Die Erde war bisher, betrachtet man ihre gesamte Geschichte, weitgehend eisfrei. In unregelmäßigen Abständen von Millionen Jahren gab es jedoch Kälteperioden. Im Höhepunkt der letzten sogenannten Eiszeit lag der Meeresspiegel etwa hundertzwanzig Meter tiefer als jetzt. Da seit dieser Zeit die Temperatur gestiegen ist, gewinnt das Meer wieder Landflächen zurück, regelmäßig wird das Ufer zurückgedrängt.
Unsere Existenz ist sozusagen eine Momentaufnahme zwischen den Extremen sowohl der Temperatur als auch des Wasserstandes. Bedenkt man, dass die Pole über Millionen von Jahren eisfrei waren, kommt jetzt ein weiterer Anstieg der Meere um etwa fünfzig Meter hinzu, nur durch Abschmelzen des dort gebundenen Eises. Der weitere Ablauf der Geschehnisse kann nicht verhindert werden, höchstens kann man den Verlust von Land vermeiden – allerdings mit erheblichen Kosten. Immerhin wohnen auf diesem Land inzwischen Millionen Menschen.
Detective Inspector Nobert Eigen war erfahren und einer der Fähigsten der Abteilung. Entsprechend hochachtungsvoll wurde er von allen Übrigen behandelt. Nur, weil er sich strikt geweigert hatte, in der Hierarchie weiter aufzusteigen, war er überhaupt noch auf diesem Posten. Wiederholt hatte man ihm die Leitung der Einheit angeboten, genauso oft hatte er abgelehnt. Seine Begründung war stets die gleiche: er wolle Fälle lösen und keinesfalls Personalprobleme! Unter seinen Vorgesetzten hatte ihm das nicht ausschließlich Freunde eingebracht, aber das kümmerte ihn wenig. Jetzt saß er wie etliche andere vor seinem Terminal im großen Saal und verfasste den Bericht zu den letzten Untersuchungen im Fall der verschwundenen Ehefrau eines Bankdirektors. Das Gemurmel seiner Kollegen nahm er schon lange kaum mehr wahr.
Die Beleuchtung über dem Arbeitsplatz gaukelte einen sonnigen Nachmittag vor – wie es draußen tatsächlich war, ließ sich daran nie ermessen.
Wie war das doch - der Banker sollte einem Unbekannten eine horrende Summe dafür zahlen, dass er seine Frau wiederbekäme. Eigen hatte gemeinsam mit Detective Sergeant Heuer gearbeitet. Es war gelungen, die Zahl der Verdächtigen zu reduzieren, wie meistens kam es jedoch auf die Geldübergabe an. Die stand allerdings noch aus. Dabei ging es um die Wurst – bei solchen Verbrechen ist das fast immer die beste Möglichkeit, den Delinquenten zu überführen!
Er formulierte momentan an einem Satz, der jemanden belastete, ihn aber keineswegs als höchstwahrscheinlichen Täter erscheinen ließ. Plötzlich spürte er eine Person hinter sich. Im Umdrehen erkannte er den Chef.
„Herr Eigen, ich habe gerade einen Anruf erhalten, kommen Sie doch einmal mit in mein Zimmer!“
Ein wenig verwundert folgte er dem ranghöheren Beamten, war er es doch gewohnt, dass dieser sofort mit ihm sprach. Wozu die Heimlichtuerei? Durfte keiner hören, was es zu sagen gab? Als sich die Tür schloss, befanden sie sich in einem Raum, der im Stil des vorigen Jahrhunderts eingerichtet war: Schreibtisch aus organischem Glas, riesige Bildschirme an den Wänden, die heute den Blick auf den Dschungel imitierten, gläserne Sessel und auf einem Besuchertisch exotische Blumen. Er kannte ja Geschmack und Einrichtung, die ihn erwarteten, deshalb ließ er sich davon möglichst wenig beeindrucken. Detective Chief Inspector Patrick Owen fand diese Periode ganz wunderbar und ließ kaum eine Gelegenheit aus, daran zu erinnern. Dank seiner Stellung hatte er den Vorteil, den Traum auch ausleben zu können. Ein Überbleibsel jener vergangenen Zeit waren auch die Rangbezeichnungen, Ergebnis einer großen Umstrukturierung. Allen war klar: da hatte wieder einmal ein Politiker bewiesen, dass es ohne ihn nie und nimmer ginge! Natürlich hatte es später Versuche gegeben, die alten Bezeichnungen abermals einzuführen. Das wurde jedoch von gleichartigen Leuten abgeschmettert. Ihre Aufgabe schien darin zu bestehen, zündende Reden vor ausgewähltem Publikum zu halten. Zwar war es Vorschrift, kaum jemand benutzte aber die lange Bezeichnung, die mit „Detective“ begann, im täglichen Gebrauch. Da es ohnehin immer vorkam, war das Wort als konkreter Hinweis nutzlos. Nur in den Abkürzungen DCI, DI oder DS tauchte es auf.
„Gibt es Probleme?“, fragte der Besucher nur.
