Ein Familienporträt.
Vier lachende Menschen winken aus diesem ordentlich gerahmten Stück Erinnerung hinauf. Der Rahmen, aus starkem Holz, stütz die Familie, gibt ihr halt, das hauchdünne, jedoch robuste, Glas beschützt es vor Kratzern und Schmutz von außen. So kann dieses Bild die Ewigkeit über dauern.
Doch nimmt man es aus seinem Rahmen, sieht man, dass aller Schutz vor Außen nichts gebracht hat, den es zerfällt von Innen, verfault regelrecht, den dreht man das Bild um sieht man auf die nackten und geschundenen Seelen jedes einzelnen, ob es jetzt die fremdgehende Mutter, der saufende Vater, die missbrauchte Tochter oder ihr sich in Selbstmitleid badende Bruder ist.
Auf einer Ebene ist der Mensch der Abgrund.
Stürzen wir uns in den Abgrund, drehen wir das Bild um, vergessen wollen wir die surrealen Bilder, die die Wirklichkeit abfotografierte und als Wahrheit verkauft.
Nichts ist so wie es scheint und der Schein trügt immer…
Familienbande, geknüpft aus Blut und Fleisch, seht zu was passiert, wenn man sie kappt…
Bitte, hass mich!
Ich könnte nicht damit Leben dir dein Herz gebrochen zu haben, so wie meines längst zerbrochen ist, in tausend kleine Scherben. Die Scherben meiner Existenz, welche tiefe Narben auf dir hinter lassen…
Den Kopf tief im Kissen vergraben und die Hände darüber verschränkt, versuchte ich meine Umgebung, vergeblich, zu ignorieren, ihr Schluchzen und Wimmern durchdrang alles.
Vorwurfsvoll schlug es gegen mein mit Metall vollbesetztes Ohr.
Mein Engel…
Ich drehte mich, geschlagen, auf den Rücken und betrachtete meine modrige Zimmerdecke, wo ganz gemütlich ein Stück Farbe nach dem anderen abblätterte um den expandierenden Schimmelkolonien platz zu machen. Früher einmal war die Zimmerdecke weiß, heute würde der Titel: „Kotze- der- weißen- Farbe“ eher passen, so wie alles in diesem Zimmer, mich eingeschlossen, nur noch Unrat von vergangenen Zeiten war.
Beiläufig, ohne ein Ziel, schweifte mein Blick durchs vollgestopfte und zu gemüllte Zimmer. So gut wie alles war von einer dicken Staubschicht bedeckt. Nur noch weniges erfüllte seinen wahren Zweck oder besser, konnte seinen wahren Zweck erfüllen. Der Raum war wirklich ein einziger Schrottplatz, jedoch war ich wirklich das einzige Teil, welches irreparabel war.
Seufzend zwang ich meinen Blick aus dem Fenster. Durch die Dreck verkrusteten Fensterscheiben lächelte ein kreisrunder Mond. Sein goldsilberner Schein hatte mich schon immer viel mehr fasziniert als sein grelles Gegenstück.
Diese melancholische Freundlichkeit, und das ewige Lächeln auf seinem vernarbten Antlitz machten ihn zu etwas gottgleichen, den egal wie böse oder schlecht ein Mensch war, wenn er zum Mond hinauf sah bekam er immer ein Lächeln geschenkt.
Das war wahre Güte!
Nicht dieser scheinheilige Hokuspokus in diesen Irrenanstalten für Geistliche.
Die immer wieder von Vergebung und Abbitte laberten, sich selbst aber ins schwarz und rot des Teufels kleideten und die Narrenkappe gleich einer Krone trugen.
Sie bezeichnen sich als Hirten. Tja, mehr als dumme Schafe folgten ihnen ja auch nicht.
Gott war ein korrupter Kapitalist geworden, der selbst seinen eigenen Sohn ans Kreuz genagelt hatte.
Wer mich hörte, glaubte bestimmt, ich hätte Gott verlassen, doch so war es nicht. Die Schuld lag nicht bei mir. Ich hatte nicht Gott verlassen, Gott hatte mich verlassen.
Ich weiß nicht, wie viele Gebete ich zum Himmel gesandt hatte.
Wie oft habe ich gefleht, doch nie kam eine Antwort, nie kam Hilfe!
Es war nicht so, dass ich nicht an Gott glaubte. Schließlich glaubte ich ja auch an Engel, meinen Engel…
Es gab einen Gott, aber er hilft nicht. Er kann gar nicht helfen- zumindest mir nicht!
Niemand kann mir helfen.
Obwohl er mir nicht geholfen hat, bin ich mir aber sicher, dass Gott es sich trotzdem nicht nehmen lassen wird mich zu richten.
Verdient hatte ich es ja...
Wollust war doch eine Todsünde, oder?
Frustriert schloss ich die Augen, irgendwie machte das die Situation nicht angenehmer.
Ihr schluchzen hallte in meinem Herzen...
Es tat so weh…
Warum stirbt das Herz nur so langsam?
„Oh, bitte, lass da… nicht, nein… Ich will das nicht, ich bin doch dein Kind!“
Blut rauschte in meinen Ohren. Sofort saß ich kerzengerade im Bett. „… dieser Mistkerl…“, knurrte ich und durchquerte, auf mir unerklärliche Weise, rasch das Zimmer…
Als ich in den Flur betrat kam mir ein Schwall stickiger Luft entgegen.
Adrenalin pumpte durch meinen Körper. Wutentbrannt blickte ich auf die halboffene Tür rechts neben mir.
Und obwohl der Drang in mir etwas emotionales und vollkommen irrationales zu tun mich fast zum Explodieren brachte rührte ich mich nicht vom Fleck.
Mein Körper bebte.
Wie konnte er es wagen sich an ihr, meinem Engel, zu vergreifen?
Doch war ich so viel besser als er?
Bin ich nicht eigentlich viel schlimmer als er, den will ich ihr nicht dasselbe Leid zufügen, weil ich sie wirklich Liebe?
Wenn ich jetzt gehe, tue ich zwar das, was mein Herz so sehr begehrt, doch ist das wirklich das richtige?
Und wenn für wen?
Stehen? Gehen? Stehen? Gehen? Stehen? Gehen? Stehen…
Meine Gedanken überschlugen sich, alles drehte sich, ein Kettenkarussell in meinem Kopf.
Ein qualvoller, langer und nie enden wollender Schrei durchzog das Chaos meines Inneren und wehte alles fort, alle Unsicherheit, alle Zweifel.
Nur ein Wort blieb… Gehen!
Gerade als ich einen Schritt nach vorne gesetzt hatte sprang die Tür auf und er stand vor mir, mein Vater!
„Was stehst du hier so rum?“, lallte er, sein Atem stank nach schalem Schnaps.
„Es ist spät, du solltest längst im Bett sein!“, diese so geheuchelte väterliche Fürsorge, die er mir entgegen spuckte, ließ mich nur noch wütender werden.
Nun grinste er mich schleimig an und machte seine Hose zu.
Ich biss mir auf die Unterlippe vor lauter Verzweiflung, was konnte ich schon tun?
Egal was ich ihm jetzt entgegen schleuderte, mein Engel würde es dreifach zurückbekommen.
„Sie wird allmählich richtig langweilig, sie könnte sich ruhig mehr anstrengen. Stellt sich an wie ein Fisch auf dem Trockenen, windet sich und ist doch ganz glitschig!“, er schwankte vor und zurück, hatte den Unterkiefer hart nach vorn gestreckt, ein Speichelfaden wand sich seinen Weg, mit der Schwerkraft im Bunde, nach unten von seinen feuchten Lippen.
Ich schmeckte Blut doch ich biss nur noch fester zu. Ich sah das Monster vor mir, und wusste von dem Monster in mir.
War er der Spiegel meiner Seele?
Als er dann endlich an mir vorbei torkelte streifte er kurz meine Schulter, angewidert schloss ich die Augen.
Ich hasse ihn, so sehr!
Ich hasse ihn so sehr, wie ich sie liebe, meinen Engel…
Kaum war er die Treppe runter gewankt, stieß ich die, hinter ihm zugefallene, Tür wieder auf und sah meinen Engel, nackt mit gebrochenen Flügeln, am Boden.
Blind vor Liebe und Schmerz wollte ich sie packen, umarmen, einfach nie wieder loslassen, mein Verstand warnte jedoch: Was ist, wenn du die Kontrolle verlierst und ihr genau das antust, wovor du sie beschützen wolltest?
Unbeholfen versuchte sie eine Decke um ihren geschändeten Körper zu wickeln.
Angewidert stellte ich fest, dass mich ihre Nacktheit und Hilflosigkeit erregte.
Ich Monster! Missgeburt!
Der Versuch meinen Blick von ihr abzuwenden war vergeblich, das Bild von ihr, mir völlig ausgeliefert am Boden, hatte sich in meinen Kopf gebrannt.
In meinen Träumen würde es mich heimsuchen, so wie ich sie heimsuchen wollte…
Der Ekel vor mir selber ließ mich würgen.
Langsam ging ich in ihr Zimmer. Es schien noch kleiner und schäbiger als mein eigenes.
Sie weinte, ich konnte das Schluchzen, gedämpft, da sie ihr Gesicht in den Händen verbarg, hören. Ihr spärlich verhüllter Körper reflektierte das schwache Licht, was hinter mir zur Tür hinein fiel, tausendmal schöner als der Mondschein.
Mein Blut pulsierte von neuem in mir, stockte mir den Atem.
Ich muss hier raus!
„Keil?“, mein Name war so gehaucht, das ich mich wunderte, ihn überhaupt gehört zu haben.
Ich antwortete nicht, mein warmes, dreckiges Blut tropfte auf ihren schäbigen Boden, jeder Tropfen war eine Mahnung, dass ich nicht tat was man nicht wieder umkehren konnte.
Es gab nämlich einen Punkt von dem man nicht mehr zurückkehren konnte, diesen durfte ich niemals erreichen.
„Hast du dir etwa Sorgen gemacht, Keil?“, hoffnungsvoll blickte sie mit ihren so nassen Augen in meine brennenden, entzündet vom Feuer der Schuld, welches mich von innen her auffraß.
Sollte ich die Wahrheit sagen?
Sollte ich ihr sagen, wie ich füllte?
Wie ich wirklich füllte, für sie?
Nein, nein!
Das konnte ich nicht, niemals!
Meine wahren Gefühle, mein wahres Ich würde sie niemals ertragen!
Ich ertrug es ja selbst nicht…
Es gab nur eins, was ich tun konnte, nämlich das, was das Beste für sie war, und das war immer das genaue Gegenteil von dem, was für mich das Beste wäre.
Nur so kann ich sie vor der Bestie, die ich war, beschützen!
Sorgen? Wie könnte ich mir keine Sorgen um dich machen? Du bist das wertvollste in meinem ganzen sein! Du bist mein Sein…
„Sorgen? Warum sollte ich mir um dich sorgen? Ich wollte nur wissen, warum du schon wieder plärrst, das hat mich geweckt! Schönen Dank auch!“, kalt und abweisend stand ich kaum einen Meter von ihr entfernt, eine Endlosigkeit, die nicht überwunden werden durfte.
„Oh, entschuldige…“, sie sah zum Boden.
Ich hasse mich!
Nein, Verzeih mir! Bitte! Verzeih mir, dass ich dir nicht helfe! Verzeih mir, wie ich fühle, wie ich denke! Verzeih mir, was ich bin…
„Ich weiß nicht ob hier eine einfache Entschuldigung reich…“, ich konnte nicht weiter sprechen, ihre Augen, glitzernden Galaxien gleich, aus denen ein Stern nach dem anderen fiel, und auf dem Boden in kleine Regenbogen zersprang, schauten direkt in meine. Ein gütiges Lächeln im Gesicht, als wüsste sie, dass ich lügte.
Gott, wenn du mir schon nicht helfen willst, dann wenigstens ihr, lass sie ihre Flügel spreizen, und zu dir in den Himmel kommen, dort, wo ich ihr nicht mehr hin folgen kann.
Die Endlosigkeit war überwunden, wir standen uns, mit entblößten Seelen gegen über, die letzten Körner würden bald in der Sanduhr fallen…
„Ich hab dich lieb, Brüderchen!“
In mir verkrampfte sich alles, die tiefen Wunden auf meiner Seele, Alte wie Neue, rissen auf, ich starb, qualvoll und langsam…
Der Schmerz war schier unerträglich, ließ mein Herz ertrinken in schwarzen Pech, welches es weinte und blutete
Wenn du wüsstest, wie ich dich liebe, mein Engel…
Ich bin ein Monster, eine Missgeburt!
Ich muss sie vor mir schützen.
Meine Sünde darf nicht ihre werden!
„Ich hasse dich!“, brüllte ich hinaus, verstört zuckte sie zurück, „Und du solltest mich auch hassen!“, meine Stimme brach weg, „Bitte!“
Ohne noch einen Blick zurück zu werfen und alle Türen hinter mir zu knallend, lief ich davon.
