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Libby – Ein Leben zwischen Rollatoren und zerschnittenen Gürkchen

Kapitel 5

Der seltsamste und verwirrendste Dialog meines Lebens

Mutz: Ist das deine Ziege?
Ich: Ja.
Mutz: Oh.
Ich: Wie heißt du?
Mutz: Mutz.
Ich: Lutz?
Mutz: Nein, Mutz.
Ich: Mutz?
Mutz: Ja.
Ich: Was ist denn das für ein Name?
Mutz: Ein Schwedischer Name, glaub ich.
Ich: Bist du Schwede?
Mutz: Nein.
Ich: Oh, okay.
Mutz: Wie heißt du denn?
Ich: Libby.
Mutz: Libby, könntest du vielleicht von mir runter gehen?
Ich: Ähm ja. Entschuldige.
Mutz: Das ist nicht weiter schlimm. Dein linkes Auge blutet, glaube ich.


Ich stieg von dem Jungen herunter und es war mir unwahrscheinlich peinlich in so einem Auftritt vor einem Jungen zu erscheinen. Viel Zeit zu sprechen hatten wir nicht mehr, denn die ganze Menge hatte uns erreicht und mein Großvater zog mich entsetzt aus dem Schlamm. Den ganzen Weg nach Hause musste ich mir das Gelaber meines Opas anhören. Als abends Sammy von der Geschichte Wind bekam, fingen sie gemeinsam an, mir Dinge an den Kopf zu werfen. Die beiden waren ein so perfektes Team, wenn es darum ging, mich zu erziehen, dass man sie glatt als meine Eltern betrachten könnte. Haben halt zu spät ein Kind geboren. Besser zu spät als nie!

In meiner Wohnung angekommen, konnte ich nicht mehr aufhören, an den Mutz zu denken und an seinen verwirrten Blick. Wenigstens bin ich weich gefallen. Und ach ja, an dem gleichen Tag musste ich die Ziege wieder an den Bauern zurück geben und als Strafe für Freak beachtete ich ihn eine ganze Woche lang nicht. Das machte ihn ganz schön fertig.
Ich machte meine Bettlampe an, zog meinen Pyjama an und legte mich unter die warme, flauschige Decke. Eine fette Fliege summte um die Suppe des Vortages auf meinem Schreibtisch und es müffelte ein wenig. Ich müsste mal aufräumen, sagte ich mir, drehte mich auf die Seite, nahm mein Buch, schlug auf Seite 245 auf und fing an zu lesen.
Am nächsten Tag wachte ich auf. Mein Gesicht hatte den Abdruck der Seiten des Buches, weil ich mit dem Buch auf der Fresse und dem Licht angeschaltet eingeschlafen war. Weit bin ich nicht gekommen. Als ich mir die Seitenzahl anschaute, war ich immer noch auf Seite 245.

Na guten Morgen, Libby. Richtig wach wurde ich erst unter der Dusche, als mein warmes Wasser alle war und stattdessen Schneeflocken aus dem Duschhahn kamen. Seit ich angefangen hatte Freak zu ignorieren, folgte er mir auf Schritt und tritt und sah mich ständig flehend an. Er sprang sogar in die Dusche und wuselte um mich herum. Ganz schön hygienisch, dachte ich mir, hielt ihn wie einen nassen Lappen vor dem Gesicht und schmiss ihn auf sein Handtuch.
Sofort schlief er schnarchend ein und träumte von Hundekuchen oder was weiß ich, da er anfing, ganz schön eklig zu sabbern und seine Pfoten versuchten, nach etwas zu greifen. Zur Schule musste ich nicht, es waren ja Sommerferien, also zog ich mir Shorts und T-Shirt an und schlenderte zu Opa ins Altenheim. Pflegerin Scusi kam aus der Küche gehuscht und blinzelte mir liebevoll zu. Die anderen Pfleger auf die ich traf, versuchten, mich nicht zu beachten, denn nach dem Vorfall des Dorffestes, konnten mich diese Hackfressen noch weniger leiden. Außer Pfleger Heinz, der fragte mal wieder, ob ich Urin lassen müsste. Nach dem ich Anabelle die Zunge zeigte und Pfleger Dietrich den Stinkefinger (Ja ja, ich weiß, sehr erwachsen) machte ich mich schnurstracks ins Zimmer meines Großvaters. Sammy war gerade da und trank einen Kaffee mit ihm. Ich sag’s euch, irgendwann werden die noch heiraten! Die beiden begrüßten mich und ich ließ mich auf den Stuhl fallen. Sammy erzählte, dass ihr Enkel endlich wieder aus England zurückgekehrt war und nun bei Charleen und ihrer bescheuerten reichen Familie einzog. Mir war das ganz schön schnuppe, da mich alles, was mit Charleen zu tun hat, die Bohne interessiert. Also schaltete ich ab und fing an meinen Block vollzukritzeln. Ich malte einen lustigen Comic, bei dem der Absatz von Charleens Stöckelschuh in die Brüche ging und sie in einen Schlund mit Schlangen und Spinnen fiel. Dabei malte ich ihr eine widerliche Fratze mit einer Warze auf der Nase. Kichernd betrachtete ich mein Kunstwerk, als jemand an der Tür klopfte. Und wisst ihr, wer da unbekümmert ins Zimmer von Großvater trat und fröhlich lächelte?