„Kann sein, es ist wohl noch zu früh, um das zu sagen! Es sieht so aus, als ob diesmal nicht - wie üblich - eine einzelne Person erpresst wird sondern eine ganze Menge. Schön wäre es, wenn man sagen könnte, nur eine Stadt! Das ist auch der Grund, warum wir hier sprechen, ohne Mithörer. Weder ich noch unser Bürgermeister wollen Panik. Er ist als erster über die Sache informiert worden, hat mich dann ins Bild gesetzt und fordert Stillschweigen. Ich kann mich diesem Wunsch nur anschließen. Genau genommen verlangt irgendwer von ihm fünfhundert Millionen, damit er die Stadt nicht unter Wasser setzt. Wie schon angedeutet, würde es alle hier betreffen. Recht skrupellos und außerdem gierig! Dieser Mensch will das Geld in Sachwerten, genauer in Diamanten, und besteht darauf, dass der Empfänger des Pamphlets niemanden darüber in Kenntnis setzt. Dergleichen kennen wir nun wirklich zur Genüge! Ob er tatsächlich glaubt, dass es so läuft, kann man kaum sagen. Jedenfalls hat man mich vor einer Stunde angerufen und alles erläutert. Interessant ist eventuell noch, wie die Erpressung gestartet wurde: erst kam nur ein harmloser Brief, in dem jedoch stand, wo die Botschaft im Internet zu finden sei. Dort war dann die eigentliche Forderung. Warum das so ungewöhnlich ablief, kann ich nur vermuten: der Täter wollte wohl ausschließen, dass andere als der Adressat die Nachricht lesen. Das allein schon deutet auf ein Subjekt hin, das gut ausgebildet ist.
Auf Grund der Bedeutung des Falles habe ich mich entschlossen, Sie mit der Aufklärung zu betreuen. Die ganze Angelegenheit muss zu einem guten Ende gebracht werden! Schließen Sie also Ihre laufenden Untersuchungen ab und übergeben Sie alles DS Heuer, mit dem sind Sie doch zur Zeit tätig. Auch in Zukunft brauchen Sie Unterstützung, Sie arbeiten gemeinsam mit Sergeant Wolf! Sie ist erst kürzlich zu uns versetzt worden, macht im Augenblick nur Routinetätigkeiten.
Wir müssen unbedingt Erfolg haben, erstens ist es eine Menge Geld, zweitens kann es Nachahmer geben. Dass wir nasse Füße kriegen, will ja auch keiner. Während Sie alles Alte abschließen, sage ich Frau Wolf Bescheid. Auch sie wird von einer weniger dringenden Sache abgezogen. In einer Stunde informieren Sie Ihre neue Assistenz, dann geht es los. Ach, ehe ich es vergesse, auch sie darf kein Wort verlauten lassen!“
Es war eine ziemlich lange Rede, ein Zeichen dafür, dass das Problem den Chief Inspector doch sehr beschäftigte. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann warf Eigen ein:
„Unsere gegenwärtigen Ermittlungen stehen kurz vor dem Abschluss. Allerdings kann niemand garantieren, dass DS Heuer alles, was ich ihm übergebe, auch so versteht, wie ich es meine. Es gibt dann keine Absprachen mehr. Und ob er die gleichen Maßnahmen anschiebt, steht auch in den Sternen!“
Die Antwort Owens war lange überlegt und lag schon bereit:
„Der neue Fall ist dermaßen wichtig, da sind wir gezwungen, Verluste in Kauf zu nehmen!“
Es war alles gesagt, jetzt kam nur noch die Ausführung. Ein kurzer Blick, ob es noch mehr gäbe, dann entfernte sich Eigen. Draußen, im Großraumbüro, steuerte er auf die Ecke zu, in der Angela Wolf zu finden sein sollte. Im Vorbeigehen grüßte er den einen oder anderen, den er heute noch nicht gesehen hatte. Dann stand er vor ihrem Schreibtisch. Um die Dreißig, dunkle Haare, adrett angezogen – mit einem Wort, einfach toll! Sein Chef hatte sich selbstverständlich nur über ihre fachlichen Eigenschaften geäußert. Im Moment schrieb sie etwas in ihren Computer. Wie er sie so betrachtete, wurde ihm bewusst, was er bisher versäumt hatte: ein Familienleben. Diese Frau – das wäre doch etwas! Jetzt verstand er diejenigen, die vom schönsten weiblichen Junggesellen der Abteilung sprachen. Gerade noch wurde ihm klar, dass er es sehr vorsichtig anstellen musste, wollte er Erfolg haben. Auf keinen Fall plump und direkt. Doch würde sie sein Alter akzeptieren? Immerhin war er fast zehn Jahre älter.
„Darf ich 'mal stören?“, unterbrach er sie.
„Ach Sie - der Chef hat mir nur äußerst wenig zum neuen Fall erzählt. Ich mache jetzt den Report fertig, dann setzen wir uns zusammen! Maximal eine Stunde, möglicherweise geht es schneller.“
„OK, ich muss auch noch einen Bericht schreiben, bis dann!“, lautete seine Antwort.
Zügig kehrte er zu seinem Platz zurück und verfasste den Abschlusstext. Eben ließ er sich an die Rücklehne sinken, um alles zu überfliegen, als Sergeant Wolf sich an den Tisch setzte. Offenbar war sie ein wenig früher zum Schluss gekommen und hatte ihn beobachtet. Mit dem, was er geschrieben hatte, war er zufrieden und schickte es in den Speicher.