Atemlos stürzte ich in mein Zimmer, meinen Käfig!
Unter meiner Last zusammenbrechend, ließ ich mich auf den Boden fallen, schlug mir mit den Fäusten gegen den Kopf, versuchte sie mir aus den Gedanken zu prügeln.
Warum? Warum nur?
Warum tat es so weh?
Ich hörte sie durch die dünne Wand weinen. Keuchend kroch ich zur Wand, krallte mich verzweifelt in diesen schmalen Grad der Realität, der mich von ihr trennte und flüsterte: „Ich liebe dich, mein Engel…“
Lässig lehnte ich gegen das Schließfach eines Freundes.
Ich nenne es jetzt mal Freund, obwohl es nur Beiwerk war. Irgendwelche Figuren, beliebig aus zu wechseln.
Wie alles, nichts ist unersetzbar…außer vielleicht die Welt, meine Welt!
Nun also, ich lehnte cool an das Schließfach eines Ersetzbaren und brachte mich und meine hübsche Gestalt zum Ausdruck.
Umringt von Gesichtslosen, austauschbaren Wesen, alle gut aussehend, jedoch nicht schön, oder gar hübsch.
Nein, die Wesen um mich herum waren dies alles nicht. Sie kreisten um mich herum, wie Monde um einen Planeten, wie Planeten um eine Sonne.
Ja, eine Sonne, das war ich für sie, alle wollten etwas von meinem Licht, obwohl es unrein war, gierten und lechzten sie danach. Ich genoss es ihnen nur so viel zu geben, das sie davon leben konnten, doch immer mehr verlangen würden.
Es ist ein sehr befriedigendes Gefühl gesehen zu werden, besonders wenn man selber das Gefühl hat blind zu sein.
Orientierungslos im Dunkeln, nur die leise Stimme des Teufels, die mir zu flüstert, was ich tun soll.
Wie erwähnt, ich war schön, sehr schön sogar, nicht gut aussehend, wirklich schön. Das sind zwei verschiedene Dinge, wie auch schon erwähnt, denn gut aussehen tun viele, doch nur wenige waren schön.
Es gab niemanden der mich nicht um meine schneeweiße Haut, welche Alabaster glich, beneidete, oder die seidige Glätte und den schon fast unwirklichen Glanz meiner schwarzblau gefärbten Haare bestaunte. Kühn hingen sie mir fransig in den eisigen blauen Augen, umrahmten mein kantiges, jedoch feines Gesicht, und betonten hinten kurz geschnitten meinen anziehenden Nacken.
Mein schlanker, schmaler Körper war immer in einem perfekt aufeinander abgestimmten Outfit gehüllt, was von schwarz dominiert wurde, das ich jedoch nicht aus modischen gründen trug. Seit dem Tod meine Mutter trug ich schwarz, jedoch nicht weil ich noch trauerte, sondern weil es zur Gewohnheit geworden war.
Da ich nun so aus sah, wie ich aussah, lagen mir alle zu Füßen. Besonders die Mädchen. Ich konnte jede haben. Jede. Doch genau die eine, die ich niemals haben werde und haben darf, wollte ich.
Nichts versuchte mich so sehr wie sie. Nichts schmerzte mehr als sie nicht zu haben.
Ein ewig währender bitterer Schmerz, der mein Herz in Einzelteile zerlegte.
Stück für Stück…
Um mich herum herrschte Chaos, monotones Chaos, immer das gleiche.
Geplante Anarchie, erwünscht und angestrebt.
Von Anarchisten in Markenklamotten. Ich hasse sie. Ich hasse sie alle.
Nein, ich hasse sie nicht. Um jemanden zu hassen, muss man ihn geliebt haben.
Und es gibt nur einen Menschen den ich je geliebt habe, den ich liebe, nur einen, jedoch kann ich den nicht hassen, niemals…
Unwillkürlich musste ich Lächeln. Ich bin Wahnsinnig. Eindeutig…
Vollkommen durch gedreht…
Ich bin ein durchgedrehtes Monster und gehöre weg gesperrt. Irgendwo hin, wo ich niemanden, und besonders ihr, nicht mehr wehtun konnte.
Ein verkohlter Geruch stieg mir in die Nase. Links von mir hatte man einen Mülleimer angezündet.
Wahrscheinlich ziehen sie sich gleich nackt aus und tanzen Drumherum.
Gelangweilt und Angewidert beobachtete ich wie ein Lehrer, eine so genannte Autoritätsperson, versuchte die Teilzeitpyromanen zur Ordnung zurufen, obwohl doch jeder wusste das Chaos die höchste Form von Ordnung war, also war doch schon alles in Ordnung.
Alles ist gut, aber nichts Richtig…
Was ist gut und was ist böse, was ist richtig, was falsch, nichts spielt eine Rolle, so lange Ordnung herrscht.
Geheucheltes Interesse und geheuchelte Pflicht, nichts ist wichtig, aber alles ist gut.
Niemand hört den Hilfeschrei der verzweifelten Jugend, besonders nicht die mechanischen Autoritäten. Sie brauchen doch selber Hilfe. Wer braucht sie nicht?
Doch was ist denn schon Hilfe?
Kein Eltern- Lehrergespräch über vorgetäuschte Maßnahmen von irgendwelchen Lügnern, oder irgendeine Jugendamt Tante, die einen erzählt, dass sie wüsste, wie hart doch die Situation ist. Geheucheltes Verständnis, nur damit sie ein ruhiges Gewissen haben und ein volles Konto
Nein Hilfe ist etwas anderes, für mich wäre Hilfe, etwas wunderbares, nämlich der Tod.
Irgendjemand würde mir helfen, indem er mich umbringt.
Kugel zwischen die Augen. Einfach die Kerze auspusten.
Gott, das wäre eine echte Hilfe.
Obwohl ich Gott lieber aus dem Spiel lassen sollte, der wird das ja wohl schlecht machen.
Ein mitleidiges Lächeln auf den Lippen, die Hand zum Abschied erhoben, und…
BAM
Gehirn aus Körper…
Ja, das wäre echt hilfreich, alle Probleme würden zusammen mit den Überresten deines Schädels an der Wand und auf dem Fußboden hinter dir kleben oder liegen.
Eine endgültige und sehr präzise Hilfe, aber so viel Mitgefühl hat niemand, und niemand ist so hilfsbereit.
Scheiß antisoziale Pisser, das ist doch nicht fair.
Seufzend starrte ich ins immer gleiche Chaos, voller Hilfesuchender, antisozialer Heuchler.
Der Lärmpegel, immer maximal und immer penetrant, schien auf einmal nicht mehr existent. Verwirrt, von der ungewohnten Stille, blickte ich auf, und erstarrte sofort.
Wäre ich Superman, dann lief da mein Kryptonit.
Kein anderer schien sie wahr zu nehmen, sie schwebte durch den Gang, wie ein Geist, ich fragte mich ob sie überhaupt wirklich dort war.
Ihre langen, naturgewellten blonden Haare fielen in einem geflochtenen Zopf auf ihren schmalen Rücken, einzelne Strähnen waren entflohen und legten sich wie Striemen in ihr herzförmiges, nicht kindliches, aber unschuldiges Gesicht. Abgetragene, alte Sachen in Pastellfarben, welche ihre Haut nicht ganz so blass erschienen ließen wie meine, obwohl sie es war, verbargen ihren geschundenen und geschändeten Körper, welchen ich mir so oft vorgestellt hatte, mit seinen perfekten Rundungen…
Wie gerne würde ich sie in den Arm nehmen, ihre Wärme und Weichheit spüren, jedoch würde ich das niemals tun dürfen, niemals…
Sie blickte mich an, mit ihren großen, blauen Augen, welche glitzerten wie die Milchstraße. Sternentränen fielen noch nicht, aber sie schienen auf ihre Chance zu lauern. Ein Sternenschauer, tausende Kometen, vielleicht könnte ich mir ja was wünschen…
Beschämt sah ich weg, konnte ihrem Blick nicht standhalten, hatte Angst mich darin zu verlieren. Auch drängten sich sofort die Bilder von Vorabend in meinen Kopf, ich widerte mich selbst an.
Es schien als wäre eine neue Dimension entstanden, in der nur sie und ich wirklich waren.
„Kaum zu glauben, dass das Geschwister sind…“, wie eine Axt schlug die Realität neben mir ein. Erschrocken zog ich den Kopf ein. „Wa… Was?“, irritiert blickte ich zum Axtschwinger. „Naja, man merkt halt einfach nicht, dass ihr Geschwister, Zwillinge, seid.“, zuckte der Ersetzbare mit den Schultern, und mit einem grausamen surren schlug die nächste Axt neben mir ein, haarscharf an mir vorbei.
„Ja, echt… Da ist überhaupt keine Ähnlichkeit…“, fingen die anderen jetzt auch an, die Äxte verfehlten mich immer knapper.
Was sollte dieses ganze Gelaber überhaupt?
„Na zum Glück!“, presste ich zischend hervor. „Wie ist eigentlich eure Beziehung?“, ich erstarrte, eine Axt traf mich direkt in den Magen, grub sich tief in meine Eingeweide, die eh schon ganz zerfressen waren.
„Wie meinst du das?“, fragte ich steif, langsam und schleimig sickerte der Lebenssaft aus mir. „Wie ist eigentlich so die Stimmung zwischen euch? Wie kommt ihr so mit einander aus? Schließlich seid ihr Zwillinge.“, meinte noch einer, es wurden immer mehr, gnadenlos drückten sie die Axt weiter in die Gedärme. „Nur weil sie Zwillinge sind, müssen sie nicht gut mit einander auskommen. Sind ja vom Typ auch ganz verschieden…“, warf man von der Seite ein.
Sie wollten mich wohl in der Mitte zerteilen!
„Ja sie sind echt wie Feuer und Wasser!“, lachte man. Mein Körper verkrampfte vor Schmerz, was sollte das denn? Hört endlich auf damit!
„Oder was sagst du, Keil?“, alle Augen waren auf mich gerichtet. Doch ich sah nicht im geringsten ein die penetrante Neugierde meiner Peiniger zu befriedigen, ich zeigte meine Gefühle nicht.
„Keil was sagst du?“, drängten sie weiter. „Ja, Keil…Du erzählst nie was über deine Familie, oder Schwester…“, sie sollten aufhören, was fiel ihnen ein?
Für wen hielten sie sich? Für wen?
Ich muss hier weg, so schnell wie möglich und so weit wie möglich!
„Keil?“, mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte riss ich mir die Axt aus dem Leib, das Blut spritzte, grob schlug ich die Axt in den Boden und ging…
Ging weg…Schnell…
So schnell es mein malträtierter Körper zuließ. Ich hörte ihre gekränkten Stimmen, spürte ihre verletzten Blicke, doch es war mir egal…
Ich wollte einfach nur noch weg, weg von ihnen, weg von ihren Fragen, weg von einfach allem…
Aber für wen halten sich diese miesen Penner?
Glaubten sie etwa sie wären für mich wichtig?
Niemand war für mich wichtig, niemand bedeutete mir etwas, außer meinem Engel…
Oh, mein Engel, warum kannst du nicht einfach in den Himmel fliegen, dort kann ich dir ganz bestimmt nichts mehr tun, dort kann dir niemand etwas tun, selbst der Teufel ist dort machtlos…
Ein metallenes Schnappen holte mich aus meinen Gedanken.
Verwirrt sah ich mich um.
Die schwere Tür des Lehrerflures war hinter mir zu gefallen. Lehrerflur, weil sich in diesem Flur nur Schließfächer von Lehrern befanden. Schüler hatten hier keinen zu tritt. Um ehrlich zu sein, was sollten wir auch hier? Bei den Schließfächern war eh nichts zu holen. Kein Lehrer war so dumm, dort etwas Wertvolles zu lagern. Die Lehrer kamen auch erst nach dem Unterricht hier her, sonst trauten sie sich ja gar nicht aus dem Lehrerzimmer.
Ich atmete schwer.
Ein Stück aus meiner sorgfältig gepflegten Maske, die ich aus Schutz für mich und vor mir trug, tragen musste, war gerade abgebrochen, ich hatte die Fassung verloren.
Dies hatte schwerwiegendere Folgen, als man glaubte, das Monster, welches ich darunter verbarg, wäre fast zum Vorschein gekommen. Das durfte nie wieder passieren, niemals wieder!
Die dumpfe Stille, die hier bleiern alles nieder drückte, wurde durch das unschuldige und federleichte rascheln von Flügeln unterbrochen.
Schock gefroren starrte ich zum hinteren Teil des Ganges. Einer Lichtgestalt aus einem Traum gleich… einer meiner Albträume…saß da mein Engel, mit eingezogenen Flügeln, kauerte eher, am kalten Boden.
Erstaunt sah sie zu mir, auch sie schien mich erst jetzt zu bemerken.
In der ferne hörte ich die Möchtegernanarchie lärmen, doch das war weit weg, so als befände ich mich hier in einer ganz neuen Wirklichkeit, wie vorhin im Gang, eine neue Dimension, vom Teufel geschaffen, und Teil seines perfiden Plans, Sünde zu gebären.
