiter brechen können.
»Der gehört dir.«
Dass sie es schafft, mich in diesem Moment noch sprachlos zu machen, ist bezeichnend, aber das ist eben meine Grandma. So und nicht anders kennt die ganze Welt sie. Und ich werde mich hüten, ihr zu widersprechen.
»Es gibt für mich nichts Schöneres, als jetzt genau mit dir hier zu sein.«
Auch in ihren Augen schimmern die Tränen und ich frage mich, woher sie die Kraft nimmt, jetzt noch zu sprechen. Zwar leise und kaum ein Flüstern, dennoch verstehe ich sie. Um uns herum nehme ich kaum etwas wahr, nur das Krachen der Eingangstür kommt irgendwie an und dass Alan den Ankömmlingen etwas sagt, um uns dann allein zu lassen.
»Es ist alles gut, Granny. Ich bin bei dir.«
Sanft streiche ich ihr über die schweißnasse Stirn und reiße mich für sie allein zusammen. Wenn sie gehen will, werde ich sie nicht daran hindern. Ich bin mir in diesem Moment sicher, dass sie weiß, wie krank sie ist. Sie wollte mich beschützen, ich verstand es. Auch wenn mein Leben nicht mehr dasselbe sein wird ohne sie. Es ist ihre Entscheidung und sie würde die Ärzte nicht an sich ranlassen, selbst wenn ich sie dazu zwinge.
»Ich bin dankbar, dich in meinem Leben gehabt zu haben. Deine Mutter wird noch merken, wer du wirklich bist. Das verspreche ich dir.«
Ihr Körper erzittert ein weiteres Mal in meinen Armen, schenkt mir ein letztes Lächeln, bevor sie in sich zusammensackt und mich verlässt.
***
Die nächsten Stunden ziehen wie ein Film an mir vorbei, aus dem ich erst erwache, als Dad mir einen Scotch unter die Nase hält und der stechende Geruch meine Nase zu zersetzen droht. Die Nacht ist bereits über uns hereingebrochen und ich erkenne, dass wir in Grannys Wohnung sitzen.
Weder von Mutter noch von Alan ist etwas zu sehen und dafür bin ich dankbar. Denn auch, wenn Alan bei mir war, als das alles geschah, will ich ihn nicht sehen. Wir sind immer noch keine Freunde, daran ändert auch der Tod meiner liebsten Person auf der ganzen Welt nichts. Niemand kann diesen Platz füllen und ich würde es an der Stelle der anderen auch auf keinen Fall versuchen.
»Wie lange war sie schon krank?«
Ich vermeide es, Dad anzusehen, denn ich bin mir sicher, dass ich meinen Blick dann nicht kontrollieren kann. Die Wut auf ihn und auch auf Granny brodeln unter meiner Wut auf eine Krankheit, die niemand greifen kann.
»Ein halbes Jahr. Und sie wollte keine Sekunde lang hören, dass ein Krankenhausaufenthalt ihr helfen könnte. Sie wollte bei dir sein und dir zeigen, dass sie stark war. Sie war dir eine bessere Familie, als wir es je sein könnten.«
Noch nie zuvor habe ich Dads Stimme so sanft und zerbrechlich gehört. Auch kann ich vernehmen, dass ihm die Tränen in den Augen stehen. Seine Mutter ist gestorben und ebenso wie sie, versucht er für mich stark zu sein. Ich will nicht, dass er leidet. Selbst wenn ich mir wünsche, sie hätten mich eingeweiht, will ich ihn so nicht sehen. Dass Mutter nicht hier ist, macht mich nur noch wütender. Aber so ist es nun mal. Sie konnte Granny nie wirklich gut leiden, ist sie so vollkommen anders als diese wundervolle Frau.
Meine Hand legt sich wie von allein auf die von Dad und ich spüre sein Zittern. Er leidet, mit mir zusammen, und wenn nicht das, was soll uns dann mehr verbinden? Außer der Trauer um diese Person, die unser Leben so sehr bereichert hat.
