Libby – Ein Leben zwischen Rollatoren und zerschnittenen Gürkchen
Kapitel 1
Hallo. Ich bin Libby. Das war’s.
Kapitel 2
Nein ehrlich. Das war’s wirklich. Es gibt hier nämlich nichts zu hören, fühlen, schmecken, ach geschweige denn zu sehen. Ihr, meine lieben Leser, seid hier in der schlimmsten Öde gelandet, die es vielleicht auf der ganzen Welt gibt… Na ja, am Besten ich fange erst ein Mal an, etwas über mich zu erzählen:
Also, wie gesagt, bin ich Libby und bin 17 (fast 18!) Jahre alt, und das Interessanteste an meinem bisherigen Leben ist, dass mein linker kleiner Zeh um einiges länger als mein rechter kleiner Zeh ist, was den Kauf meiner Schuhe ein wenig erschwert. Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, ist das eigentlich auch nicht interessant. Meine Eltern machen sich ein schönes Leben irgendwo am Arsch der Welt, denn sie sind beide Geologen und reisen um den ganzen Globus. Ich glaube nicht, dass meine Eltern mal darüber nachgedacht haben, mich auf ihre Expeditionen mitzunehmen, denn, wenn ich ehrlich bin, mehr als Geologen sein können sie nicht. Einschließlich denken! Unter diesen Umständen lebe ich alleine in einer Wohnung, genau neben dem Altersheim meines Großvaters. Das Altersheim von Heidenstadt. Manchmal komme ich mir vor wie Heidi, die ja auch mit ihrem Großvater lebte, aber dann sehe ich die vollen Erwachsenenwindeln seiner Mitbewohner und diesen strengen Geruch nach Kiloweise Medikamenten und komme mir schnell nicht mehr so vor. Menschen meines Alters gibt es hier nicht, wobei es doch eine gibt, die ich aber nicht als Menschen ansehe. Sie ist eher ein Objekt, das dafür sorgt, mein Leben mit schlechten Erlebnissen auszurüsten. Aber mehr dazu später. Jedenfalls muss ich zur Schule mit dem Fahrrad fahren (ungefähr eine halbe Stunde), was weiter nicht schlimm ist, doch leider kommt man hier überall nur mit dem Fahrrad hin. In der Schule habe ich eine Freundin, Annika, bei der ich mir mit der Freundschaft nicht so sicher bin. Warum? Na ja, dies ist leicht zu erklären. Erstens unternehmen wir nichts. Das einzige, was sie für unsere Freundschaft tut, ist die Eigenschaft, dass sie mich in Ruhe lässt, nicht so wie der Rest meiner Klasse. Außerdem ist sie strohdoof. Wieso? Gute Frage, nächste Frage. Ich habe leider keine Ahnung wieso, denn wenn ich es wüsste, könnte ich ja vielleicht was daran ändern. Aber diesem Mädchen ist meiner Meinung nach nicht mehr zu helfen. Außer man führt diese Gentherapie durch und ersetzt ihre defekten Gehirnzellen durch intakte. Ach scheiße ist das Leben ungerecht. So ein kluges Köpfchen wie ich kann ihre Intelligenz mit niemandem teilen als mit einer Gehirnamputierten, die ihren eigenen Namen falsch schreibt. Irgendwie habe ich gerade so ein bisschen das Gefühl, ich versinke in einem Sumpf meines Mitleids. Macht aber Spaß, muss ich sagen. Irgendwie tut das gut, sich so etwas Mal von der Seele zu reden. Aber nein, mein Leben besteht auch nur nicht aus Mitleid, manchmal unternimmt die Seniorengruppe was. Letztens, da sind wir alle in den schönen Blumenpark gegangen und mein Großvater und ich saßen in einem Feld aus den schönsten Blumen und Gräsern und Opi erzählte mir von dem Krieg. Leute, ich sage euch jetzt etwas, was ihr nie vergessen dürft; Wenn ihr euch in die Futterquelle aller Bienen und Wespen setzt, sprüht euch niemals mit einem Parfüm namens Frische Himbeere ein. Was? Nein, ich hab mich nicht damit eingesprüht, mein Großvater liebt den Duft von Himbeeren. Doch, irgendwie fanden die Wespen meine Haut attraktiver als die meines Opas. Drei Viecher haben ihre stacheligen Waffen in meine zarte Aprikosenhaut gerammt, weil mein Opi angefangen hat, ihnen mit meinem Flip-Flop den Krieg zu erklären. Wahrscheinlich sahen sie mich als Hauptgewinn. Wie eine Prinzessin die von einem Prinzen erkämpft worden ist, fühlte ich mich nach der Aktion nicht. Vielleicht weil das mit dem Ringe anstecken für den Wespenprinzen nach dem gewonnenen Kampf ein bisschen schwierig geworden wäre.
