Am Rande einer Straße, die aus der dicht bewohnten Stadt, in ein kleines Dorf führte, stand ein großes weißes Haus. Das hübsche Haus diente in früheren Zeiten als Bauernhaus, hatte ein großes Tor für die Pferde und Kühe und eine kleinere Tür für die menschlichen Bewohner. Es war so groß, dass innen genug Platz für die Nahrung der Tiere und für einen Wohnbereich der Bauernfamilie war.
Somit schien es äußert praktisch für den Gebrauch der damaligen Zeiten zu sein. Doch nicht nur für eine Bauernfamilie war es funktional, das Haus bildete die perfekten Vorraussetzungen dafür, dass ein Riese darin wohnen konnte.
Genau so kam es auch. Ein einsamer Riese lebte schon seit Jahren in seinem Haus, kam mit Anstalten gerade noch so durch das Tor hinein, sein Kopf streifte nur fast die hohe Decke, und so konnte er es sich dort gemütlich machen. Um frische Luft in das Haus zu bekommen, öffnete er einfach die kleine, für Menschen gedachte Tür anstelle der Fenster, die Wände hatte er eingeschlagen, um einen für ihn passenden Raum einzurichten. Seine Schlafmöglichkeit bestand aus Heu, welches er in mehrere Laken wickelte und in dem kleinen Ofen konnte er sein Essen kochen und an kälteren Tagen seine Hände wärmen. Der einsame Riese fühlte sich sehr wohl in seinem Reich.
Da das Haus das einzige im größeren Umkreis des Dorfes war, konnte der einsame Riese sogar laut singen oder sich auch mal lauter über die zu niedrige Decke aufregen, wenn er mal wieder aus Versehen tanzte und sich den Kopf stieß. Im Garten hinter dem Haus konnte der einsame Riese seine Arbeit ausführen. Der Schmied stellte für die ganze Stadt sehr hochwertige Hufe und Messer her.
Im Dorf gab es keinen Markt und der einsame Riese lebte vom Obst und Gemüse, welches er selbst anpflanzte, sogar Brot backte er eigenhändig. Wenn er es sich leisten konnte, Milch und Käse zu kaufen, dann ging er an der Straße entlang in die Stadt. Die Menschen, die in der Stadt wohnten, mochten den einsamen Riesen nicht sehr. Eigentlich mochten die Menschen auch außerhalb der Stadt den einsamen Riesen nicht sehr. Er war viel größer als sie, hatte durch seine tägliche Verrichtung als Schmied breite Schultern und riesige Hände und so hatten die Menschen Angst vor ihm. Wenn der einsame Riese durch den Marktplatz lief, so brauchte er sich keine Sorgen zu machen, mit jemandem zusammenzustoßen, denn es gab immer einen großen unsichtbaren Kreis um ihn, in dessen Nähe sich die Leute nicht trauten. Wenn er fragte, wie viel die Milch kostete, so wurde es mucksmäuschenstill und der Milchbauer schreckte hoch, da sich die Menschen vor seiner tiefen und rauen Stimme erschraken.
Durch die großen Ohren konnte der Riese viel weiter hören als die Menschen und aus diesem Grund hörte er auf dem Weg zurück zu seinem Haus, wie die Stadtleute anfingen, über den Riesen zu sprechen. "Dieses zu groß geratene Kind!", hörte er eine Dame lachen. "Wahrscheinlich benutzt er den Regen, um sich zu waschen, in eine Wanne passt das Monster wohl kaum!", rief dann ein junger Mann. "Dann war sein letztes Bad aber ganz schön lange her, wir haben schließlich Juli!", stieß ein weiterer Herr hinzu und auf dem Marktplatz herrschte fröhliche Stimmung. Der einsame Riese drehte seinen Kopf Richtung Stadt, die Sonne schien ihm ins Gesicht, er seufzte und führte seinen Weg fort. Er war es gewohnt, dass sich die Menschen außerhalb seiner Gegenwart mächtig fühlten. Niemals jedoch könnte er ihnen Schmerz hinzufügen, das versprach er sich, da er keinen Hass verspürte, sondern tiefste Einsamkeit.
Zu seinem Haus an der Straße verirrte sich nur selten jemand.