»Sie hat gesagt, der Laden würde mir gehören«, erzähle ich ihm, und das erste Mal seit Stunden, sehe ich ihn wieder lächeln.
»Ich weiß, ich habe mit ihr das Testament ändern lassen. Alles was ihr gehörte, wird auf dich überschrieben.«
Mit großen Augen blicke ich ihn an. Denn das kann nicht sein. Ich habe keine Ahnung, wie man einen Laden führt, wie man so backt, dass es für einen gesamten Tag reicht oder wie man ihren Kakao macht. Ich bin nicht Granny und kann nicht alle Welt um den Finger wickeln, um zu bekommen, was ich will. Ich bin tollpatschig und vier von fünf Bleche Plätzchen brennen bei mir an. Das kann nicht ihr Ernst sein. Verständnislos schüttele ich wieder und wieder den Kopf, bis Dad meine Hand drückt und mich so dazu bringt, ihn wieder anzusehen.
»Du wirst eine würdige Nachfolgerin sein. Und ich weiß, dass du das kannst.«
»Dad, ich habe keinerlei Ausbildung, weder als Konditorin noch wirtschaftlich noch im Umgang mit Menschen.«
Das erste Mal ärgere ich mich über meinen Blick in die Wolken, ohne zu sehen, dass ich diese Dinge, wie eine Ausbildung für irgendetwas, mal brauchen würde. Mir wird schlagartig klar, dass Dad und Mutter immer Recht hatten und ich mich dazu hätte zwingen müssen, mich weiterzuentwickeln.
Und vor allem zwingt Granny mich so, mich festzulegen. Sie wusste genau, dass ich das unmöglich ablehnen kann. Aber es ist ihr Vermächtnis an mich, und ich kann das doch keinesfalls in den Sand setzen. Eine Tatsache, die garantiert eintreten wird, wenn Dad nicht gleich beginnt zu Lachen und mir erklärt, dass das nur ein verfrühter Aprilscherz ist.
Vollkommen neben der Spur springe ich auf und laufe in dem winzigen Wohnzimmer auf und ab. Ich murmele vor mich hin, dass das nicht ihr Ernst sein könne, dass gleich irgendein Moderator um die Ecke kommt, der mir sagt, dass hier sei die versteckte Kamera. Doch die Zeit vergeht, in der Dad mich schmunzelnd beobachtet, und ich immer verzweifelter werde. Denn wenn niemand kommt, um alles aufzuklären, will Granny mir das wirklich antun.
»Ich kann doch noch nicht einmal backen«, beschwere ich mich und stoppe die Tränen gar nicht erst, als sie meine Augen überfluten und der Gedanke immer tiefer sickert. Granny will mir ihr Café vererben. Und das, obwohl sie wusste, dass ich mich auf nichts festlegen kann, die Nase in der Luft trage und keine Ausbildung beenden konnte. Sie wusste doch nur zu gut, dass ich noch gar nicht weiß, wohin mit mir. Wieso zwingt sie mich jetzt zu einer Entscheidung?
»Myra Rosi McKee. Setz dich gefälligst wieder hin und beruhige dich«, donnert die tiefe Stimme meines Vaters durch den kleinen Raum und augenblicklich folge ich seiner Aufforderung. Es ist schon viele Jahre her, dass er mich bei meinem vollen Namen nannte und allein daran erkenne ich, wie wichtig es ihm ist. Und es erinnert mich daran, dass ich ihren Namen trage.
»Dad, bitte tu mir das nicht an. Ich bin nicht wie sie. Niemals könnte ich so sein. Und das weißt du so gut wie ich. Vielleicht in fünf Jahren, wenn ich weiß, was ich will. Aber Granny kann das nicht ernst meinen.«
Ich höre mich an, wie ein kleines bockiges Kind und genauso fühle ich mich auch. Aber im selben Moment schäme ich mich für mein Verhalten. Granny hat mir ihr Leben vermacht. Alles, was sie ausmacht und ich bin dabei den Schwanz einzuziehen, weil ich mich unfähig fühle. Und das mit 27 Jahren. Will ich wirklich so unfähig sein? Traue ich mir selbst so wenig zu, wenn Granny der Meinung war, ich kann es packen.