„Fertig! Ich habe schon gehört, Sie hatten auch einen Fall, den Sie so beenden mussten“, damit blickte er von den Unterlagen auf,
„besonders viel hat mir der DCI kaum erzählen können, der Vorgang ist zu neu, er ist erst seit ungefähr einer Stunde bekannt und der Täter gibt nie etwas preis.“
Er konnte nur das wiederholen, womit er konfrontiert wurde. Inzwischen hatte er sich wieder unter Kontrolle, von seinen Gefühlen war kein bisschen zu spüren. Als er geendet hatte, ging er zu den aktuellen Schritten über:
„Wir fahren jetzt zum Bürgermeister, einen Termin brauchen wir nicht abzuwarten. Dabei nehmen wir einen Computerspezialisten mit, die eigentlichen Forderungen standen nicht im zugesandten Brief sondern im Internet. Natürlich dürfen Unbeteiligte keinesfalls erfahren, worum es geht. Auch der Techniker von uns muss daran denken!“
Erste Amtshandlung im neuen Fall war das Anlegen einer Akte. Außer dem Namen des Gemeindeoberhaupts und dem heutigen Datum, dem dreizehnten Mai, war kaum etwas zu notieren. Die Dringlichkeit, die Owen ihrem Vorhaben verliehen hatte, sorgte für die Freistellung eines Programmierers – es war James Brightman, einer der vielen Bekannten des DI und dazu ein Freund. Sie meldeten sich ab und es ging Richtung Fahrstuhl. Während sie vom vierten Stock bis zum Erdgeschoss fuhren, belehrte Eigen den Rechner-Spezialisten über die Notwendigkeit absoluter Verschwiegenheit. Dergleichen war ein übliches Verfahren, es wurde nur mit Schulterzucken quittiert. Dann eilten sie auf den Dienstwagen zu, das traurige Wetter mit dem grauen, tief verhangenen Himmel tat sein übriges. Die Meteorologen versprachen auch keine Besserung – eher das Gegenteil. Das Auto war in blau gehalten, die Verkäufer fanden sicher noch eine bessere Bezeichnung dafür: Pazifik-blau, möglicherweise Bermuda oder ähnliches. Schnell wurde die Kurfürstenallee erreicht, dann bewegte sich der Wagen nach Westen, ins Stadtzentrum. Die näher kommende Altstadt mit ihren Wallanlagen beeindruckte immer wieder. Schließlich mussten sie das Auto abstellen, um die letzten Meter zu Fuß zu gehen. Sie gewannen den üblichen Kampf um einen Parkplatz erstaunlich rasch. Dann begann der Fußmarsch: ihr Ziel war der beeindruckende Bau des Rathauses. Ob der Magistrat dort immer residierte? Auch innen Aufsehen erregend: breite Steintreppen und tolle Geländer – wahrlich imposant!
Etage und Zimmernummer hatten sie, jetzt sollte es eine Kleinigkeit sein.
„Guten Morgen, Sie wünschen?“, versuchte sie eine Vorzimmerdame zu bremsen.
„Wir haben einen Termin mit Ihrem Chef, Herrn Kleisters!“, kam die prompte Antwort.
Nun, es gab keine konkrete Verabredung, Bearbeitern des Falles aber war es jederzeit erlaubt vorzusprechen, so war es vereinbart. Die Dame wurde sofort sanfter, informierte sich nur, wen sie melden könne, womit alle Förmlichkeiten erledigt waren.
Sie betraten einen Raum, der für normale Arbeit eigentlich zu groß schien, außerdem war er recht dunkel. Die Einrichtung machte den Eindruck, aus dem siebzehnten Jahrhundert zu stammen; es musste reine Repräsentation sein. Die etwas hagere Gestalt hinter dem Schreibtisch mit ihrer normalen Straßenkleidung widersprach einer derartigen Umgebung. Auch der Bildschirm, so gut er ja angepasst war, stand im Kontrast zum Rest des Raumes.
„Sie bearbeiten den Fall!“, stellte Kleisters nach der Begrüßung fest.
„Genau, allerdings sind wir erst am Anfang. Zeigen Sie uns bitte den Brief, der die Sache ausgelöst hat!“, bat der Inspector.
Ihr Gastgeber zog eine Schublade des riesigen Schreibtisches auf und ein Umschlag kam zum Vorschein.
„Wissen Sie um die Brisanz des Ganzen?“, erkundigte er sich noch einmal.
„Natürlich hat auch unser Chef darauf hingewiesen, aber ohne Zusammenhänge zu verraten, müssen wir doch einige Fragen stellen!“, gab Eigen zurück.
Der Hausherr nickte zufrieden und übergab das Schreiben.
Das Papier ging von Hand zu Hand, jeder betrachtete es genau. Obwohl es hin und her gewendet wurde, konnte keiner der Kriminalisten mit bloßem Auge eine Besonderheit feststellen. Dann fragte der Rechner-Spezialist:
„Kann ich von Ihrem Terminal mit dem öffentlichen Internet arbeiten?“
„Das geht, ich stelle Ihnen das ein!“, kam Kleisters Antwort.