Der Mutz! So stand er da, mit seinen dunkelblauen Augen und pechschwarzen Haaren, schiefes Grinsen im Gesicht und einem Muttermal am Kinn. Er hatte eine orangerote Strickjacke an und ein T-Shirt mit der Aufschrift „Carpe that fucking diem“, was mich komisch aufkichern gelassen hat. Seine Turnschuhe waren blau und einer davon hatte an der Seite die englische Flagge darauf. Was mir bei unserem ersten, wortwörtlichen Zusammentreffen nicht aufgefallen war; er sah echt gut aus! Sammy, völlig außer sich vor Freude, umarmte den Jungen und rief: „ Mutz, mein Enkel! Was für eine Überraschung!! Ich dachte, du besuchst mich erst morgen. Mensch, hast du mir aber gefehlt, mein Kind. Du bist aber auch ganz schön groß geworden! Sieh dich mal an, meine Güte, wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen? Welch ein Prachtkerl du doch geworden bist! Ich habe doch alles verpasst, mein Liebling. Erzähl, wie war der Flug und wie war England? Und bist du jetzt an der Universität angenommen oder nicht?“ Nach einer etwa einstündigen Prozedur seiner Oma, von ihr geknuddelt und abgeknutscht zu werden und den ständigen Fragen, ob der Junge doch Hunger hätte und dem Geschrei von Sammy:“ Nun bringen Sie doch dem Jungen etwas Anständiges zu essen, er verhungert mir gleich, Herr Heinz!“, hatte Mutz für einen kurzen Moment Ruhe.

Entgeistert schaute ich ihn an und als er mich entdeckt hatte, schaute er genauso entgeistert zurück.
Fragt mich nicht wie, aber irgendwie haben es Mutz und ich geschafft, uns aus den Fängen unserer Großeltern zu retten und einen Spaziergang hinzulegen. Okay, ehrlich gesagt war es nicht ganz so schwer sich davonzuschleichen, als Sammy und Großvater nach der zweiten Flasche Whiskey sämtliche Silben vertauschten und den Besen für Mutz hielten. Ich erzählte ihm ein bisschen von mir und er erzählte ein bisschen von sich. Ich glaubte es nicht. Ausgerechnet dieser nette und vollkommen unverschnöselte Typ war verwandt mit der Hexe Charleen. Es war mir unbegreiflich. Auf unserem Spaziergang erfuhr ich, dass er ein Auslandsjahr in England gemacht hatte, um seiner Familie zu entfliehen, die Sprache zu erlernen und auf ein Internat zu gehen.
„Bist du mit Charleen befreundet?“, fragte mich Mutz nach einer Weile. Da wusste ich nicht, was ich ihm antworten sollte. Also sagte ich nichts. Durfte ich ihm sagen, dass seine Schwester eine aufgetakelte dumme Tussi ist, die sich für was ganz besonderes hält, weil ihr Vater ihr jede neue Kollektion der Gucci-Taschen kaufen kann? Haha, machte mein Kopf und ich schwor mir, dieses Kopfkino für mich zu behalten.
„Deine Schwester ist eine aufgetakelte dumme Tussi, die sich für was ganz besonderes hält, weil ihr Vater ihr jede neue Kollektion der Gucci-Taschen kaufen kann.“

Mo-moment mal! Hatte ich das gerade wirklich laut gesagt? Das kann doch nicht wahr sein! Was für verseuchte Gene habe ich eigentlich, immer wieder so einen Mist zu labern! Ich musste mich entschuldigen, aber als ich Mutz ängstlich anschaute, war ich verblüfft. Ich konnte an seinen Lippen lesen, dass er gerade den Song „I’m the Mister Bombastic“ sang und dabei ganz unschöne Grimassen schnitt. Er hatte mir gar nicht zugehört!!! Da hatte ich noch einmal Glück gehabt! Ich sagte: „Charleen ist ein Supermädchen!“ Bei dem Satz wurde Mutz plötzlich hellhörig. Wahrscheinlich hört man nicht so oft Charleen und Supermädchen in einem Satz. „Findest du das?“, meinte Mutz dann, „Also ich finde, sie ist eine Girlie-Göre, die sich echt zu sehr von meinem Paps verwöhnen lässt.“


Kapitel 6

Damit es nicht zu langweilig wird, jaa, Mutz und ich wurden mit der Zeit echte Freunde. Er war überhaupt nicht so wie Charleen, hatte keine Starallüren wegen seiner kleinen Band (Oh ja er hat eine Band, ist das nicht superkrass?), und komischerweise mochte ihn sogar Freak! Zusammengefasst: Ich hatte in ihn meine pickelige Freundin gefunden, mit der man zusammen Kekse backt, sich einen Liebesfilm anschaut und dann in eine Haarbürste „Hit me baby one more time“ schreit, bis auf die Tatsache, dass Mutz nicht pickelig war, keine Kekse und Liebesfilme mochte und wir auch nichts von Britney Spears sangen. Aber ihr wisst, was ich meine!

