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Warmer Sand


Typisch Deutschland, dachte der große Blonde beim Ausfüllen des Formulars; für alles mußte irgendein Wisch da sein, den dann kein Schwein mehr beachtete. Dabei gab es doch genug gute technische Lösungen zur Datenerfassung, wenn man denn wirklich mit Daten was anfangen konnte. Aber ihm sollte es recht sein, ein Zettel mehr, auf dem er Angaben machte, deren Wahrheitsgehalt weit unter dem der letzten Wirtschaftsprognosen lag. Melden wir also unseren Caravanstandplatz ordentlich an: Spreeauenpark Cottbus, Verweildauer eine Woche, die er wohl nicht brauchen würde, um diesen Auftrag zu erfüllen. Mit einem breiten Grinsen trug er die persönlichen Daten als Herr Geert van Holsten aus den Niederlanden ein. Klischees konnten nützlich sein. Er hatte das schnell unterdrückte Lächeln der Frau bei der Tierparkkasse durchaus verstanden, Holländer und Wohnmobil, na klar. Je mehr die Leute in Klischees dachten, um so weniger nahmen sie von der Wirklichkeit wahr, das sollte ihm nur recht sein. Als er dann, ein mäßig modernes Tourenrad neben sich, das Formular wieder abgab und seine Standgebühr bezahlt hatte, ordnete ihn die Kassiererin endgültig als Touristen ein, dem man ein freundliches Lächeln schenkte und dann gleich wieder vergaß.
Morgen oder Übermorgen würde er den Auftrag hinter sich bringen, den ihm der Cleanmeister bei ihrem letzten Treffen in Paris mit dem Kommentar „Extra für dich, maßgeschneidert, mal wieder Heimatluft schnuppern. Wirst Dich wohlfühlen, wieder in den altvertrauten Gefilden? Ich wär auch gerne mal wieder an den Stätten der Unschuld. Aber, naja...“ erteilt hatte. Natürlich waren Orts- und Sprachkenntnisse bei ihrem Geschäft nützlich, aber da gleich wieder Gefühle ins Spiel zu bringen, war so eine Marotte vom Cleanmeister. Schon während ihrer gemeinsamen Zeit in der Legion war ihm dieser Charakterzug des Cleanmeisters aufgefallen, er lebte bei allem seine Gefühle aus und setzte das auch bei anderen voraus. Trotzdem war er bei der Beschaffung von Aufträgen für ihr gemeinsames Unternehmen sehr erfolgreich und so gab es für den Blonden keinen Grund sich darüber zu beschweren. Er allerdings konnte sich eine solche Verbindung von Arbeit und Gefühl bei sich selbst nicht einmal vorstellen. Er empfand es als abartig, wenn Kerle in der Legion beim Töten einen Steifen bekommen hatten oder Fotos von den Einsätzen machten und dann mit ins Bett nahmen. Für ihn war das ein Job, einer, mit dem er mehr verdienen konnte, als sonst. Er brauchte das Geld, um seinen Traum von einem sicheren Ort zu erfüllen, für die Zeit, wenn die Kämpfe um die immer knapper werdenden Ressourcen auch in Europa toben würden. Er wußte nur zu gut, wie es dabei zu gehen würde.
Nicht einmal der Cleanmaster wußte von dem kleinen Dorf in den Pyrenäen, das er gekauft hatte und das von einem Baskenclan bewohnt und zur Festung ausgebaut wurde. Sie würden alle Kämpfe überstehen können, in ihrem Adlernest, in dessen Ausrüstung er alles investierte, was ihm die Aufträge und auch seine persönlichen Anteile an Clean Up International Inc. einbrachten.
Beim Gedanken an den Namen ihrer Firma mußte er schmunzeln; sie hatten im Casino den Film „Leon - Der Profi“ gesehen, in dem sich ein Lohnkiller selbst als Cleaner bezeichnete, weil er die Gesellschaft säuberte und fantasierten beim Pernot über die Zeit nach ihrer Verpflichtung. Im Laufe des Abends kam dann irgendwie die Grundidee für einen Service zustande, bei dem sie ihre speziellen Fähigkeiten wirkungsvoll und vor allem profitabel nutzen konnten. Im Gegensatz zum Profi von Jean Reno arbeiteten sie in den meisten Fällen legal, zuweilen sogar im Auftrag staatlicher Stellen, nur manchmal, wie eben jetzt, führten sie Aufträge aus, bei denen es dem Auftraggeber darum ging, absolut keine Spuren zu hinterlassen. Das waren zwar nicht immer Sachen „mit extrem ungünstiger Prognose“, wie sie unter sich das Töten auf Bestellung umschrieben, meist ging es um Industriespionage. Obwohl das eine durchaus mit dem anderen zusammen hängen konnte, dachte van Holsten.
