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Ein neues Leben


Lächelnd trat Julia zu ihrem Freund. »Guten Morgen!« Grinsend wandte er dem Fenster den Rücken zu und sah sie an. »Guten Morgen, kleine Kürbishexe!« Sie hob warnend den Finger. »Du, pass auf, mein Freund! Ich mag diese Hexe tatsächlich nicht sonderlich, also lass sie bitte in Zukunft aus dem Spiel!« Sie lächelte zwar, klang dabei aber so ernst, dass das Grinsen auf seinem Gesicht gefror. »Entschuldige! Ich wollte dir nicht weh tun!« Sie küsste ihn lächelnd auf die Wange. »Ist schon OK! Denk einfach beim nächsten Mal daran. Ja?« Er nickte schluckend und fuhr sich verlegen mit der Hand über die Stelle, die sie gerade geküsst hatte. Plötzlich musste sie lachen. »Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, wie süß du bist, wenn du rot wirst?« Er errötete noch tiefer und wandte das Gesicht ab. »Ohje, entschuldige! Ich wollte dich nicht ärgern! Das war nur …« Sie schluckte schwer. »Ist alles OK, Liebling! Mach dir keine Gedanken!« »Das tue ich aber!« Seufzend lehnte sie sich an ihn. »Ich hätte nie gedacht, wie schwer es ist ein Paar zu sein, wenn man sich so wenig kennt, wie wir beide!« Schützend legte er seine Arme um sie. »Wir werden einander schon noch besser kennen lernen, Liebling! Wichtig ist jetzt nur, dass wir einander lieben.« »Aber ist das wirklich Liebe, Mika? Bist du sicher, dass wir uns das nicht doch alles nur einbilden?« Er fasste sie an den Schultern und sah ihr erstaunt in die Augen. »Julia, das meinst du doch jetzt nicht ernst, oder? Du bist die Trägerin San Tanadinas und zweifelst ausgerechnet daran?« Lächelnd wischte sie sich über die Augen, in denen Tränen schwammen. »Dumm, nicht wahr?« »Ein kleines bisschen. Ja!« nickte er und zog sie wieder an sich. »Aber das macht nichts! Ich liebe dich genauso wie du bist!« »Danke, Mika! Ich liebe dich auch!« “Guten Morgen!” Sie sahen auf. Die Lehrerin war mit dem Gong eingetreten. Seufzend lösten sie sich voneinander und setzten sich auf ihre Plätze. “Schön, dass die beiden Herrschaften aus den Flitterwochen zurück sind. Darf ich fragen wo ihr gestern gewesen seid? Oder gibt es im siebten Himmel keinen Montag?” Julia sah die Lehrerin überrascht an. Eigentlich war Frau Junge immer total nett! Sie legte ihre Hand an San Tanadina und warnte ihren Freund stumm. “Bitte entschuldigen Sie, Frau Junge. Es ging uns am Wochenende nicht gut und waren beide gestern noch mal beim Arzt.” Die Lehrerin sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. “Und? Wo ist die schriftliche Entschuldigung?” fragte sie launig. Erschrocken sah Julia zu Mika hinüber. »Was machen wir jetzt?« Er griff nach San Tanabea. »Da müssen wir wohl mogeln! Ich mach das schon!« Er sah die Lehrerin an. “Entschuldigung! Ich fürchte, die habe ich in der Jackentasche vergessen. Darf ich kurz hinaus gehen und sie holen?” “Ich warte!” Mika stand ruhig auf und ging an ihren unruhigen Klassenkameraden vorbei auf den Flur hinaus und schloss die Tür hinter sich. Sprachlos starrten die Jugendlichen hinter ihm her während die Lehrerin Julia böse anblitzte. “Warum hat Kiyoshi deine Entschuldigung?” “Ich hatte gestern keine Tasche dabei, als wir zum Arzt gingen. Da hat Mika meine mit eingesteckt.” Frau Junge rümpfte die Nase. Dabei sah sie aus als ob sie noch nach irgendetwas suchte, an dem sie etwas auszusetzen haben könnte. Zum Glück kam Mika wieder herein und reichte ihr zwei Zettel. “Bitte, Frau Junge, hier sind die Belege. Bitte entschuldigen sie die Verzögerung.” Sie schnappte ihm die Papiere aus der Hand und begann sie zu studieren. Offenbar fand sie nichts auszusetzen, denn schließlich legte sie beide Zettel ins Klassenbuch und sah sich mit kalten Blicken in der Klasse um. Julia und Mika sahen einander stumm an, aber die anderen tuschelten leise miteinander. Ein solches Auftreten waren sie von der Lehrerin nicht gewöhnt. “Ruhe! Wir wollen jetzt endlich mit dem Unterricht beginnen.” Sie schlug mit dem Klassenbuch auf den Tisch und sofort schwiegen alle erschrocken. Mit scharfer Stimme gab sie an, dass sie eine halbe Stunde Zeit hätten, um eine lange Reihe schwieriger Algebraaufgaben aus dem Buch zu lösen und setzte sich dann hinter ihr Pult. Die Jugendlichen sahen einander verwirrt an. Es stimmte, dass diese Aufgaben dran waren, aber dummerweise hatte die Lehrerin ihnen noch nicht erklärt, wie sie zu lösen waren. Sie hatten heute mit dem neuen Kapitel beginnen wollen. Niemand wagte jedoch, die Lehrerin darauf anzusprechen. Sie begannen wieder zu tuscheln und sofort schlug Frau Jung wieder mit dem Klassenbuch auf den Tisch und bellte “Ruhe!” Es wurde wieder ruhig. »Was ist bloß los mit ihr?« Mika spielte nachdenklich mit seinem Anhänger und starrte angestrengt in sein Buch. »Ich habe keine Ahnung! Aber bis wir es herausfinden, müssen wir wohl mitspielen.« »Das sagst du so leicht! Ich habe keine Ahnung, wie das hier geht!« »Ich auch nicht! Du hast nicht zufällig einen Mathematiker in der Familie?« »Mein Vater war Mathematiker, aber das nutzt …« Fassungslos starrte sie ihn an. »Ich könnte dich küssen! Das ist die Lösung! Mein Vater kann uns jetzt sofort helfen.« »Wie das denn?« Sie grinste. »Naja, er ist tot!« Einen Moment starrte er sie verwundert an, aber dann begriff er offenbar, was sie meinte, denn ein Lächeln huschte über sein Gesicht. “Wollt ihr wohl endlich anfangen zu arbeiten?” Frau Junge hatte sich bedrohlich über ihnen aufgebaut. “Ja, natürlich, sofort!” Erschrocken beugten die beiden sich über ihre Hefte und schrieben die erste Aufgabe aus den Büchern ab. Sobald die Lehrerin ihnen den Rücken gekehrt hatte, schloss Julia die Augen und suchte hinter der Tür in ihrem Geist, hinter der das gesamte Wissen ihrer Ahnen versteckt war, nach einer Antwort auf die Frage, wie man mit diesen Aufgaben umging. Zu ihrem Erstaunen, war es fast als ob tatsächlich ihr Vater da war und ihr half. Sie zog San Tanadina aus der Scheide und legte die Hand mit dem Dolch offen auf den Tisch. »Bitte sorg dafür, dass dich niemand sieht, San Tanadina.« Der Dolch antwortete mit einem leichten Zittern. »Ich glaube, wenn wir mit San Tanadina und San Tanabea unseren Geist miteinander verbinden, können wir gemeinsam arbeiten.« Im nächsten Moment spürte sie Mikas Anwesenheit in ihrem Geist und öffnete erneut die Tür. Es dauerte keine 10 Minuten, bis sie die Vorgehensweise begriffen hatten und alleine weiter arbeiten konnten. Ihr Vater musste ein toller Lehrer gewesen sein. Mit einem etwas unsicheren »Danke, Dad!« verschloss sie die Tür. Sie ahnte mehr als dass sie es wirklich hörte, dass ihr Vater tatsächlich »Bitte, mein Kind!« antwortete. Konnte sie wirklich direkt mit ihrem Vater Kontakt aufnehmen? Das musste sie später unbedingt ausprobieren! Für den Augenblick hatte sie keine Zeit für Experimente. Sie arbeitete zügig weiter und blieb dabei mit Mika in Kontakt. Am Ende der Stunde waren sie die Einzigen, die ihre Aufgaben geschafft hatten, ärgerten sich aber genau wie die anderen über den Berg von Hausaufgaben, den sie noch zusätzlich aufbekamen. Gleich nach der Pause hatten sie Geschichte - mit Frau Junge. Wenn sie ihnen da genauso einen Berg Aufgaben aufdrückte, konnte das ein toller Nachmittag werden! Julia sah ihren Freund nachdenklich an. »Vielleicht ist es am Besten, wenn wir schon mal anfangen. Je mehr wir in den Pausen schaffen, desto besser. Ich will nachher noch mal nach den Anderen sehen.« Mika nickte. »Vielleicht hast du Recht. Es wäre schön, wenn wir uns noch mal alle treffen könnten. Um so besser können wir einander kennen lernen.« Sie machten sich also über ihre Aufgaben her und quälten sich durch eine weitere Stunde mit ihrer Klassenlehrerin, die sie auch in der Geschichtsstunde nur Stillarbeit machen ließ und ihnen noch mehr Hausaufgaben aufhalste. In der folgenden Stunde hatten sie Englisch bei ihrem Konrektor und alle beschwerten sich bitter bei ihm, wie gemein Frau Junge heute zu ihnen gewesen war. Herr Arzbach nickte ernst und hob die Hand. “Ich kann euch ja verstehen, dass ihr aufgeregt seid. Wir haben uns auch schon ein wenig über ihr Benehmen heute gewundert, aber, meine Lieben, so lange wir nicht wissen, was passiert ist, dass sie sich so verändert hat, müssen wir mit ihrer neuen Art leben. Vielleicht ist sie einfach im Moment überlastet. Versucht euch gegenseitig zu helfen und wenn etwas unklar bleibt, dann kommt zu mir. Wir werden jedes Problem irgendwie lösen.” “Aber wie sollen wir allein heute unsere Matheaufgaben machen? Sie hat uns nicht mal erklärt wie die gerechnet werden!” “Genau! Wir haben die ganze Stunde dagesessen und versucht es selbst heraus zu finden, aber …” Julia und Mika sahen einander an. »Was meinst du? Immerhin stehen wir für Liebe und Freundschaft.