Nach einigen Eingaben erhob er sich und machte den Arbeitsplatz frei. Der Kollege, der jetzt Platz nahm, entfaltete einen regelrechten Trommelwirbel auf der Tastatur. Schon nach kurzer Zeit wusste niemand mehr, was er wirklich tat. Einzig, dass die Internetadresse aus dem Brief in seinen Aktionen auftauchte. Als er dann eine Mail schrieb, war das endlich bekanntes Fahrwasser. Nach wenigen Minuten schien er befriedigt, stand auf und verkündete:
„Auf der genannten Adresse ist keine Spur mehr zu finden! Ich habe aber gleich eine Nachricht an einen meiner Fachkollegen, einen Techniker des Datennetzes, geschickt. Der wird dafür sorgen, dass jener Text, den Sie gesehen haben, aus den Sicherungen wieder erzeugt wird. Wäre schon komisch, sollten wir das nicht schaffen. Das Ergebnis kommt direkt zu mir auf den Tisch!“
Das war zu erwarten, dachte Eigen, sofort werden die Spuren verwischt! Eine Sache kam ihm noch in den Sinn, er vergewisserte sich:
„Wenn der Erpresser Sie noch einmal kontaktiert, erzählen Sie uns alles! Es ist ungewöhnlich, jedoch ist in dem Text doch wohl kein Termin gewesen?“
Der Angesprochene bestätigte:
„In dieser Frage kaum etwas Konkretes, ich soll schnellstens Diamanten im Wert von fünfhundert Millionen besorgen, aber ein Datum wurde nicht genannt – über kurz oder lang wird der sich bestimmt melden.“
Der DI kommentierte:
„Für uns ist jeder Tag wertvoll, so friedlich wird es kaum bleiben. Verlangen Sie nach einem Beweis, dass er tatsächlich kann, was er vorgibt! Natürlich wird er das hinkriegen, davon kann man ausgehen. Doch wir erhalten dadurch Spuren, die wir verfolgen können. Zusätzlich bringt das ganz nebenbei eine gewisse Verzögerung. Sie haben doch einen Weg, auf dem Sie Ihre Bereitschaft zeigen sollen, fragen Sie dort! Trotzdem werden Sie kaum darum herumkommen, Brillanten bereitzustellen. Selbstredend keinesfalls in der Menge, die er sich vorstellt. Welcher normale Mensch weiß, wie viel das ist? Ich habe da keine Ahnung, doch möglicherweise gibt es auch synthetischen Kram? Da er nicht ehrlich ist, brauchen Sie es nie und nimmer sein!“
An seine Kollegen gewandt, empfahl er:
„Wir sollten jetzt gehen, die weiteren Schritte planen“, und speziell zum Computer-Fachmann,
„können Sie schon sehen, ob eine Identifizierung möglich ist?“
Eine Weile überlegte der andere, dann formulierte er recht vorsichtig:
„Gesetzt den Fall, wir können die ursprüngliche Datei rekonstruieren, dann sieht man zumindest, ob der Täter die Grammatik beherrscht. Wenn sehr viel Glück im Spiel ist, kann man sogar sagen, von welchem Gerät der Text ins Netz gestellt wurde. War er durchschnittlich clever, hat er von einem für jeden zugänglichen PC gearbeitet. Aber selbst das herauszukriegen, ist absolut kein Kinderspiel! Mit dem Finger auf jemand zu zeigen, wird so gut wie unmöglich sein. Ist damit Ihre Frage beantwortet?“
Der Tonfall war rein dienstlich, wer ihn aber kannte, wusste von seinem guten Verhältnis zu Eigen und dass sie sich privat duzten. Hier vor Fremden sollte das wohl verborgen bleiben.
„Tun Sie, was Sie können! Wir“, hier blickte der Ermittler Angela Wolf an,
„werden beraten, wie es bei uns weitergeht.“
Sie verabschiedeten sich vom Bürgermeister, dabei versicherten Sie noch einmal, das Mögliche zu tun. Dann schloss sich die Tür hinter ihnen. Sie nahmen das wunderbare Treppenhaus kaum mehr war, ihre Gespräche drehten sich um die Skrupellosigkeit des angedrohten Vorhabens. Gemeinsam fuhren Sie zurück zum Präsidium. Wie in den letzten Tagen üblich, schaute ein grauer Himmel auf sie herab. Einen Lichtblick gab es: der Regen hatte momentan eine Pause eingelegt!
Die beiden Bearbeiter saßen sich gegenüber. Sie hatten sich einen freien Konferenzraum ausgesucht, um sich ungestört unterhalten zu können. Ein schmuckloser Raum mit nur einigen angehängten Bildern umgab sie. Eigen bemühte sich, keine persönliche Regung zu zeigen: Dienst ist Dienst.
„Genau genommen wundert es mich, dass es nicht schon jemand früher gemacht hat, die Möglichkeit besteht ja schon lange!“, eröffnete er.
„Wenn man es wahrhaft ernst meint, ist die technische Realisierung schwierig! Immerhin muss man die Pumpwerke, eventuell auch einen Damm sprengen oder eine Schleuse bzw. ähnliches missbrauchen. Mit wenig Dynamit oder was man sonst bekommen kann, ist das kaum zu machen. Dass sich einer an den obersten Repräsentanten einer Stadt gewendet hat, gibt mir sehr zu denken. Vermutlich rechnet er damit, seine Möglichkeiten demonstrieren zu müssen und wird das auch können!
An große Bauten glaube ich eigentlich weniger, das ließe sich zu leicht abdichten und es wird sofort gemeldet. Generell ist die Manipulation irgendeines Schiebers oder Wasserhahns zu harmlos, die Pumpstationen sind sehr gut geschützt. Es bleibt bei Lichte besehen nur eine Sprengung des Damms!“
Die Worte von Sergeant Angela Wolf klangen recht überzeugend. Eine Weile versank Eigen in Nachdenken, dann äußerte er:
„Wenn ich das Ganze richtig verstehe, ist vor allem die Zündung eine Schwierigkeit, da alles sicherlich aus einer gewissen Entfernung stattfinden muss! Eine Sprengladung wird jetzt schon irgendwo deponiert sein, es gilt zu verhindern, dass sie hochgeht. Das Problem dabei ist nur, dass die gesamte Küstenlinie in Frage kommt. Der Damm ist über zwanzig Meter hoch sowie entsprechend breit und an jeder Stelle könnte das Zeug sein!
Aber kommen wir darauf zurück, was uns betrifft. Ich denke, es ist kein Zeitzünder, der würde verlangen, dass ihn jemand abschaltet, wenn die Zahlung gelaufen ist. Die gebräuchlichste und schon lange verwendete Art ist die Auslösung mit dem Handy. Wenn wir annehmen, dass er damit arbeitet – ich glaube, es ist ein ‚Er‘ – dann haben wir den Frequenzbereich. Natürlich kann er auch etwas Anderes machen, das verlangt jedoch viel Bastelei. Nehmen wir also an, die Technik ist erprobt und damit einigermaßen sicher. Wir haben dagegen das Mittel des Störsenders, das vom Militär meist angewendet wird. Die benutzen es immer, wenn sie Bomben in der unmittelbaren Umgebung der Wege fürchten.
