Verärgert sah Tim Diedrichsen auf die Uhr. Es war schon beinahe halb 10. Die anderen würden schon ungeduldig werden. Was war nur mit ihm los? Für gewöhnlich hatte er keine Probleme mit dem Aufstehen, aber heute morgen hatte er den Wecker noch nicht einmal gehört und war erst Stunden später mit viel Mühe aus dem Bett gekrochen. So ganz wach fühlte er sich noch immer nicht. Deshalb hatte er sich auch entschlossen, mit dem Taxi zum Treffen zu fahren. Der Wagen hielt am Ziel. Mit einem verwunderten Blick auf die Polizeiautos, die hier im Dutzend vorm Eingang standen, bezahlte er den Fahrer. „Was hier wohl los ist“ fragte der sich als er seinem Blick folgte. Tim hob kurz die Schultern und wies mit einem Nicken auf zwei Zivilfahrzeuge mit aufgesetztem Einsatzlicht auf dem Dach. „Sieht nach was Größerem aus. Die Kripo ist da.“ „ Sie kennen sich wohl aus?“ Ein müdes Lächeln kroch über Tims Gesicht. „Nicht mehr und nicht weniger als jeder andere Sonntag-Abend-Tatort-Kommissar.“ Er stieg aus, ging zum Eingang hinüber, grüßte den Beamten, der dort Wache stand, freundlich und trat in den Fahrstuhl. Was hatte Ed gesagt, welche Wohnung er hatte? Im 8. Stock links vom Fahrstuhl gleich die erste Tür. Die Fahrstuhltür öffnete sich und er trat suchend auf den flur. Das erste was er sah, war allerdings nicht der leere Flur, mit dem er gerechnet hatt. Um ihn herum summte es vor Betriebsamkeit. Witzig, da trafen sich die Hobby-Detektive zu einem entspannten Krimi-Rollenspiel und die echte Polizei arbeitete auf dem selben Flur an einem echten Fall. Grinsend ging er ein paar Schritte den Flur entlang, doch dann blieb er plötzlich stehen. Links vom Fahrstuhl gleich die erste Tür. Da wollten sie sich treffen. Die Tür stand offen. Das war die Tür durch die die Polizei ein und aus ging! Wie betäubt ging er weiter. Was war passiert? „Bitte entschuldigen sie ...“ sprach er den Beamten an, der an der Tür stand. „Mein Name ist Tim Diedrichsen. Dies hier ist doch die Wohnung von Edward Roterberg?“ Der Uniformierte nickte nur. „Was ist hier passiert? Hier sollte heute ein Treffen stattfinden.“ Eine junge Frau trat dazu. „Dann sind sie der 10. Mann? Das Mitglied dieser Rollenspielgruppe, das nicht aufgetaucht ist?“ Tim nickte stumm. „Kommen sie mit!“ Sie nickte dem Beamten an der Tür kurz zu und ging voran. Als er das Wohnzimmer betrat, konnte er einen erschrockenen Schrei nicht unterdrücken. Da lag ein Mann – alle Viere weit von sich gestreckt – auf dem Couchtisch. Das Messer steckte noch immer in seiner Brust. Er sah sich um. Nichts deutete auf einen Kampf hin. Und – das sah genau aus wie das, was er sich als Fall ausgedacht hatte, sollte die Wahl an diesem Tag auf ihn fallen. Wie konnte das sein? Er hatte mit niemandem darüber gesprochen! „Tim? Tim Diedrichsen? Du bist der 10. Mann?“ Langsam sah Tim auf. Die Stimme kannte er doch. Das konnte doch … „Danny! Danny Wallander Schuster!“ Tim lachte auf. „Na, wenn das mal nicht der Chefermittler persönlich ist!“ Er deutete auf den Toten. „Wer ist das? Ed?“ Verwirrt starrte der Kommissar ihn an. „Nun, nach den Aussagen der anderen acht Mitglieder dieser Gruppe, solltest du wissen, wer das ist. Schließlich musst du ja der Mörder sein!“ meinte er schließlich mit mildem Lächeln. Tim lachte. „Ich? Das glaubst du doch selber …“ Plötzlich hielt er inne. „Oh! Natürlich tust du das. Das ist dein Job. Ich bin ja auch grade der perfekte Verdächtige!“ Erstaunt sah die Frau, die noch immer neben dem Kommissar stand, ihn an. „Wieso? … Oh, ich habe vergessen mich vorzustellen: Beate Stein.“ Sie reichte Tim die Hand. „Wieso? 1. Ich bin neu in der Gruppe. Vielleicht habe ich mich ja nur eingeschlichen, um Ed umzubringen. 2.Ich tauche nicht zur verabredeten Zeit bei der Gruppe auf – rufe auch nicht an, dass ich mich verspäte. Warum sollte der Mörder auch zurückkommen? 3. Ich habe kein Alibi!“ Kommissar Schuster lächelte. „Das wissen wir noch nicht!“ „Ich fürchte doch! Es sei denn, der Todeszeitpunkt war gestern vor …“ Er dachte kurz nach. „ Ich würde sagen vor 20 Uhr. Ich denke so um diese Zeit müsste Susanne gegangen sein, gleich danach bin ich schlafen gegangen und bin erst heute morgen um neun wieder aus dem Bett gekrochen.