»Du bist so sehr wie sie. Und sie hätte das nicht getan, wenn sie nicht an dich glauben würde. Deine Mutter und ich haben es versäumt, für dich da zu sein, so wie es hätte sein müssen. Wir haben versucht dich zu Dingen zu zwingen, die du nicht wolltest. Auch wenn einiges bestimmt wichtig gewesen wäre.«
Trotz dieser skurrilen Situation schafft es mein Dad, mich anzuzwinkern und mir ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern.
»Ich will jetzt nicht lächeln, verdammt«, fluche ich leise vor mich hin, was ihn nur noch mehr grinsen lässt.
»Deine Grandma hätte nicht gewollt, dass wir um sie trauern. Das weißt du genauso gut wie ich. Sie hat das Leben geliebt und deswegen mochten die Menschen sie auch so sehr. Und du trägst diese Kraft auch in dir. Denk nur an das Zentrum. Die Kinder waren am liebsten bei dir. Es waren leichte Sachen, die du für sie gemacht hast. Aber genau das war es, was sie wollten. Hier ist es doch nicht anders.«
Sein Glaube in mich bringt mich nur noch mehr zum weinen. Ich höre damit auf, die neuen Tränen aus meinem Gesicht zu wischen, obwohl es gar nicht mehr die Trauer ist, die sie mir schickt. Es ist ein wirres Gemisch aus Freude, Überrumpelung, Trauer und Angst. Alles auf einmal und seit Jahren lasse ich diese Dinge auch mal zu. Und unterdrücke sie nicht. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, meine Eltern nicht noch mit widersprüchlichen Gefühlen zu nerven und habe alles für mich behalten, was mich tatsächlich beschäftigt hat. Sie sind so schon gepeinigt genug, mit meiner fehlenden beruflichen Entscheidungsfreude. Da konnten sie wenigstens denken, dass ich emotional stabil war. Wie sich jetzt herausstellt, eine Lüge an mich selbst. Denn wenn es so wäre, würde mich das alles jetzt nicht so überrumpeln.
»Wieso hast du so großes Vertrauen in mich? Ich kann nichts vorweisen, als einige Monate ehrenamtlich in einem Zentrum.«
»Und genau deswegen weiß ich, dass du die Menschen verzaubern wirst. So wie mich, so wie deine Grandma sowie die Leute im Zentrum. Sie alle vertrauen dir und waren so zufrieden mit dir. Deine Mutter kann das nicht verstehen, aber ich weiß, wieso du dort warst. Es war wichtig für dich. Und das weiß ich jetzt.«
Mein Körper wird von einer erneuten Welle der Trauer geschüttelt und ich gebe mich dem Gefühl hin. Noch eine Weile sitzen Dad und ich zusammen, sprechen über Granny, bis er mich in ihr Schlafzimmer führt und zudeckt. Wie früher. Selbst den sanften Kuss auf die Stirn bekomme ich von ihm, und auch wenn mein Herz so weh tut, wie noch nie zuvor in meinem Leben, beginne ich ihm und ihr zu vertrauen. Dieser Tag war der Schlimmste, den ich je erleben musste und trotzdem schlafe ich mit einem Lächeln ein.