Was nun?
Ich muss gehen, sofort, nie über lasse ich dem Teufel den Sieg!
„Keil, schön, dass du hier bist! Zu zweit ist es besser allein!“, lächelte sie verhalten.
Das Lächeln ließ mein Herz sofort kapitulieren.
Vorsichtig, wie in Trance, trugen mich meine Fremdgesteuerten Beine zu ihr.
Ziemlich unelegant ließ ich mich zu Boden gleiten, kaum zehn Zentimeter neben ihr.
Wenn mein Herz so weiter schlägt, sprengt es mir den Brustkorb.
Im Gang war es sehr frisch, doch das war nicht der Grund, warum ich schauderte.
„Was tust du hier“, zaghaft versuchte sie eine Konversation zu starten, die ich dankend annahm. „Ich wollte einfach mal meine Ruhe, bei dem Lärm da oben wird man ja verrückt!“, versuchte ich lässig zu antworten, es hörte sich doch eindeutig gestelzt an.
„Ja, ich weiß was du meinst! Fast als ob es zwei Welten gibt, so kommt es mir zumindest vor. Die eine Welt da draußen, laut und hektisch, und dann die hier…“ „Eine Welt nur für uns beide!“, vollendete ich ihren Satz, und Ohrfeigte mich danach sofort in Gedanken. Sie nickte jedoch: „Ja, nur für uns beide!“
Ich schluckte, wie ich dich liebe!
„Sag mal, ist das hier immer so kalt? Ich meine, wenn du hier öfters bist musst du dich warm anziehen, sonst holst du dir noch was weg.“, verzweifelt versuchte ich das Thema zu wechseln, so plump, dass ich mir selbst ins Knie beißen könnte. Sie ging nicht drauf ein, ich kann es ihr auch nicht verdenken, stattdessen fragte sie: „Warum ist die Welt so schlecht?“
Wie gesagt, ich verstand warum sie nicht auf meinen sinnlosen Themenwechsel eingegangen war, aber so eine philosophische Frage irritierte mich dann doch.
„Wie meinst du das?“, wich ich der Frage aus.
„Warum passieren so schreckliche Dinge? Und vor allem, warum passieren sie mir? Ich meine, was habe ich der Welt getan, warum ist sie so schlecht zu mir?“, die Bitterkeit in ihren Worten verstörte mich noch mehr, aber sie hatte recht. Was hatte sie diesem Herzlosen Gott eigentlich getan?
„Ich weiß es nicht!“, es erstaunte mich, dass ich genauso verbittert klang.
Ihre Galaxienfetzen Augen nahmen mich in Gefangenschaft. „Entschuldige!“, jetzt klang sie wieder, wie die alte, „Ich habe ganz vergessen, dass die Welt ja auch gemein zu dir ist! Wie egoistisch, dabei sind wir doch Zwillinge…“
Ich hätte beinah los geschrien, so sehr quälten mich ihre Worte, sie ist zu rein für diese Welt, sie ist viel zu rein für mich.
Eine dünne Haarsträhne hing ihr im Gesicht, wirkte wie ein Riss im Gesicht einer Porzellanpuppe. Mehr schien sie auch nicht zu sein, eine kleine Puppe aus Porzellan, zu zerbrechlich für diese Welt.
„Du musst dich nicht entschuldigen…“, sagte ich mit belegter Stimme. Mit einem zittrigen Finger wischte ich ihr die Strähne aus dem Gesicht, heilte den Riss…
Sanft, und nur für einen Herzschlag, berührte meine Fingerspitze ihre Wange, unwillkürlich keuchte ich.
„Ich hab manchmal nur das Gefühl die ganze Welt, selbst Gott, hasst mich…“, seufzend ließ sie die Schultern hängen, sie schien den Tränen nah.
„Ich hasse dich nicht!“, ich konnte es nicht unterdrücken es sprudelte einfach aus mir raus, sodass ich im ersten Moment gar nicht begriff, was ich gesagt hatte.
Wie ein Reh im Scheinwerferlicht sah sie mich an. Ich holte Luft um irgendetwas zu sagen, um die Situation zu retten. Doch dann lächelte sie mich an, und alles war weg. Wie konnte ein Mensch nur so lächeln?
„Dann bist du ja vielleicht nicht von dieser Welt!“, scherzte sie, „Vielleicht bist du ja ein Engel?“
Das Monster in mir zerrte an meinem Herzen. Wetzte seine Krallen. Wie könnte ich sie nicht lieben? Wie sollte ich ihr widerstehen?
Es war alles ruhig, nur ganz schwach nahm man das Gelärm der anderen war. Hier waren nur wir zwei.
Mein Gesicht näherte sich ihrem, ihre blauen Augen, sie brachten mich um den letzten Rest meines Verstandes.
So nah war ich ihr noch nie. Sanft spürte ich ihren Atem auf der Wange.
Er roch nach etwas, was mich an Geborgenheit und Weihnachten denken ließ. Sie atmete ganz ruhig, so wie ich. Ihre leicht rosafarbenen Lippen, hatten sich einen erwartungsvollen Spalt weit geöffnet. Ihre Wimpern waren dicht und schwarz, wie Fächer.
Ich könnte jedes feine, hellblonde Haar auf ihrem Gesicht sehen, alles an ihr war einfach vollkommen.
Und…
Meine Lippen berührten ihre.
Unsere Lippen verschmolzen.
Einen Herzschlag lang verschmolzen wir.
Einen weiteren lösten wir uns voneinander.
Plötzlich raste mein Atem. Das Blut kochte in meinen Adern, auch sie keuchte. Schon fast grob packte ich ihr Gesicht. Presste meine Lippen gegen ihre, Sie schloss die Augen. Ich tat es ihr gleich.
Genüsslich fuhr ich durch ihr Haar, presste sie an mich. Ich spürte eine ihr zarten Hände an meiner Brust.
Meine Zunge liebkoste ihre. Warm und ungestüm vereinigten wir unsere Münder. Es gab kein sie oder ich, es gab nur noch uns.
Wir küssten uns. Ich küsste sie, sie küsste mich.
Ich küsste meine Schwester!
Ein elektrischer Schlag sprengte mich von ihr, ruckartig und keuchend stand ich auf.
Mein Herz rotierte. Jeden Moment würde es mir aus der Brust springen.
Was hatte ich getan?
Ich stolperte zur Tür, rupfte sie auf.
„Keil…“, verstört sah ich zurück, sie saß noch immer so da, wie ich sie verlassen hatte, eine Hand schon fast sehnsüchtig nach mir ausgestreckt, „Keil, du bist kein Engel, sondern…“ „Ich weiß…“, unterbrach ich sie und stürmte aus dem Gang, hörte nicht mehr, was ich wirklich war. Ich hörte nur noch das eiserne Klicken der Tür hinter mir, das Zeichen der Realität.Geschlagen taumelte ich zum Unterricht und murmelte, als ich den Klassenraum betrat: „Der Teufel hat gesiegt!“
Mit einem verlorenen Lachen kehrte ich nun endgültig in die Realität zurück.
Was hatte ich getan?
Wie konnte ich sie küssen?
Immer noch steckte mir der Schreck in den Knochen, wütend lag ich auf meinem Bett, presste die Handballen auf die Augen so stark, dass es wehtat. Rote Flecken schimmerten im Dunkeln ab und zu auf.
Wieder und wieder sah ich sie vor mir, und dann…
Oh Gott! Ich bin ein Monster! Ein Monster!
Ich bin nicht besser als er, ich bin sogar noch schlimmer, ich tue das im vollen Bewusstsein! Alle Fasern meines Körpers, jede einzelne wollte es, wollte sie!
Wollte sie spüren, wollte sie sehen, hören, leise ihren Namen sagen, sie schmecken und wollte sich mit ihr vereinen…
Ekel, in reinster Form, eine Welle nach der anderen, überrollte mich, ließ mich würgen.
Ich bin die Pest in ihrem und in meinem Leben, das schlimmste was ihr passieren konnte!
Ich atmete ein paar Mal tief aus, um mich wieder zu beruhigen, doch das unaufhörliche Ticken meines Weckers, stach in meinen Ohren wie eine Nadel. Es macht mich wahnsinnig.
TICK; TACK; TICK; TACK; TICK; TACK!
Unaufhörlich…
TICK; TACK; TICK; TACK!
Voller Wut schlug ich auf den Wecker und traf dabei natürlich auch alles andere was sich da gerade auf dem Nachttisch befand.
Laut scheppernd krachte alles zu Boden und blieb lautlos liegen!
Was für ein dramatisches Ende.
Träge blickte ich zur Erde und überflog die höchste Form von Ordnung... Kreuz und Quer breitete es sich vor mir aus. Das meiste war kaputt, gestorben, nur leider der Wecker nicht, seine Batterie war nur raus gefallen und lag ein Stück von ihm entfernt.
Verdrießlich stand ich auf und hob den Wecker auf, um ihn in einem finalen Schlag auf die Kommode für immer zum Schweigen zu bringen, doch da fiel mir etwas anderes ins Auge.
Etwas, was ich solange nicht mehr gesehen hatte, das ich gar nicht mehr wusste, dass es noch existierte.
Vorsichtig hob ich es auf. Ein eingerahmtes Bild, jedoch war da Deckglas zersprungen, schuld war die unsanfte Landung.
Die Aussage des Bildes erschütterte mich tief.
Geborgenheit, Zufriedenheit und Liebe- die drei größten Lügen meiner Kindheit!
Alles schien perfekt!
Ein Familienfoto aus alten Tagen.
Meine Mutter schwebt vor Glück und Liebe in den starken Armen meines Vaters.
Strahlend vor Lachen standen mein Engel und ich vor ihnen, Hand in Hand.
Die eine Hand meines Vaters ruhte stolz, aber auch beschützend auf meiner Schulter.
Ja, so sieht eine durch und durch glückliche Familie aus.
Durch das zerbrochene Glas, wurde die Realität doch schon etwas eher getroffen.
Tiefe Risse in den Gesichtern spiegelten die tiefen Narben auf der Seele jedes einzelnen wieder.
Alle waren durch große Risse voneinander getrennt, jeder litt still für sich alleine.
Sachte öffnete ich den Verschluss und holte die Lüge aus dem ehrlichen Rahmen.
Mit einem verwunderten Lächeln stellte ich fest, dass mein Engel meiner, unser, Mutter bis aufs Haar glich.
Sie war eine schöne und starke Frau, bis zum Schluss. Selbst auf dem Sterbebett hatte sie noch eine gute Figur gemacht, obwohl sie da nicht mehr so lebhaft war…
Nun wurde ihrer Tochter diese Schönheit zum Verhängnis.
Einem Fluch gleich, der ein schreckliches Ende nehmen muss.
Behutsam verstaute ich das Bild unter meinem Kopfkissen.
Mit den Nerven am Ende legte ich mich hin. Deine plötzliche Trägheit überrollte mich unvorbereitet und so viel ich in einen unruhigen Schlaf!
Wie aus weiter Ferne vernahm ich das allzu vertraute Rauschen des Windes, wenn er durch die Bäume sauste. Auch das leise klirren von Ketten war zu hören.
Es waren bekannte Geräusche, doch wo her ich sie kannte wusste ich nicht mehr.
Müde schlug ich die Augen auf und blinzelte ungläubig, als mir strahlender Sonnenschein entgegen platzte.
Ich stand auf einem Spielplatz, besser gesagt, es war der Spielplatz drei Straßen weiter von uns zu Hause.
Als meine Familie hergezogen war verbrachten mein Engel und ich jede freie Minute dort, also hier.
Das Haus, in das wir gezogen waren, ließ uns einen Schauder über den Rücken laufen, so alt und modrig, wie es damals schon gewesen war.
Ich erblickte die Quelle des so bekannten Geräusches, die Schaukel. Im Wind schaukelte sie leer hin und her, schlug ganz leicht, immer wieder, gegen die Stangen die sie hielten.
Es musste wohl fortgeschrittener Nachmittag sein, die Sonne hatte den Zenit längst verlassen und schimmerte satt golden, die unzähligen Sandkörner in der Budelbude schimmerten wie kleine Kristalle.
Am Boden, weit verteilt, lagen ein paar kleinere Äste der riesigen Kastanie, die diesen Platz schon seit ewigen Zeiten bewachte.
Das blaue Klettergerüst weiter abseits fing gerade erst an mit rosten, und die Elefantenrutsche gleich neben dem Sandkasten blickte mich melancholisch aus traurigen Augen an.
Erst jetzt fiel mir auf, dass ich nicht alleine war.
Auf dem gepflasterten Platz vor der Rutsche spielten zwei Kinder, sie malten mit Kreide auf den asphaltierten Boden.
Ich näherte mich ihnen, sie kamen mir ebenfalls bekannt vor. Als ich vor ihnen stand wusste ich auch wieso, die Kinder waren niemand geringerer als mein Engel und ich, nur viel junger, ich würde sie so auf sieben Jahre schätzen, vielleicht auch etwas älter.