Wie immer hatten sie die Zielperson bereits von Paris aus „seziert“, so nannte der Cleanmeister das Zusammenstellen aller erreichbaren Daten über einen Menschen. Es kam ja in gewisser Weise dem nahe, was ein Pathologe mit dem Körper Verstorbener tat, nur bezog sich ihre Arbeit auf die Datenpersönlichkeit.
Aus dem Puzzle von Hunderten einzelner Informationen hatte sich das Bild der Zielperson Siegfried Nowak gebildet. Ein Techniker schien er zu sein, mit großen Träumen vom Umweltschutz und einem politischen Horizont, der der Geografie seiner Lausitzer Heimat entsprach, flach und ohne nennenswerte Struktur. Seine Weltanschauung stammte aus den Medien, denn persönlich hatte er die Grenzen Europas nur einmal für einen „all-inclusiv-Urlaub“ in der Dominikanischen Republik überschritten. Dort war er mit seiner Frau auch nicht über die Grenzen der Ferienanlage hinausgekommen und hatte somit seine Vorstellungen von der Welt nicht um persönliche Erfahrungen bereichern müssen.
Van Holsten hatte auf facebook Bilder der beiden Nowaks aus diesem Urlaub gesehen, sicher von einem Bewunderer der üppigen Formen Frau Nowaks aufgenommen, da sie immer im Zentrum der Fotos stand. Ihr einen halben Kopf kleinerer, gut zwanzig Kilo leichterer, dafür zwanzig Jahre älterer Mann war nur auf einigen Bildern wie eine Staffagefigur irgendwo am Rande zu sehen. Neben den beachtlichen Kurven seiner blonden Frau wirkte er sehr unscheinbar.
Auch beruflich schien Nowak ziemlich farblos zu sein, er arbeitete in Frankfurt an der Oder in einer Firma, die irgendwelche speziellen Verbundmaterialien untersuchte und herstellte. Der Clean Up Wirtschaftsanalyst hatte was von Klebstofftuben und Unterwasserbeschichtungen erzählt, damit konnte van Holsten nicht viel anfangen und es schien auch keinen Zusammenhang zu seinem Auftrag zu geben. Allerdings waren sie beim Sezieren auf eine Information gestoßen, die das mickrige Kerlchen Nowak in anderem Lichte erschienen ließ.
Auf einem Treffen von alternativen, meist Grünen oder der Grünen Partei nahestehenden Wissenschaftlern, hatte Nowak ein Referat gehalten, bei dem es um die Speicherung von Energie und die Probleme mit Akkumulatorenmaterialien ging. Wie üblich bei solchen Tagungen wurde viel Allgemeines geredet und im Grundtenor darüber gejammert, wie die großen Energiekonzerne alle alternativen Forschungen behinderten oder so sensationelle Projekte, wie das Verbauen der Sahara mit Fotovoltaikanlagen einfach abkauften. Ein Projekt, bei dem van Holsten, der die Sahara erlebt hatte, nur mit dem Kopf schüttelte. Na ja, ging ihn nichts an.