Der nächste Morgen beginnt mit grausamen Kopfschmerzen und mir wird schmerzlich bewusst, dass ich im Bett meiner Grandma liege. Und das allein. Sie ist nicht mehr bei mir. Ich weiß, dass Dad den Laden wenigstens für zwei Wochen schließen will, bis alle Formalitäten geklärt sind und ich mich entschieden habe. Er ist ein so großartiger Mann, dass er mir die Möglichkeit gibt, das Erbe auszuschlagen. Dad weiß, dass ich Grannys größten Wunsch erfüllen werde, wenn ich ab sofort das Café führe. Aber fühle ich mich wirklich dafür bereit? Bin ich so organisiert, dass ich einen Tag überlebe? Und einen Nächsten? Warum traut sie mir diese Dinge zu, ich mir selbst aber nicht? Noch nie musste ich mich einer solch wichtigen Entscheidung stellen. Und ich frage mich, wann ich ein solch wankelmütiger Mensch geworden bin. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mich als Kind davor drückte, mich zu entscheiden. Immer preschte ich nach vorn und war draufgängerisch. Genau dieses Wort hatte Granny für mich benutzt, als ich einem anderen Mädchen in der Grundschule den Freund ausspannte, weil mir seine Brote besser schmeckten als meine eigenen. Heute ist dieser Gedanke abwegig, niemals wieder würde ich so etwas tun. Aber die Erinnerung an ihr schallendes Gelächter, als ich ihr mein Handeln erklärte, erwärmt mein gebrochenes Herz.
Alles schmerzt, als ich es endlich schaffe aufzustehen und in das kleine Bad zu schlurfen. Selbst nach einer schier ewigen Dusche geht es mir nicht besser und ich ziehe mir, ohne nachzudenken, eines der Kleider meiner Grandma an. Es ist mir zu groß, aber es riecht nach ihr und lullt mich ein. Für einen kleinen Moment kann ich vergessen, dass ich sie nie wieder in die Arme nehmen kann. Ihr Geruch hat etwas Vertrautes und mit einem kleinen Funken Mut nehme ich die wenigen Treppen nach unten ins Erdgeschoss und kann die erneuten Tränen nicht unterdrücken. Ihr Tod ist so sinnlos und, zumindest in meinen Augen, zu plötzlich. Wäre ich eingeweiht gewesen, hätte ich mich darauf vorbereiten können. Ich hätte Kurse belegt, Wirtschaft und Konditorei, um ihr eine würdige Nachfolgerin zu sein. So bin ich ein Nichts, das zu feige ist, dem Wunsch seiner Granny zu entsprechen.
Meine Hände greifen wie von allein nach den Zutaten, die direkt vor mir stehen. So oft habe ich Granny dabei zugesehen, wie sie dieses Getränk zubereitet hat. Kann ich den Laden übernehmen, wenn es mir gelingt, ihren Kakao zuzubereiten?
Es braucht mehrere Versuche und ich schütte mindestens zwei Liter Milch in den Ausguss, bevor eine dampfende Tasse genießbarer Kakao vor mir steht. Unwillkürlich beginne ich zu lächeln, denn wenn mir das hier gelingt, ist es vielleicht doch nicht so verrückt. Kennt mich Granny Rosi so viel besser als ich mich selbst?
»Hier riecht es ja fabelhaft«, erschreckt mich Dad und ich zucke so stark zusammen, dass die Tasse in meiner Hand auf dem Boden landet.
»DAD, das war die erste Tasse seit zwei Stunden, die man hätte trinken können«, meckere ich unfreundlich und mache mich sofort daran, alles wegzuwischen. Erst als ich den Lappen wegschmeiße, bemerke ich mein Handeln selbst. Ich räume nie etwas sofort auf. Selbst wenn etwas verschüttet wurde. Alles andere war wichtiger.
»Hier riecht es wie immer, du hast von allein angefangen, es auszuprobieren und korrigiere mich, wenn ich mich irre, aber hast du tatsächlich etwas sofort sauber gemacht, nachdem du es runter geschmissen hast?«
Mühsam unterdrücke ich den Drang ihm die Zunge rauszustrecken, aber er hat Recht. Nur will ich mich einen Tag nach ihrem Tod, keinesfalls so gut fühlen. Doch hier im Café fühlt es sich so an, als sei sie noch bei uns. Hier lebt sie weiter. Und es liegt an mir, dass es dabei bleibt.