« Julia nickte düster. »Wann? Gleich nach der Schule?« »Meinst du nicht, wir sollten erst ‘ne Mittagspause machen? Dann können vielleicht alle wieder klar denken.« Sie nickte. »Ist gut. Das wird sowieso deine Stunde sein. Von mir wissen alle, dass ich in Mathe genauso eine Niete bin wie in Englisch.« »Das stimmt doch gar nicht! Du hast das doch schnell begriffen - jedenfalls schneller als ich!« Sie seufzte und hob die Hand. Überrascht rief der Lehrer sie auf. “Nanu, Julia?” Sie fühlte alle Blicke auf sich gerichtet und sah sich kurz um. Niemand hatte je gesehen, dass sie sich freiwillig gemeldet hatte. “Wenn ihr wollt, können Mika und ich euch die Aufgaben erklären. Wir haben herausgefunden, wie sie gerechnet werden.” Ungläubig starrten sie alle an. Es gab ein paar in der Klasse, die bessere Noten hatten als Julia - eigentlich waren das alle - und niemand sonst hatte auch nur annähernd den Lösungsweg für diese Aufgaben gefunden. “Ausgerechnet du Looser willst uns erklären, wie wir diese Aufgaben rechnen sollen? Du bist die Schlechteste in unserer Klasse!” Julia sah Mika bedeutungsvoll an. “Aber das heißt doch noch lange nicht, dass sie dumm ist! Immerhin ist sie schneller dahinter gekommen als wir alle. Wir beiden haben den größten Teil der Aufgaben bereits gelöst.” “Und wer sagt uns, dass ihr richtig gerechnet habt?” Mika lächelte. “Nun, Herr Arzbach, vielleicht sind sie ja so nett und prüfen das nach?” Der Lehrer nickte stumm - noch immer etwas verwirrt, dass ausgerechnet diese beiden Außenseiter ihre Hilfe anboten. Julia reichte ihm ihr Matheheft. Er zog die Brauen hoch und blätterte durch die Seiten, die sie in den Stunden zuvor benötigt hatte, um die Aufgaben zu lösen. “Erstaunlich! Die sind tatsächlich alle tadellos in Ordnung! Wie kommt es, dass du bisher so schlecht abgeschnitten hast?” Julia hob die Schultern. “Ich weiß nicht! Vielleicht kommt ja endlich etwas von meinem Vater durch. Der hat Mathe studiert, soweit ich weiß.” Einen Moment lang sah der Lehrer skeptisch drein, wandte sich dann aber dem Rest der Klasse zu. “Wie dem auch sei: Julia hat hier 20 bis 30 Aufgaben, die tadellos gelöst sind und da ich nicht glaube, dass ihr irgendjemand in dieser kurzen Zeit zu so vielen richtigen Lösungen hätte verhelfen können - außer ihrem eigenen Verstand - denke ich, könnt ihr euch alle völlig bedenkenlos an sie wenden. Und jetzt wollen wir mit dem Unterricht beginnen - sonst muss ich euch auch Hausaufgaben geben!”

Endlich war der Schultag vorbei. Ihre Klassenkameraden hatten sich schließlich doch von ihnen die Aufgaben erklären lassen und waren dann schwer verunsichert abgezogen. Warum z. B. war Julia so schlecht in der Schule, wenn sie doch offensichtlich mehr verstand als sie? Und warum hatte sie eigentlich keine Freunde? Weil sie eingebildet war und gar keine haben wollte? Oder war es einfach nur so, dass sie unscheinbar und langweilig war und deshalb niemand etwas mit ihr zu tun haben wollte? Heute jedenfalls war sie supernett gewesen und hatte selbst mit den Begriffsstutzigsten mehr Geduld gehabt als Frau Junge es je gehabt hätte. Sie würde sicher eine gute Lehrerin abgeben. Julia konnte über solche Überlegungen nur den Kopf schütteln. Sie war in Englisch genauso schlecht gewesen wie immer, hatte sich genauso durch eine Stunde deutsche Literatur gelangweilt wie alle anderen auch und hatte im Sportunterricht genauso unbeachtet sportliche Höchstleistungen gezeigt wie an jedem anderen Dienstag. Jetzt freute sie sich auf einen schönen Nachmittag mit ihren Freunden. Nur auf Kane würden sie wohl verzichten müssen. Für ihn war es schon eindeutig zu spät. Vielleicht sollten sie mal ernsthaft darüber nachdenken, ob sie sich nicht schon vor der Schule mit ihren Freunden treffen wollten. Sonst hätten sie Kane nur an den Wochenenden dabei. Sie nahm mit Helaku Kontakt auf. Er war der Einzige, den sie nicht richtig orten konnte. »Hallo Julia! Schön, dass du dich gerade meldest. Ich brauche deine Hilfe!« »Gerne! Was brauchst du?« »Mika hat mich gestern in unserer Hauptstadt abgesetzt, weil ich auf dem schnellsten legalen Weg in die USA auswandern will, aber dazu brauche ich meinen Ausweis, der natürlich bei der großen Flut verschwunden ist.« Sie überlegte einen Moment, was sie da tun könnte, doch schließlich nickte sie gedankenverloren. »Kein Problem! Ich komme zu dir. Halte den Kontakt. Sonst kann ich dich nicht richtig anpeilen. Du schirmst dich immer irgendwie automatisch gegen meine Ortung ab.« »Oh, entschuldige!« Plötzlich stand sie direkt neben ihm und er erschrak heftig. Er hatte noch nicht genügend Gelegenheit gehabt, sich daran zu gewöhnen. »Macht nichts! Du machst es ja nicht mit Absicht.« Sie umarmte ihn kurz zur Begrüßung und griff dann wieder nach San Tanadina. Einen Augenblick später hielt sie einen Stapel Papiere in der Hand, der zwar etwas feucht, aber ansonsten völlig unversehrt war. Er starrte das Päckchen erstaunt an. »Aber das sind ja meine Originalunterlagen - einschließlich des Bargelds, dass Vater mir für meine Ausbildung geschenkt hat!« Julia nickte lächelnd. »Das war jedenfalls einfacher, als alles neu zu beschaffen. … Wir wollten gerade alle zusammentrommeln und uns irgendwo treffen. Kommst du auch mit oder willst du lieber erst dieses hier erledigen?« Helaku sah hin und her gerissen auf die Papiere in seiner Hand. »Ich glaube, ich werde zuerst dieses hier erledigen. Das ist wichtig! Aber ich kann ja mal schnell die Anderen für euch kontakten, ob die Zeit haben.« Julia nickte. »Das wäre wunderbar!« Helaku schloss die Augen. Er lächelte. »Sanura wartet offenbar schon auf euch.« »Kane schläft.« Julia nickte stumm. Das hatte sie sich schon gedacht. In Japan war es beinahe Mitternacht. Helaku öffnete die Augen. »Warren möchte, dass ihr zu ihm kommt. Ich habe ihm versprechen müssen, dass ich mich abholen lasse, sobald ich hier fertig bin.« Er grinste breit. »Du machst dich doch nicht über ihn lustig? « Helaku wurde wieder ernst. »Doch! Aber du hast Recht. Es ist nicht fair, sich über die Probleme anderer lustig zu machen. Und er hat offenbar ein riesiges Problem alleine zu sein!« Er runzelte die Stirn. »Wenn ich nur wüsste, warum! Dann könnte ich ihm vielleicht helfen!« Julia nickte. »Das kannst du - einfach indem du ihm ein guter Freund bist, Helaku. Mehr braucht er im Moment nicht.« »Du weißt, was passiert ist? Mir hat er bisher noch nicht viel mehr erzählt, als dass er Freunde verloren hat - glaube ich. Ich muss gestehen, ich habe in dem Moment auch nicht besonders aufmerksam zugehört.« Sie lächelte verstehend. »Normalerweise würde ich darauf bestehen, dass er es dir selbst erzählen muss, aber bin sicher er wird damit einverstanden sein, wenn ich es dir erzähle. Weißt du, er ist ein einem Waisenheim groß geworden. Am Sonntag ist er bei Sturmwarnung raus geschlichen, um einen Hurrikan, der das Heim vernichtet hätte aufzuhalten. Als wir mittags zusammen ins Heim zurückkehrten, lag der gesamte Wohntrakt einschließlich der Schutzräume in Schutt und Asche. Den Sturm konnte er aufhalten, den Anschlag des Bösen auf das Heim leider nicht.« Helaku schluckte. »Gab es überlebende?« Sie schüttelte den Kopf. »Oh, verdammt!« Er biss sich auf die Lippen. »Was ist?« Er schüttelte nur den Kopf. »Nichts! Ich musste nur gerade an gestern denken. Da habe ich etwas gesagt, das ich gar nicht wirklich so gemeint hatte, aber in dem Moment und vor dem Hintergrund war es noch doppelt so gemein.« Er starrte aus dem Fenster. »Ich … war einfach wütend, verstehst du? Ich war wütend auf dieses Unwetter, wütend auf meine Eltern, dass sie mich alleine gelassen hatten, wütend auf mich, dass ich sie nicht hatte retten können. Ich wollte einfach nur sterben und wieder bei meiner Familie sein.« Sie legte ihre Hand auf seine Schulter. »Das ist schon OK, Helaku. Ich glaube, Warren versteht das. Ich glaube, genau deshalb braucht er dich jetzt so: weil er in dir die selbe Wut spürt wie in sich selbst. Ihr beiden, ihr müsst euch jetzt gegenseitig helfen. Er braucht dich mindestens so sehr wie du ihn!« Helaku starrte sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. »Sag mal, kannst du Gedanken lesen?« Sie lächelte. »Nein, mein Freund, aber das brauche ich auch gar nicht. Ich kann es einfach spüren. - So und jetzt werde ich Sanura abholen und mit ihr zu Warren gehen. Melde dich bei mir, wenn du abgeholt werden möchtest.« Sie legte kurz die Hand auf seinen Arm und verschwand. Seufzend wandte er sich ab und verließ das Haus.