Die Sache mit den neuartigen Energiespeichern von Nowak interessierte ihn da schon eher, auch wenn der Auftraggeber nichts über fachliche Zusammenhänge gesagt hatte. Der Auftrag lautete einfach, Nowak solle für immer spurlos verschwinden, kein Hinweis auf irgendwelche zu sichernden Unterlagen. Trotzdem konnte es da einen Zusammenhang geben. Zuweilen verschwanden Entdecker bestimmter Technologien oder Materialien, wenn eine Interessengruppe bereits über die notwendigen Informationen verfügte und weitere Forschungen oder die Produktion verhindern wollte. Der Cleanmeister hatte ihm zwar deutlich gemacht, dass der Auftrag bezahlt wurde und nur der Auftrag und nicht irgendwelche Spekulationen über die Hintergründe. Sollte allerdings Material anfallen, dass sie darüber hinaus vermarkten konnten, der Schwarzmarkt an Forschungsergebnissen hatte ordentliche Preise für gutes Material, hatte der Cleanmeister auch nichts gegen Zusatzeinnahmen. Van Holsten hatte auch noch ein persönliches Interesse an dieser Sache, die Energieversorgung für das Adlernest war ein wichtiger Teil ihres Überlebenskonzeptes. Jeder von ihnen war ein Survivalspezialist und konnte zur Not ohne Elektrizität auskommen, aber keiner von ihnen hatte etwas gegen die Bequemlichkeiten, die man mit Strom haben konnte. Vielleicht konnte das Adlernest bei diesem Auftrag auch noch Nutzen ziehen. Jetzt galt allerdings, wie Jesse Stone es so gern formulierte „Die Augen strikt auf den Konflikt!“ – Nowak mußte spurlos verschwinden.
Gemächlich radelte van Holsten vom Tierparkeingang die Kastanienallee entlang zur Vorparkstraße mit dem Umweltzentrum. Hier hatte sich seit 1990, als er aus der Lausitz wegging einiges verändert, dafür hatten die Gestaltungen der Bundesgartenschau gesorgt, auch für gute Radwege. Er konnte so mit dem Rad bequem bis in die Tagebaugebiete zwischen Cottbus und der polnischen Grenze kommen und die letzten Feinabstimmungen für seinen Plan erledigen. Es lag gewiss Ironie darin, dass er Nowak ausgerechnet auf dem Gelände eines großen Energiekonzerns verschwinden lassen würde. Das lag nicht etwa an irgend einer Beteiligung Vattenfalls an der Geschichte, sondern lediglich an den ausgesprochen effizienten Möglichkeiten, die das Tagebaugelände für sein Vorhaben bot. Später würde es einige der grün angehauchten Verschwörungstheoretiker geben, welche die Energielobby für das Verschwinden Nowaks verantwortlich machen würden. Wieder solch ein nützliches Klischeedenken, resümierte van Holsten diesen Gedankengang.
Sein Radausflug hatte ihm alle Informationen gebracht, die er noch benötigte. Den Plan mit seinen verschiedenen Varianten hatte er bereits vor zwei Wochen ausgearbeitet. Er hatte unter anderem Namen, mit anderer Haar- und Augenfarbe im Lindner Kongress Hotel am Berliner Platz gewohnt und alle noch nötigen Vorbereitungen getroffen. Das meiste hatten sie von Paris aus über das Internet erfahren und in die Wege geleitet. So waren auch die Buchungen für Hotel und Caravanstellplatz getätigt worden, zur zusätzlichen Sicherheit über eine fingierte Adresse in Belgien, genauso wie die Bestellung des Mietautos vom selben Modell und in der selben Farbe, wie die Firmenwagen von Vattenfall. Adhäsionsfolie mit dem Firmenlogo und falsche Kennzeichen lagen im Wohnmobil bereit.
Dann war alles ganz einfach gewesen. Er hatte Nowak zu Hause abgeholt, als angeblicher Assistent des Justitiars von Vattenfall, mit dem Nowak glaubte einen Termin zur Besprechung der Patentübernahme für seinen Akkumulatorwerkstoff zu haben. Den späten Termin am Freitag Nachmittag hatte van Holsten glaubhaft begründen können.
Nowak drängte es, seine neueste Entwicklung, ein Spezialmaterial für Akumulatoren, das eine um das Hundertfache effizientere Stromspeicherung ermöglichen würde, an den Energiekonzern zu verkaufen, um seiner Frau endlich den Wunsch nach einem schicken eigenen Auto zu erfüllen. Die Vorfreude auf das Leuchten in Melanies Augen und natürlich auch der Vorgeschmack auf ihre Dankbarkeit, ließen Nowaks schlechtes Gewissen leiser werden. Eigentlich sollte diese Technologie nicht in die Hände eines der größten Energieunternehmen gelangen sondern alternativen Projekten helfen. Eigentlich... , aber die Summe, die im Vorgespräch genannt wurde, war dann doch zu verlockend. Er war sich des Verrates an seinem Arbeitgeber bewußt, denn er hatte die Entdeckung nicht ordnungsgemäß zum Patent angemeldet und bis auf das allgemein gehaltene Referat auf dem Zukunftskongreß, auf das sich der Justitiar bei ihrer Kontaktaufnahme berufen hatte, nichts weiter öffentlich gemacht. Alle waren der Meinung, es sei noch nicht soweit mit seiner Entwicklung.