»Hilfst du mir, das Gebäck von gestern wegzuwerfen?«, grinse ich ihn an und allein anhand seines stolzen Blickes erkenne ich, dass er weiß, was ich vorhabe.
»Und danach fahren wir Zutaten einkaufen. Oder zumindest das, was Mum nicht da hatte.«
Die nächsten Stunden arbeiten wir gemeinsam, meist schweigend, daran, das Café aufzuräumen. Das Gebäck des vorigen Tages bringen wir ins Zentrum, bevor wir einkaufen fahren. Unsere Liste ist nicht lang, und ich bin dankbar, dass Dad an meiner Seite ist. Er erzählt mir, dass er am Morgen bereits im Beerdigungsinstitut war, dass die Beerdigung in einer Woche stattfindet und am Tag danach, die offizielle Testamentsöffnung. Wenn ich will, könnten wir am selben Tag zum Notar, um die Eigentumsurkunde auf mich umzuschreiben. Ich behalte es mir vor, ihm darauf eine Antwort zu geben. Aber tief in mir weiß ich, dass ich Granny nicht einfach so abblitzen lassen kann.
Denn das erste Mal seit Jahren fühle ich mich großartig. Als wäre ein Schalter umgelegt worden, habe ich eine Aufgabe, die ich unbedingt erfüllen will. Das hier muss einfach funktionieren. Denn noch eine Chance werde ich nicht bekommen. Nur macht es mir zu großen Spaß, Dad auf die Folter zu spannen.
Die Angst, dass alles schiefgehen kann, sitzt mir fest im Nacken und der Kloß im Hals lässt sich nicht runterschlucken. Mehrfach an diesem Tag breche ich in Tränen aus. Immer dann, wenn ich am liebsten Granny angerufen hätte, um sie um Rat zu fragen. Doch das kann ich jetzt nicht mehr und muss mir meine Fragen selbst beantworten. Und so kaufen wir nicht nur die Dinge, die ich für ihre Rezepte benötige, sondern ebenfalls einige neue Einrichtungsgegenstände. Mit Rechnung, sodass ich sie eventuell wieder zurückbringen kann. Wenn ich mich doch dagegen entscheide. Eine Tatsache, die ich zumindest Dad vorgaukeln will. Für mich selbst habe ich schon entschieden. Und all meine Kraft ziehe ich aus dieser Entscheidung.
Sollte ich diese bereuen?
Die Tage bis zur Beerdigung verschanze ich mich in meiner Küche. Das Café ist geschlossen, ein Schild teilt den Kunden mit, dass vorübergehend nicht geöffnet wird und den Stammkunden teile ich mit einer persönlichen Karte mit, was geschehen ist. Ich bemerke, dass Granny sehr genau Buch darüber führte, wer sie als Gast beehrte, wer was am liebsten aß und was er ihr erzählte. Erst da geht mir auf, dass Granny ihren Erfolg daraus gezogen hat, sich genau diese Dinge zu merken. Denn so garantierte sie, dass sie immer ein Gesprächsthema mit ihnen hatte. Jedes Mal, wenn ich in ihren Aufzeichnungen blättere in diesen Tagen, streiche ich liebevoll über die handgeschriebenen Worte in den unzähligen Notizbüchern und danke ihr im Stillen dafür, dass sie so ordentlich und organisiert war. Ich versuche mich mehr als nur einmal in ihr wiederzufinden, aber ich gleiche ihr, bis auf die Augenfarbe, in keinster Hinsicht. Weder habe ich einen genauen Überblick über meine Ausgaben, noch was ich wöchentlich einkaufe, noch was meine Freunde am liebsten essen und trinken. Und das, obwohl ich nicht einmal viele Menschen als Freunde betrachte. Diese eine Woche verbringe ich allein hinter verschlossener Tür und verlasse die Wohnung nur, wenn ich wirklich gar nichts mehr zu Essen da habe. Nachdem ich in drei Tagen, sechs Mal einkaufen war, beginne ich mir das erste Mal eine Einkaufsliste zu schreiben. Nie zuvor habe ich eine benötigt, aber es nervt mich, immer wieder loszumüssen, nur weil ich zu vergesslich gewesen bin. Im Laufe der Woche entwickele ich weitere solche Macken. Grannys Tod führt mir vor Augen, dass ich keine Angst vor Entscheidungen habe. Ich bin einfach zu faul mich den Konsequenzen zu stellen, die unweigerlich gefolgt wären. Und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr schäme ich mich für mich selbst. Es hat lediglich sieben Tage gebraucht, dass ich begreife, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Wäre Granny nicht von uns gegangen, hätte ich es wahrscheinlich nie getan und immer wieder die Verantwortung dafür von mir geschoben.
