Es ist große Pause in der Realschule Westerland. Man hört das an dem fröhlichen Gelächter, das durch die geöffnete Sekretariatstür bis hier hinauf auf den Flur klingt. Ein bisschen seltsam ist es schon, jetzt über diese Flure zu gehen. Bis vor ein paar Wochen - was sage ich - bis vor ein paar Tagen, hätte ich mich um diese Uhrzeit kaum getraut, meine Nase auf einem der oberen Flure zu zeigen. Gespannt blicke ich über die Klassenfotos, die gegenüber dem Sekretariat an der Wand hängen - eines für jede Abschlussklasse. Nein, unsere hängen noch nicht, aber wer hätte das auch tatsächlich erwartet? Die Prüfungen liegen ja kaum mehr als eine Woche zurück. Lächelnd wende ich mich ab und gehe die Treppen zum Nordeingang hinunter. Auf dem Treppenabsatz bleibe ich stehen. Wehmütig sehe hinauf zu den Lehrerkarikaturen über mir. Ich habe nie zu den beliebtesten Schülerinnen gehört. Im Gegenteil: Wenn ich Glück hatte, bin ich einfach ignoriert worden, ansonsten war es normal, dass ich gehänselt und geärgert wurde. Wie jedes andere dicke Kind eben auch. Aber dennoch, ich hatte auch glückliche Zeiten in dieser Schule und es ist das letzte Mal, dass ich diese Schule sehe. Mit einem Seufzer setze ich meinen Weg fort. Ein paar Schritte weiter biege ich um die Ecke und strebe dem Ausgang zu. Einen Moment bleibe ich vor dem schwarzen Brett stehen und beobachte grinsend das Treiben im Eingangsbereich. Der Schulkiosk hat geöffnet und offenbar steht mein ehemaliger Mathelehrer, Herr Lehrfürst, persönlich hinter dem behelfsmäßigen Tresen, der aus ein paar alten Pulten besteht. Ein paar von den älteren Schülern, versuchen vergebens ein bisschen Ordnung in das Chaos vorm Kiosk zu bringen. Es dauert einen Moment ehe ich begreife, dass diese beiden Figuren, die da grinsend mitten in der Menge stehen, eigentlich genauso wenig hier sein sollten, wie ich. Meine Stimmung sinkt auf den Nullpunkt. Diese Typen nerven mich schon seit Jahren. Der eine ist lang und spindeldürr. Er hat eine wahrhaftige braune Löwenmähne und heißt Ole Johannsen. Der andere steht direkt daneben und ist gut ein Kopf kleiner als Ole. Die langen Ponyhaare seiner glatten, coolen Frisur fallen ihm in dunkelblonden Bahnen in die Stirn. Noch haben sie mich nicht gesehen und ich überlege noch, dass ich besser weiter gehen sollte, aber es ist schon zu spät. Sie haben mich entdeckt. Ole schreit mir schon seine üblichen miesen Sprüche entgegen. Der andere, er heißt Torben Nielsen, geht darauf ein. Mit einem spöttischen Lachen, das irgendwie gar nicht zu seinem Gesichtsausdruck passt, kommt er auf mich zu. Stumm bleibe ich stehen, sehe Torben stirnrunzelnd entgegen. Was hat er nur vor? Ich bereite mich darauf vor, mich zu wehren. Aus Torbens Lachen wird jedoch ein freundliches Lächeln, als er mir stumm den Arm um die Schultern legt und mich mit sanftem Druck auffordert mit ihm zu gehen. Für einen Moment weigere ich mich, mich zu bewegen. Noch immer habe ich ein bissen Angst vor dem, was mich erwartet. Doch dann spüre ich etwas. Unsicherheit. Und das ist nicht nur meine eigene Unsicherheit. Endlich gebe ich dem Druck nach und lasse mich führen, auf Ole zu, an ihm vorbei und hinaus auf den Hof. Mehr um nicht aufzufallen, als aus ehrlicher Zuneigung überwinde ich meine Berührungsängste und lege ich meinen Arm um ihn. Erst nach ein paar Augenblicken reagiert er darauf. Er bleibt stehen und sieht mich an. Fragend, forschend. Ich sehe in diese blauen Augen und was ich dort sehe ist nicht Spott sondern ehrliche Freude. Plötzlich merke ich, was ich vorher nie hatte wahr haben wollen. Ich mag diesen Jungen. So oft war ich in der Vergangenheit beinahe heulend nach Hause gegangen - wegen ihm - und doch empfinde ich in diesem Moment eine Zuneigung für ihn, die ich nie für möglich gehalten hätte. Plötzlich weicht alle Unsicherheit von ihm und er lacht auf. Es ist ein befreites und befreiendes Lachen, nicht das hämische Lachen, das ich von ihm gewöhnt bin. Als er sich zum Eingang dreht und Ole lachend zuwinkt, lehne ich mich ein bisschen an ihn. Arm in Arm stehen wir mitten auf dem Schulhof, mitten zwischen den “Kleinkindern“, die Torben immer so gerne geärgert hat. Ich lächle. Das habe ich schon fast verlernt - ich meine in Torbens Gegenwart. Die Schulglocke klingt laut über den Hof. Unter ziemlicher Lärmentwicklung stürmen die “Kleinen” ins Gebäude. Über den Lärm hinweg schreit Torben der spindeldürren Löwenmähne, die kichernd und lachend im Eingang steht und noch immer glaubt, Torben mache sich einen Spaß mit mir, zu: “Ich habe eine Freundin!!!” Er lacht noch immer. Es ist ein ansteckendes Lachen und ich muss mitlachen. Wir lachen über all die dummen Sprüche, der letzten Jahre. Torben sieht mich mit seinen leuchtenden Augen an und drückt mich ein bisschen. “Ja,” denke ich, “du hast eine Freundin.”
Tag der Veröffentlichung: 16.11.2009
Alle Rechte vorbehalten