Am nächsten Morgen wachte Julia früh auf. Mit San Tanadina in der Hand öffnete sie die Tür zu ihrem geheimen Wissen und stöberte für ein paar Minuten ohne besonderes Ziel in den Erinnerungen ihrer Vorfahren, doch dann dachte sie mit einem Seufzen an ihren Vater. Sofort sortierten sich die Erinnerungen neu und plötzlich war es als würde er direkt vor ihr stehen. »Dad? Bist du wirklich mein Dad?« Der Mann mit dem traurigen Gesicht nickte stumm. Sie konnte ein Schimmern in seinen Augen sehen wie von Tränen und auch ihr rannen Tränen die Wangen hinunter und das Bild verschwamm vor ihrem inneren Auge. Ihre Mutter hatte ihn ihr früher einmal, als sie noch ganz klein war, beschrieben, aber irgendwie hatte sie ihn sich ganz anders vorgestellt. Sie erschrak heftig, als sich ihre Zimmertür öffnete und ihre Mutter hereinkam, um sie zu wecken. “Du bist schon auf?” Frau Wagner sah die Tränen in ihrem Gesicht. “Du lieber Himmel, Kind! Was ist mit dir? Du weinst ja!” “Nichts, Mum! Alles in Ordnung!” Ihre Mutter sah sie skeptisch an. “Komm, Julia! Erzähl mir doch nichts! Ich sehe doch, dass mit dir was nicht stimmt!” Sie runzelte die Stirn. “Was ist eigentlich mit deiner Hand? Warst du damit beim Arzt?” “Meine Hand?” “Ja, wo Momo dich gebissen hat.” Einen Moment musste sie überlegen, doch dann lachte sie. “Achso! Den Kratzer meinst du!” Sie hielt die Hand hoch, damit ihre Mutter sich überzeugen konnte, dass alles verheilt war. Eine achtlose Bewegung ließ sie auf San Tanadina aufmerksam werden. “Was hast du da denn? Ist das ein Messer?” Erschrocken sah sie ihre Mutter an. “Oh, das … . Ich weiß auch noch nicht so recht, was ich davon halten soll. Mika hat mir diesen Dolch gegeben.” Sie hielt San Tanadina hoch. “Ein schönes Stück. Nicht wahr?” Ihre Mutter nickte. “Ja, sehr schön. Und er sieht sehr alt aus.” “Jahrtausende alt. Offenbar ein Familienerbstück. Er hat ihn mir gestern gegeben, ohne viel mehr dazu zu sagen als dass er möchte, dass ich ihn habe. Was soll das bloß?” Frau Wagner lächelte. “Nun, offenbar hat sich da jemand in dich verliebt, meine Liebe. Früher war es in manchen Gegenden allgemeiner Brauch dem Mädchen oder Jungen, den man liebt schon lange vor der Verlobung wertvolle Geschenke zu machen. Werden die Geschenke angenommen, bedeutete es, dass der Partnerschaft nichts im Weg steht. In manchen Familien hat sich dieser Brauch offenbar bis heute gehalten. Herzlichen Glückwunsch!” Julia sah skeptisch auf den Dolch in ihrer Hand. “Du meinst wirklich, das ist so eine Art Heiratsangebot? Ich weiß nicht! Wir kennen uns doch erst seit 5 Tagen.” Frau Wagner lächelte. “Denk darüber nach! Die erste große Liebe ist etwas sehr Wichtiges im Leben einer Frau.” Ohne zu überlegen fragte Julia: “War Dad deine große Liebe?” Frau Wagner schluckte. Das hatte ja irgendwann kommen müssen! Sie nickte seufzend. “Ja, das war er, Liebes - bis er weg gegangen und nie wieder gekommen ist.” “Warum ist er weggegangen?” Ihre Mutter sah demonstrativ zur Uhr. “Da reden wir ein anderes Mal drüber. Ja? Du musst zur Schule!” Julia nickte. “Ich weiß! Aber ich habe gar keine Lust!” “Das ist kein Grund die Schule zu schwänzen, Kind!” Einen Moment überlegte Julia, ob sie ihrer Mutter erzählen sollte, dass Frau Junge plötzlich so gemein zu ihnen war, entschied sich jedoch dagegen. Das hatte Zeit. Da konnten sie jetzt sowieso noch nichts gegen unternehmen. Sie runzelte die Stirn. Das stimmte ja gar nicht. Natürlich konnten sie versuchen etwas zu unternehmen! “Wenn ich mir das so recht überlege …” Sie sprang vom Bett und zog sich in Windeseile an. Frau Wagner lächelte. Offenbar hatte dieser Mika ein unvorstellbares Glück. Julia hatte sich noch nie viel aus der Gesellschaft anderer gemacht - vor allem nicht aus der von Jungen. Ihn schien sie wirklich zu mögen. “Dann mal los! Viel Zeit hast du nicht mehr.” “Ich lass einfach das Frühstück ausfallen und geh in der Pause in die Cafeteria.” Normalerweise hielt Frau Wagner da nicht viel von, aber heute wollte sie mal eine Ausnahme machen. Sicher würde sie nicht alleine dort sitzen. “Aber nur heute. Ja?” “Natürlich, Mum!” Julia gab ihrer Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Wange und war auch schon verschwunden. Kaum hatte sie unten die Türe zugeschlagen griff sie nach San Tanadina und wollte Helaku rufen. Gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass er ja in einer ganz anderen Zeitzone lebte und vermutlich noch schlief. Enttäuscht ließ sie die Hand sinken und machte sich auf den Weg. “Hallo Julia!” Erschrocken sah sie auf. “Oh, hallo Judith!” Das war ja etwas ganz Neues. Sonst hatte sich niemand um sie gekümmert. “Sag mal, …” fragte Judith vorsichtig und Julia sah sie aufmerksam an. “Kennst du Mika schon länger?” “Nein, warum?” Judith zuckte mit den Schultern. “Ach, nur so. Hätte ja sein können.” Sie wurde rot und Julia verstand. Mika war ziemlich attraktiv und Judith genoss den Ruf, dass sie auf solche Typen stand. Verschmitzt grinsend sah Julia ihre Klassenkameradin an. “Wenn du was wissen willst: vielleicht kann ich dir ja doch helfen. Wir treffen uns jeden Nachmittag.” Überrascht sah Judith auf. “Jeden Tag? Warum?” Julia zuckte betont gleichmütig mit den Schultern. “Wir verstehen uns halt gut.” Judith seufzte. “Dann hat Svenia also Recht! Ihr seid ein Paar!” So direkt darauf angesprochen, konnte sie nicht mehr leugnen. “Nun, … ja, du hast Recht! Wir sind ein Paar!” Enttäuschung zeichnete sich auf Judiths Gesicht ab. “Demnach kennst du in wohl doch schon länger als wir. Oder?” Julia schüttelte den Kopf. “Nein, eigentlich nicht. Wir haben uns an Halloween das erste Mal gesehen.” “Und dann seid ihr schon so weit?” Julia schwieg. Sie konnte Judith verstehen. Das klang tatsächlich so, als wollte sie nur mit aller Macht verhindern, dass ihr jemand zuvor kam - selbst wenn sie dafür Lügen erzählen musste. Gemeinsam betraten sie ihr Klassenzimmer und sofort wurde sie von allen Seiten begrüßt. Etwas verwirrt sah sie sich um. Das war sie nun wirklich nicht gewöhnt. Sie stellte ihre Tasche neben ihrem Tisch ab und trat zu Mika. “Guten Morgen, Mika!” Wie nebenbei lag ihre Hand an San Tanadina. »Ich fürchte wir werden scharf beobachtet!« Er lächelte. “Guten Morgen, Liebling! Hast du gut geschlafen?” Sie nickte. “Danke, ja!” Sie küsste ihn kurz auf den Mund und genoss es, dass Mika prompt seine Arme um sie legte. »Was ist los mit dir, Liebling?« »Nichts! Es ist alles in Ordnung.« Er grinste. »Mach mir doch nichts vor! Ist da jemand, der möglicherweise ein Auge auf mich geworfen hat?« Errötend nickte sie. »Du hast Recht. Entschuldige!« »Ich bin froh, dass es mir nicht alleine so geht! Also meinetwegen kannst du so eifersüchtig sein, wie du willst. Für mich zählst sowieso nur du.« »Ich weiß, Liebling. Es geht auch nur darum, dass die betreffende Person mir nicht glauben wollte, dass wir wirklich schon ein Paar sind.« Er lächelte. »Na, ich glaube, das haben wir ihr gerade bewiesen, oder?« »Ja, das haben wir. Danke!« Er küsste sie zärtlich. »Für dich tue ich doch alles!