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Libby – Ein Leben zwischen Rollatoren und zerschnittenen Gürkchen


Kapitel 4

Einmal in Heidenstadt wurde ein großes Dorffest veranstaltet, zu dem alle Bewohner und Besucher eingeladen waren. Ich muss sagen, wir haben uns recht viel Mühe mit den Vorbereitungen gemacht, da das Altenheim die Verantwortung für die Dekoration gehabt hatte. Jetzt mal ehrlich, man fühlt sich hier nicht ernst genommen! Okay, die Leute sind alt und gebrechlich, aber doch keine Kinder! Die von der Verwaltung haben ihnen sogar Fingerfarben und die passenden Lätzchen gegeben damit sie sich nicht bekleckern! Reicht ja schon, dass hier die Gürkchen in so eine mikroskopische Größe geschnitten werden, dass es hier nichts mehr zu schlucken, geschweige denn zu kauen gibt… Reicht schon, sie einzuatmen und sie sind im Magen. Aber diese Lätzchen, die gingen zu weit. Sammy, mein Opa und ich haben uns rebellischerweise geweigert, uns diese Dinger um den Hals zu binden und haben einen Aufstand dagegen gemacht. Irgendwie, kam ich mir nach dem Bewerfen der Pfleger mit Farbtöpfchen noch kindischer vor.

Überhaupt können mich die Pfleger allesamt nicht leiden. Ich würde Unruhe ins Heim bringen und die Bewohner zu sehr unterhalten. Was haben die denn für eine Einstellung gegen alte Menschen? Das sind keine Pflänzchen, die bei einem kleinen dynamischen Wind einen Herzinfarkt bekommen! Sie brauchen diese Unterhaltung zum Überleben in dieser Schnarchschachtel! Besonders Pflegerin Annabelle wirft mir ständig so einen Blick zu, als wäre ich aus dem Irrenhaus entsprungen und noch meinen Tollwutschaum im Mund triefen haben. Dabei könnte es die Schrulle selber in ein solches Haus schaffen. Wirklich! Die eine Hälfte des Hauses ist alt und die andere Irre! Alle Pfleger haben einen an der Klatsche. Wie zum Beispiel Pfleger Heinz. Ständig fragt er einen, ob man aufs Klo gehen müsste. Er ist geradezu paranoid auf diesem Gebiet. Man schafft es noch nicht mal eine Runde Rommé zu gewinnen, da kommt er ins Zimmer, blickt mit seinen hektischen Augen auf den Boden, sucht nasse oder feuchte Stellen ab und fragt leise und zitternd: „Möchten Sie vielleicht Pippi oder Kacka?“ Wenn wir zum 20000sten Mal verneinen, blitzt ein ekliges kleines Lächeln auf sein Gesicht und so schnell wie das Lächeln weg ist, ist auch die Tür wieder verschlossen und man hört ein verrücktes Lachen auf dem Gang. Und dabei hört man auch immer diese quietschenden, nervigen Arztschuhe aus Gummi. Quietsch, quietsch, quietsch, quietsch. Ist mir ein Rätsel, dass sie sich selber nicht auf den Senkel gehen damit. Wahrscheinlich hatte der Arme eine nicht so tolle Erfahrung mit dem Thema Notdurft gemacht, sodass er seitdem traumatisch unterwegs ist.

Die einzig mir sympathische, aber dennoch seltsame Pflegerin ist die aus der Essensverteilung. Sie ist ganz schön dick, aber immer sehr freundlich. Oft setzt sie sich an unseren Tisch und fängt an mit uns zu quasseln. Sie hat einen lustigen Akzent und bringt uns mit ihren komischen Geschichten immer zum Lachen. Sie kommt aus Italien und sie heißt Pflegerin Scusi. Ihr Name bedeutet Entschuldigung auf Italienisch. Sie hat nie erklärt, wieso sie Entschuldigung heißt und so habe ich mir Szenarien ausgedacht. Die momentan Gängigste ist die, dass ihre Mutter ihrem Vater nichts von der Schwangerschaft erzählte und als Entschuldigung bei der Geburt nannte sie ihr Kind dann so. Oder es hatte sich so abgespielt. Die Eltern wussten einfach keinen Namen und die netten Leute von der Namenseintragung waren schon so genervt, dass sie sagten, das nächste Wort, das fällt, wird der Name des Mädchens. Doch dabei hatten sie nicht bedacht, dass der Vater ein starker Allergiker war und das Fenster offen stand. So ging eine Brise von erregenden Pollen und Gräsern durch das Krankenzimmer, gleichzeitig flog Unmengen von Staub in der heißen Jahreszeit herum und wenn das nicht schon gereicht hätte, hatte ein Besucher des nebenliegenden Patienten eine Farm und musste aus diesem Grund ständig auch noch seine vier Köter mitzerren und so entwickelte sich einer der größten Niesanfälle auf Erden. Die Ouvertüre begann mit einem leichten, aber zügigen Einatmen in Piano und der Tonart A-Moll, gefolgt von einem Aufbauen der Lunge und einem crescendo in den Stimmbändern, bis zum Höhepunkt des ganzen Werkes; Dem Nieser. Dieser war in solch einem Fortissimo, dass sämtliche Insassen des ganzen Krankenhauses in Italien einen tiefen Schreck bekamen und kurz aufhüpften. Dem Vater war dies aber sehr peinlich und so sagte er zu den Namensgebern „Scusi“ und diese schrieben das als Namen seiner Tochter auf. Wie gesagt, nur ein Szenario.