Die Geschichte mit der Band:
Letztens musste ich mit Mutz zu den Proben seiner Band gehen.
Seine Band heißt The Lobsters, fragt mich bitte nicht, warum sie so heißen, denn der Grund ist absurd. Sie finden Hummer blöd. Aber deswegen nennt man seine Band doch nicht so! Sie besteht aus Jan, dem Schlagzeuger, Nathanael, kurz Nat, dem Bassisten und Mutz, dem Gitarristen und Sänger. Jan ist blond, hat tiefgraue Augen und sein Gesicht besteht aus Sommersprossen. Er ist ganz schön groß und wenn er redet, dann muss man aufpassen, da das Gesprochene immer eine Ebene über allen normalgroßen stattfindet. Ansonsten ist er ganz schön in sich geschlossen und sucht immer wieder nach Gegenständen, auf die er Rhythmen einhämmern kann, na eben ein typischer Schlagzeuger. Nathanael hasst seinen Namen und so nennen wir ihn schön amerikanisch Nat. Er ist ein ziemlich netter und hübscher Kerl, hat braune Haare und wunderschöne blaue Babyaugen. Sowieso hat er ganz schöne Modelmaße und ich bin mir sicher, dass er irgendwann von einem magersüchtigen Typen mit pinkem Seidenschal entdeckt wird. Das uncoole an dieser Band war, dass genau The Lobsters an dem Tag auf dem Dorffest in Heidenstadt spielten und Heididei, Freak und ich an genau diesem Tag ihre gesamte Technik geschrottet haben. Das haben die Jungs leider nicht vergessen.
In der Schule war ich in Musik immer ziemlich gut und aus diesem Grund schickten meine Eltern mich zum Saxophonunterricht. Somit kannte ich mich ganz gut aus im Notenlesen und mein Gehör war auch nicht von schlechten Eltern, obwohl mein Gehör EIGENTLICH ja von schlechten Eltern kommt… Das musikalischste an meiner Familie ist meine Tante, die ist jedoch angeheiratet, die die Triangel in einem Orchester spielt.

Meine Strafe war nun, dass ich ihnen Tipps geben sollte und manchmal sogar zuhören musste bei ihren Proben.
Das zweite uncoole an dieser Band war, dass sie sich bei Dorffesten an Schlagern versuchten, da diese nun mal bei der älteren Generation am besten ankamen und so kamen auch öfters mal Titel auf wie „ Das Dorffest, an dem ich die Tochter von Brigitte traf“ und ähnliches.
Das dritte uncoole an dieser Band war, sie waren kurz und knapp grauenhaft. Jetzt ist es vielleicht besser verständlich, warum die Proben für mich kein Wunschkonzert waren. Leider musste ich einige Proben mit Charleen durchstehen, was die ganze Sache nicht unbedingt angenehmer machte. Seit Monaten schon jagt Charleen nach Nat und lässt ihn nicht in Ruhe. Ich hatte mitbekommen, wie sie ihren Gossip-Girl-Freundinnen vor dem Proberaum erzählte: „ Bald hab ich ihn! Er sagte mir in letzter Zeit auch gar nicht mehr ‚Klappe halten ist angesagt’.“

An besagtem Tag bei den Proben, hielt ich die schlechte Musik mit meinem besagten guten Gehör einfach nicht mehr aus und schrie „Stoopp!“ The Lobsters hörten mich gar nicht, denn sie waren noch ganz in Trance von ihrem schrecklichen Lied.
Ich musste in die Hände klatschen, ein seltenes Geräusch für meine Schützlinge, weshalb sie abrupt aufhörten zu spielen.
„Jungs“, ich atmete tief ein und überlegte mir, wie ich meine Gedanken weniger beleidigend formulieren könnte, „meine Ohren schmerzen.“ Nat, Jan und Mutz schauten mich erst erwartungsvoll und danach schrecklich enttäuscht und traurig an. Ihre Augen erinnerten mich an die kleiner Kinder, denen man gerade gesagt hatte, es gäbe keinen Weihnachtsmann. Charleen witterte ihre Chance, sprang vom Stuhl, der hinter ihr zusammenklappte, klatschte hyperaktiv in die Hände und rief: „ Also ich fand das ganz supi! Hihihi!“ Meine Augen rollten schon immer automatisch, wenn Charleen nur den Mund aufmachte, jedoch tat mir mein Satz sofort Leid und ich wollte mich entschuldigen, als Nat den Kopf schüttelte und meinte: „Libby, du hast ja Recht, wir bringen’s nicht.“

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 26.12.2012

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