« Sie lächelte spitzbübisch. »Wirklich alles?« “Setzen! Ruhe!” Frau Junge kam heute sogar noch vor dem Gong. Alle setzten sich stöhnend an ihre Plätze nur Julia und Mika standen noch eine Sekunde da und sahen einander an. Stirnrunzelnd sah die Lehrerin sich in der Klasse um. Endlich drehte sie sich zur Tafel um und schrieb eine Aufgabe an, die Julia von den Hausaufgaben wieder erkannte. “Yves! An die Tafel!” Überrascht sah er sich um. Sie mussten noch nie an die Tafel. Langsam stand er auf und griff nach seinem Heft. “Ohne Heft!” “Aber …” Ein giftiger Blick der Lehrerin ließ ihn verstummen. Yves gehörte zu den Besten in Mathe. Für Julia bestanden keine Zweifel, dass er in der Lage war, die Aufgabe auch ein zweites Mal zu lösen, aber zu ihrem größten Erstaunen lieferte er eine schlechte Vorstellung. Sie ballte ihre Fäuste fest um die Daumen. “Du kannst das doch besser!” Obwohl sie nur geflüstert hatte erhielt sie prompt einen Verweis von der Lehrerin. Sie biss die Zähne zusammen, um nicht noch einmal versehentlich zu sprechen. Endlich hatte Yves sich durch seine Aufgabe hindurch gekämpft und durfte sich an seinen Platz setzen. Frau Junge machte sich eine Notiz in ihren Kalender und Julia hatte den Verdacht, dass sie ihm eine schlechte Note eingetragen hatte. Jetzt schrieb die Lehrerin die nächste Aufgabe an, doch diesmal war es keine, die sie schon kannten. Sie drehte sich um und sah Julia mit einem gemeinen Lächeln an. “Und da du offenbar meinst, dass du es besser kannst, wirst du die nächste lösen.” Ruhig stand Julia auf. “Ich habe nie gesagt, dass ich es besser kann, Frau Junge. Ich habe nur meine Überzeugung geäußert, dass Yves es besser kann, aber offenbar haben sie ihn nervös gemacht.” Ihre Klassenkameraden tuschelten hinter ihr. Von ihnen hätte niemand den Mut gehabt der Lehrerin jetzt zu widersprechen - auch wenn einige von ihnen sonst eher frech zu ihr waren. Dass ausgerechnet Julia, die sonst still und schüchtern war, den Mut hatte sich zu wehren, versetzte sie alle in Staunen. “Ruhe!” Sie wandte sich sofort wieder zu Julia um, die an ihrem Pult stehen geblieben war. “An die Tafel jetzt!” “Ja, natürlich!” Julia spürte die Blicke ihrer Klassenkameraden auf dem Rücken und schloss kurz die Augen. Eigentlich mochte sie es nicht, wenn sie im Rampenlicht stand, aber San Tanadina gab ihr die Kraft, das trotzdem durchzustehen. Sie war die Trägerin San Tanadinas. Und sie kämpfte hier für die Gerechtigkeit. Sie warf einen Blick auf die Aufgabe. Die war um einiges schwerer als die bisherigen, aber das machte nichts. Sie griff nach der Kreide und hatte die Aufgabe im Handumdrehen gelöst. Über die giftigen Blicke, die sie für die sichere Lösung erntete, grinsend setzte sie sich wieder an ihren Platz. »Das tat richtig gut!« Mika grinste auch. »Das glaube ich dir! Aber übertreib es nicht!« »Nein, wohl besser nicht!« Einer nach dem Anderen musste an die Tafel und alle machten eine eher schlechte Figur - außer Mika, was die Lehrerin aus irgendeinem Grund wieder besonders ärgerte. Überhaupt schien sie es besonders auf Julia und Mika abgesehen zu haben. Die beiden brauchten nur zu husten, um schon einen Verweis zu bekommen. Am Ende der Stunde gab sie ihnen wieder einen riesigen Haufen Hausaufgaben. Julia stöhnte. Nicht schon wieder ein ganzer Nachmittag futsch! Aber es ließ sich ja nun mal nicht ändern. Seufzend nahm sie ihr Heft wieder vor und fing an zu rechnen. Mika sah grinsend zu ihr rüber. “Ich glaube du solltest dir das mit dem Medizinstudium noch mal überlegen und lieber Mathe studieren. Du kannst ja gar nicht genug davon bekommen!” Sie lachte. “Lieber nicht! Ich gäbe keine gute Lehrerin ab.” Judith stand hinter ihr und mischte sich jetzt in ihr Gespräch ein. “Wie kommst du denn darauf? Du bist eine fantastische Lehrerin! So eine Engelsgeduld möchte ich mal haben.” Ungläubig drehte Julia sich zu ihr um. “Geduld? Ich? Du machst Witze!” Doch Judith schüttelte ernst den Kopf. “Nein, ganz sicher nicht!” Sie drehte sich um und beeilte sich zu ihrer Freundin zu kommen, die schon ungeduldig nach ihr rief. Mika lächelte. “Sie hat Recht, weißt du?” Unwirsch schüttelte sie den Kopf. »Ach Unsinn! Außerdem ließe sich das unmöglich mit unserer Aufgabe vereinen.« »Ja,« meinte er gedehnt, »das ist ein Argument!« Auch er setzte sich wieder an seinen Platz und nahm seine Aufgaben hervor. Carsten, der an Julias anderer Seite saß und ebenfalls interessiert zugehört hatte, fragte jetzt erstaunt. “Was ist das eigentlich für eine Sprache, die ihr da sprecht?” Erschrocken sah Julia zu Mika und griff nach San Tanadina. »Darüber habe ich ja gar nicht nachgedacht! Was sagen wir denn jetzt?« »Lass mich nur machen! Egal was ich jetzt sage - halt den Mund!« Sie nickte stumm. “Was würdest du denn sagen was es ist?” Einen Augenblick lang starrte Carsten ihn ratlos an doch dann weiteten sich seine Augen als er zu begreifen dachte. “Du meinst … Das gibt’s nicht! In Englisch ‘ne Niete, aber japanisch sprechen!” Julia zuckte scheinbar gelangweilt mit den Schultern und wandte sich betont aufmerksam wieder ihren Aufgaben zu. »Wir müssen dringend etwas unternehmen! Ich hasse es wenn jeder zuhört, wenn ich etwas sage!« Mika grinste während auch er sich wieder demonstrativ über seine Aufgaben beugte. »Da musst du jetzt wohl durch, Liebling!« »Machst du dich über mich lustig?« »Nein, natürlich nicht! Ich kann das völlig nachvollziehen. Aber sieh mal unauffällig zu Carsten hinüber.« Sie drehte ihren Kopf bis sie vorsichtig aus den Augenwinkeln zu ihrem Klassenkameraden hinüber sehen konnte. Er starrte sie noch immer mit großen Augen an. Unterdrückt lachend wandte sie sich wieder ihren Aufgaben zu. »Aber andererseits: irgendwie macht es Spaß, die Leute sprachlos zu machen. Oder?« Mika grinste nur. Sie versuchten endlich mit ihren Aufgaben weiter zu kommen, aber die Pause war schon wieder zu Ende. Seufzend legten sie die Mathehefte zur Seite und ließen eine weitere Stunde Englisch, Deutsch, Physik, Biologie und Politik über sich ergehen. Als sie um eins endlich die Schule verlassen konnten, meinte Julia seufzend: “Ich wünschte, wir könnten den Unsinn einfach aufgeben, jetzt wo wir diese andere Aufgabe haben!” “Schon, aber wo bliebe dann unsere Tarnung? Wir müssen so lange wie möglich im Untergrund bleiben.” “Ich weiß, aber es ist verdammt schwer! Das einzige Fach in dem ich wirklich gut bin ist Sport.” “Und Mathe!” grinste er. “Ja, aber doch erst seitdem wir Nachhilfe bei Dad hatten. Ich glaube übrigens, dass ich wirklich direkten Kontakt mit ihm aufnehmen kann. Heute morgen habe ich ihn gesehen.” Er sah sie stirnrunzelnd an. “Hast du auch richtig mit ihm sprechen können?” Sie schüttelte den Kopf und erzählte ihm von ihrem Erlebnis am frühen morgen. Mika blieb skeptisch. “Ich weiß nicht, Julia. Das wäre irgendwie gegen jede Regel.” Sie lachte. “Was von dem, was wir tun ist eigentlich nicht gegen jede Regel?” Einen Moment sah er sie verwirrt an, doch dann musste er lachen. “Du hast Recht!” In diesem Moment platzte Helaku in ihre Gedanken. »Freunde, wir haben hier ein riesiges Problem!