So einfache Sachen wie Einkaufslisten zu schreiben oder ein Haushaltsbuch zu führen, kamen mir immer unendlich altbacken vor. Doch wenn ich das Café übernehme und Granny stolz machen möchte, muss ich anfangen darüber nachzudenken, was ich tue.
Am Ende der sieben Tage weiß ich, dass Granny in ihrem gesamten Leben fünfzehn Notizbücher mit Rezepten gefüllt hat. Jede Seite mit einem einzigen Rezept beschrieben. Und zwar so, dass auch ich sie verstehe. Mit jeder neuen umgeschlagenen Seite kommt mir der Gedanke, dass genau das ihr Ziel gewesen sein muss, als sie die Worte aneinanderreihte. Sie beschrieb ihre Gebäcke und Köstlichkeiten genauso, als würde ein Backanfänger sie lesen, und versuchen sie zu verstehen. Mehr als einmal muss ich schmunzeln, als ich kleine Veränderungen und Kommentare am Rand finde. Je nachdem wie ein Gast auf ihr Essen reagierte, oder was sie im Laufe der Jahre selbst weiterentwickelte. Durch diese Bücher finde ich einen Weg, weiterhin mit Granny verbunden zu sein. Noch viel stärker als allein durch das Café. Jede noch so kleine Zelle von mir vermisst meine Grandma und ich bin mir sicher, dass sich dieses Gefühl so schnell nicht wieder verflüchtigen wird. Denn sie ist nun einmal die wichtigste Person in meinem Leben.
Es gibt kurze Momente, in denen ich daran zweifele, ob mein Entschluss, David zu verlassen, richtig gewesen ist. Er hat mehrfach versucht, mich anzurufen und ist sogar einmal vor meiner Tür aufgetaucht. Ohne Scham habe ich mich ihm entgegengestellt, gekleidet in einer alten Jogginghose, samt passendem Oberteil und ungemachten Haaren. David hat erschrocken gewirkt, es sich aber nicht anmerken lassen. Seine Haare waren wie immer streng nach hinten gegelt, das Gesicht makellos und es war kein einziger Bartstoppel zu sehen. Seine Anteilnahme ehrt ihn, aber nach seinem Besuch bin ich umso sicherer, dass meine Entscheidung, die richtige gewesen ist. Denn ich empfinde nichts, als er mich unbeholfen in den Arm nahm und mir versicherte, dass er für mich da ist. Die Tränen, die daraufhin sein teures Hemd benetzten, konnte ich nicht unterdrücken, denn allein die Erwähnung ihres Todes bringt mich an den Rand der Verzweiflung. Dennoch, als ich seinen angewiderten Blick sah, den er unmöglich unterdrücken konnte, schickte ich ihn nach Hause. Und er sollte meiner Mutter ausrichten, dass es weiterhin keine Hochzeit geben wird.
