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Die Macht des Wetters

Sie sah sich suchend um. Es war weit und breit niemand zu sehen. Aber die gesamte Landschaft um sie herum war völlig verwüstet. Hatte hier ein Sturm getobt? »Wo ist er, Heilige?« Sie entdeckte eine Eule, die in 100 Meter Entfernung über einem Geröllfeld kreiste. Eilig rannte hinüber und entdeckte endlich einen Jungen, der bewusstlos zwischen den Felsen lag. Sie sah hinauf zu der Eule, die in diesem Augenblick zur Landung ansetzte. »Ich danke euch, Heilige.« Sie kletterte vorsichtig den kleinen Hang hinauf, beugte sich über den Jungen und ließ aufmerksam ihre Hände über ihm kreisen. Zwar spürte sie, wie sein Leben verrann, doch brauchte sie eine ganze Weile, ehe sie endlich fand, was sie suchte - nämlich die Verletzung, die so sehr an seinem Leben zehrte. “Oh, verdammt! Wie ist das nur passiert?” Sie konzentrierte die Energien ihrer heilenden Hände über seinem Schädel und schloss hochkonzentriert ihre Augen. Ein paar Minuten saß sie so über den Jungen gebeugt, doch dann seufzte sie kurz auf und stürzte zu Boden. Die Eule, die über ihnen auf dem höchsten Stein gelandet war und sie aufmerksam beobachtet hatte, flog wieder auf und begann wieder über der Unglücksstelle zu kreisen. Es dauerte Stunden, ehe sich der Junge vorsichtig rührte und mit noch geschlossen Augen um sich tastete. Dabei stieß er auf Julia, die noch immer bewusstlos an seiner Seite lag, und fuhr erschrocken auf. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er das blonde Mädchen an. Langsam erinnerte er sich wieder, was passiert war. Er hatte nachts einen fürchterlichen Wirbelsturm gespürt, der auf seine Heimatstadt zugesteuert war. Und weil er ein paar Tage zuvor bemerkt hatte, dass er das Wetter beeinflussen konnte, war er hierher gekommen, um den Sturm irgendwie aufzuhalten. Das war ihm offenbar auch gelungen, aber dann musste er von den Felsen gestürzt sein. Aber wer war dieses Mädchen? Er stand vorsichtig auf. Seine Glieder waren zwar etwas steif, schienen aber nicht weiter verletzt zu sein. Er sah zu dem Felsen hinauf, auf dem er gestanden hatte. Er musste einen Schutzengel gehabt haben, dass er sich bei diesem Sturz nichts gebrochen hatte. Über ihm schrie ein Vogel und er blickte auf. Eine Eule kreiste über dem Felsen. Seltsam, Eulen waren doch eigentlich nachtaktiv - Moment mal - als er hier raus gekommen war, war es gerade früher morgen gewesen. Es hatte gerade gedämmert, aber jetzt stand die Sonne schon fast im Süden. Er sah zur Uhr. Es war fast 11 Uhr. Seltsam! Warum war er so lange bewusstlos gewesen, wenn er offensichtlich nicht verletzt war? Wer war dieses Mädchen und was hatte es - er blickte wieder nach oben - mit dieser seltsamen Eule am Himmel auf sich? Als ob ihm die Frage, warum er plötzlich das Wetter beeinflussen konnte, nicht schon genug Kopfschmerzen bereitet hätte! Er seufzte. Darüber konnte er sich später noch den Kopf zerbrechen. Jetzt musste er sich erst mal um dieses Mädchen kümmern. Ob sie ihn wohl gesehen hatte, als er den Sturm aufgehalten hatte? Hoffentlich nicht! Sie müsste ihn sonst für verrückt halten. Er kniete sich neben sie und fühlte erleichtert ihren kräftigen Puls. Zumindest war ihr nichts Ernsthaftes passiert. Sie schlug die Augen auf. Erschrocken fuhr er zurück und wäre beinahe wieder gestürzt, wenn sie nicht