Mit einem Lächeln und auch etwas perplex erinnerte ich mich das wir früher unzertrennlich gewesen sind.
Erstaunlicher Weise schienen sie mich nicht zu bemerken.
Es schien so, als gäbe es nichts, was die beiden von ihrer Arbeit ablenken könnte, für meinen Mini- Engel und für mein kleines Ich gab es nur die Kreide und den jeweils anderen. Wehmütig betrachtete ich das unschuldige Treiben eine Weile.
Wie süß wir waren, nichts ahnend von all dem Schmerz und den Sunden, die noch auf uns warteten.
Plötzlich halten Rufe über den Platz.
Ein paar andere Kinder liefen auf uns zu.
„Iiieeh… Guck mal wer da ist! Pinky und Brain!“, die Kinder zeigten mit den Finger auf sie und schüttelten sich vor falschen Ekel. „Was heißt denn hier Iiieeh?“, fragte mein kleines Ich, unerwartet hoch, entrüstet. Die Kinder lachten schrill und erhaben: „Bei Laborratten schreit man nun mal Iiieeh, Pinky!“, kreischte ein Mädchen mit schon ziemlich markanten Kinn, für das Alter. Sofort schrien die Kinder wieder: „Iiieeh!“
„Wir sind aber keine Laborratten!“, meinte mein Mini- Engel und zog ihr Junges Gesicht in Falten. „Oh doch, das seit ihr!“, überschlugen sich die kleinen Monster vor Hohn, „Du bist vielleicht schlau, aber voll hässlich mit deinem Riesenschädel. Und dein Bruder ist doof wie Stroh und genauso hässlich wie du!“
Meine Faust ballte sich, ich hatte vergessen wie grausam Kinder sein konnten. Auch die Faust meiner Miniausgabe war geballt.
Drohend stand er auf, und stellte sich schützend vor seine Schwester. „Lasst uns in Ruhe, sonst…“, brummte er nicht gerade überzeugend vor sich hin.
Die Kinder kicherten abwertend über seine, meine, Wut, für sie war er nur ein Zeitvertreib, ein Spiel, was sie nur gewinnen konnten. „Als ob wir vor die Angst hätten, Pinky! Oder noch besser würde passen Stinky!“, trat ein Kind mutig auf ihn zu und zog das spöttische Gelächter der anderen hinter sich her.
Mein Mini- Engel er hob sich nun ebenfalls und stellte sich neben mich: „Lasst uns endlich in Frieden, wir haben euch gar nichts getan!“
„Buhu, geht doch und weint, ihr Babys, ihr Ratten! Vor so viel Feigheit kann man sich ja nur Ekeln, ihr Ekelbatzen!“, schimpfte der Vorderste und funkelte sadistisch mit den Augen. „Nimm das sofort zurück, du, du… Holzkopf! Holzkopf voller Würmer und Schimmel!“
Ohne ersichtlichen Grund verschwamm das Szenario vor mir und verlief ins Dunkle.
Meine Schwester und ich waren sehr unbeliebt bei den Nachbarskindern. Wir kapselten uns aber auch ziemlich ab von dem Rest der Welt, für uns zählte nur der jeweils andere.
Um mich herum nahm es wieder Gestalt an.
Diesmal stand ich in unserer Küche, nur war sie nicht halb so verdreckt und runter gekommen wie jetzt. Die untergehende Sonne schien genau durchs Fenster hinein und tauchte alles in ein warmes, rotes Licht.
Ein Oldie strömte aus dem braunen Radio über der Spüle, es war längst kaputt, mein Vater hatte es im Suff nach mir geworfen, mit Erfolg!
Und in diesem völligen Bild der Harmonie saß meine Mutter und klammerte sich an eine Tasse Tee, verträumt starrte sie die beige Paneele an, ich liebte meine Mutter, sie war ein wundervoller Mensch. Vom Flur her vernahm man kurze, tapsige Schritte. Der Mini- Engel und mein kleines Ich humpelnd im Schlepptau kamen herein, wir mussten wohl gerade vom Spielplatz kommen.
Meine Unterlippe war geschwollen, das rechte Auge pulsierte blaugrün und an Armen, wie Beine leuchteten recht viele Schürfwunden.
Mini- Engel begann in Schubladen zu wühlen und fand eine schon fast auf gebrauchte Rolle Pflaster.
Ziemlich umständlich und mit der Zunge im linken Mundwinkel schnitt sie Streifen, mit Zickzackrand, ab.
Ich verstand nicht wieso Mutter ihr nicht half, es schien fast so als hätte sie gar nicht bemerkt, dass wir da waren, da bei sah ich wirklich schlimm aus.
„Au!“, meinte mein kleines Ich nüchtern als der kleine Engel hochkonzentriert Pflaster auf die blutenden Stellen klebte.
„Warum Ärgern uns die anderen Kinder immer?“, fragte der Mini- Engel laut in den Raum und blickte zu Mutter.
Die schreckte auf und blinzelte kurz als ob sie aus einem Traum erwachte.
„Was?“, fragte sie und lächelte künstlich, was mir zum ersten Mal auffiel, „Oh, meine Lieblinge sind wieder da! Ihr habt bestimmt Hunger, ich schieb euch schnell eine Pizza in den Ofen, ja!“ Sie lächelte noch immer unentwegt, ohne einen bestimmten Blick auf ihre Kinder zu werfen stand sie auf und holte eine Tiefkühlpizza aus dem, mit Fertiggerichten völlig überfüllten, Gefrierschrank.
„Mami, immer ärgern uns die anderen Kinder vom Spielplatz!", klagte das Engelchen weiter und warf mir in Miniatur einen besorgten Blick zu.
„Ach, die wollen nur spielen! Stadtkinder haben halt andere Spiele als ihr!", meinte sie unbeirrt und lächelte weiter.
Zum ersten Mal merkte ich das da nichts Fürsorgliches war, auch kein Trost, es war pures Desinteresse. Warum sah sie nicht, dass wir wirklich Hilfe brauchen?
Warum war sie nicht die gute Mutter, die ich in Erinnerung hatte.
Wut stieg in mir auf, und ich war mir sicher mein kleineres Ich müsste genauso reagieren, doch es fragte nur: „Meinst du wirklich?"
Mutter schob die Pizza in die Backröhre und stellte den Timer. „Aber ja, ich bin eure Mutter und weiß was für euch das Beste ist!", sie lächelte wieder beide an, doch sah sie sie gar nicht, noch immer nicht.
Ich fragte mich, wann sie sie das letzte Mal wirklich angesehen hatte?
Meine Mutter war ein miese Heuchlerin, ich schluckte, das war mir zu vor nie aufgefallen.
Was war bloß los?
Die Haustür klappte, Schritte im Flur und plötzlich rief jemand: „Hey, hey! Euer Onkel Tom ist da!" „Onkel Tom!", quietschten die beiden Kleinen los als ein Mann Mitte dreißig, gut gebaut mit Oberlippenbart in der Tür stand,
Der Zwillingsbruder unseres Vaters, Zweieiig aber!
„Na, alles klar ihr beiden!", er zwinkerte ihnen zu und lachte, er lachte doch ebenfalls so als würde er sie gar nicht sehen, sah uns hier überhaupt jemand?
Ja, Vater! Er hat mir immer Strafpredigten gehalten, wenn ich ganz zerkratzt nach Hause kam, und dann ganz fest in den Arm genommen und gemeint, das intelligente Menschen sich nicht schlagen!
Damals hat es mich übelst angekotzt, doch im Nachhinein was hätte er anderes tun sollen?
Wenigstens hat er versucht mir zu helfen, und nicht einfach nur gelächelt!
Mutter warf einen Seitenblick auf Onkel Tom, ihn sah sie!
Auch er schien sie zu sehen, oder wohl eher zu spüren! Entsetzt sah ich wie er seine Hand auf ihrem Arsch packte und fest Zugriff. Mutters Blick bekam etwas seliges, ich hätte kotzen können.
Onkel Tom leckte sich geil über die Lippen...
Was ging den da ab?
Das ist doch krank, verdammt!
Onkel Tom war immer unglaublich nett, besonders nett war er aber, wenn Vater nicht da war.
Er starb auch vor Jahren, beim gleichen Autounfall wie Mutter…
Gott wie naiv konnte man sein!
Warum war mir das zuvor nie aufgefallen?
Warum habe ich nie gesehen, was für eine blöde Fotze meine Mutter war.
Auch diese Erinnerung zerlief ins Dunkle, und ich ahnte nichts gute als sich die nächste Umgebung bildete.
Meine Ahnung wurde leider bestätigt.
Ich stand in meinem eigenen Zimmer, nur war es nicht so runtergekommen, jedoch genauso unaufgeräumt.
Die Tür war einen Spaltbreit offen und trübes Licht fiel auf die schmalen Umrisse meiner schlafenden Kindergestalt.
Ein merkwürdiges Geräusch lag in der Luft, etwas, von dem ich den Ursprung nicht kennen wollte.
Plötzlich mischte sich das Klicken einer Tür mit ein, gefolgt von vorsichtigen Schritten. Die Tür zu meinem Zimmer ging auf und, wie vom Himmel gefallen, stand dort mein kleiner Engel im weißen Nachthemd, unschuldig und hilflos, noch hilfloser als jetzt.
„Keil…?“, ihre leise Stimme wehte durch den Raum und legte sich auf die schlafende Gestalt, küsste sie wach.
Schlaftrunken richtete er sich auf: „Was?“
Sie ging mit nackten Füßen auf ihn zu, „Ich kann nicht schlafen, Mami und Onkel Tom sind so laut!“
Ich verstand nicht was sie meinte, mein jüngeres Ich wohl auch nicht, denn er zog die Stirn kraus, und stieg aus dem Bett.
„Los, wir gehen!“, meinte ich/er müde und nahm ihre Hand.
Zusammen verließen sie das Zimmer, unbehaglich folgte ich ihnen.
Im Flur war das merkwürdig vertraute Geräusch noch lauter, es kam eindeutig aus dem Schlafzimmer unserer Eltern.
Die beiden Kinder gingen mutig drauf zu, die Tür stand halboffen. Umso näher wir kamen, umso lauter und eindeutiger wurde es.
Ich wusste nun was solche Geräusche machte oder eher, wann man solche Geräusche machte.
„Nein!“, ich rief, obwohl ich doch wusste, dass mich niemand hören konnte, „Lass sie zu!“
Doch es war zu spät, sie hatten die Tür aufgestoßen.
Als erstes sah man nur ein Klamottenwirrwarr am Boden, und dann den nackten Rücken meiner Mutter, ihr langes Haar bewegte sich schwungvoll bei jedem auf und ab.
Den Kopf meines Onkels konnte man zwar nicht sehen, aber seine Beine, sowie seine Hände, die an Mutters Körper eindeutige Griffe vollzogen.
Angewidert begann ich zu zittern, diese miese Schlampe betrügt Vater!
Der sich den Arsch für sie aufgerissen hatte, und ihr jeden beschissenen Wunsch von den Augen abgelesen hat.
Zorn und Hass kochte in mir auf, alle Erinnerungen an Mutter alle Bilder die ich von ihr hatte, alles war eine große Lüge!
Wieder umfing mich Dunkelheit, es passte diesmal sehr gut zu meiner Stimmung!
Sie war das Miststück, jetzt ergab der Rest auch einen Sinn.
Es war kein Zufall das mein Onkel beim selben Autounfall gestorben war, sie wollten nicht nur Einkaufen fahren.
Die beiden wollten durchbrennen!
Ein neues Leben starten ohne Ehemann und ohne Gören!
Sie, Mutter, hatte uns eiskalt im Stichgelassen, mich und meine Schwester, aus purer Notgeilheit!
Jedoch schlug die Gerechtigkeit, in Form eines Drei- BMW frontal ins Auto.
Mein Onkel verstarb noch am Unfallort, Mutter einen Monat später im Krankenhaus.
Jeden Tag sind wir sie mit Vater besuchen gegangen. Er liebte sie noch immer, und weinte herzzerreißend auf der Beerdigung, für ihn ging eine Welt unter.
Sie war die große Liebe seines Lebens, nichts konnte ihn über seine Trauer helfen, rein gar nichts.
Der Alkohol muss sie wohl erträglicher gestaltet haben, den er begann wie ein Loch zu saufen, deswegen verlor er auch den Job, damit aber auch das letzte Bisschen gesellschaftliche Anerkennung die er gehabt hatte.
Danach gab es nicht einen Tag, an dem er nicht betrunken war, Sturz betrunken.
Nüchtern war ein guter Vater und liebender Ehemann gewesen, leider war er seit knappen zehn Jahren nicht mehr nüchtern.
Seit zehn Jahren, und das verdanken wir alles dieser miesen Schlampe, sie hat uns vor den Abgrund gestellt, und jetzt fanden wir den Weg zurück nicht mehr.
Rücksichtslos und egoistisch, mehr gab es über sie nicht mehr zu sagen.