So wo war ich stehen geblieben? Ach ja, das Fest. Es war im Juli und deswegen sehr heiß und alle Menschen hatten gute Laune. Und es verging ja kein Tag an dem mal wieder irgendein Mist im Zusammenhang mit mir passiert, also geschah auch an dem Fest etwas Lustiges. Aber das hatte auch etwas Gutes, da ich sonst niemals meinen allerbesten Freund getroffen hätte und dann keinen hätte, mit dem ich weiteren Mist machen könnte! An diesem Tag war Charleen besonders aufgetakelt, sie war ja schon 17 und totaaal an Jungs interessiert. Sie trug ein pinkes Kleidchen, passend zu ihrer pinken Tasche und ihrem pinken Sonnenhut. Man könnte meinen, man laufe einem Flamingo entgegen. Als sie mich sah, lief sie auf und abhüpfend mir entgegen (ich wette das tat sie nur, um mit ihren aufgekorkten Locken zu prahlen) und grinste mich breit an. „Na, Libby, heute mal wieder so herausgeputzt? Hahahaha ha ha ha.“ Ihre Freundinnen gackerten hinter ihr so gekünstelt, das sogar ein Affe ihnen das nicht abkaufen würde. „Na Charleen, heute mal wieder in einen Farbtopf gefallen?“, konterte ich. Sie schaute mich widerwärtig an und zog mit ihren Freundinnen ab. Wow, ich war schlagfertig! Trotzdem war ich etwas geknickt, da auch ich mich an diesen Tag bemühte, hübsch auszusehen. Ich wollte nicht, dass man mich mit einem der Altenheim-Bewohner verwechselte und mir einen Apfelbrei anbot. Meine roten, widerspenstigen Haare hatte mir Sammy mit einer hübschen Klammer nach hinten gesteckt und ich hatte ein weißes besticktes Kleid an, auch von Sammy verbessert. Aber Pflegerin Scusi machte mir wieder gute Laune als sie mich sah und so tat, als würde sie von meiner Schönheit in Ohnmacht fallen. Das machte nicht die gute Laune, aber sie kitzelte mich so, dass ich schreien musste und der Sprecher der Anfangsverkündigung des Festes eine kurze Pause machte, alle mich ansahen und kurz den Kopf schüttelten mit einem erwachsenen ‚Tze tze tze’. Nach der schnarchenden Rede des Bürgermeisters und den Lügen aus seinem falschen Grinsen herauskommend, wie sehr er doch die Bewohner von Heidenstadt liebt und allen Kindern eine Superzukunft wünscht, ging das Fest richtig los! Luftballons hingen an allen Verkaufshütten und eine Band, die ehrlich gesagt lieber nicht spielen sollte, spielte. Man konnte Süßigkeiten, Snacks und Getränke kaufen und es gab sogar T-Shirts mit der Aufschrift: „Heidenstadt rockt alle!“ und „HEI, wohnst du DENn auch in der STADT?“ Oh man, wer kauft denn so was? , dachte ich mir gerade, als Charleen, im Schlepptau eines Jungen, der mindestens fünftausend Jahre älter als sie war für solch ein T-Shirt bezahlte und dem Jungen sagte: „Hier, dann kannst du an mich denken.“