Tief im Inneren habe ich gehofft, dass diese Frau endlich Gefühle zeigt. Dass sie vorbeikommt, mich in den Arm nimmt und mir sagt, dass alles gut ist. Doch ich sehe sie in den ganzen sieben Tagen nicht und frage mich, was bei ihr nur falsch läuft. Dad weiß, dass ich meine Zeit brauche, er drängt mich nicht, auch wenn ich bei unseren Telefonaten spüre, wie viel ihm daran liegt, dass ich in Grannys Fußstapfen trete. Es schmerzt mich, dass ich ihn hinhalte, aber auch wenn ich mir am Tag nach ihrem Tod sicher war, es machen zu wollen, plagen mich Zweifel. Es wäre ein Leichtes gewesen Nein zu sagen und Granny hängenzulassen. Dad liebte seine Mutter, ebenso wie ich, aber er versteht einfach nicht, dass ich bisher keine Verantwortung übernehmen musste. Und dieser Umstand ängstigt mich. Was wenn ich es versaue? Und das Café in den Ruin treibe und er es mir mein Leben lang vorhält?
Dass ich nicht so gut koche und backe wie sie, wissen wir beide, aber ist das ein Grund, es gar nicht erst zu versuchen?
In den schlaflosen Nächten dieser Woche, finde ich keine Antwort auf diese Fragen und wälze mich ein ums andere Mal unruhig hin und her. Ich wünsche mir ein Zeichen, das mir zeigt, ich kann auf mich vertrauen. Aber wie das nun mal so ist mit den übernatürlichen Dingen, sie geschehen nicht. Denn es gibt sie einfach nicht.
Als Dad mich am Morgen der Beerdigung abholt und ich das erste Mal wieder auf Mutter treffe, hätte ich nicht enttäuschter sein können. Kein Wort des Bedauerns kommt über ihre Lippen und ich frage mich ernsthaft, wie ich ihre Tochter sein kann. Wir sind so unterschiedlich wie Tag und Nacht, wir legen auf andere Dinge wert und haben selten von allein ein Thema über das wir sprechen können. Aber sie findet schnell ihre Sprache wieder und beginnt mit ihrem Lieblingsthema. Meinem fehlenden Modesinn - zumindest in ihren Augen.
»Du hast nicht viel gegessen in den letzten Tagen, oder? Du siehst so ungewohnt schmal aus. Das steht dir gut. Auch wenn dieses Kleid sofort wieder fünf Kilo aufträgt.« Abschätzig betrachtet sie mein knielanges schwarzes Etuikleid, auf das ich so stolz bin. Seit Jahren habe ich nicht mehr reingepasst, und auch wenn der Grund für den Gewichtsverlust grausam und schmerzhaft ist, bin ich dankbar für diese Zwangsdiät.
»Hättest du nicht wenigstens einen ordentlichen Mantel anziehen können? Das Teil sieht aus, als wäre es uralt.«
Und das ist er tatsächlich, denn er gehörte Granny.
»Du hast ein wirklich feines Gespür, Mutter. Er ist ein echtes Unikat. Ich glaube Granny hatte ihn gekauft, nachdem sie ihre Lehre damals abschloss. Oder Dad? War doch so?«
Er antwortet natürlich nicht auf meine Frage, aber das leichte Heben seines Mundwinkels verrät mir, dass er auf meiner Seite steht. Ganz egal, was Mutter von sich gibt. Ich habe lange aufgehört zu verstehen, wieso er immer noch bei ihr bleibt. Dad muss sie abgöttisch lieben, denn an ihrem liebreizenden Charakter kann es nicht liegen. Vielleicht ist sie früher eine andere gewesen, und ich bin Schuld an ihren Launen und dem, in meinen Augen, schlechten Benehmen. Und möglicherweise verhält sie sich anders, wenn die beiden allein sind. Ich wünsche mir nichts mehr, als, dass es so ist. Denn Dad soll glücklich sein.
Ich vernehme nur noch das Schnauben meiner Mutter, denn im nächsten Augenblick sind wir an der Kirche angekommen und unser Chauffeur öffnet die Tür. Als wäre er ein Mensch niederer Klasse, beachtet Mutter ihn
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 22.03.2018
ISBN: 978-3-7438-6243-2
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