Haben Sie andere Vorstellungen oder Ideen?“
Einige Zeit blieb es still, dann ergänzte Angela:
„Das ist wohl der richtige Weg, man muss mit den Jungens im Tarnanzug reden! Die ganze Ausrüstung neu zu beschaffen, dauert viel zu lange, wir haben nur wenige Tage. Doch wer will schon mit mir reden, auch Sie sind wahrscheinlich zu klein. Mindestens DCI Owen ist hier von Nöten, sonst gibt es keine Bewegung!“
„Sie haben Recht, wir müssen ihm das vortragen!“, entschied der Kriminalist.
Die Diskussion war beendet, Seite an Seite gingen sie in Richtung des Büros Ihres Chefs. Beide standen sie vor der Tür, bis ein „Herein“ zu hören war.
Owen blickte überrascht auf, als er erfuhr, sie hatten einen derart gravierenden Schritt vor.
„Dann sollten wir auf unserem Gebiet mit gleichem Kaliber arbeiten! Die vorliegende Gefahr sieht jeder. Wir informieren den Innenminister des Landes, der soll sich mit den geeigneten Leuten abstimmen! Danach landet bestimmt alles wieder auf unseren Schreibtischen, für den aktuellen Teil sind wir zuständig.“
Die notwendige Nummer hatte er nicht im Kopf, bisher hatte er nie dort angerufen. Er blätterte in den dienstlichen Unterlagen, dann hatte er es. Ein Griff zum Telefon und es entspann sich ein interessantes Duell zwischen dem Chief Inspector und der Sekretärin des Ministers. Zuerst versuchte sie einfach, ihn zu vertrösten, dann, als sie merkte, wie hartnäckig er blieb, rückte sie mit der Sprache heraus: ihr Chef war auf einem Empfang. Die Versicherung, es ginge um Leben und Tod vieler Menschen, bewog sie, die Handynummer weiterzugeben. Kurze Zeit später unterrichtete Owen seinen Gesprächspartner über die Lage und die nächsten Schritte, die man gehen wollte. Er unterstrich die Notwendigkeit, in kürzester Frist über die Störsender zu verfügen, was eine Zusammenarbeit mit der Armee verlangte. Daraus, dass der Mann am Handy ruhig blieb, konnte man entnehmen, dass der Partner am anderen Ende der Leitung das wohl ähnlich sah und die notwendigen Maßnahmen einleiten würde. Dann war das Gespräch beendet.
„Er sieht die Dinge so wie wir! Jetzt will er einen Oberst, den er persönlich kennt, über die Sache ins Bild setzen. Bevor da etwas passiert, vergehen jedoch ein paar Stunden – auch das hat er mir erklärt. Ich kann nur hoffen, dass es nicht mehr wird!“, erläuterte der DCI aufgeräumt.
Mit „Er“ war offenbar der Minister gemeint. Alles in allem bewegte sich etwas, besser durfte man es kaum erwarten.
„Sie werden“, damit wandte er sich Eigen zu,
„nach Hamburg fahren und die richtigen Leute dort sprechen! Das will ich keineswegs über Telefon geben, wenn das eine Bürokraft mithört oder ein anderer, dann spricht sich das herum. Mit dem Stadtoberhaupt und vielleicht dem Chef der Polizei, sonst reden Sie mit keinem. Wenn Sie fertig sind, kommen Sie schnellstens wieder her!
DS Wolf, haben Sie Aufgaben?“
Auf ihr Nicken hin stellte er fest:
„Ich rufe jetzt in Hamburg an, damit man Zeit für Sie hat, Sie können losfahren!“
Das Auto quälte sich mühsam durch die Innenstadt. Schon seit Tagen goss es wie aus Kübeln, eine wahre Sintflut. Langsam erreichte er breitere und schnellere Straßen. Endlich fuhr er durch Vororte, gleich kam die Autobahn. Im Laufe der letzten Jahrhunderte hatte sich ihre Lage nur unwesentlich verschoben. Woher er das wusste – nun, genau das war ja sein Hobby! Die Verschiebung dieser Strecke fiel in die Epoche, als der große Elbsee gebaut wurde. Er hatte ihn schon oft bewundert und ihm gefiel jeder Besuch. Ähnlich wie der Weser-See sah er aus – nur größer. Von Stade bis fast nach Bremervörde zog sich der Damm jenes Sees rund fünfundzwanzig Kilometer durch die Landschaft. Danach ging es beinahe ebenso weit nach Norden, um schließlich wieder zur Elbe abzuschwenken. Dieses gewaltige Flutungsbecken enthielt im Sommer nur wenig Wasser, ganz anders sah es im Frühjahr oder bei sonstigen Überschwemmungen aus. Er hatte es zwar nicht mit eigenen Augen gesehen, konnte sich aber denken, dass es beim aktuellen Wetter gut gefüllt sein musste. Wenn sich riesige Wassermassen die Elbe hinab wälzten, war es für die Pumpen zu viel. Zwar gab es Kraftwerke, die nur dazu dienten, den See zu entleeren, doch bei Hochwasser schwoll er regelmäßig an. Er war der große Puffer, der dafür sorgte, dass die Städte nie untergingen.
All dies kam ihm in den Sinn, als er südlich daran vorbeifuhr. Mochte er auch unsichtbar bleiben, wusste er jedoch genau, wo er lag.