Warum musste sie so sein?
Und warum musste ich nach ihr kommen?
Von neuem bildete sich eine Wirklichkeit, ich befand mich noch immer im Flur, nur hatte man hier seit guten fünf Jahren nicht mehr den Teppich gesaugt, die Luft stand stinkend und faul, auch brannte kein Licht.
Durch die offene Tür des Wohnzimmers drang Musik, es klang nach Britney Spears, meine Engel war ein riesiger Fan von ihr, zum 13. Geburtstag hatte ich ihr das neueste Album geklaut, das war der erste Diebstahl, wo man mich nicht erwischt hatte.
Der Gedanke an sie hatte mich beflügelt, ich brachte seit dem dabei Höchstleistungen.
Als ich eintrat plärrte der Fernseher vor sich hin. Ich sah meinen Engel die Knie angezogen auf dem Sofa sitzend.
Vater stierte mit einer leeren Flasche in der Hand auf die Glotze, schien jedoch gar nicht zu bemerken, dass er wirklich an war.
Mein Engel war eindeutig älter als sieben, jedoch noch nicht so alt wie heute, vielleicht 14, höchstens.
Damals waren wir noch beste Freunde, heute bin ich ihr schlimmster Feind.
Seufzend machte meine Schwester den Fernseher mit der Fernbedienung aus, das weiße T- Shirt, was sie trug schmiegte sich eng an ihren dünnen Körper.
Angeekelt quittierte ich das geile Leuchten in Vaters Augen als er sie an sah, ich schauderte, denn ich wusste ganz genau, was er dachte.
Vater ließ die Flasche fallen und rappelte sich aus dem Sessel, mein Engel, die sie sich ebenfalls erhoben hatte, runzelte die Stirn, als er vor ihr stehen blieb.
„Was ist?“, fragte sie misstrauisch.
„Du siehst aus wie sie!“, raunte er und versuchte ihr in die Augen zu sehen. „Wie wer?“, ängstliche Vorahnung zitterte in ihrer Stimme.
„Wie sie… wie sie…so schön… Ja, das war sie!“, Speichelfäden schwangen von einer Lippe zur anderen
„Wenn meinst du?“, sie versuchte ein Stück von ihm wegzugehen, doch das Sofa stand im weg. Er packte ihren Kopf schneller als ich es ihm zu getraut hätte.
Ich hörte sie verstört einatmen und dann presste er seine Lippen auf ihre, steckte ihr seine pelzige Zunge in den Hals.
Panisch versuchte sie ihn weg zu drücken, ihre Angst war greifbar.
Ruckartig ließ er sie los, sie viel zurück aufs Sofa. Er kniete sich über sie packte ihre Kleider und riss diese von ihrem Leib.
Kläglich bittete sie ihn auf zu hören: „Lass das, bitte… Nicht… Nein…Vater… Hör auf! Bitte!“ doch alles flehen brachte nichts, gefühlskalt begann er sie zu vögeln
„Halt die Klappe!“, schrie er ihr ins Gesicht und schlug mit der Faust hinterher.
Sie wimmerte vor unterdrückte Angst, Wut und Pein.
Doch was mir am meisten zu schaffen machte war ihr Blick, ihre Augen, ihre wunderschönen Augen.
Ihre Augen voller Ekel und Scham, ja Scham!
Es beschämte sie, er beschämte sie.
Ich stolperte zurück, spürte die Wand in meinem Rücken, war glücklich über diesen Halt, den es schüttelte mich haltlos, ich bin wirklich erbärmlich.
Schritte halten auf der Treppe wieder, verwirrt sah ich hin, und sah mein eigenes blasses Gesicht, damals noch von blondem Haar umrahmt.
Meine Stirn lag in Falten, er schien nach meinem Engel schauen zu wollen.
Langsam, irritiert von den Keuchenden und Wimmernden Lauten dieser abartigen Szenerie, blickte er ins Wohnzimmer.
Von Ekel und Schmerz übermahnt verzog sie das Gesicht, die entblößte Brust, welche er mit seinen fettigen Fingern betatschte, hob und senkte sich unkontrolliert.
Mein anders ich hielt sich am Türrahmen fest und blickte total erstarrt auf dieses Gebilde von kranker Vaterliebe.
Dieser inzestuöse Akt ließ sein Herz für kurze Zeit still stehen, man konnte sehen wie er kurz starb, und eine leere Hülle voller Schmerz zurück ließ.
Er würgte.
Unbeholfen ging er in die Knie, krallte sich in die Wand, schüttelte sich vor weinen, würgte erneut, vergrub das Gesicht in den Händen.
Ich erblickte mich selbst, sah mein eigenes elend, sah ihn, sah mich, verwirrt von den Gefühlen die auf ihn einstürzten, erinnerte mich an sie, wusste gegen welches Monster er kämpfte, gegen welches Monster ich immer noch kämpfte, doch zum ersten Mal sah ich auch noch etwas anderes.
Der Kampf den er führte war nicht der, der geführt werden musste, er war an sich völlig nebensächlich.
Ich blickte zu ihr, die Augen des Engels rot vom Weinen, man musste ihr helfen, ich musste ihr helfen!
Erschrocken über diese Erkenntnis, die mir zum ersten Mal klar wurde, schämte ich mich. Natürlich musste man, ich, ihr helfen, warum war mir das nie früher klar geworden?
Warum?
Es half nicht, das ich mich in selbst Mitleid suhlte, ich war nicht das Opfer, ich war nicht der Märtyrer! Ich war schlicht weg nicht besser als er!
Und wenn ich sie wirklich liebte, dann würde ich sie auch beschützen, vor meinem Monster und vor allen Dingen vor ihm, dem Monster, welches meinen Vater besetzte.
Der Dämon in ihm.
„Du musst ihr helfen!“, mich überraschte wie ruhig meine Stimme klang, entschlossen, doch mein anders Ich reagierte nicht.
„Du musst ihr Helfen! Hilf ihr!“, sagte ich noch lauter, ging auf ihn zu.
Stand nun vor mir, blickte auf mich, erbärmlich und feige, herab.
„Hilf ihr!“, schrie ich mich an, „Du kannst ihr helfen, also tu es!“
Er, ich rührte mich nicht, Tränenverschmiert starrte ich gerade aus.
„Verdammt, tu etwas!“, ich wollte mich an den Schultern packen, mich wach rütteln, ich griff jedoch ins leere, konnte die Gestalt am Boden nicht berühren, „Was…“
Alles verlor sich in Dunkelheit, zerschmolz vor meinen Augen, ich hörte nur noch ihr weinen, verwirrt blickte ich auf, das letzte was ich sah war mein eigenes tränennasses Gesicht!
Zum ersten Mal in meinem Leben bemitleidete ich mich nicht selbst, sondern hasste mich, nicht dafür, dass ich meine eigene Schwester liebte, sondern, das ich ihr nicht geholfen hatte, als sie mich am meisten gebraucht hatte!
Ich verging im Dunkeln…
Noch immer war um mich herum alles Dunkel.
Ich hatte Angst nie wieder aus der Dunkelheit hinaus zu finden, dabei war es doch so wichtig, aber warum?
Es gab da etwas ganz wichtiges, aber was war es nur?
Ein klopfen ertönte, als ob jemand die Dunkelheit mit einem Hammer zerhaute!
Stück für Stück…
Sie bröckelte, doch warum störte mich das nun schon wieder?
Ich wollte doch aus der Dunkelheit, ins Licht, dorthin, wo es diesen beißenden Schmerz nicht mehr gibt!
Aber irgendwie war ich mir sicher in verdient zu haben!
Es verdient zu haben, das ich leide, doch warum?
Das Klopfen wurde immer lauter, penetrant hämmerte es nicht nur gegen die Dunkelheit, es hämmerte auch gegen meinen Kopf, in meinem Kopf.
Jemand sagte meinen Namen. Immer und immer wieder sagte jemand meinen Namen, rief nach mir.
Wer wollte nur so dringend etwas von mir?
Wer schrie in der Finsternis meinen Namen?
Nerv tötend wurde das Klopfen immer lauter, zerbrach meine Dunkelheit gänzlich.
Genervt öffnete ich die Augen. Blinzelnd sah ich meiner, vom Schimmel eroberten, Decke entgegen.
Mühselig richtete ich meinen Blick zur Tür, obwohl ich völlig entnervt und müde war, musste ich schwach Lächeln.
Die Tür zitterte unter den heftigen Schlägen die die allzu vertraute Stimme, auf der anderen Seite, ihr entgegen schmetterte.
„Keil… Keil, hörst du mich?“, jedes Wort wurde mit einem Schlag untermauert, „Mach diese bepisste Tür auf! Ich weiß, dass du mich hörst! Ich weiß auch, dass du da bist!“
Ich seufzte, unter ununterbrochenem Fluchen und Schimpfen des Türverprügelers schleppte ich mich zur Tür. „Keil, du Klotzkopf, mach sofort die Tür auf, sonst…“
Obwohl ich es schon im Voraus bereute schloss ich auf, und zog an der Klinke.
Und dann stand sie da, meine feste Freundin, die Killerelfe!
Geballte Kraft in 1, 50 Meter.
Die Frisur bestand aus Kinnlangem, schwarzem Haar, welches hinten modisch Toupiert war, ein knallig roter Haarreif rundete sie ab.
Ihre rehbraunen, großen Augen, gekonnt schwarz umrandet, funkelten mich wütend an. Die kleinen, perfekt Manikürten Hände zu Fäusten geballt und in die schmalen Hüften gestemmt. Die gut gezupften Brauen zornig zusammen gezogen, ihre Stupsnase runzelte sich leicht, der volle, geschwungene Mund verzogen vor Wut!
„Sie haben geläutete?“, meinte ich trocken.
„Hör auf hier auf cool zu tun, du Arschloch, ich bin Stocksauer auf dich!“, ohne um Erlaubnis zu bitten ging sie ins Zimmer und fluchte vor sich hin.
Ihre Figur und Gestallt zart und elfengleich, einfach wunderschön, jedoch war sie ziemlich aufbrausend, hatte keine Probleme damit zu zuschlagen, und fluchen konnte sie wie ein Bauarbeiter.
„Ja, komm ruhig rein!“, ich verdrehte ergeben die Augen und schloss die Tür. Sie hatte mir den Rücken zugedreht, die Arme vor der Brust verschränkt und blickte aus den dreckigen Fenstern, vor denen gerade die Sonne unter ging. „Wer hat dich rein gelassen?“, neugierig betrachtete ich ihren schönen Rücken. „Deine Schwester!“, kühl sah sie weiterhin aus dem Fenster, doch ihre Stimme hatte etwas mitleidiges, „Sie sieht schlecht aus, als wäre sie krank!“
Ich ignorierte diese Aussage, denn natürlich war sie nicht gesund, das konnte man in diesem Haus auch nicht sein.
„Was willst du?“, fragte ich nun gähnend und ließ mich wieder aufs Bett fallen, als Antwort bekam ich einen Todwünschenden Blick zugeworfen. „Du weißt, dass ich es nicht mag, wenn du bei mir zu Hause bist, es ist hier nicht sonderlich… behaglich!“, ich rang mit dieser Aufwertung, abstoßend hätte wohl besser gepasst, „Also wenn du nur gekommen bist, um wütend zu sein, dann verschwinde und sei es Morgen in der Schule! Okay?“, ich zeigte demonstrativ zur Tür, die sie fast zerschlagen hatte. Mein Blick ihr gegenüber war nicht Wütend oder Hasserfühlt, er war gleichgültig, tiefere Gefühle gab es für sie nicht.
„Ich musste hier herkommen, du hast mir ja keine andere Wahl gelassen!“, schimpfte sie jetzt wieder. „Ach, tatsächlich?“, fragte ich gespielt überrascht. „Ja, du gefühlloser Trottel! Verdammt!“, giftete sie weiter, „Was, zum Kuckuck noch mal, fehlt dir eigentlich ein?“ „Zum Kuckuck?“, ich legte den Kopf fragend schräg, ein spöttisches Lächeln umspielte meinen Mund. „Halts Maul!“, blaffte sie, ballte von neuem die Fäuste und stampfte mit dem Fuß auf. Ihre Kampfhaltung, gleich gab `s aufs Maul!
„Du weichst den Fragen deiner Freunde aus, lässt sie wie Idioten im Regen stehen und haust nach der Schule einfach ab, obwohl wir alle verabredet waren! Sag mal, geht’s noch? Du kannst dir auch nicht alles erlauben! Du Vollhorst, du gehirnamputierter Affe!“, ihre Augen warfen Blitze, ich begegnete ihnen mit ungerührter kühle, was sie nur noch wütender machte.
„Was ist eigentlich los mit dir? Du Penner! Verdammt, musst du allen Menschen in der Umgebung ans Bein pissen! Kannst du dich nicht so wie jeder andere auch verhalten? Echt eh, das kotzt mich voll an!“, sie wütete immer weiter.