“ Er gähnte unterdrückt. Kommissar Schuster starrte ihn an. „Aber das sind ja satte 12 Stunden! Und du siehst immernoch nicht wirklich wach aus. Das passt ja gar nicht zu dir!“ Tim nickte. „Ja, ich weiß auch nicht was mit mir los ist.“ Ernst sah der Kommissar seinen alten Freund an. „Hast du Feinde?“ Verdutzt starrte Tim ihn, aber plötzlich grinste der Kommissar. „Ich habe da eine Idee. Ich bin froh, dass ich zumindest einen der Verdächtigen ausschließen kann, aber der Chef wird damit nicht glücklich sein. Wir werden dich trotz allem durch den Erkennungsdienst jagen müssen. Bist damit einverstanden, wenn wir dich offiziel weiter als Hauptverdächtigen handeln? Vielleicht lässt sich der Täter zu einem Fehler hinreißen.“ Tim starrte ihn stöhnend an. „Den ganzen Erkennungsdienst? Mit Fingerabdrücken und Speichelprobe und dem ganzen Tamtam? … Krieg ich 'nen Kaffee?“ „Ist das ein Ja?“ Mit einem müden Grinsen nickte Tim. „Hast du was Anderes erwartet?“ „Nein, nicht wirklich!“ Er wandte sich seiner Kollegin zu. „Bea, du nimmst ihn mit auf's Revier. Ich will das ganze Programm! Oh, und ich brauche eine Blutprobe. Der Doc soll ihn auf alle üblichen Arten von K.-O.-Tropfen testen!Tim gehört üblicherweise zu den Leuten, die nicht länger als drei oder vier Stunden am Stück schlafen. Da stimmt was nicht! Tim, ich brauche Zutritt zu deiner Wohnung.“ Verwundert sah Tim ihn an, doch dann nickte er nur und reichte dem Freund die Schlüssel. Er lächelte die Kommissarin an. „Bringen wir es hinter uns?“ Sie nickte knapp und ging voran.
„Also, fassen wir noch mal zusammen: Da ist eine Rollenspielgruppe, die sich auf Krimis spezialisiert hat, und ein neues Mitglied sucht – vermutlich weil die Geschichten, die sie sich ausgedacht haben langsam langweilig wurden. Du gerätst mitten in ihre hitzige Debatte über den perfekten Mord und wirst eingeladen in der Gruppe mitzumachen. Da das ganze aber via Internet passiert weiß keiner wer du bist und du weißt auch nicht wer sie sind.“ Tim nickte. „Richtig!Mit Susanne habe ich mich gestern getroffen, sie wollte mir noch das Handwerkszeug bringen.“ Er schnaubte. „Als ob es nicht gereicht hätte, wenn ich das heute früh bekommen hätte. Zumal einen Block und einen Bleistift hätte ich noch gerade selber gehabt! Aber egal: Wir haben uns also um gestern um 19 Uhr getroffen und haben einen Kaffee zusammen getrunken. Um 19 Uhr 30 etwa wurde ich plötzlich furchtbar müde und Susanne hat mich mit ihrem Auto nach Hause gefahren. Ich weiß, dass sie noch mit rein gekommen ist, habe aber keine Ahnung wann sie gegangen ist. Ich nehme nicht an, dass sie lange geblieben ist.“ Kommissar Schuster nickte nachdenklich. „Und heute morgen hast du deinen 7-Uhr-Wecker überhört und bist erst um 9 Uhr mit Mühe und Not aus dem Bett gekrochen. Soviel also zu deinem nicht vorhandenen Alibi.“ Er stand auf und trat an die große Pinnwand, an der seine Notizen hingen. Es klopfte und die Kommissarin Stein trat ein. „Ich habe ein gute und eine schlechte Nachricht. Die gute ist, der Toxikologiebericht von Herrn Diedrichsen ist da. Er kann tatsächlich unmöglich der Täter sein. Sie haben so viel Temazepam im Blut, dass der Doc sich gewundert hat, dass sie überhaupt schon wieder auf den Füßen sind.“ Tim runzelte die Stirn. „Schön und gut, aber ich befürchte, das alleine reicht noch nicht. Ich hätte das Zeug auch nach dem Mord nehmen können.“ Sie lächelte. „Das stimmt. Das haben sie auch. Aber unfreiwillig! Jemand hat sich an sämtlichen Getränken in ihrer Wohnung zu schaffen gemacht. Da war überall Temazepam drin!“ „Wie bitte? Wollte die mich vergiften?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich nehme an, sie wollte sichergehen, dass sie nicht heute morgen nicht auftauchen.“ Der Kommissar nickte zufrieden. Genau so hatte er sich das vorgestellt. „Und was ist die schlechte Nachricht?“ „Das Messer ist nicht die Tatwaffe! Hier ist der Obduktionsbericht.