Das Fahren im Regen war mühsam, die Sicht sehr gering. Nun dauerte es nur noch kurze Zeit, dann war er am Ziel. Der Hafen mit seinen Kränen und Containern lag neben ihm. Dann ging es unter die Elbe. Am Ende des Tunnels bog er sofort rechts ab, der Altstadt entgegen. Im Stadtzentrum steuerte er auf den Markt mit dem Rathaus zu. Ein Termin mit dem dortigen Gemeindeoberhaupt – das wäre sicher schon organisiert! Schwierig war jetzt nur noch die Frage des Parkplatzes, doch er gab sich als Mitarbeiter der Stadtverwaltung aus – das war er ja auch im Prinzip, nur einer anderen. Das Ratsgebäude war unübersehbar, und gut sah es aus! Die Pfeffersäcke wollten zu ihrer Zeit jedem zeigen, dass sie reich waren. Allerdings hatte er kein Auge für diese Schönheit, seine Sorgen belasteten ihn zu stark. Da er sich hier kaum so gut wie zu Hause auskannte, sprach er erst bei der Information vor. Zum ersten Stock musste er, dort gleich rechts das erste Zimmer. Der DI machte sich umgehend auf den Weg, klopfte und trat ein. Kaum dass er sich vorgestellt hatte, wies ihn die Vorzimmerdame direkt in den nächsten Raum.
„Das war Owen, der hat alle Wege geebnet!“, war ihm im gleichen Augenblick klar.
„Sie kommen aus Bremen?“, erkundigte sich ein hagerer Mann mittleren Alters. Hier war die Einrichtung vollkommen unauffällig und zeitgemäß. Es herrschte im wahrsten Sinne des Wortes eine Arbeitsatmosphäre. Der Hausherr wies auf eine Sitzgruppe und kam selbst dazu. Er wollte offenbar keine Zeit verlieren, fragte sofort:
„Es gibt also Wichtiges zu vermelden? Muss ja schwerwiegend sein, wenn es niemand am Telefon sagen will!“
„So ist es, und es scheint sehr unangenehm. Bremen wird erpresst, ich gehöre zu denjenigen, die sich mit der Sache befassen. So wie es aussieht, blufft der Täter keinesfalls, er meint es sehr ernst!“
Der Ermittler erläuterte, was er bisher wusste und welche Schritte unternommen wurden.
„Wir sind der Meinung, dass wir in der Lage sind, den Angriff zu stoppen, wenn wir uns ausreichend vorbereiten. Aber ob es gelingt, ihn lange genug hinzuhalten, wissen wir nicht. Gäbe es ein zu frühes Ultimatum, können wir wenig tun, wir sind dann noch nicht vorbereitet!“
Unger, der Herr des Hauses, lehnte sich zurück. Eine Zeit lang schwieg er.
„Es musste ja so kommen, wir leben einfach zu riskant! Gefährlich ist wohl kaum der korrekte Ausdruck – Leichtsinn trifft es schon eher. Wenn der Mann es fertig bringt, steht hier alles fünf Meter unter Wasser, sollte er es bei Flut ausführen, noch mehr. Der einzige Trost ist, dass er auch ertrinkt!“, sinnierte er.
„Nein, leider ist letzteres in keiner Weise sicher! Wir gehen davon aus, dass er mit einem Handy zündet, das kann er auch von München machen.“
Der Inspector war deutlich verärgert. Er fühlte Hilflosigkeit angesichts einer so großen Bedrohung. Zwar konnte er beschreiben, wie es passieren würde und welche Auswirkungen zu erwarten seien – nur dagegen etwas tun, das war kaum möglich!
„Mehr vermag ich Ihnen kaum zu sagen, ansonsten wissen wir nichts. Sie müssen abschätzen, ob irgendwelche Vorkehrungen getroffen werden können, natürlich ohne die Gefahr konkret zu benennen. Ich fahre jetzt zurück, mein Chef wartet schon auf mich!“
Sein Gastgeber richtete sich noch einmal an ihn:
„Wenn Sie Unterstützung brauchen, gewiss nur auf Ihrem Gebiet, dann wenden Sie sich an DCI Brauer, den kenne ich gut, der ist verlässlich! Er sitzt im Polizeipräsidium in Alsterdorf.“
Eigen erhob sich, wünschte Erfolg und nahm Abschied. Als er auf das Auto zulief erinnerte er sich an Unger's Satz: ...bis zu fünf Meter unter Wasser, bei Flut mehr.
Keine erfreuliche Aussicht, doch sie konnten das verhindern – wirklich? Zumindest würden sie alles unternehmen!
Plötzlich meldete sich das Handy. Das Namensfeld blieb leer. Er sprach ins Mikro:
„Inspector Eigen, Sie wünschen?“
Eine etwas blecherne Stimme gab bekannt:
„Sergeant Angela Wolf, ich will Sie nur auf den Stand bringen!
Unser Boss hat doch mit dem Innenminister gesprochen und der seinen Freund oder Bekannten angerufen – was soll man sagen? Dieser Oberst scheint genau der richtige Mann für diese Aufgabe zu sein. Falls alles stimmt, was er sagt, fahren gerade Jeeps zu den Deichen und Leute werden dort patrouillieren! Sie sollen auch die Störsender mitgenommen haben, um die es uns ging. Das klingt hoffnungsvoll, wenngleich es keine Garantie bietet.“
Er atmete fast hörbar auf:
„Sehr gute Nachrichten, es bewegt sich etwas! Aus Hamburg kann ich wenig Positives berichten, allerdings auch keine Silbe Negatives. Der Bürgermeister ist bedrückt; was er tatsächlich machen wird, ist unklar. Ich habe ihm eingeschärft, dass er keine Panik verursachen darf.
Hat unser Programmierer irgendeine Spur? Sonst haben wir ja kaum etwas in der Hand!“
Er war eine Nuance beruhigter, wenigstens an einer Front entwickelten sich die Dinge gut.