Ich seufzte: „Ich bin nicht jeder!“
„Oh, ja! Du bist ja so besonders!“, ungestüm warf sie die Arme nach oben. „Ich hatte gedacht, für dich wäre ich etwas besonders!“, entwaffnend sah ich sie an.
Kurz blinzelt sie irritiert, ich wusste genau, wie ich sie rum bekam!
„Trotzdem benimmst du dich wie ein Idiot!“, ihre Wut war eindeutig abgeflacht. „Ich wollte halt meine Ruhe!“, warf ich ein. „Von mir etwa?“, sofort war sie wieder obenauf.
„Nein, verdammt!“, ich konnte kaum ein Augenverdrehen unterdrücken, „Von diesen Wichsern und Flachzangen, die du unsere Freunde schimpfst! Ich weiß noch nicht mal warum wir, du, mit denen rum hängst? Das ist doch wirklich nicht dein Niveau, du bist eindeutig besser!“, das stimmte.
Ich konnte diese Pfeifen aus der Schule alle nicht ab, keinen von denen würde ich vermissen. Auch fand ich sie besser, sie war einer der wenigen ehrlichen Menschen die ich kannte, außerdem war sie wirklich heiß! Ich meine, sehr anziehend.
Na ja, deswegen war sie ja auch meine Freundin, jedoch nicht meine Liebe.
„Das ist nicht fair!“, meinte sie kaum überzeugen, aber immer noch recht kühl, „Soziale Kontakte sind sehr wichtig!“ Ihre Lippen zuckten leicht, sie verkniff sich das Lachen.
„Was haben sie denn so schlimmes getan, dass du ihnen so vor den Kopf stößt?“, in ihren Augen flammte die Neugierde auf, „Sie haben dich nur nach deiner Schwester gefragt!“
Sofort gefror mein Körper, was ihr nicht entging.
„Du weißt ganz genau, dass ich über diese Thema nicht rede!“, wehrte ich sehr scharf ab. „Aber warum nicht?“, hackte sie nach.
Nun war es an mir wütend zu werden.
„Es geht halt niemanden etwas an, auch dich nicht!“, wütend wischte ich mir mit den Händen über die Augen, ich war noch immer müde, erholsam hatte ich nicht gerade geschlafen.
Sie zog die Brauen zusammen: „Ich versteh dich einfach nicht, und glaube ja nicht, du könntest mich einschüchtern! Ich bin noch lange nicht fertig mit dir!“, sie stemmte wieder die Fäuste in die Hüfte und beugte sich zischend vor, „Wie konntest du vergessen, das wir uns heute treffen wollten?“
„Tja, keine Ahnung, wie ich nur vergessen konnte, dass ich mich mit einer Gruppe von Holzköpfen treffen wollte, keine Ahnung!“, blaffte ich zurück. „Es gibt einen sehr guten Grund, warum du das nicht tun solltest! Weißt du eigentlich was heute für ein Tag ist?“, jetzt schrie sie fast und ihre großen Augen fühlten sich mit Zornestränen. „Ich glaub heute ist Montag, oder?“, zuckte ich gleichgültig mit den Schultern.
„Oh, ich hasse dich! Du Flachwichser, du gefühlskaltes Arschloch!“, sie stürmte auf mich zu und versuchte mich mit ihren kleinen, aber harten Fausten zu treffen. Sofort hob ich schützend die Arme. Sie trommelte auf mich ein und beschimpfte mich gezielt Potenz zweifelnd.
„Jetzt hör doch mal… auf, Verdammt! Es reicht!“, wütend und grob packte ich sie bei den Handgelenken und schleuderte sie aufs Bett. Damit sie nichts mehr tun konnte, setzte ich mich auf sie und drückte ihre Arme aufs Bett. „Lass mich los…“, wand sie sich mühselig, die Zornestränen rannen über ihr Gesicht. „Dann hör auf Mohamed Ali nach zu machen! Verstanden! Ich hatte eigentlich keine Lust unser Halbjähriges im Krankenhaus zu verbringen, weil du mich zusammen geschlagen hast! Die Ausrede ich wäre ne Treppe runter gefallen ist nicht sehr glaubwürdig!“, presste ich zwischen den Zähne hervor und drückte sie noch fester aufs Bett. Schlagartig erstarb ihre Gegenwehr.
„Du weißt, dass wir Halbjähriges haben?“, verdutzt blinzelte sie zu mir hoch. „Natürlich, weiß ich es! Ich hab doch gesagt ich hatte keinen Bock das dabei die ganzen Vollidioten sind!“, das war gelogen, doch ich hatte echt keine Lust auf Krankenhaus.
„Denkst du wirklich ich hätte den Tag vergessen, wo ich die schlechteste Chemiepartnerin des Welt abbekommen habe und sie das Experiment in die Luft gejagt hat?“, lächeln schüttelte ich den Kopf, „So was vergisst man nicht! Vor allen Dingen nicht, wenn man dabei beide Augenbrauen verloren hat, und die erst seit einer Woche wieder normal aussehen!“
Jetzt wurde sie rot, verlegen biss sie sich in die Unterlippe. „Zu zutrauen wäre es dir!“, meinte sie knapp. „Du solltest mir nicht trauen!“, gab ich zurück und küsste sie.
Ungerührt von ihrem Widerstand schob ich ihr die Zunge in den Hals, sei schmeckte nach Cola- Kirsch, wie passend.
Schließlich war auch sie leicht zum überschäumen zubringen und viel zu süß um gesund zu sein, also schlicht weg verlockend.
Wie oft hatte ich sie schon geküsst, und hatte gehofft, dass ich einmal nicht an meinen Engel denken müsste, doch es ging nicht anders, besonders nicht nach dem, was heute passiert war. Ihr so sanfter Mund, und ihr Geruch, ein Schauder lief mir den Rücken lang runter.
Was war bloß passiert?
Ich löste mich von der Killerelfe. Sie atmete keuchend. Ich musste irgendwie diese Bilder loswerden, warum also nicht das nutzen, was da war?
Nochmals küsste ich sie, noch heftiger, presste meinen Körper gegen ihren. Ergeben schloss sie die Augen.
Meine Augen konnte ich nicht schließen, denn jedes Mal, wenn ich es tat sah ich sie vor mir!
Ich musste die Bilder und die Gefühle dazu vergessen, vielleicht ist es ja dann nie passiert, wenn ich es nur vergesse!
Wenn ich nie mehr, nie mehr daran denken muss!
Ihr Atem ging jetzt nur noch stoßweise, meine Lippen und Nase strichen ihren Hals lang runter zum Schlüsselbein, die Berührung nur ein Hauch, doch es reichte.
Sie hatte schon verloren.
Ich ließ ihre Arme los und vergrub mein Gesicht in ihren kurzen Haaren, inhalierte ihren Geruch, um den anderen zu vertreiben, vergebens…
Meine Hände liebkosten ihren Körper, lustvoll wand sie sich unter meinen Händen, geschickt zog ich ihr das T- Shirt aus.
Ihre Haut war genauso hell wie meine, desto deutlicher trat ihr dunkelroter BH vor. Jeden Zentimeter Haut, den ich berühren konnte küsste ich, doch immer noch nicht schloss ich die Augen, schon so war es schwer genug nicht an meinen Engel denken zu müssen.
Wie gerne würde ich das hier genießen, es war aber nur Mittel zum Zweck, ein Weg um zu vergessen, nicht ernstes…
Mit ihren Händen fuhr sie mir durchs zerzauste Haar, sie stöhnte leise, gab sich mir hin.
Na wenigstens einer hatte Spaß…
Unsere Zungen umarmten sich, tauschten alles was sie hatten hin und her, bis keiner mehr wusste wem was gehörte.
Meine rechte Hand rutschte über ihre Brüste zu ihrem Schritt, der Reißverschluss ihrer Hose schien darauf zu warten, dass ich ihn öffne.
Ich kam dieser Aufforderung Gewissenhaft nach. Gerade als meine Hand sich den Weg geebnet hatte schlug sie die Augen auf und fragte: „Liebst du mich, Keil?“
Ein elektrischer Impuls durchzog meinen Körper. Was sollte das den jetzt?
Sie sah mir tief in die Augen, zum ersten Mal in meinem Leben sah mich jemand so an, und zum ersten Mal in meinem Leben schien ich sie zusehen.
Nein, schoss mir sofort durch den Kopf, das konnte ich jedoch sehr schlecht sagen.
Das Ja, lag mir schon auf der Zunge, aber es wollte einfach nicht raus.
Was war los mit mir?
Ich hatte sie so oft angelogen, diese ganze Beziehung war eine Lüge, also warum konnte ich es jetzt nicht. Ich müsste doch nur zwei Buchstaben sagen, es ging einfach nicht.
„Keil…“, ihr erregtes, schönes Gesicht, ihre glühenden Augen, dieser makellose Körper, einfach alles an ihr schrie nach diesem Wort, warum sollte ich es ihr nicht geben?
„…“, schwer atmend richtete ich mich auf, fuhr mir durchs Haar, schloss kurz die Augen, mein Engel.
„Warum fragst du das?“, es klangvorwurfsvoll, verwirrt blickte sie zu mir auf. „Weil ich dich Liebe, und ich wissen möchte ob du mich auch liebst? Ich will das hier nur mit jemanden machen, der mich liebt!“, ihre Antwort kam so selbstverständlich, das ich vor ihr zurückwich. „Du liebst mich?“, es war so verwerflich und abartig, niemand liebt mich, ich bin ein Monster!
„Natürlich liebe ich dich!“, ihre großen Augen suchten meine, „Sonst wäre ich doch nicht mit dir Zusammen!“ Sie lächelte, schon fast gequält, als könnte es mich dazu zwingen sie ebenfalls zu lieben.
Das war zu viel für mich, sie liebte mich? Natürlich liebte sie mich? So natürlich ist das nicht, mich zu lieben!
Ich hatte nicht beabsichtigt, dass sie sich in mich verliebt, wie konnte das passieren?
Ich brauchte Abstand von ihr. Ruckartig stellte ich mich vors Bett, den Rücken zu ihr gedreht. Das Atmen fiel mir auf einmal so schwer.
„Keil, was hast du?“, ich hörte diesen so untypischen Ton in ihrer Stimme, verunsichert und ängstlich. „Das darf nicht sein!“, flüsterte ich tief erschüttert. „Was?“, ihre Gegenwart alleine war zu viel.
Was fiel ihr ein sich in mich zu verlieben?
Was fiel ihr ein!
Wie konnte sie mir so was antun?
Wie konnte sie mir nur so was auflasten, wie konnte sie mir auflasten, ihr das Herz zu brechen, den ich liebe nicht, ich darf nicht…
„Keil…“, ihre Stimme klang nass, als wären Tränen drauf gefallen.
„Was?“, brüllte ich sie an.
Sie schien starr vor Schreck. „Was willst du?“, schrie ich weiter.
„Ich will eine Antwort! Liebst du mich?“, dieser flehende Ton stach mir ins Herz, sie sollte damit aufhören, ich will das nicht.
„Antworte mir Keil, bitte!“, gezwungen drehte ich mich um, sie hatte sich aufgerichtet. Ihr Gesicht war immer noch rot vor Erregung.
„Du willst gar nicht, dass ich dich liebe!“, mein Körper bebte, und ihr liefen die Tränen aus den Augen, das Salzwasser hinterließ spüren in ihrem Gesicht.
„Natürlich will ich, dass du mich liebst!“, sie lächelte, so unwissend Weise, „Der größte Wunsch ist es doch von jedem, dass man von dem ebenfalls geliebt wird, den man selber liebt!“
Nein, nein, nein…
Ich verstehe kein Wort!
„Warum?“, flehte ich nun zurück, „Warum liebst du mich, warum wünscht du dir, dass ich dich zurück liebe? Warum Lieben wir überhaupt? Es hat doch eh alles keinen Sinn!“, ein Schluchzer erschütterte mich bis in die Knochen. Ihr Lächeln war noch immer so, so wie ich nicht angelächelt werden wollte.
Sie kam auf mich zu, ich ging einen Schritt zurück, doch ging sie unbeirrt weiter zu mir, legte ihre nackten Arme um mich, umarmte mich, liebevoll!
„Ich liebe dich, weil ich nie weiß, was du als nächstes tust! Du bist so wunderbar launisch, genau wie ich! Außerdem hast du keine Angst das ich dir was breche…“, sie kicherte, ich stand ganz stocksteif da.
„Du liebst mich, weil du nicht weißt, was ich als nächstes tue?“, ich verstand das alles nicht. „Ja, du bist ein Geheimnis, ein Rätsel! Ich möchte es lösen, außerdem fühle ich mich bei dir wohl.“, ihre nackte Haut kribbelte auf meiner.
Sie fühlte sich bei mir wohl?
Ich ekelte mich selber an, aber sie fühlte sich bei mir wohl?
Das konnte nicht wahr sein!
Wie konnte das sein, ich verstand das einfach nicht!
„Du willst nicht, dass ich dich liebe!“, wiederholte ich, „Niemand will, dass ich ihn liebe!“
Noch immer umarmte sie mich, doch ich war wie eingefroren.