“ Tim stöhnte. Das wurde ja immer besser! „Bitte sagen sie mir nicht, das die Tatwaffe lang, dünn und stumpf gewesen ist. So etwas wie ein Wetzstahl zum Messer schärfen.“ Die Kommissarin starrte ihn mit offenem Mund an. „Woher zum Teufel wissen Sie das?“ Der Kommissar grinste. „Das ist der Fall, an dem unser Jahrgang an der Akademie sich die Zähne ausgebissen hat. Wir nannten das den perfekten Mord. Soweit ich mich erinnere hat es niemand geschafft diesen Fall zu lösen – außer Tim. Offenbar hast du doch einen Feind, mein Freund! Überprüfen wir noch mal unsere Verdächtigen.“ Er pinnte acht Fotos an die Wand und Tim und die Kommissarin traten näher. Eines nach dem anderen sah Tim sich die Leute an, die zu dieser Krimi-Runde gehört hatten und versuchte sie zu identifizieren, ihnen Namen zuzuordnen, doch dann stutze er. „Aber das ist ja … Danny, erinnerst du dich an Thorsten? Thorsten Bleil? Das da …“ Er zeigte auf eines der Fotos. „Das ist seine kleine Schwester!“ Danny nickte langsam. „Und ich wette, sie kannte dieses Szenario! Bea, überprüfe die junge Dame doch bitte mal unauffällig.“ Tim starrte noch immer auf die Fotos. „Könnten Sie mir einen Gefallen tun, Frau Stein?“ Er zeigte auf das letzte in der Reihe der Fotos. „Das hier ist Sandy Meiers. Ich habe sie letzte Woche rausgeworfen, weil ich sie mit Betäubungsmitteln erwischt habe, die ihr mit Sicherheit niemand verordnet hat. Ich hielt es für Drogenmißbrauch am Arbeitsplatz und habe es bei der Kündigung belassen, aber wenn es eine Verbindung zwischen diesen drei Frauen hier gibt, war es vielleicht doch mehr ...“ Er nahm die Fotos von Martina Bleil, Sandy Meiers und Susanne Evers ab und pinnte sie als Gruppe an anderer Stelle wieder an. „Was wissen wir über das Opfer?“ Danny lächelte. „Na endlich! Langsam wachst du wieder auf! Edward Roterberg ist Mitarbeiter des Jahres bei der Commerzbank. Offenbar ein fähiger Kopf was das Finanzmanagement angeht, aber einige seiner Kollegen schienen gar nicht traurig zu sein über sein Schicksal. Die Kollegen ermitteln da noch.“ Tim lachte. „Ich wette mit dir, dass da Unterschlagungen im Spiel waren, ein paar falsche Opfer, vielleicht sogar ein Selbstmord. Und das hier …“ Er klopfte mit dem Zeigefinger auf das Foto des Opfers. „ Das war die Rache dafür.“ „Ich kann mich hüten, mit dir zu wetten, alter Freund. Für gewöhnlich gewinnst du nämlich.“ Es klopfte schon wieder und Beate Stein kam wieder herein. „Sie hatten Recht, Herr Diedrichsen. Die drei Damen kennen einander. Offenbar sind zwei der Damen Opfer der privaten Anlageberatung von Edward Roterberg, wodurch ihnen eine hübsche Summe Geld verloren gegangen ist. Sandy Meiers war einfach nur eine Freundin, die ihnen bei der Rache helfen wollte.“ Sie sah auf den Ordner in ihrer Hand. „Ach ja, das hier ist der Bericht der Kollegen über das Opfer.“ Sie reichte Danny den Ordner, der ihn neugierig aufschlug und den Bericht überflog. „Offenbar hattest du auch da Recht. Dieser Edward Roterberg war ganz schön umtriebig. Bei der Bank gab es tatsächlich eine Entlassung wegen Unterschlagungen. Ein gewisser Thomas Becker, der jedoch nach Meinung der Überzahl der Kollegen völlig unschuldig ist.“ Tim nickte. „Und meines Wissens der Verlobte von Sandy Meiers war. Das nenne ich Teamwork! Martina hat das Verbrechen bis ins kleinste Detail geplant, Sandy hat den Sündenbock geliefert – nämlich mich – und Susanne hat diesen Sündenbock kalt gestellt. Alle Achtung!“ „Darf ich sie mal was fragen, Herr Diedrichsen?“ „Tim!“ grinste er. „Tim … Warum sind sie nicht bei der Kripo?“ Tim lachte. „Aber das bin ich doch! Nur ein paar Etagen höher als mein alter Freund Danny Wallander Schuster. Zu ihrem Pech hat Sandy Meiers zwar herausgefunden auf welchen Seiten ich mich im Internet herumtreibe und mit welchem Nickname ich arbeite, meine Scheinidentität als Personalchef im städtischen Krankenhaus hat sie nicht durchschaut.“ Danny grinste. „Tim ist das, was man früher vielleicht einen Spezialagenten genannt hätte, Bea. Er spürt die wirklich großen Verbrecher auf. Und er ist der Beste!“
Tag der Veröffentlichung: 22.04.2010
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