Zur letzten Frage hatte seine Partnerin sichtlich wenig zu sagen:
„Ich weiß einzig, dass die ursprüngliche Datei von neuem existiert, die untersuchen sie jetzt.“
Er wollte fürs erste nochmals im Präsidium sein, dann könnte er Details von den Programmierern hören.
„OK, ich glaube, ich weiß genug! Wenn Sie nichts mehr haben, dann Tschüss!“
„Tschüss!“, kam es aus dem Lautsprecher, dann ein Knacken.
Jetzt war die Gelegenheit, seine Adressliste auf dem Handy zu aktualisieren. Er fügte zu dem festgehaltenen Anrufer den Namen „Wolf“ hinzu und steckte das Gerät befriedigt ein.
Es ging erneut auf die Piste, Bremen entgegen. Eine gute Stunde später tauchte die Silhouette der Stadt vor ihm auf. Immer wieder schön, zu Hause zu sein! Als er dann endlich im Büro war, erkundigte er sich zuerst nach Neuigkeiten.
„Es scheint wenig zu geben, es hat keiner angeläutet!“, gab Sergeant Wolf zurück.
„Gut, ich höre mich bei der Datenverarbeitung selbst ein wenig um, immerhin kenne ich die meisten schon lange. Möglicherweise erfahre ich Dinge, die niemand in einen Bericht schreiben würde“, beschloss Eigen.
Er machte sich auf den Weg zu den EDV-Menschen, im Moment war nur von ihnen etwas Brauchbares zu erhoffen. Zwei Etagen über ihm – es war kaum sinnvoll, das als weit oder gar Entfernung zu bezeichnen. Wenig Zeit war verstrichen, dann fand er James Brightman, mit dem ihn schon viel verband. Er wollte keine deutliche Neugier zeigen und blieb einfach an seinem Tisch stehen.
Lars Jensen war einigermaßen erstaunt. Jung, sportlich und ohne Sorgen – das wünscht sich mancher andere! Mit seinen ein Meter achtzig traf er recht gut das Durchschnittsmaß. Ihn hatte es zum Bund verschlagen, eine Sache, die man im Prinzip vermeiden kann. Das andererseits war nie sein Ziel.
Die Verwunderung hatte ihre Ursache: ansonsten ging es bei der Armee sehr geplant zu – hier ohne Frage vermochte man kaum davon zu sprechen! Im Allgemeinen lagen die wohl richtig, die alles langweilig fanden, heute dagegen geschah echt etwas Neues. Sie folgten gerade dem Taktikunterricht, da kam ein Offizier, der sofort das Kommando übernahm. Der Vortrag wurde abrupt beendet, es ging 'raus zu den Fahrzeugen. Da lag schon einiges drauf, man konnte jedoch kaum sehen, was es war. Sie saßen auf, dann fuhren sie über Landstraßen Richtung Nordwesten. Keiner wusste, was los war. Nicht einmal die Waffen hatten sie am Mann – sehr komisch! Es dauerte freilich nur eine knappe Stunde, dann hielt der Wagen an. Mitten im Wald waren sie, auf jeden Fall am Waldrand. Weit und breit kein Haus, geschweige denn ein Dorf zu sehen. Sandiger Untergrund, wie alle ihn von den Übungsplätzen kannten. Der Himmel zeigte sich für Norddeutschland recht friedlich: wenig Wolken, kein Regen.
Absitzen, Antreten – dann kam der Kompaniechef und hielt eine kurze Ansprache. Ausdauer, Verbissenheit und Flexibilität bildeten den Kern. Irgendwie hatte man dennoch den Eindruck, dass er selbst nicht recht wusste, worum es ging. Aus den Worten schälte sich der geplante Ablauf: sie sollten am Deich entlang gehen, darauf achten, ob sie außergewöhnliche Abweichungen an der Erde oder Spuren von Arbeiten sähen und wenn ja, über Funk mitteilen. Jetzt kam das eigentümlichste: die Angelegenheit bestand darin, dass sich je zwei so nahe wie nur irgend möglich an den Auffälligkeiten festsetzten! Dann verlangte die Aufgabenstellung, den mitgebrachten Sender einzuschalten und weitere Befehle über Funk abzuwarten. Das eigenartigste und unverständlichste Unternehmen, das er bisher erlebt hatte! Es war eine bestimmte Strecke geplant, im Anschluss daran befinde sich die nächste Kompanie. Nach der abschließenden Floskel „Noch Fragen?“ hoben sich mehrere Arme.
„Was sind denn ungewöhnliche Veränderungen?“, war der erste Punkt.
„Das ist wörtlich genau das, was man dem Stützpunkt gesagt hat. Das kam auf dem üblichen Meldeweg bei uns an. Als Erläuterung gab es nur den Hinweis auf räumlich begrenzte Erdarbeiten in den letzten Jahren. Ich weiß, das ist recht verschwommen, aber genau das ist der Befehl! Nebenbei: das scheint sehr wichtig zu sein, besonders in solchen Fällen hofft man auf eine konkretere Beschreibung!“
Der Ko-Chef machte eine etwas hilflose Figur, beinahe konnte er einem leidtun.
„Auf welche Art läuft die Versorgung, Essen und so?“, war die folgende Frage.
„Ein Essenausträger kommt, vergesst jedoch nicht, euren Standort per Funk anzugeben. Verhungert ist noch keiner!“
„Wie lange sind wir so in dieser Einöde?“, auch ein Problem von allgemeinem Interesse.
„Natürlich werden wir alle zurückholen, doch mir ist noch kein konkreter Termin bekannt. Das ganze Unterfangen sieht unmilitärisch aus, so richtig gefällt es keinem. Nun ist es angeordnet, dann wird es auch ordentlich durchgeführt.