Nowak war ziemlich aufgekratzt, als er sich von seiner jungen, kurvenreichen Gattin verabschiedete. Van Holsten überlegte gerade, ob eine Weile mit ihr auf der Matte eine Verlockung für ihn sein könnte, da hörte er ihre Stimme und wie sie Nowak auftrug, ja nen ordentlichen Batzen rauszuhandeln, damit sie endlich ihr eigenes Auto hätte. Der Reiz des Augenblickes war dahin und er empfand fast etwas Mitleid mit Nowak, bis er dessen schafsdämlich verliebten Blick bemerkte. Na, vielleicht ist er ein toller Fachmann, aber als Mann fand ihn van Holsten nur noch lächerlich. Wenn eine Frau mich vor fremden Ohren als „mein kleiner Süßer“ bezeichnet und den anderen dabei auch noch mit einem koketten Augenaufschlag angeschmachtet hätte, dachte van Holsten, wäre ich sofort mein eigener Auftraggeber. Nach der Datensektion hatte der Cleanmeister Melanie Nowak nur kurz mit der Bezeichnung „Ehehure“ abgetan, so nannte er Frauen, die nur den Lebenszweck kannten, gut versorgt zu sein und dafür mit Sex zu dienen. Er kommentierte noch, dass Nowak wenigstens für sein Geld auch was geboten bekäme. Da kannten sie nur die Bilder von facebook und hatten keine Vorstellung von der quäkenden, schnatternden Stimme dieser Frau. Ein Verschnitt aus Mini Mouse und einer Viva-Moderatorin, beschloss van Holsten seine Betrachtungen und winkte Nowak leicht ungeduldig zur Eile. Der machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem, da die Rücksitze mit allerlei Material belegt waren.
Als sie dann aus dem Sperlingsweg in die Burger Chaussee einbogen, erklärte van Holsten, dass sie leider einen Umweg über die Tagebauleitung in Heinersbrück machen müssten, weil er dringend benötigte Unterlagen abholen solle. Nowak erhob keine Einwände, er hatte sich viel zu sehr auf diesen Termin gefreut, als dass so ein kleiner Umweg ihn gestört hätte, so konnte er sich noch einmal in Ruhe seine Argumente zurechtlegen und sich für die Preisverhandlung wappnen.
Die Fahrt über den Nordring und die B79 in Richtung Peitz verlief schweigend. Als sie an der Schranke der Kohlebahn auf der Landstraße hinter Neuendorf halten mussten, nahm der Fahrer den Arm hinter die Kopfstütze des Beifahrers, als ob er den rückwärtigen Verkehr besser sehen wollte. Nowak sah aus seinen Unterlagen auf; das war das letzte, was er noch tun konnte, dann war es schwarz vor seinen Augen.
Van Holsten hielt den Kopf Nowaks fest und zog das schmale extrem scharfe Messer, das er treffsicher und exakt zwischen den ersten Halswirbel und die Schädelkante getrieben hatte, behutsam heraus. Es hatte kein Geräusch gegeben und es würde auch kaum Blut austreten, das wohl vom leicht fettigen Nackenhaar Nowaks aufgesogen werden würde. Trotzdem zog er mit einer Hand den Jackenkragen weit genug hoch, damit auch wirklich keine Spuren entstehen konnten. Er klemmte Nowaks Kopf zwischen Seitenholm und Kopfstütze so fest, dass jeder, der sie sehen könnte, ihn für einen Schläfer halten würde. Nur war weit und breit niemand. Noch immer ratterten die Kohlewaggons vor ihnen über die Straße und verdeckten die Sicht zur Gegenfahrbahn. Als der Zug vorüber und die Schranken geöffnet waren, konnte van Holsten weiterfahren, nach wie vor allein auf der Landstraße, vorbei an der Hochkippe Bärenbrück in Richtung Guben bis zur Werkseinfahrt des Tagebaus Jänschwalde. Hier bog er auf einen Wartungsweg in das Vorfeldgelände ein. Jeder Beobachter hätte ihn für einen Mitarbeiter auf Kontrolle der Entwässerungspumpen gehalten.