Kapitel 3
Maaaan, wie mich dieses Biest aufregt!!! Charleeeeen, die Möchtegern-Paris Hilton. Sie lebt in der Nachbarschaft, weil ihre Eltern eine Luxusvilla neben dem Heim errichten haben lassen. Sie sind Millionäre und Charleen findet sich ganz supi. Herr, lass Hirn vom Himmel fallen! Ihre Großmutter haben sie ins Heim abgeschoben, Sammy heißt sie, sie ist die quirligste, netteste und jüngste von allen, sie ist sozusagen meine Ersatzmom. Zu ihr kann ich mit meinen Problemen kommen und ihr alles genau erzählen, auch wenn sie dabei manchmal einschläft. Ich spiele auch oft Karten mit ihr und ich muss sagen, für eine alte Klapperkiste ist sie ganz schön gerissen. Versucht mich immer auszutricksen, aber sie vergisst immer wieder, dass sie bei jedem Versuch so eine Grimasse zieht, dass man blind sein müsste um nicht zu merken, was für ein Spiel sie abzieht. Zusammen mit meinem Großvater und ihr verbringen wir oft wundervolle Abende, die mich unfassbar glücklich machen. Ich kann es einfach nicht verstehen, wie man eine solch geniale Oma in ein Heim abschiebt und sie dann drei Mal im Jahr besuchen kommt. Sammy ist mir so nah geworden, dass ich sie, wenn ich es mir recht überlege, mehr als meine Mutter sehe, als meine Geologenbagage. Lasst uns zum eigentlichen Problemkind kommen. Keine Ahnung wieso, aber Charleen fand mich aus irgendeinem Grund auch ganz schön supi, die Betonung liegt auf fand. Da ist sie jetzt aber auch selber daran schuld, nichts mehr mit mir zu tun haben zu wollen. Es war doch alles nur ein blöder Unfall!!! Hört mal, die Sache war die:
Als mich Charleen eines Tages zu ihrem dreizehnten Geburtstag einlud, ging es mir an diesem Tag nicht sonderlich gut, nein ehrlich, ich war sogar echt verpeilt. Eine Woche vor ihrer Party waren meine Eltern nämlich zu Besuch gekommen, um mir von ihren spannenden Reisen zu erzählen. Sie waren nur bis einen Tag vor der Party da, weil sie auf keinen Fall den Zug nach Ungarn verpassen durften. Es war wieder ein Abschied für lange Zeit… Nach dem sie dann gegangen waren, war ich völlig niedergeschlagen und kauerte auf meinem Bett mit einem Buch in der Hand. Ich konnte fast die ganze Nacht nicht schlafen und am Tag des Festes ging es mir bescheuert. Es war ein Samstag und mein Opi war auf einem Seniorenausflug, also konnte mich auch keiner vorwarnen, wie schlecht ich doch aussah. In meiner Verpeilung vergaß ich schließlich mich umzuziehen und kam zu Charleen in die Villa: Haare nicht gekämmt, Augen durchnässt vom Heulen, Pyjama mit Entchen und Küken drauf, Barfuß und auch noch eine halbe Stunde zu spät. Erst als die Letzten mich so schon gesehen und sich darüber lustig machten, merkte ich meine Misslage und rannte rot wie eine Tomate und schnell wie der Blitz nach Hause. Nur Charleen lachte nicht; sie war stocksauer. Und sie wusste ja noch gar nicht, was auf sie an diesem Tag noch zukam… Als ich nämlich fort war, um meine Tat des Heulens, Schreiens und pubertärem sonstigem Kram von Ausbrüchen weiterzuführen, hatte ich glatt vergessen, die Tür zuzumachen. Nun, dies war ja noch nicht so schlimm, hätte ich nicht einen Hund, der erstens eine völlige Knallkorke ist und obendrein unglaublich geisteskrank, nein mein Hund ist auch noch ein sehr freundlicher und netter Beißer. Ich muss euch kurz meinen Hund beschreiben, da ihr sonst einfach nicht versteht, warum ihn keiner mag (nichts gegen dich, Freak). Freak ist eine Mischung von Mops, Schnauzer und noch einigen weiteren Rassen, die allesamt wahrscheinlich einen an der Klatsche hatten. Er geht mir ungefähr bis zu den Knien, hat grau-schwarzes sehr krauses Fell, nein kraus ist noch zu untertrieben. Es steht einfach von allen Richtungen ab, hat keine Weichheit drin und sieht nach etwa dreistündiger Kämmaktion noch bescheuerter aus als vorher. Seine Augen sind zwei riesige zerquetschte Tomaten, die aus seinem im Vergleich zum Rest des Körpers überdimensionalem Dickschädel herausquellen und seine Schnauze ist wie von einem Panzer plattgedrückt worden, faltig und obwohl sie nicht so aussieht eine Kampfmaschine. Ich nenne ihn daher auch liebevoll „The Undertaker“. Legt euch einfach lieber nicht mit ihm an, er wird siegen. Und wenn ich den Leuten, die ihn ja so knubbelig und zerzaust finden sage, dass dieser Hund ein beißendes Monster ist, dann bitte ich euch, lauft nicht zu ihm hin und sagt: „Ach da übertreiben Sie bestimmt, er ist doch so ein lieber Kerl, ja haha, nicht mit der Zunge kitzeln, ja fein, mein kleiner, ahaha, aua du süßer, lass doch bitte Frauchens Ohr los, ja? Haha, aua, sei brav ja, Aua, AUAAAAAA, LASS LOS DU VERFRESSENER, KRANKER KÖTER, DU SCHEIß TÖLEEE AUAAAAA!!!!!!!!“
Ich habe euch gewarnt, ja?