Gepäck aufnehmen und ohne Tritt Marsch!“
Der letzte Satz klang deutlich erleichtert, endlich ein richtiger Befehl!
Beinahe zur Mittagszeit kam der Trupp gottlob in Gang. Man bewegte sich nach Westen. Der Platz, an dem der Laster angehalten und die Mannschaften abgesetzt hatte, blieb zurück. Die Einheit ging ausgeschwärmt den Deich entlang. Ganz oben und unten lief es sich noch vernünftig, auf dem Hang war das Vorankommen zweifellos schwer. Die Leute hatten die Köpfe am Boden, sie suchten die erwähnten Merkmale. Das Tempo wurde durch die Mitte der Kette bestimmt. Die Verantwortlichen organisierten den regelmäßigen Austausch der Gruppen über den Hang des Deiches. Langsam machte sich Erschöpfung breit, eine kleine Marschpause war schon eingeplant. Plötzlich registrierte einer der Männer anderen Boden.
„Hier gibt es hellere Erde, vielleicht ist das gemeint?“, rief er.
Die Vorgesetzten, deren Begeisterung ob des eigenartigen Auftrages auch in engen Grenzen lag, sahen sich den vermeintlichen Befund an.
„Wir gehen eine Strecke zurück, mal sehen wo der Anfang ist!“, kam das Kommando.
Es stellte sich heraus, dass sie nur wenig zu gehen hatten, schon nach etwa zwanzig Metern meinten auch andere, hier sei ein Übergang. Am Fuß des Dammes waren mit viel Fantasie Fahrspuren zu erkennen, sie mussten dagegen schon über ein Jahr alt sein.
„Ist das schon eine Auffälligkeit oder noch nicht?“, zwischen den Offizieren entstand eine Diskussion. Man einigte sich, vorsichtshalber zwei Soldaten da zu lassen.
„Hier Stellung beziehen, Funk abhören, mögliche neue Kommandos erfassen!“
Immerhin, das hörte sich wenigstens militärisch an.
Der Trupp setzte sich wieder in Bewegung. Gott sei Dank war es hell, im Dunklen wäre die Sache aussichtslos gewesen. Nach ungefähr hundert Metern wechselte der Boden erneut.
„Es scheint so, als wurde irgendwann der Deich repariert. Begrenzt haben die gesagt – bei der Länge wohl kaum! Aber drei Leute verbleiben am Ort! Es sieht sehr nach Lustlosigkeit aus, wenn wir von keinem Stück berichten“, stellte der Hauptmann fest.
„Noch drei Kilometer, dann machen wir einen kleinen Halt!“, äußerte er lauter.
Inzwischen stand die Sonne schon hoch am Himmel, es wurde warm. Die ersehnte Pause stand schon offenbar kurz bevor, da entdeckte Lars Jensen, dass die Pflanzen hier sichtbar weniger hoch waren, als bisher.
„Dann müsste die Umgebung hier neu gewachsen sein!“, dachte er sich.
Er verglich noch einmal mit dem, was er vorher gesehen hatte, da war ein Unterschied.
„Herr Feldwebel, hier scheint gearbeitet worden zu sein!“, meldete er.
Der Angesprochene, der in der Nähe stand, kam zu ihm und sah sich um.
„Ich kann hier nichts Besonderes feststellen! Alles ausschwärmen, Boden beobachten!“, kommandierte er.
Man musste es zugeben: die Veränderungen waren äußerst gering. Am Untergrund war kaum eine Ungleichheit auszumachen, doch es gab Stellen, wo der Pflanzenbewuchs spärlich war. Dem Feldwebel fiel unversehens der Begriff „Lustlosigkeit“ ein, den der Hauptmann gerade benutzt hatte. Das sollte ihm keiner vorwerfen können!
„Schlecht zu sehen, doch Sie beziehen mit Arens und Holthusen hier Stellung! Prinzipiell sollten Sie sich in halber Höhe des Deiches aufhalten, doch niemand weiß, wie lange das dauern wird. Also oben, wo der Abhang beginnt! Alles verstanden?“, dabei schaute er den Untergebenen an.
Nach kurzer Zeit wurde der Trupp immer kleiner, die kleine Schar zog weiter.
„Jetzt sollen wir hier sitzen? Haben wir zumindest eine Aufgabe? Es kann ganz schön langweilig werden!“, sagte Arens verdrossen.
„Bauen wir fürs erste das Zelt auf, es könnte heute noch regnen“, schlug Jensen vor, dann fügte er an,
„den Sender und das Funkgerät anschalten, möglicherweise kommt eine Nachricht für uns?“
Etwas später sah man sie, im Gras lang ausgestreckt, vor sich hin dösen. Auf der anderen Seite des Deiches bemerkte man einige Leute beim Baden. Holthusen musste als erster auf sich nähernde Personen achten – besonders ohne Zweifel auf Offiziere.
Lars dachte an längst vergangene Zeiten zurück, an Dinge, die ihm beinahe schon entfallen waren. Es waren die schönen Momente im Leben. Auch damals saß er auf einem Berg – seine Großmutter war mit ihm schwimmen gefahren. Das Fahrrad war ihm viel zu groß, trotzdem kam er damit zu Rande. Zu versagen – ein Ding der Unmöglichkeit, alle hätten ihn ausgelacht! Dort war er aufgewachsen, in Neufelderkoog, einem Nest, das kein Mensch außer ihm kannte. Im Laufe der Jahre war der Ort womöglich unter dem Damm verschwunden, wundern würde es ihn
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 25.06.2018
ISBN: 978-3-7438-7310-0
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