« Die beiden sahen einander alarmiert an. »Was gibt’s?« »Ich stehe hier in Miami auf dem Flughafen und muss hier durch Schlangen hindurchwaten wenn ich nur einen Schritt gehen will. Die Leute hier sind alle in Panik aufs Flughafengelände gelaufen, aber das ist natürlich auch nicht gerade ungefährlich!« »Schlangen?« »Um genau zu sein handelt es sich um mehrere Dutzend schwarzer Königskobras!« Julia wurde leichenblass. Sie hatte keine Ahnung von Reptilien, aber von Königskobras wusste selbst sie, dass sie hochgiftig waren. »Oh mein Gott! Wir sind schon unterwegs!« Sie sah sich stöhnend um. Überall um sie herum waren Menschen. »Kann aber einen Moment dauern. Wir müssen erst mal einen Platz finden von dem aus wir verschwinden können. Wir sind hier mitten in der Stadt.« “Was ist los?” »Mehrere Dutzend Königskobras im Flughafen Miami sind los!« Auch Mika, der von dem ganzen Gespräch nichts mitbekommen hatte, aber schon allein durch Julias Reaktion erschrocken war, wurde blass. Er sah sich um. “Gehen wir zu mir nach Hause! Meine Eltern werden sich zwar wundern, aber das ist jetzt nicht zu ändern. Wir müssen da hin!” Sie nickte. “Dringend!” Sie rannten durch die Fußgängerzone, rempelten eine Menge Leute an, die ihnen fluchend hinterher schimpften, achteten aber nicht weiter darauf. Sie hatten jetzt Wichtigeres im Kopf. Atemlos stürzten sie in den Laden von Mikas Eltern, durch den Vorhang nach hinten, die Treppen hinauf und in Mikas Zimmer. Sorgfältig schloss Mika die Tür hinter ihnen und legte kurz die Hand um San Tanabea. »Bitte sorge dafür, dass die Tür erst wieder aufgeht, wenn wir weg sind.« Er reichte Julia die Hand. Gemeinsam konzentrierten sie sich auf Helaku, der eine lose Verbindung mit Julia hielt, um ihre Ortung nicht durcheinander zu bringen, und standen schließlich direkt neben ihm. Obwohl Helaku mit ihnen gerechnet hatte, zuckte er kurz zusammen, als sie so plötzlich neben ihm standen. Dennoch war ihm die Erleichterung, dass er jetzt nicht mehr alleine vor dem Problem stand, deutlich anzumerken. »Also gut, was machen wir jetzt? Hat irgend jemand eine Ahnung wie man mit solchen Viechern umgeht, ohne gebissen zu werden?« Julia sah sich um. Nirgendwo war eine Menschenseele zu sehen. »Warum benutzen wir nicht einfach San Tanadina und treiben sie wieder zusammen? Wenn wir alle zusammen haben, haben wir es vielleicht leichter.« Helaku sah sie skeptisch an. »Die Tiere sind ziemlich gereizt, wenn wir sie jetzt mit Gewalt aus ihren Verstecken treiben, wird das sicher noch schlimmer!« Sie überlegten fieberhaft, doch dann hatte Julia einen Gedankenblitz. »Die haben doch sicher eine Klimaanlage hier?« »Da ist von auszugehen, ja. Warum?« »Naja, was wissen wir über Reptilien? Reptilien sind kaltblütige Tiere, nicht wahr? Sie können nur in Gegenden mit einer gewissen Grundwärme überleben.« Die beiden nickten. Man konnte ihnen ansehen, dass sie noch immer keine Ahnung hatten, worauf Julia hinaus wollte. »Wenn es uns gelingt, die Temperatur so weit zu senken, dass sie unterhalb dieser Grundwärme liegt, dürften sie kaum noch in der Lage sein, sich zu bewegen - geschweige denn uns zu beißen.« Mika sah sie bewundernd an. »Julia, das ist genial! Weißt du das?« Sie errötete. »Dann machen wir es also so.« Die Jungen nickten. »Prima, dann brauchen wir ja nur noch die Klimaanlage!« Helaku grinste. »Das ist kein Problem! Ich weiß, wo das Sicherheitszentrum ist. Die Leute vom Sicherheitsdienst haben sich darin verbarrikadiert, als die Schlangen plötzlich auftauchten. Sie haben zwar keine Verbindung nach außen, weil die Telefone offenbar alle tot sind, aber sicher haben sie Kontrolle über die Klimaanlage.« Julia nickte. »Gut, gehen wir!« Fünf Minuten später hatten sie die Sicherheitsleute gefunden. Sie brauchten weitere fünf Minuten, sie davon zu überzeugen, dass ihr Plan eine gute Chance war, die Tiere lahm zu legen und einzusammeln ohne gebissen zu werden. Das Dumme an der ganzen Sache war nur, dass die Klimaanlage nicht vom Sicherheitszentrum aus zu bedienen war. Sie mussten durch die Halle zurück zu den Terminals. Dahinter gab es einen Raum, in dem die technischen Kontrollen lagen. Eigentlich wären die Sicherheitsleute diejenigen gewesen, die dort hätten hingehen müssen, aber sie weigerten sich, auch nur die Tür zu öffnen. Julia seufzte. »Also gut, gehen wir! Irgendjemand muss sich ja darum kümmern. Mika, du versuchst bitte die Telefonleitungen wieder hinzukriegen. Da ist wahrscheinlich ohnehin nur mit San Tanabea was zu machen. Helaku, du kommst bitte mit mir. Vier Augen sehen mehr als nur zwei. Ich möchte nur ungern allzu nahe Bekanntschaft mit einer dieser Schlangen machen.« Mika blieb mit konzentriert geschlossenen Augen zurück während sich Julia und Helaku langsam mit auf den Boden gerichteten Blicken auf den Weg machten. Ohne auch nur eine von den Schlangen gesehen zu haben, erreichten sie die große Halle und sahen sich um. Den wagen Hinweisen der Sicherheitsleute folgend gingen sie vorsichtig in Richtung der Terminals. Die Halle war teils mit Glas überdacht. Unter diesen Abschnitten wimmelte es von Schlangen, die in der warmen Sonne gereizt ihre Schuppen aneinander rieben. Schaudernd machten die beiden einen großen Bogen um die Tiere und traten schließlich hinter die Absperrungen an den Terminals und suchten nach dem Kontrollraum. In der hintersten Ecke entdeckten sie die Tür, die ihnen beschrieben worden war. Julia machte einen Schritt auf sie zu und schrie erschrocken auf. Eine Schlange zischte schnell hinter die Computer zurück. »Verdammt! Was war das denn?« Sie zog das Hosenbein hoch und sah sofort die beiden kleinen Punkte an ihrem Bein, die entstanden waren als die Schlange zugebissen hatte. Sie wurde blass. »Wie wirkt eigentlich das Gift von Königskobras?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung!« »Ach, ist ja auch egal! Weiter!« Er nickte skeptisch und hastete hinter ihr her. Die Tür knallte hinter ihnen ins Schloss zurück als sie den Raum betreten hatten. Hastig suchten sie nach den Bedienungselementen für die Klimaanlage, doch als sie sie endlich gefunden hatten, war Julia gar nicht mehr in der Lage klar zu denken. Die Vergiftung war offenbar der selben Art, wie die, die sie bereits einige Male gesehen hatten und die Lähmung war schnell vorangeschritten. »Helaku, ich brauche Mika! Ich kann ihn selbst nicht mehr erreichen.« Helaku sah sie besorgt an und nickte. »Mika! Wir brauchen hier deine Hilfe! Julia ist gebissen worden.« »Ich bin sofort da!« Tatsächlich war er schon da bevor er den Gedanken zu Ende formuliert hatte. »Julia! Was …« Sie schüttelte den Kopf. »Keine Zeit! Du musst meine Körpertemperatur hochbringen. Mindestens 39 besser 40 ° Grad. Aber du musst es mit Medikamenten machen! Du bringst es sonst nicht wieder runter.« Er nickte. »Wie lange?« “Keine Ahnung!” Das letzte war bereits nur noch ein Flüstern. »Verflucht! Das ist nicht besonders hilfreich!