Zu meiner Verteidigung muss ich allerdings sagen, dass ich ihn geschenkt bekommen hatte von einem schizophrenen alten Opi, der mal bei Großvater im Altenheim lebte. Er hieß Hargrüttel und hatte als einziger ein Zimmer unter dem Dach. Er war ein lustiger Kerl, aber ich hatte nie richtig mit ihm gesprochen, ich glaube keiner hat das getan, wie gesagt, er war ein wenig verrückt. Ich nahm ihm das nie übel und grüßte ihn immer freundlich, als ich ihn am Tisch im Aufenthaltsraum sah. Und wir hatten trotz dem, dass wir nie miteinander gesprochen hatten ein morgendliches Ritual. Es fing eines Tages an, als wir unser Marmeladenbrot verputzt hatten und auf dem Weg wieder in das Zimmer meines Opas waren. Ich sagte höflich auf Wiedersehen und ging Richtung Flur. Hargrüttel, der Gute, lief mir hinterher und ich hörte seine dumpfen Schritte auf dem Flurteppich. Ehrlich gesagt hatte ich ein wenig Angst bekommen und lief etwas schneller, als Hargrüttel schrie: „Willst du ein Bonbon, Kleines?“, und ich rief „ Nein, danke!“ Ich hastete durch den Flur und atmete tief ein, als ich plötzlich einen stechenden Schmerz spürte. Zunächst dachte ich es wäre meine Lunge, die nicht mehr mit mir mit kam, aber dieser Schmerz wiederholte sich an anderen Stellen, bis ich begriff, dass mich der gute Hargrüttel mit Apfelsinen- und Kirschbonbons bewarf! Es war verrückt! Alter und schizophrener Mann bewirft kleines Mädchen im Altenheim mit Apfelsinenbonbons. Dies könnte locker eine Schlagzeile einer renommierten Zeitung sein, sag ich euch. Eine Woche später mit dem im wahrsten Sinne des Wortes ‚Zusammenprall’ schmiss Hargrüttel mich wieder mit Bonbons ab und so wurde ein recht schmerzhaftes Ritual daraus. Bis Hargrüttel eines Morgens auf dem Altenheimgelände tot aufgefunden wurde. Es hatte den Anschein, als ob er aus einem der großen Dachfenster gesprungen war und den Aufprall mit dem harten Beton nicht überlebte. Er flog, wie seine Kirschbonbons und nahm sich so das Leben. Eine traurige Geschichte war das. Und stellt euch jetzt mal vor, wessen Herrchen denn nun Freak hatte? Ding ding ding, richtig! Hargrüttel war der Besitzer vom damaligen Öppldirk. Ich habe ihn umgetauft, da ich erstens Freak nun sehr viel passender als Öppldirk fand und zweitens, nun mal ehrlich, dieser Name einen wirklichen Dachschaden hat. Hargrüttel vermachte mir seinen Hund, in seinem Testament und ich beschloss, sehr gut auf ihn aufzupassen.
Jedenfalls, an Miss Charleens (Bitte stellt euch ab jetzt immer bei diesem Namen meine Stimme als völlig verschnöseltes Gesäusel vor, das dramatisiert das Ganze ein wenig) Geburtstagsfeier, ließ ich die Tür auf. Öppldirk, also Freak, rannte, ohne dass ich es wusste auf die Straße, hinüber zu Charleens Millionenvillla, sprang über den Zaun in den piekfeinen Garten, der gerade neu gepflanzt worden war und in dem die Party stattfand und zeriss alles und jeden, den er fassen konnte. Die Freundinnen von Charleen waren entsetzt und wollten ins Haus stürmen, als Freak das bemerkte und wie ein Blitz zu ihnen hechtete und... na ja… Im Endeffekt gab es zwei ein halb Schwerverletzter, ein gebrochenes Schienbein und eine blutige Lippe. Anscheinend hatte er gemerkt, wie traurig ich an dem Tag war und wollte mich beschützen.
Hach, wie ich diesen Hund liebe!
Und ja, ich bin so in etwa die einzige, die Freak liebt. Seit diesem Gartenvorfall will Charleen und ihre eklige Bagage nichts mehr mit mir zu tun haben und foltert mich, wo sie es nur kann. Mir ist es inzwischen schnuppe, was für lächerliche Streiche sie sich wieder aushecken, denn sobald ich den Namen meines Hundes auch nur in irgendeinem Zusammenhang nenne, zischen sie wie aufgescheuchte Schafe fort.
Tag der Veröffentlichung: 25.07.2011
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