Kontakt hatte der Riese nur zu den gut gebauten Herren, die meist zu fünft kamen, um ihre Bestellungen für Hufe und Messer abzuholen. In ihren Gesichtern sah man die Nervosität, die die Männer hatten, wenn der einsame Riese am Tor mit seinen Werkzeugen stand und die Männer erwartete. Die Sätze, die die Männer mit ihm wechselten, waren zum Thema, schroff und kurz angebunden.
Oft hörte der Riese mit seinen Ohren, wie die Kinder der Stadt wetteten, wer sich näher an das Haus herantraue. Immer wieder kamen kleinere und größere Kinder an das Haus, eines hatte sogar den Mumm an das Tor zu hämmern, doch sobald der Riese die Tür aufmachen wollte, rannten die Kinder panisch schreiend um ihr Leben. Einmal blieb ein Kind vor Angst wie angewurzelt stehen und der Riese sah seine Chance und gab dem Kleinen einen frischen Apfel. Das Kind nahm den Apfel an und aß ihn. Es vergingen Wochen nach diesem Vorfall und die Kinder kamen nicht mehr.
Doch nach einigen Wochen klopfte es ganz leise an der Tür. Es war noch recht früh am Morgen, doch der einsame Riese war schon wach. Als er sein Tor öffnete sah er niemanden, dachte es wäre wieder ein Streich und wollte schon wieder schließen, als er eine piepsige Stimme hörte. Tief unten endete das Köpfchen des kleinen verängstlichten Kindes und diesmal erschrak der einsame Riese. Anhand des nervösen Blickes ahnte der einsame Riese, dass das Kind ohne Erlaubnis der Eltern hierher gekommen ist. Das Kind piepste: "Lieber Riese, könnte ich vielleicht noch einen, solch leckeren Apfel kosten? Meine Familie hat nicht viel Geld und wir haben keinen Apfelverkäufer in der Stadt."
Der einsame Riese traute seinen Ohren, auf die doch sonst Verlass ist, nicht. Hatte das Kind ihn etwa 'lieber' genannt? Das hat bis zu diesem Zeitpunkt noch niemand getan. Er spürte, wie sein großes Herz, welches von riesigen Narben übersät war, einen kleinen Pflaster aufgedrückt bekam und einen Riss damit überdeckte. Vorsichtig bewegte sich der einsame Riese zu seinem Garten, um den Jungen nicht zu erschrecken, denn er wusste, wie schnell sein Auftreten Menschen Angst machen konnte.
Als er mit mehreren Äpfeln, die noch vor Frische einen wunderbaren Duft versprühten, wiederkam, stand der kleine Junge mit hängenden Schultern, auf den Boden schauend vor dem Haus. "Komm doch rein", sagte der einsame Riese so freundlich, wie es mit seiner mächtigen Stimme ging. Der Junge folgte ihm erst sehr langsam und dann schneller, als seine Neugierde größer als die Angst wurde. Noch nie war bei mir jemand zu Besuch!, dachte sich der einsame Riese.
Dem kleinen Jungen stand vor Staunen der Mund offen, als er durch das riesige Haus ging und er war beeindruckt von der Größe aller Gegenstände im Raum.
Der einsame Riese lächelte sanft und gab dem Jungen die heiß ersehnten Äpfel. Sofort hörte er ein vergnügliches Hineinbeißen und sah, wie sehr es dem Jungen schmeckte. "Vielen Dank, lieber Riese, die restlichen Äpfel bringe ich meinen Geschwistern."
Diesmal vergingen keine Wochen und der kleine Junge stand wieder vor der Tür. Diesmal mit seinen Brüdern und seiner Schwester, die anders, als der kleine Junge, viel ängstlicher auf den einsamen Riesen blickten, der doch nicht einmal einer Fliege etwas zu Leide tun konnte.
Diesmal gab es neben Äpfeln auch zwei wunderschöne Kirschen, die gerade erst heranreiften. Die Kinder waren dankbar und wechselten nicht nur kurze Worte mit dem einsamen Riesen.
Bald wusste jedes Kind aus der Stadt um die Großzügigkeit des einsamen Riesen Bescheid. Und so klopfte es öfter mal zaghaft, mal etwas fester an den Toren des großen Hauses und Kinder fragten nach Obst und Gemüse. Der einsame Riese hatte sogar manchmal die Zeit und schmiedete kleine Glücksbringer aus Resteisen für die Kinder. Niemals fragte er nach Geld oder Ähnlichem, ihm reichten nur die vor Glück strahlenden Gesichter. Mit jedem Lächeln wurde ein weiteres Pflaster gereicht, welches die Narben auf seinem Herzen überdeckte.