„Was laberst du denn da?“, fragte sie nun wieder ängstlich, „Ich hab doch gesagt, dass ich von dir geliebt werden will, dass ich dich liebe! Hör auf dich dagegen zu wehren, du kannst es eh nicht ändern!“, ihr nasses Gesicht glühte hart und voller Liebe.
„Wie meinst du das, ich soll mich nicht dagegen wehren, ich kann es nicht ändern?“, diese Worte hauten tiefe Risse in mein Fundament, nicht ändern?
„Ich meine, dass so, wie ich es sage! Man sollte sich nicht dagegen wehren, dass bringt nur unnötiges Leid, weil man es nicht ändern kann. Man kann sich nämlich nicht aussuchen wenn man liebt. Das passiert einfach, und wenn es passiert ist, sollte man es einfach akzeptieren, egal wer dieser jemand ist!“, ihre Worte ließen alles einstürzen, woran ich jemals geglaubt habe.
Ein Scherbenhaufen, die Scherben meiner Existenz...
„Egal wer dieser jemand ist…“, ich wiederholte diese Wort und verstand kaum was sie bedeuteten, nur eins verstand ich, es war nicht alles verloren, oder?
Waren diese Worte Hoffnung, damit ich endlich frei von meiner Schuld war, eine Rechtfertigung?
Oder waren sie nur Nahrung für mein eh schon übermächtiges Monster?
Ich wusste es nicht, ich wusste überhaupt nichts mehr!
Sie verwirrt mich total, nichts hielt unter ihren zerschmetternden Worten.
„Keil?“, sie merkte sofort, dass sich meine Stimme verändert hatte, dass ich mich verändert hatte. Ihre hübschen Brauen zogen sich zusammen, ahnungsvoll ließ sie mich los.
„Ist das wahr?“, fragte ich mit offener Hoffnungslosigkeit, „Kann man nichts dafür, wenn man liebt?“, die Maske der falschen Gelassenheit, das Rätsel, wie sie es nannte, hatte ich nun vollkommen fallengelassen. Meine blanke, Nassrasierte Seele schrie aus mir raus.
Irritiert musterte sie mich, verstand nicht, was da mit mir passiert war, schien sogar erschrocken über meine ekelhafte Tiefe, doch es war mir egal, ich musste es wissen!
„Ist es egal?“, jede Faser meines Körpers lechzte nach einer Antwort, nach der Antwort. „Ja, es ist egal…“, sie schien Angst zu haben das falsche zu sagen, schien Angst vor mir zu haben. Ihre Angst wurde noch größer, als ich hemmungslos anfing zu schluchzen und dabei sogar noch hysterisch lachte.
Ich stolperte zurück, schüttelte den Kopf, das konnte nicht sein, das ging nicht.
„Keil, du machst mir Angst!“, erschrocken sah sie mich an, doch ich fiel zu Boden, und schüttelte mich.
„Das ist unmöglich!“, presste ich kopfschüttelnd und glucksend raus. „Was ist unmöglich?“, sie fragte ganz vorsichtig, als wäre sie sich nicht sicher, dass ich sie nicht gleich anfiel. Aber das war einfach egal, sie musste begreifen, dass das was sie sagte nicht ging, es war unmöglich, völlig ausgeschlossen.
„Du lügst! Man kann sehr wohl etwas dafür, und man ist auch Schuld. Die Schuld lastet schwer auf einem, und sie drückt einen nieder. Diese Schuld ist unerträglich, man kann und darf es nicht akzeptieren!“, vollkommen durchgeknallt starrte ich sie an, doch es war mir egal.
„Ich lüge nicht!“, sagte sie fest, „Ich lüge nicht, niemand kann etwas dafür, in wenn man sich verliebt. Das passiert einfach. Es ist vorherbestimmt, von dem Tag an, wo du geboren wurdest, von dem Moment an, wo du zum ersten Mal geatmet hast! Der Faden ist gesponnen, verbindet einen, ein Leben lang!“
„Du lügst nicht? Du liegst wirklich nicht?“, eine einzelne Träne ran mir das Gesicht lang runter. „Nein, ich lüge wirklich nicht! Du kannst mir glauben! Es ist die Wahrheit, die jeder Mensch kennt nur manch einer denkt nicht mehr daran, und glaubt er habe es vergessen, aber niemand vergisst es, du vergisst ja auch nicht zu atmen, obwohl du nicht ständig dran denkst, oder?“, sie kniete nun vor mir, nahm meine Hand, „Liebe ist wie atmen, und deshalb tun wir es auch! Ohne zu atmen und zu lieben können wir nicht leben! Wir würden sterben, ersticken!“
„Ich kann nichts dafür…“, die Worte klangen so surreal in meinem Kopf, dass ich sie erst nicht glauben konnte, mir stockte der Atem.
Es dauerte aber kaum eine Sekunde bis ich wieder nach Luft schnappte. Ich hatte es nicht vergessen, ich konnte es gar nicht vergessen.
„Ich kann nichts dafür, das ich sie Liebe!“, die Erkenntnis durchströmte mich mit jedem Atemzug, und mein Atem ging ganz ruhig.
So war es, und nicht anders.
„Ich kann nichts dafür, dass ich sie liebe, meinen Engel!“
„Wenn meinst du Keil?“, fragt sie mit zitternder Stimme, doch dies hatte keinen Bedeutung, ich konnte schließlich nichts dafür, „Wer ist dein Engel?“, noch immer hielt sie meine Hände umklammert, zum ersten mal sah ich ihr ehrlich in die Augen, sie weinte, ehrlich Tränen. „Ich lieb sie, und kann nichts dafür!“, versuchte ich mich zu erklären.
„Wenn Keil, wenn liebst du?“, nun zitterten ihre Hände ebenfalls.
Ich wusste nicht wieso, vielleicht waren es magnetische Wellen, doch mein Blick wanderte sofort zu meinem alten Familienfoto, welches bei unserer versuchten Kissenschlacht herunter gefallen war.
Laut und Bewusst atmete ich, ich konnte ja nichts dafür.
Zitternd ließ sie meine Hände los, sie hob das Foto auf, vor entsetzten weiteten sich ihre Augen.
Sie verstand, sie wusste es!
„Dein Engel!“, das Bild glitt aus ihren Fingern, lautlos fiel es zu Boden.
Verstört und weinend richtete sie sich auf, lief zum Bett, zog ihr Shirt über und eilte zur Tür.
„Es tut mir Leid, aber…“, ich sah ihr hinter her. „Du kannst nichts dafür! Ich weiß!“, mit gebrochenen Herzen, für das ich nichts konnte, verließ sie mein Zimmer und damit mein Leben.
War das gerade wirklich passiert?
Ich saß auf dem verdreckten Fußboden meines runtergekommenen Zimmers, stierte wie blöd auf meine Hände und atmete.
Ich atmete, das war sehr wichtig, das Atmen, sehr wichtig so gar.
Trotzdem wusste ich nicht, was da grad passiert war!
Wenn ich nicht völlig durchgedreht bin, habe ich gerade meiner festen Freundin gesagt, dass ich sie nicht liebe, sondern meine Schwester, meinen Engel.
Damit war an sich alles vorbei, aber irgendwie war es mir egal, nicht wichtig!
Das einzig wichtige war atmen, den ich konnte nichts dafür, diese Erkenntnis brannte wie ein Leuchtfeuer in mir, aber was sollte ich mit diesem Feuer anfangen.
Diese Erkenntnis, diese Wärme, war so neu für mich das sie mir Angst machte, auf eine schöne Art und Weise.
Doch wusste ich immer noch nichts mit mir anzufangen, Ich atmete tief und gleichmäßig aus und ein, beruhigend.
Aufstehen!
Die Antwort kam so spontan wie sie mir logisch erschien. Also stand ich auf, schwankte, es war so neu, ich ging ein paar Schritte, es war so neu, es war so richtig, richtig wie atmen.
Unsicher, doch ermutigt, stützte ich mich an der Wand ab, und atmete.
Und dann hörte ich ein Geräusch, was mich mehr als erschaudern ließ, etwas, was meinen Atem zu stocken brachte.
Ich hörte meinen Engel, sie weinte.
Sie weinte laut und alleine.
Konzentriert atmend presste ich meine Hand gegen die Wand, ich wusste, dass es das einzige war, was ich tun konnte...
Mein Engel…
Bewusst ein und aus atmend ging aus meinem Zimmer, einen Fuß vor den anderen setzend.
Sanft doch bestimmt öffnete ich die Tür. Sie saß an die Wand gelehnt auf dem Boden, die Knie unter dem Kinn und das Haar offen, wie ein Vorhang, um sie herum.
Sie lehnte gegen die Wand, an die ich mich immer gelehnt hatte, nur auf der anderen Seite, jetzt stand ich jedoch hier, und atmete, ganz bewusst!
Sie schluchzte, unsicher was ich als nächstes tun sollte ging ich zu ihr, setzte mich vor ihr auf den Boden, sie hatte mich noch nicht bemerkt.
Vorsichtig und atmend streckte ich die Hand nach ihr aus und fuhr ihr ganz sacht durchs Haar. Sofort zuckte sie erschrocken zusammen. Vollkommen verdutzt blickte sie mich an. Sah mir direkt ins Gesicht.
„Keil?“, sie schien nicht zu glauben, was sie sah, ich glaubte es ja selbst kaum.
Ich sah ihr direkt in die verweinten Augen, atmete, sie schien es nicht zu tun.
Kurz ließ ich meinen Blick an ihr runter wandern, nickte dann kurz und lächelte.
„Entschuldige, “, meinte sie peinlich berührt und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, „wenn ich so laut war, ich wollte dich nicht stören!“
Ich schüttelte den Kopf und nahm ihre Hände in die meinen, die Handgelenke waren ganz geschwollen.
Mein Atem ging ganz gleichmäßig, sie hielt die Luft an. „Keil?“, sie sah mich fragend an. „Du brauchst die nicht zu entschuldigen! Es gibt nichts, was du falsch gemacht hast!“, ich erschrak selbst über meine ruhige Stimme, „Wenn sich jemand entschuldigen muss, dann ich!“
Gequält schloss ich kurz die Augen und küsste ihre Handflächen, ihre Hände lagen ganz locker in meinen, „Verzeih mir! Es tut mir so Schrecklich leid!“, ich öffnete die Augen, ihre Galaxien blickten direkt in meine und waren vor erstaunen noch größer als sonst.
„Ich bin ein Monster!“, mit gleichmäßiger Atmung und festen Blick sah ich sie an, „Doch ich kann nichts dafür! Niemand kann etwas dafür, am wenigsten du!“ „Du bist kein Monster…“, warf sie schnell ein, bestimmt schüttelte ich den Kopf. „Doch, aber das ist egal!“, meinte ich achselzuckend und hielt ihre Hände ganz fest.
„Mir ist nämlich klar geworden, das du meine Hilfe brauchst!“, nichts was ich bis jetzt gesagt hatte, hatte sie so erschrocken wie das, „Du bist hier das Opfer, du leidest! Unter ihm unter mir, unter allem!“, sagte ich leise und zitterte leicht vor Wut, „Anstatt vor dir und der Situation wegzulaufen, hätte ich dir helfen müssen! Aber du musst jetzt keine Angst mehr haben, ich werde dich jetzt beschützen vor ihm, und wenn es sein muss auch vor mir!“, eine einzelne Träne fiel mir das Gesicht lang runter, „Jetzt wird alles gut!“
Sie erwiderte meinen Händedruck, schloss die Augen und atmete tief ein.
„Aber du musst mich nicht vor dir beschützen, ich will nicht vor dir beschützt werden. Man müsste höchstens dich vor mir beschützen!“, wieder liefen ihr die Tränen das Gesicht lang runter, Sterne fielen vom Himmel.
Die Bedeutung ihrer Worte erfüllte mich, ich genoss jede einzelne Silbe. Ich ließ ihre Hände los und nahm ihr Gesicht fest in die meinen. „Dich trifft keine Schuld! Du kannst nichts dafür, es ist wie atmen! Liebe ist wie atmen!“, meine Worte waren fest und eindringlich, „Keine Angst, es wird alles gut! Ich beschütze dich, ich lasse nicht mehr zu, das er dir was tut!“
Aber sie schüttelte den Kopf. „Nichts wird gut!“, schluchzte sie, „Keil, es kann nichts mehr gut werden, ich bin gezeichnet! Ich werde das nicht mehr los! Ein Schandmal!“
„Was?“, sie entzog sich meinem Griff und schaukelte vor und zurück. „Ich bin gebrannt Markt! Keil… Was soll ich nur tun? Keil… Ich bin schwanger!“, die Luft entwich meinen Lungen, „Keil, ich bin schwanger von meinem eigenen Vater! Ich trage eine Missgeburt in mir! Ich bin geschändet! Ich will es nicht! Ich will es und ihn nicht ihn mir haben! Ich will nichts von ihm, es tut so weh, Keil…“
„Du musst es nicht in dir haben!“, schoss es sofort aus mir raus. Verwirrt sah sie auf. „Du musst es nicht bekommen!“, meinte ich, ihr Blick traf meinen, „Keine Angst, dass kriegen wir schon hin!“
Ich musste mich ziemlich stark aufs atmen konzentrieren, doch es ging.