« Er wandte sich an Helaku, der noch immer etwas unschlüssig vor der Klimaanlage stand. »Glaubst du, es ist möglich, überall die Räume auf sagen wir 10 Grad runterzukühlen - nur hier nicht?« Helaku nickte. »Man kann scheinbar jeden Raum einzeln eingeben.« »OK, dann mach dich bitte an die Arbeit - das heißt, das mache besser ich. Du sprichst englisch. Du musst dafür sorgen, dass wir hier einen Arzt herkriegen und die Tiere draußen eingesammelt werden. Die Telefone müssten jetzt wieder funktionieren.« Helaku nickte und griff nach dem Telefonhörer. Nervös informierte er den Notdienst über das Auftauchen von mehreren Dutzend Königskobras vor etwa einer halben Stunde und mindestens einer verletzten Person. Er sah sich um und erstarrte. »Vorsicht! Hinter dir!« Doch zu spät! Die Schlange hatte bereits zugebissen. »Verdammt! Das auch noch! Jetzt hängt alles von dir ab, mein Freund! Aber jetzt, wo sie mich sowieso erwischt hat, kann ich sie auch noch hier rausschmeißen.« »Nein, lass das! Ein Biss reicht völlig! Wer weiß, ob wir dich überhaupt noch mal auf die Füße kriegen, wenn du noch mal gebissen wirst!« Mika sah ihn irritiert an, doch dann nickte er resigniert. »Du hast Recht! … Ich hasse es untätig rum zu sitzen und auf unangenehme Dinge zu warten!« Er suchte sich einen Stuhl, der sich nicht so schnell bewegen würde und setzte sich darauf. Helaku nickte. »Ja, das glaube ich dir! Der Arzt wird sicher gleich kommen!« Er ging vorsichtig zur Tür. »Pass auf! Wenn du auch noch gebissen wirst, haben wir ein echtes Problem!« Helaku nickte. »Ich weiß! Ich werde Warren kontaktieren, damit er sich im Falle des Falles um alles kümmern kann.« Mika nickte schwach. »Das ist gut!« In der geöffneten Tür stehend schloss Helaku die Augen und suchte Kontakt zu Warren. »Himmel! Hast du mich jetzt erschreckt! Was gibt’s?« »Entschuldige! Wir haben hier einen Notfall. Hier im Flughafen sind plötzlich einige Dutzend Königskobras aufgetaucht. Mika und Julia sind mir zu Hilfe gekommen und jetzt bin ich durch einen blöden Zufall der Einzige von uns der sich noch rühren kann. Aber ich stehe noch mitten in den Räumen, die von Schlangen verseucht sind. Das heißt, wenn ich auch noch Pech habe, bist du der Einzige, der sich noch um alles kümmern kann!« »Was soll ich tun?« »Mach dich am Besten auf den Weg hierher. Wir müssen die Ärzte irgendwie dazu bringen, die Körpertemperatur auf wenigstens 39 besser noch auf 40°C bringen. Das dürfte schwere Überzeugungsarbeit sein. Vor allem, wenn du sie leisten musst. Ich wäre dankbar, wenn ich das selbst erledigen könnte.« »Alles klar! Ich mache mich sofort auf den Weg. Sag Bescheid, wenn sich etwas ändert - falls du es noch kannst.« »Mach ich! Sie sind da! Ich melde mich wieder!« Er öffnete die Augen und sah zum Eingang hinüber. Die Ärzte standen zögernd vor der Tür und wurden schließlich beiseite geschoben. Ein paar Männer mit gefährlich aussehenden Instrumenten und festen Behältern betraten nach allen Seiten sichernd die Halle. Nach ein paar Schritten blieben sie erstaunt stehen und sahen sich um. Die Schlangen, die überall am Boden lagen, bewegten sich nur sehr langsam. Die Klimaanlage schien die Halle bereits erheblich abgekühlt zu haben. Die Männer begannen vorsichtig die Schlangen einzusammeln und in ihren Behältern zu verstauen. Helaku trat, sorgfältig darauf achtend, dass er nirgends in seiner Nähe eine Schlange sah und spürte, vollends durch die Tür und machte auf sich aufmerksam. Einer der Männer sah auf und gab ihm ein Zeichen, dass er ihn bemerkt hatte. Ruhig trat er von seiner Arbeit zurück und winkte die Ärzte zu sich. Vorsichtig führte er sie durch die Halle nach hinten. »Der Durchgang ist dort drüben. Aber seien sie vorsichtig. Irgendwo dort drüben muss noch eine von den Kobras sein. Ich fürchte, die hat sich hinter die Computer verkrochen. Da ist es schön warm.« »Dann hast du die Klimaanlage so weit runtergedreht?« »Nein, aber meine Freunde haben es mit letzter Kraft geschafft. Wir hatten hier einige Schwierigkeiten mit der Telefonleitung.« »Sind deine Freunde gebissen worden?« »Ja. Sie sind hier drinnen. Aber Vorsicht. Ich glaube hier ist auch noch eine.« Ängstlich betraten die Ärzte den kleinen Kontrollraum und untersuchten die beiden Jugendlichen.»Bist du die ganze Zeit bei ihnen gewesen?« Helaku nickte. »Beschreib uns mal die Symptome.« Er schwitzte heftig, bemühte sich aber wahrheitsgetreu zu antworten. Der Arzt nickte nachdenklich. »Sind das wirklich Königskobras?« wandte sich einer von ihnen an den Mann, der bereits vorsichtig unter die Tische gekrochen war. »Ja, tatsächlich. Da hat sich derjenige, der den Notdienst alarmiert hat, gut ausgekannt.« »Kunststück! Wenn man sein halbes Leben im Dschungel verbringt wie ich, dann fängt man irgendwann an, sich für Schlangen zu interessieren!« »Naja, Kobras sind nicht gerade im Dschungel zuhause.« »Das ist jetzt völlig egal! Bist du sicher, dass deine Freunde von diesen Schlangen gebissen wurden?« Helaku nickte schwitzend. »Ich habe es gesehen! Warum?« Er hoffte, dass man ihm die Lüge nicht allzu deutlich ansah. Denn natürlich konnte es möglich sein, dass diejenige, die die beiden gebissen hatte längst über alle Berge war. Immerhin hatten sie es hier mit einem Gegner zu tun, der ihnen schon zwei verschiedene Tiere mit dem selben Gift in den Weg gelegt hatte. »Die Vergiftungserscheinungen sind völlig untypisch! Bei einem Elapidenbiss treten für gewöhnlich zuerst Übelkeit, Erbrechen und Schweißausbrüche, dann Benommenheit, Parästhesien im Mundbereich, Schwindel, Lähmungen und Schluckstörungen auf. Hier verläuft offenbar die Lähmung von der Bissstelle ausgehend in alle Teile des Körpers und ruft zunächst nur eine motorische Lähmung hervor. Übelkeit, Erbrechen und Schweißausbrüche fehlen hier unter anderem völlig.« Die beiden Ärzte berieten sich leise. »Wir werden ihnen erst mal das Kobra- Antiserum injizieren und sie mit ins Krankenhaus nehmen. Dort werden wir weitersehen.« Der Schlangenspezialist, der noch immer unter den Tischen lag, erhob sich vorsichtig. Er hatte offenbar noch nichts gefunden. »Ich werde nachsehen, wie weit meine Kollegen draußen sind. Es war übrigens eine gute Idee von euch die Klimaanlage so weit herunter zu drehen. Das hat uns sehr geholfen!« Er trat zur Tür und verständigte sich kurz mit seinen Kollegen. »OK, die Halle ist frei. Hier müssen wir natürlich noch sehr vorsichtig sein, aber ich bin mir fast sicher, dass hier in diesem Raum keine mehr ist.« »Ich werde mit ihnen kommen!« entschied Helaku. »Oh, nein! Das wirst du nicht! Wir haben schon genug mit diesen beiden zu tun!« »Entschuldigen sie! Sie sind meine Freunde. Ich werde sie ganz sicher nicht alleine lassen, wenn sie mich am meisten brauchen!« Der Arzt grinste. »Ein sehr entschlossener junger Mann. Also gut, aber versuch uns nicht im Weg zu stehen!« »Natürlich nicht!« Die Rettungsassistenten kamen mit den Tragen und betteten die gelähmten Jugendlichen vorsichtig um. Gerade in dem Moment, in dem sie mit den Tragen wieder die Halle betraten, trat Warren durch den Eingang. »Ich sehe, ich bin gerade noch rechtzeitig gekommen! Wie geht es unseren Freunden?