Doch eines Tages klopfte es so fest, dass dies keine Kinderhand sein konnte. Der einsame Riese wunderte sich, ob sich vielleicht auch Erwachsene an sein Tor trauten, um ebenfalls Obst und Gemüse zu bekommen. Als der Riese öffnete, standen zwar Erwachsene vor seinem Tor, sie wollten jedoch kein Obst und kein Gemüse. Sie wollten seinen Schmerz.
"Du Widerling, du schreckliches Monster!!" So standen sie mit Fackeln und wütenden Gesichtern vor seinem gemütlichen Haus. "Lass unsere Kinder in Frieden, sie haben dir nichts getan! Du bist schlimmer als alle Hexen! Vergiftest das Essen und schenkst es unserem Nachwuchs! Willst du unseren TOD?" Auf diesen Angriff war der einsame Riese nicht vorbereitet und ließ sich bespucken, beschimpfen und betreten. Schützend legte er seine Arme um den Kopf und versuchte das Tor zu schließen, doch die Stadtbewohner fackelten sein Holztor an, welches gleich anfing zu brennen. Der einsame Riese beschloss, an der Straße entlang wegzurennen und es gelang ihm, da seine Beine viel größer waren als er. Da er so groß und schwer war, vibrierte der Boden von seinen Schritten.
Irgendwann konnte er die Menschen mit seinen Ohren nicht mehr hören und setzte sich auf den Boden der Straße. Er hörte sich wimmern und Tränen rannten über seine Wangen. Da er ein Riese war, dauerte es länger, bis eine Träne den Boden erreichte. Der einsame Riese weinte so viel, dass es eine Pfütze aus Tränen ergab. Seine schützenden Pflaster waren abgefallen. Irgendwann raffte er sich auf, um zum Haus zurückzugehen. Erst jetzt bemerkte er, dass er ein sehr weites Stück gelaufen war. Am Haus angekommen, war er entsetzt. Sein halbes geliebtes Haus war abgebrannt, da große Teile aus Holz bestanden. Die Tür, die Fenster, Die Balken, alles bestand nun aus Asche. Sogar sein Bett war hinüber.
Tage vergingen und der einsame Riese lag in seinem geliebten Haus auf dem Boden ohne Tor. Er spürte, wie das Licht, welches durch das Loch ins Haus schien, verdunkelt wurde. Als er die Augen öffnete, standen die Kinder der Stadt vor ihm. Sofort ging der einsame Riese in Schutzstellung, doch die Kinder begangen gleich zu sprechen. "Es tut uns Leid, was unsere Eltern getan haben. Wir möchten dir helfen und dein Haus wieder aufbauen." Der einsame Riese war gerührt von diesem Angebot und nahm es dankend an. Und so geschah es, dass die Kinder zusammen mit dem einsamen Riesen dem Haus ein neues Tor, neue Fensterläden und Balken einbauten. Das Bett bauten sie diesmal aus echten Federn des Bauernhofes eines der Kinder.
Am Abend gingen die Kinder; das Obst und Gemüse aßen sie beim einsamen Riesen, damit die Eltern keinen Verdacht schöpften. Das Haus war nun noch viel schöner als vorher und der einsame Riese hatte das Gefühl, als hätten die Kinder auch sein Herz neu eingebaut. Fortan kamen die Kinder heimlich wieder zu Besuch, nur die Eltern würdigten den einsamen Riesen keines Blickes und kauften auch nur noch mit mindestens zehn Mann und Fackeln zur Abschreckung beim Schmied ein.
Der einsame Riese war an sein Leben gewohnt. Er war es gewohnt, früh aufzustehen, es gewohnt, seine Arbeit zu verrichten, gewohnt, sich abends vor dem Ofen zu erholen und auch gewohnt, alleine einzuschlafen. Doch er wusste, dass am nächsten Tag wieder Menschen kommen, die ihn für seine Art schätzen.
Bildmaterialien: Foto: Monirapunzel
Tag der Veröffentlichung: 21.02.2013
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