„Aber wie?“, irritiert strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wir gehen weg!“, sprudelte es nur so aus mir raus, „Wir gehen ganz weit weg, und dann… und dann sorgen wir dafür, dass ein Arzt das da aus dir rausholt, danach können wir dann leben, ganz frei…“ Meine Gedanken überschlugen sich.
„Aber…“, sie schien überfordert. „Keine Angst das klappt schon! Wenn wir hier erst mal weg sind ist das hier alles nur noch ein böser Traum, eine Erinnerung, die über die Jahre verblasst. Vertrau mir es wird alles Gut, und wegen dem Ding, musst du dir auch keine Sorgen machen, das ist bald vorbei.“, redete ich einfach weiter, sie musterte mich skeptisch, „Wir sagen einfach du wärst krank, ein Tumor oder ein Geschwür, mehr ist das nicht und wenn es raus ist, bist du wieder gesund, wir müssen hier nur weg!“, ich wischte ihr die letzte Träne aus dem Gesicht.
„Ich bin krank?“, fragte sie schüchtern. „Du bist krank!“, bestätigte ich sie. „Und wir gehen von hier weg und kommen nie wieder?“, sie biss sich unsicher auf der Unterlippe herum.
Nochmals nahm ich ihr Gesicht in meine Hände.
„Nie wieder kommen wir hier her, wir gehen in einen schöne Zukunft, gemeinsam, und du wirst wieder gesund! Niemand kann uns dann noch etwas tun! Hörst du, niemand! Das sind wir frei!"
Sie lächelte verhalten.
„Das hört sich so schön an!", meinte sie nun und atmete beruhigt ein, „Wir gehen weg, kommen nie wieder her, ich werde gesund und wir bleiben zusammen..." „Für immer!", vollendete ich den Satz und beäugte mich vor, hielt keinen Atemzug von ihr entfernt.
„Für immer! Ich hatte gehofft, dass du das sagst!", kicherte sie kurz.
Und dann tat ich das, für was ich nichts konnte.
Wir taten das, für was wir nichts konnten!
Wir küssten uns, ich küsste sie, sie küsste mich!
Wir liebten uns, ich liebte sie, sie liebte mich!
Schwer atmend lösten wir uns voneinander, sofort schlang ich meine Arme um sie, sie tat es mir gleich.
„Alles wird gut!", flüsterte sie leise. „Ja, das wird es!", stimmte ich ihr zu.
Ich genoss noch kurz ihre Nähe, dann löste ich mich sanft von ihr und stand auf, wir durften keine Zeit verlieren.
Fragend und noch immer Tränennass sah sie mich an. „Wir brauchen Geld!", sagte ich ruhig, „Ich geh uns welches beschaffen! Ich weiß wo der Alte sein Hartz 4 versteckt! Das reicht erst mal, um dich gesund zu machen! Pack ein paar Sachen ein! Ich bin gleich wieder hier, und dann gehen wir!", ich drehte mich um und strich mir durchs Haar. „Wo wollen wir hin?", fragte sie nun wieder ängstlich. „Erst mal zum Bahnhof und von dort nach Berlin, dort machen wir dich gesund! Danach setzten wir uns dann in irgendein Flugzeug!", ich strafte die Schultern, wir mussten so weit weg wie möglich.
Sie nickte. „Ich hol dann am besten auch unsere Reisepässe!", sie runzelte die Stirn und überlegte, wo die wohl sein könnten.
Ich lächelte: „Bis gleich!"
Zielstrebig und glücklich verließ ich ihr Zimmer und ging die Treppe runter.
Die Tür zum alten Büro stand offen, er saß, leider, in dem noch älteren Ohrensessel und stierte die Wand an, eine Flasche im Anschlag.
Mein Vater!
Mitleid und Wut kämpft miteinander, er war das erste Opfer von Mutter.
„Was willst du denn hier?", blaffte er mich an, „Wenn ich dich sehe wird mir schlecht, also verzieh dich!"
Die Wut gewann in mir.
„Ich hasse dich!", schrie ich ihn an. Er zuckte zurück. „Ich hasse dich, weil du ein besoffener Mistkerl bist, der seine eigene Tochter fickt aus Selbstmitleid, nur weil die Frau ihm davon gelaufen ist.", schrei ich immer weiter.
„Was fällt dir ein?", schrie er zurück und wuchtete sich hoch, „So redest du nicht mit mir, du kleine Missgeburt!"
Und er schlug zu, ohne Vorwarnung. Mein Schädel explodierte halb und weiße Sterne um wirbelten mich, noch mal schlug er zu, in den Magen, ich spuckte auf den Boden.
„Du hast doch keine Ahnung!", kreischte er immer weiter. Würgend kniete ich am Boden, so leicht gab ich mich aber nicht geschlagen.
Verzweifelt rappelte ich mich auf und schlug ihm ins Gesicht, nicht damit rechnend fiel er zurück. Blut schoss ihm aus der Nase
Erschrocken sah ich in seine Augen, doch da war nur noch blinde Wut, mit wildem Gebrüll ging er auf mich los.
Wir rangelten grob miteinander. Jeder steckte ein paar harte Schläge ein.
Ich brüllte nun selbst, rasend schleuderten wir uns gegen die Wände. Gezielt verpasste ich ihm einen Schlag unters Kinn und haute ihn auf die andere Seite des Zimmers, an die Wand, die er zuvor angestarrt hatte.
Noch immer rauschte es in meinen Ohren.
„Keil...", panisch kreischte mein Engel nach mir an der Tür, rasch drehte ich mich um. Kreidebleich sah sie mich an, die Reisepässe in der Hand. „Pass auf!", schrie sie und zeigte zur Wand
Gerade noch rechtzeitig wirbelte ich herum um den Schlag ab zu fangen. Er hatte sein altes Jagdgewehr wie einen Knüppel erhoben und wollte mir damit den Schädel einschlagen, doch ich hielt die Waffe fest. Gleichstark rissen wir an der Waffe, niemand schaffte es die Oberhand zu erlangen. Die Rangelei schien einfach nicht enden zu wollen, als plötzlich, niemand rechnete damit, ein Schuss sich löste. Die Wucht erschütterte uns beide.
Wir erstarrten, beide, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Ich hielt die Luft an, wartete auf den Schmerz, doch er blieb aus, verwirrt sah ich an mir runter, doch da war nichts, ihm ging es wohl genauso,
Aber wo war die Kugel dann eingeschlagen?
Ich wollte es nicht glauben, konnte es nicht glauben, doch das Keuchen sagte alles!
Voller Angst blickte ich zur Tür und sah meinen Engel, und Blut.
Ein klaffendes Loch im Bauch ließ sie, wenn es überhaupt möglich war, noch mehr erbleichen, die Pässe fielen ihr aus der Hand, sie krallte sich am Türrahmen fest, und presste die andere Hand aufs Loch.
Auf das Loch, wo so viel Blut raus kam, so viel Blut, überall, so viel Blut.
So viel kann doch gar nicht in ihr drin sein
„Nein...", schrie ich viel zu spät, es war ja längst geschehen.
Mein Vater starrte stumpf zu ihr rüber, schien gar nicht zu verstehen, was da vorging.
Blind vor Schmerz riss ich ihm das Gewehr aus den Händen und schlug es ihm auf den Schädel!
Mit einem knackenden Geräusch fiel er zu Boden, doch es war mir egal. Alles war mir egal, nur noch das Atmen zählte, doch mein Engel atmete nicht mehr richtig, sie röchelte und keuchte.
Ich stürzte zu ihr, hielt sie in meinen Armen, kniete in ihrem Blut.
Noch immer floss es aus ihr. Die Krankheit floss aus ihr, aber auch das Leben...
Und sie musste doch leben...
„Mein Engel!“, flüsterte ich taub vor Angst. „Keil, es tut so sehr weh...", weinte sie. Verzweifelt presste ich meine Hände auf ihre und das Loch, versuchte das Blut und ihr Leben in ihr zu behalten durch pures denken.
„Keil, ich liebe dich!", flüsterte sie keuchend. Sie hob eine ihrer blutigen Hände und strich mir über die Lippen. „Nein, du bist kein Engel! Den Gott hasst mich... Du hasst mich nicht...", flüsterte sie weiter. Ich packte ihre Hand, küsste sie. „Nein, ich hasse dich nicht! Ich liebe dich, ich liebe dich mein Engel!", ich weinte und atmete, „Ich liebe dich, und wir gehen von hier weg, und du wirst gesund! Alles wird gut! Du wirst Gesund!", ich presste sie an mich. „Ich sterbe, Keil!", sie keuchte, „Ich sterbe, und ich liebe dich, aber ich sterbe!"
„Nein, du stirbst nicht! Du darfst nicht sterben, du wirst wieder gesund! Hörst du, ich liebe dich! Du wirst wieder gesund! Bitte, mein Engel...! Ich liebe dich!", doch ihr lächeln wurde leer ihre Augen ganz stumpf, alle wärme floss gemeinsam mit dem Blut, welches von jedem Herzschlag weiter aus ihr gepumpt wurde, hinaus. Ihr Herz hatte sich gegen sie gewendet, ich hatte sie nicht beschützt.
„Ich liebe dich...", flüsterten wir es gleichzeitig zum Abschied.
„NEIN...", meine Stimme brach weg. Ich schrie ihr hinter her, doch sie hörte es nicht mehr, sie würde nie wieder etwas hören, sie würde nie wieder hören wie ich sage, ich liebe dich!
Und sie wurde es auch nie wieder zu mir sagen, dass sie mich liebte.
Doch ich wollte das nicht, das durfte nicht, das konnte nicht, ich presste ihren kalten Körper an mich.
Überall war ihr Blut, es ließ mich nicht mehr atmen.
Panik keimte in mir auf, das konnte einfach nicht, das durfte einfach nicht...
Ich liebe sie, ich liebe sie doch, das konnte nicht...Bitte, das, das ist einfach nicht möglich.
Ich konnte nicht mehr atmen, es ging nicht, überall war Blut.
Unkontrollierbar begann ich zu zittern, ich war alleine, obwohl ich sie liebte, war sie gestorben, weil ich sie liebte war sie gestorben...
Ich hatte ihr doch versprochen sie zu beschützen, ich hatte versagt.
Ich konnte es nicht verstehen, ich verstand es nicht, nein, ich wollte es nicht verstehen!
Was sollte ich jetzt tun, ich konnte nicht mehr atmen.
Und dann kam es mir ins Blickfeld, das Gewehr meines Vaters, warum nicht?
Ich erstickte eh, da konnte ich das alles auch einfach beschleunigen.
Ihren kalten Körper immer noch im Arm, griff ich zur Waffe, ich küsste meinen Engel ein letztes Mal.
Presste den einladenden Lauf unters Kinn, er war genauso kalt wie sie.
"Wenn wir schon nicht auf Erden zusammen sein können, dann wenigstens in der Hölle!"
Mit ruhigen Fingern und lächelnd aus atmend zog ich am Abzug...
Eine riesige Zeitung, jeden Tag werden 1000 Exemplare verkauft. Die wichtigsten Informationen kann man in ihr finden, wer sich von wem scheiden lässt von den Promis und warum. Wer Geld hinter schlägt, und davon in den Puff geht, oder einfach nur ganz süße Tierbabys, alles ist vorhanden! Von Mord und Todschlag bis zur neuesten Pandemie, die die Welt heimsucht! Diese Zeitung ist besser als jeder Film, den es ist das wirkliche Leben.
Und so fand man auch eine kleine Anzeige auf der letzten Seite, neben den neusten Trends der Abendkleider und dem Wetter, die lautete:
Familientragödie
In einer Vorstadt wurde in einem Einfamilienhaus drei Leichen gefunden.
Bei diesen handelt es sich um die Bewohner des Hauses, dem 43- jährigen, arbeitslosen Hausherren, und dessen zwei Kinder, beide 16 Jahre alt. Die Polizei geht von einem Familienstreit aus, an der Tochter wurden auch eindeutige Spuren des Missbrauchs gefunden.
Die feste Freundin des Sohnes, die die Leichen auch kurz nach dem Unglück fand, meinte, das der Vater, nach dem Tod seiner Frau, Alkohol abhängig geworden war, und die Kinder misshandelte und nicht ausreichend versorgte, wofür auch der Zustand der Wohnung sprach.
Es wird jetzt ermittelt, warum Schule und Jugendamt nicht eingegriffen haben, um dieses Unglück zu verhindern.
Ein weiterer Fall, von Familiengewalt, auf Grund von sozialen Missständen.
Familienbande, geknüpft aus Fleisch und Blut, ihr habt gesehen, was passiert, wenn man sie kappt...
Tag der Veröffentlichung: 29.09.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Meinen Engeln dort draußen in der Welt!