Am letzten Brunnen des östlichen Tagebaurandes, genau entgegengesetzt zum Förderbrückenverband, der schon erleuchtet wie ein Weihnachtsbaum Hunderte Meter entfernt stand, wartete er die Dämmerung ab. Hierher kam am Freitag nach der Frühschicht keiner mehr. Er konnte Nowaks Leiche in aller Ruhe in einen Sack verpacken, sich in einen Overall kleiden und den Arbeitsschutzhelm aufsetzen. Von hier aus waren es nur einige Dutzend Meter bis zur Kante der geschütteten Böschung des Vorschnittes, genug Plackerei, auch wenn Nowak Gott sei Dank ein Hänfling war.
Die Rutschpartie die Böschung hinab erinnerte ihn an das Trainingscamp in der Sahara, nur war es hier nicht so heiß und es war nicht ständig der Corporal mit seiner Gerte und seinem nervenzerfetzenden Vit-Vit á la Louis de Funès und dem Gesicht von Fernandel hinter einem her. Am Fuß der Böschung war es leicht, den Sack mit dem schmächtigen Körper Nowaks unter einem Schwall Sand zu verstecken und ein Stück weiter dasselbe mit seiner Arbeitskleidung, den falschen Nummernschildern und der Autofolie zu tun. Am Montag würden Tonnen von neuem Abraum das Werk vollenden. Nur noch mit Boxer-Shorts bekleidet, arbeitete sich van Holsten die Böschung wieder hinauf, dabei weiter Sand auf die Verstecke rutschen lassend. Nun setzte zu seiner Zufriedenheit noch der schon mehrfach angekündigte Regen ein.
Es blieb ihm nur noch, am nächsten Tag das Mietauto gewaschen und betankt zurückzugeben. Am frühen Nachmittag verließ der holländische Tourist van Holsten nach einem netten Plausch mit der Bedienung des Parkcafés den Caravanstellplatz.
Gabi Metag hatte gerade das Geschirr vom Abendessen fortgeräumt, als es klingelte. Werner, ihr Mann und leitender Kriminalbeamter des Polizeibezirks Süd, rief aus dem Wohnzimmer: „Ich gehe schon“. Er hatte frei an diesem Wochenende und nur schwerste Verbrechen könnten seine Ruhe stören. Die waren in der Lausitz nicht gerade häufig und die ganze Kleinarbeit mit dem Verwaltungskram konnte getrost bis Montag warten.
Vermutlich kam sein Nachbar Siggi auf ein Bier rüber, wie er es öfter tat, wenn sein blondes Gift, wie Metag Siggis Frau Melanie im Geheimen nannte, mal wieder an des Nachbarn Nerven zerrte. Die Verbindung Siggis mit der zwanzig Jahre Jüngeren, sorgte häufiger für Gesprächsstoff bei Metags. Werner wollte gerade ansetzen zu sagen: “Na, Siggi hast du noch immer keinen Spezialkleber für Melanies Stimmbänder gefunden?“, als er in der offenen Tür Melanie persönlich gegenüber stand und seinen Satz gerade noch zu „Na, Siggi ...ist wohl nicht da?“ abwandeln konnte. Da fiel ihm Melanie schluchzend um den Hals: „Du, du weiheißt woho er ist??? Wahas ist ihim passihiert? Es geheeht ihihm doch guhut?“
Es dauerte eine geraume Zeit, bis sie Melanie im Wohnzimmer auf das Sofa verfrachtet und mit reichlich Rescue-Tropfen, Tempotaschentüchern und zwei Doppelten Spreewaldbitter soweit zur Ruhe gebracht hatten, dass sich Metags aus dem Geschluchze und Gestammel der völlig desolaten Nachbarin soviel zusammen reimen konnten, dass Werner zum Telefon greifen und die ersten Erkundigungen einholen konnte. Für eine offizielle Vermißtenanzeige war es noch zu früh. Die Vorstellung, eine hysterische Melanie ein ganzes Wochenende beruhigen zu müssen, denn Gabi würde die junge Frau ja nicht allein lassen, ließ ihn dann doch lieber die Dienstvorschriften etwas strapazieren. Außerdem hatte er auch ein ganz eigenartig mulmiges Gefühl bei der Sache. Siggi war einfach kein Typ, der sich klammheimlich davon machte.