« Einer der Ärzte stöhnte leise. »Nicht noch so einer!« Warren lächelte ihn gewinnend an. »Was hatten sie gesagt? Ich habe sie leider nicht richtig verstanden?« »Schon gut! Schon gut! Aber sie wissen genau so gut wie ich, dass ich meine Schweigepflicht verletze, wenn ich ihnen Auskunft gebe!« »Aber nicht doch, Herr Doktor! Glauben sie mir, das tun sie nicht. Immerhin gehöre ich zur Familie!« »Wie bitte?« Der Arzt sah ihn überrascht an. »Ja, ich bin der Bruder dieser jungen Dame hier. Naja, und das andere Opfer ist ihr Verlobter. Er gehört also gewissermaßen auch zur Familie.« »Wo sind ihre Eltern?« »Oh, Julia und ich haben unsere Eltern schon vor langer Zeit verloren. Wir sind in einem Waisenheim aufgewachsen. Naja, und wie es das Schicksal wollte, hat auch Mika erst vor kurzem seine Eltern verloren.« Helaku starrte seinen Freund mit großen Augen an. Warren log ja wie gedruckt! Das hätte er ihm gar nicht zugetraut. Er versuchte so auszusehen, als wäre es nichts Neues für ihn, das Warren Julias Bruder war und Mika ihr Verlobter. Das Letztere war sowieso nur noch eine Frage der Zeit, soweit er es beurteilen konnte. »Also gut, ich werde ihnen Auskunft geben - aber erst, wenn ich Näheres weiß. Bis dahin wenden sie sich bitte an ihren Freund hier. Wir dürfen jetzt keine Zeit mehr verlieren!« Fluchtartig verließ der Arzt sie und hetzte hinter den Rettungsassistenten und den Tragen her und begleitete den Krankentransport. »Komm, wir fahren ihnen nach! War es wirklich eine Kobra?« Warren war in die geheime Sprache gewechselt. »Nein, ich glaube, dass es unser Gegner war. Jedenfalls haben die Ärzte gesagt, dass die Symptomatik untypisch für einen Elapidenbiss wäre. Ich nehme an damit meint er die Familie der Giftnattern.« Warren schüttelte seufzend den Kopf. »Du bist der Fachmann!« »Von wegen Fachmann! Wenn ich ein Fachmann wäre, wären die beiden nicht gebissen worden. Dann hätte ich das nämlich alleine geschafft - oder wäre selbst gebissen worden.« Warren legte ihm eine Hand auf die Schulter während er seinem Chauffeur Anweisung gab, den beiden Rettungswagen zum Krankenhaus zu folgen. »Jetzt mach dir mal keine Vorwürfe! Keiner von uns kann alles wissen.« »Aber …« »Helaku, was auch immer passiert ist - es war nicht deine Schuld! Also hör auf dir Gedanken darum zu machen, dass es ausgerechnet Julia und Mika getroffen hat. Erzähl mir lieber, was genau eigentlich los war. Du warst vorhin so aufgeregt, dass ich nur die Hälfte verstanden habe.« Helaku atmete also tief durch und begann zu erzählen und endete gerade in dem Moment in dem sie vor dem Krankenhaus hielten. Ihre beiden Freunde wurden noch gerade ins Haus transportiert und so folgten sie ihnen einfach. Irgendwo wurden sie aber schließlich aufgehalten. »Entschuldigen Sie, aber hier können sie nicht einfach hinein!« Sie standen vor der Intensivstation. »Ich bin ihr Bruder!« Die Krankenschwester zeigte sich wenig beeindruckt von Warrens Protest. »Sehr gut! Dann folgen sie mir bitte. Ich brauche noch die Daten der Patientin.« »Aber …« Helaku legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Lass gut sein! So erreichst du nichts.« Warren seufzte. »Also gut!« Sie folgten der Schwester zu einem Computer im Arztsekretariat. »Wie heißt die Patientin?« »Julia Wagner, geboren am 18.03. 1990, wohnhaft Westminster Avenue, Hotel Berlin.« Die Schwester runzelte die Stirn. »Ich brauche ihre Heimatadresse.« Warren lächelte milde. »Das ist ihre Heimatadresse. Wir sind die Eigentümer dieses Hotels.« »Oh, bitte entschuldigen sie! Wie ist ihre Schwester versichert?« »Wir sind Selbstzahler. Schicken sie die Rechnung einfach auf meinen Namen: Warren T. Petersen.« »Kennen sie den Herrn, der gleichzeitig eingeliefert wurde, ebenfalls?« »Selbstverständlich! Ihr Verlobter: Mika Jatsushiro, geboren … keine Ahnung! Ich kenne ihn noch nicht so lange, dass ich das Geburtsdatum schon im Kopf hätte. Irgendwann im November jedenfalls. Die Adresse ist identisch. Er ist letzte Woche bei uns eingezogen.« »Herr Jatsushiro ist auch Selbstzahler?« »Ah, nein. Um ehrlich zu sein hat er gerade seine Arbeit verloren und ist gar nicht versichert. Ich werde seine Rechnung ebenfalls begleichen.« Die Schwester gab alles in den Computer ein und fragte schließlich nach Warrens Ausweis. »Oh, ja selbstverständlich. Warten sie.« Er kramte in seinen Taschen und reichte ihr schließlich seine Ausweiskarte, die sie gründlich studierte. »Sie sind erst sechzehn? Und da soll ich ihnen glauben, dass sie Hotelbesitzer sind?« Warren lächelte. »Eine Erbschaft, die ich erst kürzlich gemacht habe. Der sprichwörtliche reiche Erbonkel. Hier ist die Karte von meinem Anwalt.« An dieser Stelle sah sich Helaku gezwungen einzugreifen, denn die Schwester war sehr skeptisch und überlegte tatsächlich diesen Anwalt anzurufen. Wenn sie dann die angebliche Schwester von Warren erwähnte, mussten seine ganzen faustdicken Lügen auffliegen. Vorsichtig tastete er sich in ihre Gedanken und begann ihr zuzuflüstern, dass sie den Anwalt gar nicht anrufen brauchte. Auf dem Ausweis stand die selbe Adresse, die angegeben wurde. Sie stutzte einen Augenblick und gab Warren dann beides - den Ausweis und die Visitenkarte von seinem Anwalt - zurück. »Alles klar! Nehmen sie bitte noch im Wartezimmer Platz bis der Doktor Zeit für sie hat.« Die beiden Jungen sahen sich an und zuckten resigniert mit den Schultern. Hoffentlich dauerte es nicht so lange. Julia hatte nur noch 1 ½ Stunden - eher ein bisschen weniger - wie Helaku mit einem Blick auf seine Uhr feststellte. Sie setzten sich in dem kahlen Wartezimmer auf harte Stühle und warteten. Als sich eine Viertelstunde später immer noch nichts gerührt hatte, beschloss Helaku dem ein Ende zu bereiten. Warren war längst aufgestanden und lief nervös im Raum auf und ab. So lange hatte Julia noch nie mit der Behandlung gewartet. Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und suchte nach den Gedanken des Arztes. Als er sie endlich fand, erschrak er heftig. Dieser Arzt war offenbar hoffnungslos inkompetent! Inzwischen hatten sich einige Ärzte um ihre Freunde versammelt und diskutierten wild durcheinander, was zu tun sei. Er suchte sich den Mann mit der größten Autorität und gab ihm dem Gedankenblitz Fieber ein. Erschöpft öffnete er die Augen wieder. Schweiß rann ihm von der Stirn. Warren sah ihn aufmerksam an. »Alles in Ordnung mit dir?« Helaku nickte müde. »Es ist nur immer ein bisschen anstrengend jemanden zu beeinflussen, wenn so viele verschiedene Eindrücke sowohl auf denjenigen als auch auf mich einstürzen. Und du glaubst gar nicht, wie viele Menschen in diesem Krankenhaus sind.« »Und du hörst all ihre Gedanken gleichzeitig?« »Ja! Aber jetzt drück uns lieber die Daumen, dass es geklappt hat! Ich sehe mal nach.