Ich versuchte nicht zu würgen und ging weiter. Und da sah ich sie. Die nächsten Zeilen werdet ihr mir wahrscheinlich nicht glauben, weil es schon so absurd ist, dass es einfach nicht möglich sein kann. Ich kaufte nämlich an dem Tag des Festes von Heidenstadt, mit Musik und Softeis, eine Ziege. Denn als ich mich von Charleen und ihrem möchtegernerwachsenen Freund abwendete, sah ich einen alten Bauern, mit einem völlig zerfledderten Hemd und einem netten, aber fast zahnlosen Grinsen. In der Hand hatte er eine rotweiße Schnur, die danach aussah, als wäre sie in einem früheren Leben eine Abgrenzung. Und daran befestigt war eine waschechte Ziege, mit Bart und allem. Ich fand sie so klasse, dass ich zu dem Bauern hinrannte und fragte, wieso er sie zum Fest mitgenommen hatte. Das antwortete der Bauer: „ Das ist die Heididei, sie steht zum Verkauf! Möchtest du sie kaufen?“ Und ohne dass ich mich versah, hatte ich eine rote Schnur in der Hand und eine Ziege daran. Ich war so glücklich, dass ich sofort zu meinem Großvater rannte und ihm die Ziege präsentierte. (Also richtig rennen konnte ich nicht, da die Ziege ganz schön störrisch war, aber symbolisch konnte man es denke ich mal angedeutet erkennen). Na ja, mein Opa war nicht wirklich begeistert und fragte mich, Grundgütiger! wieso ich in alle Herrgottsnamen eine Ziege von einem schmierigen Bauern abkaufte. … Um ehrlich zu sein, ich hatte nicht wirklich eine Antwort darauf. Und ab den Worten: „Scheiße Libby, verdammter verdreckter Scheißdreck...“, habe ich auch nicht mehr wirklich zugehört. Am Ende seines elternvertretenden Vortrages nickte ich freundlich und ging mit Heididei fort. Alle schauten mich an, als wäre ich vom Mond. Also wirklich, so verrückt war es doch nicht, oder? Doch eine Sache hatte ich nicht mitbedacht beim Kauf von Heididei. Freak, mein durchgeknallter Köter konnte sich nämlich überhaupt nicht mit dem Gedanken anfreunden, eine Ziege als Mitbewohner zu bekommen.

Und so begann ein unerbittlicher Kampf. Verfressener Hund gegen verbockte Ziege. Öppldirk gegen Heididei. Oh man. Es war widerlich, sage ich euch. Freak fing an, völlig verrückt zu spielen und knurrte laut, hingegen stand die Ziege sehr ruhig da, nur ihre Augen fielen fast aus ihrem Kopf und hin und wieder entkam ihr ein ängstliches Blöken. Und so fing das Theater an. Es hatten sich sogar einige Schaulustige um den Schauplatz versammelt und sahen, ihr Eis leckend und ein Souveniertütchen in der Hand, dem irregewordenem Spektakel zu. Und ich stand in der Mitte, in der einen Hand die Leine von Freak und in der anderen das zerfetzte Irgendwas von Heididei. Verzweifelt versuchte ich, die Beiden von einander zu lösen und diese Idioten um mich herum haben noch nicht einmal probiert, mir zu helfen. Ein paar Jugendliche haben sogar ihre verflixten Fotohandys gezückt und machten feuchtfröhlich Bilder von einer 17-jährigen mit ihrem Hund und ihrer Ziege. Und als wäre das auch nicht genug, schaffte es mein dämlicher Hund auch noch, auf den Rücken von Heididei zu springen und ihr ordentlich in den Hals zu beißen! Heididei (was für mich völlig verständlich, aber einfach unangebracht war) tickte aus und sprang und gallopierte wie ein Pferd herum und versuchte ihren Reiter loszuwerden. Freak aber hatte sich festgebissen und die Menschen machten wie im Gladiatorenkampf zum rechten Zeitpunkt ‚Ahhh’ und ‚Ohhh’. Ich kam mir vor wie in einer Arena als Torero. Die Leinen in der Hand wurde ich einfach mitgerissen und vor Schreck und Panik konnten meine Hände nicht mehr loslassen. Heididei zog mich aufgebracht durch den ganzen geschmückten Platz. Wir kamen vorbei an der Hütte mit den T-Shirts und rissen einen Stand mit. So traurig war ich deswegen nicht. Aber ein ‚I love Heidentown’ T-Shirt blieb mir unglücklicherweise an meiner Haarspange hängen und verdeckte mein Gesicht. Bis ich dieses T-Shirt von der Fratze hatte, hatten Heididei, Freak und ich noch weitere 4 Stände zerstört. Freak sprang ab und ich dachte, endlich wäre es vorbei, als die Ziege böse aufhüpfte und bestimmt geradewegs auf die Bühne gallopierte. Wahrscheinlich wollte sie einen Kamikazeakt verrichten, konnte ich gerade noch denken. Ich schrie wie wild, Freak zog auch noch in die entgegengesetzte Richtung. Ich hatte das Gefühl, meine Arme würden sich in jedem Moment vom Körper trennen. Die Band, die gerade auf der Bühne stand und munter ihren Schlagerhit grölte, konnte sich gerade noch retten, als meine Bande die Kabel der Verstärker abriss und ein Scheinwerfer zu Boden prallte. Wir landeten hinter der Bühne auf einem Schlammhaufen, mein perlweißes Kleid war hin und meine Haare voller Matsch. Himmel sei dank, dass ich vor einem Monat eine Versicherung abgeschlossen hatte!! Ich war so erleichtert, dass meine Tiere sich beruhigt hatten (Obwohl ich glaube, dass Freak gerade von der Fahrt K.O. gegangen war), bis ich bemerkte, dass ich auf einem Jungen gelandet war.


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Tag der Veröffentlichung: 26.12.2012

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