Frank Dockter war mit sich und der Welt zufrieden. Er inhalierte genussvoll den ersten Zug seiner Dunhill und schaute auf das zerwuselte Haar Melanies herab, die noch immer heftig atmend den Kopf an seine Brust lehnte. Mit der freien Hand massierte er zärtlich Melanies Hals unter der blonden Haarflut. Sie begann zu schnurren wie ein behäbiger Kater auf der Ofenbank. Er brauchte jetzt nur mit den Fingerspitzen an ihrem Rückgrat abwärts zu streichen und aus dem Schnurren würde sich die schönste Katzbalgerei ergeben. Aber er hatte anderes vor. Er hob ihre Kinnspitze soweit an, dass er ihr in die Augen sehen konnte. „Liebling, Du bist eine Sensation“, stellte er fest, „aber wir müssen uns langsam fertig machen. Metags warten nicht gerne mit dem Grillen.“ Melanie wäre einer weiteren Runde im Bett nicht abgeneigt gewesen, aber Frankie hatte ja recht. Immerhin waren Metags nicht nur Nachbarn und ihr in dem schweren Jahr nach Siggis Verschwinden eine große Hilfe gewesen. Sie hatten auch ihr Verhältnis zu Frank Dockter, ihrem nur vier Jahre älteren und sehr attraktiven Nachbarn, akzeptiert und die beiden heute gemeinsam zum Grillen eingeladen, damit war in der ganzen Vogelsiedlung dem Klatsch ein Ende gesetzt. Klatsch und Verdächtigungen hatte es in diesem Jahr mehr als genug gegeben. Sie war durch Wechselbäder der Gefühle von Eifersucht, Verzweiflung, Haß und Gleichgültigkeit getaumelt und jetzt so glücklich bei Frankie Ruhe und Sicherheit gefunden zu haben, dass Siggi mehr und mehr zu einer Fata Morgana wurde. Keiner konnte sich erklären, was geschehen war.
Gabi Metag stellte die Platte mit den Häppchen auf den Gartentisch und begutachtete ihr Arrangement zufrieden. Es sollte ja nur ein zwangloser Grillabend unter Nachbarn werden, wie sie in der Vogelsiedlung, der kleinen Gartenidylle in der Großstadt Cottbus üblich waren, zumindest in dem Teil, der noch von den Altansässigen oder ihren Erben bewohnt war. Alle kannten sich, manchen von Kindheit an. Daher war der heutige Grillabend eben doch ein kleines bisschen besonders.
Melanie und Frank würden das erste mal als Paar zusammen daran teilnehmen. Die Nachbarschaft begann, den status quo zu akzeptieren. Gabi fand es ganz natürlich, dass die beiden jungen Leute zusammengekommen waren, nachdem Siegfried so völlig unverständlich und unvorbereitet einfach verschwunden war. Beide, Melanie, wie auch Frank waren vorübergehend verdächtig gewesen, einzeln oder gemeinsam Siegfried beseitigt zu haben, zumindest in den Gesprächen der Nachbarschaft. Bei der Polizei wurde die Vermisstenanzeige, die Melanie mit Unterstützung durch Werner Metag, der sich da ja nur zu gut auskannte, damals gemacht hatte, durchaus ernst genommen. Nicht nur, weil der Chef persönlich den Daumen drauf hatte, wie es die Kollegen nannten, sondern auch weil der Fall so außergewöhnlich war. Doch auch nach einem Jahr verliefen alle Spuren im Sand.