« Wieder schloss er die Augen. Verdammt! Sie diskutierten immer noch. Die Zeit lief ihnen davon. Vorsichtig begann er in ihrer aller Gedanken zu flüstern. Es dauerte fünf Minuten ehe er sie endlich soweit hatte, wirklich etwas zu unternehmen. Erschöpft rutschte er vom Stuhl und blieb am Boden liegen. Erschrocken sprang Warren an seine Seite, untersuchte ihn kurz und legte ihn dann beruhigt etwas bequemer hin. Er trat auf den Flur und hielt die erste Krankenschwester an, die er finden konnte. »Entschuldigen sie, sie haben nicht zufällig eine kalte Kompresse für mich? Meinem Freund geht es nicht besonders gut.« »Braucht er einen Arzt?« »Nein, vielen Dank! Ich glaube es ist nur die Anspannung.« »Warten sie! Ich hole ihnen etwas.« Sie verschwand im Schwesternzimmer und kam gleich darauf mit einem feuchten Handtuch und einem Blutdruckmessgerät zurück. Sie reichte ihm das Handtuch, bestand aber darauf, ihn ins Wartezimmer zu begleiten. Auch sie untersuchte Helaku kurz und maß den Blutdruck. Offenbar zufrieden mit den Ergebnissen verließ sie den Raum. »Ich werde ihnen auf jeden Fall Dr. Schmidt hereinschicken.« waren die letzten Worte, die Warren von ihr hörte. Er sah zu Helaku hinunter, der in unruhigen Schlaf gefallen war. Jetzt hatte er noch jemanden, um den er sich Sorgen machen musste. Die Minuten vergingen während er stumpf vor sich hinbrütend über seinem Freund saß, so dass er heftig erschrak, als der Arzt den Raum betrat. »Oh, Herr Doktor! Wie geht es meiner Familie?« Dr. Schmidt lächelte. »Wir haben einige Schwierigkeiten gehabt eine geeignete Therapie zu finden. Wie gesagt, die Symptomatik war ziemlich ungewöhnlich, aber schließlich hatten wir doch noch einen Gedankenblitz, der ihnen offenbar zu helfen scheint. Und da ihre Schwester und ihr Verlobter auf dem Weg zur Besserung sind, sollten wir uns jetzt vielleicht lieber um ihren Freund hier kümmern. Soweit ich weiß, war er der Einzige, der noch im Gebäude geblieben ist, als diese Königskobras auftauchten. Auch für ihn wird das ein hübscher Schock gewesen sein. Es wundert mich ohnehin, dass die drei so überlegt vorgehen konnten.« Warren nickte lächelnd. »Vielleicht liegt es an unserem Berufswunsch. Irgendwie haben wir uns vor langer Zeit in den Kopf gesetzt, dass wir Geheimagenten werden wollen.« Lächelnd untersuchte Dr. Schmidt den jungen Patienten. Schließlich stand er auf. »Er scheint tatsächlich nur erschöpft zu sein. Am besten bringen sie ihn nach Hause und lassen ihn sich gründlich ausschlafen.« »Aber …« »Wenn sie uns ihre Telefonnummer hinterlassen, werden wir sie selbstverständlich informieren, sobald sich etwas am Zustand ihrer Schwester verändert.« Warren nickte zögernd. »Darf ich noch mal kurz zu ihr?« Mit einem kurzen Blick auf Helaku schüttelte der Arzt den Kopf. »Tun sie ihrem Freund hier den Gefallen und verschieben das auf später.« Warren seufzte leise. »Also gut! Bitte passen sie gut auf Julia und Mika auf. Sie sind alles was mir von meiner Familie geblieben ist.« Er kniete sich neben Helaku und weckte ihn sanft auf. »Komm, alter Freund, ich bringe dich nach Hause. Da kannst du weiter schlafen.« Er wandte sich noch mal an den Arzt. »Vielen Dank für ihre Hilfe, Herr Dr. Schmidt. Schreiben sie die Rechnung einfach auf meinen Namen. Ich habe meine Daten vorhin hinterlassen.« »Machen sie sich jetzt keine Gedanken um Rechnungen! Das hier ging aufs Haus. Ihr Freund hier hat heute Einiges erlebt. Es wundert mich nicht, dass er schließlich zusammengebrochen ist« Er half Helaku mit auf die Füße. »Soll ich sie nach unten begleiten? Wie kommen sie nach Hause?« »Danke! Mein Chauffeur steht unten und wartet auf mich.« Der Arzt nickte und sah den beiden Jungendlichen nach als sie den Raum verließen.

Leise öffnete Warren die Tür und sah in den Raum dahinter. Julia saß aufrecht im Bett und sprach mit dem Arzt. »Julia! Gott sei Dank! Es geht dir wieder besser!« Sie wandte den Kopf. »Warren! Wie schön, dass du schon da bist. Herr Dr. Schmidt erzählte mir gerade, dass du auf dem Weg bist. Wie geht es Helaku? Ich hörte, er ist zusammengebrochen?« Warren schüttelte den Kopf. »Alles nur halb so schlimm, Julia. Er war nur erschöpft. Ich habe ihn im Hotel gelassen, damit er sich wirklich ausschläft.« Julia nickte. »Das ist gut. … Also, Herr Dr., darf ich jetzt gehen?« Er nickte. »Es geht ihnen ja offenbar schon viel besser.« Er sah sie nachdenklich an. »Bitte erlauben sie mir eine Frage: Wie kommt es, dass sie so schlecht englisch sprechen?« Julia lachte. »Während mein Traum von einem Bruder so gut spricht? Das kann ich ihnen verraten. Wir sind getrennt worden, als unsere Eltern starben. Warren wuchs hier in den USA auf und ich drüben in Europa. Wir haben uns erst vor einiger Zeit wieder gefunden. Sie wissen ja, wie das mit den Jugendämtern ist . Da bekommt man ja kaum Hilfe, wenn man als Waise nach seinen Wurzeln sucht.« Dr. Schmidt nickte halb überzeugt, aber Julia kümmerte sich nicht weiter darum. »Und warst du schon bei Mika, Bruderherz?« Warren schüttelte den Kopf. »Ich wollte erst sehen wie es dir geht.« Sie grinste ihn an. »Dann tu mir den Gefallen und bringe ihm die frohe Kunde, dass ich noch lebe. Ich werde mich inzwischen anziehen. Übrigens: Schön zu wissen, dass ich wie eine Schwester für dich bin.« Sie zwinkerte ihm zu und wandte sich wieder zu dem Arzt um, der sie etwas verwirrt ansah. »Entschuldigen sie bitte! Chuan lun, seltsamerweise die einzige Sprache, die wir beide fließend sprechen. Ich weiß bis heute nicht, warum - und vor allem wie er sie je gelernt hat. Selbst im asiatischen Raum ist sie heute fast unbekannt. Ähnlich wie Latein bei uns.« Der Arzt schüttelte resignierend den Kopf. »Sie sind seltsame junge Leute. Sie alle vier.« Grinsend sprang sie aus dem Bett und schlüpfte wieder in ihre Kleider, die die Rettungsassistenten ihr im Krankenwagen vom Leib geschnitten hatten. Dr. Schmidt runzelte die Stirn. »Sind das nicht die Kleider, die wir zerschneiden mussten?« »Aber sicher doch! Das ist ein ganz spezielles Material, dass sich einfach mit etwas Haarspray reparieren lässt. Das ist sehr praktisch wenn man auf Reisen ist.« »Sie sind wirklich seltsam!« »Ich weiß! Sie glauben gar nicht wie seltsam, aber machen sie sich da keine Gedanken drum. Wir werden uns wahrscheinlich nie wieder sehen.« Sie hielt dem Arzt die Hand entgegen. »Vielen Dank, Herr Dr. Schmidt. Ohne ihre Hilfe, wäre ich jetzt tot. Irgendwie habe ich so einem kleinen Tier nicht zugetraut, dass ein einziger Biss schon so gefährlich sein kann.« »Ich denke, sie sind Giftspezialistin?« »Wer hat das gesagt? Mein Bruder? Da hat er mal wieder gründlich übertrieben. Das tut er oft. Wir bilden zwar seit ein paar Tagen ein Team, aber ich fürchte Spezialisten sind wir noch lange nicht - auch wenn ich mich schon seit langer Zeit mit Medizin beschäftige und sicher einmal Medizin studieren werde. - also: Vielen Dank!« »Nicht zu danken, Frau Wagner! Alles Gute!« Sie lächelte. »Vielen Dank!« Julia verließ lächelnd das Krankenzimmer und traf auf dem Flur auf die beiden Jungen. »Hallo, Jungs! Gehen wir?« Sie nickten und sie hakte sich bei beiden ein. »Dann los! Auf in ein neues Leben!«

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Tag der Veröffentlichung: 16.11.2009

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