Werner Metag stellte die Kiste mit dem Eis und dem Bier neben den Gartentisch und ließ eines der kleinen Eisstückchen seiner Frau ins Dekolletee gleiten. Gabi schüttelte sich und gab ihm einen Klaps auf die Hand. „Werden Sie mal erwachsen, Herr Kriminalkommissar!“, verlangte sie lachend, um dann mit einem Kopfnicken zum Tisch mit den Salaten und Platten zu fragen „Zufrieden? Meinst Du, es wird reichen?“ Für Metag war es immer ein Anlass zum Schmunzeln, wenn seine Frau Befürchtungen zeigte, dass das Essen nicht reichen könnte. „Ich glaube, die nächsten sieben mageren Jahre können wir damit überstehen, es sei denn, Du hast noch die Stadtverordnetenversammlung und Energie Cottbus eingeladen.“
Er nahm seine kleine, zierliche Frau von hinten in die Arme und legte sein Kinn auf ihren Kopf. Nach einem Moment der Ruhe, kam die von ihm schon längst erwartete Frage: „Es gibt wirklich nichts Neues von Siggi? Was glaubst Du, lebt er noch?“ Werner zögerte einen Moment. „Als Kriminalist meine ich, dass er tot ist, aber ich habe keine blasse Ahnung warum und wie. Alles, was wir herausgefunden haben, ergibt keinen Sinn. Unsere Wirtschaftsleute können eine Straftat im Zusammenhang mit seinen Entwicklungen in der Materialforschung nicht völlig ausschließen, halten aber eine Tötung in dem Zusammenhang für mehr als unwahrscheinlich. Als alter Bekannter hoffe ich natürlich, dass er noch lebt.“ Mit einem versonnenen Lächeln meinte er dann: „Manchmal stelle ich mir vor, dass er seine Unterlagen geschnappt hat und sein Wissen irgendwo im Ausland für ordentlich viel Geld verkaufen konnte und jetzt in der Karibik ist, irgendwo am Strand Caipirinha schlürft und sich’s gut gehen lässt.“ „Ach ja,“ seufzte Gabi, „die Vorstellung, dass er im warmen Sand liegt und seine Ruhe hat, gefällt mir.“
Frank fuhr sich mit dem Handrücken unter dem Kinn entlang, nein, er mußte sich nicht noch einmal rasieren. Etwas selbstverliebt sah er in den Spiegel und nickte sich zu: „Hattest letztendlich doch ein gutes Jahr, altes Haus.“ Seine Online-Börsengeschäfte liefen bestens. Aus den Risikoanlagen hatte er ordentliche Gewinne ziehen können und aus den neuen Märkten war er rechtzeitig ausgestiegen. Sein Elternhaus hatte er nach Mutters Tod vernünftig modernisieren können. Und mit Melanie hatte es auch geklappt, wie er es beim Urlaub in der Dominikanischen Republik geplant hatte.
Damals am Strand hatte es begonnen, als sie herausgefunden hatten, dass sie ja eigentlich Nachbarn waren in Cottbus. Offiziell hatte er dort noch immer Wohnrecht im Haus seiner Mutter, die 1989 nicht mit ihrem Mann aus Ungarn über die Grüne Grenze gegangen war. Der Vater hatte ihn damals einfach in den Trabi gesetzt und gesagt: „Wir machen heute einen Ausflug“ und war vom Campingplatz aus in den Westen gefahren. Frank konnte sich nicht mehr daran erinnern, aber Vater hatte es oft genug erzählt. In den Erzählungen hatte die Mutter sie im Stich gelassen, weil der die blöde Arbeit wichtiger gewesen sei, als die Freiheit und der Wohlstand der Familie. Vom Vater hatte er das Rechnen gelernt und auch, dass letztlich nur zählt, was einer sich leisten kann. Bei Frauen, so hatte ihm der Vater eingeschärft, zählt das Aussehen und dass sie sich dem Mann unterordnen. Er solle bloß nicht den gleichen Fehler machen, wie sein Vater und sich eine Frau nehmen, die ständig ihre Meinung durchsetzen will und der die Familie nicht über alles ging.
Mit Melanie hatte er genau das gefunden, wovon sein Vater immer geträumt hatte. Er sah zu ihr hinüber und beobachtete, wie sie sich anzog. Doch, dachte Frank, die 25.000,- Euro an die Clean Up International Inc. waren eine sehr gute Investition.

Impressum

Texte: Birgit Turski
Bildmaterialien: Birgit Turski
Tag der Veröffentlichung: 06.04.2012

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