blitzschnell hochgekommen und seine Hände gefasst hätte. “Pass auf, Junge, du brichst dir noch mehr!” Er starrte sie an. Was war das denn? Englisch hatte sie jedenfalls ganz sicher nicht gesprochen. “Thanks!” Er zögerte eine Sekunde und gab sich dann einen Ruck. “Who are you?” Endlich konnte Julia reagieren. Es hatte eine Weile gedauert ehe sie begriffen hatte, wo sie war. Das war also der Nordamerikanische Krieger des Lichts. Sie seufzte. “My name is Julia.” Sie kniff die Augen zusammen und musterte ihn. Er war noch ein bisschen blass. “How are you? I meen … have you got a headake or something else?” Er sah sie verwundert an. “No, I’ m fine, thanks. What’ s about you?” “Me?” Sie sah ihn verwirrt an, doch dann lächelte sie. “Oh! Yes, I’ m fine, too. Thank you.” “You aren’ t from here, right?” Sie brauchte einen Moment bis sie verstand, was er meinte. Es war etwas anderes, ob man in der Schule Englisch lernte oder es im richtigen Leben brauchte. “I’ m from Germany. My englisch is very bad.” Sie sah sich um. Wo war die Heilige? Sie sah nach oben. Da flog die Eule - zog noch immer ihre Kreise über ihnen. Unwillkürlich benutzte sie die geheime Sprache, als sie die Eule ansprach. »Ist alles in Ordnung, Heilige?« »Ja, Trägerin.« Julia seufzte. »Ich wünschte, ich hätte Kane hier.« Der Junge starrte sie ungläubig an. Was sollte das denn jetzt schon wieder? Das Mädchen musste verrückt sein! Und er auch! Das Mädchen weil es offensichtlich mit der Eule gesprochen hatte und er weil er tatsächlich glaubte, dass er sie verstanden hatte. Aber das konnte unmöglich sein. Sie hatte kein englisch gesprochen und er konnte kein deutsch. Er versuchte es trotzdem. “Who is Kane?” Julia fuhr erschrocken zusammen. “Oh, Kane is a friend of me. He speaks englisch very good.” Ohje, sie hatte Recht. Ihr englisch war tatsächlich hundsmiserabel. Er verzog das Gesicht. Julia sah ihn an. »Ohje, offensichtlich ist mein englisch noch schlechter, als ich gedacht habe.« Er nickte finster. “Yes it is!” Er stutzte. Sie hatte schon wieder diese andere Sprache benutzt und er hatte sie problemlos verstanden. War er doch verrückt geworden? “Which language do you speak? Why am I able to understand you?” »Ich spreche die geheime Sprache der Götter und du verstehst sie, weil du einer der wenigen Auserwählten bist, die im Namen der Heiligen Tania gegen das Böse kämpfen sollen.« Sie sah wieder zu der Eule hinauf und fragte stumm »Es sieht aus als hätte hier ein Orkan getobt, aber nur auf der einen Seite des Felsens. Hat er ihn aufgehalten?« »Ja, Trägerin. Er besitzt die Macht des Wetters.« »Du hast ein besonderes Talent … Äh, wie heißt du eigentlich?« Er sah sie mit großen Augen an. “Oh!” Er fuhr sich verlegen durch die Haare. “I’ m sorry. My name is Warren T. Petersen.” Sie lächelte. Er weigerte sich noch immer zu glauben, dass er diese fremde Sprache tatsächlich verstand. »Warren, du hast ein besonderes Talent. Wenn ich die Spuren hier richtig deute, hat hier ein ziemlicher Orkan getobt, nicht wahr?« Er nickte. »Es war ein Hurrikan.« Sie lächelte ihn aufmunternd an. »Sehr gut, Warren. Jetzt traust du deinen Ohren. Ein ausgewachsener Hurrikan also? Herzlichen Glückwunsch! Kein Wunder, dass du da so schwer gestürzt bist. Es muss dich all deine Kraft gekostet haben, den aufzuhalten.« »Du weißt davon? Woher? Hast du mich gesehen?« Sie lächelte. »Nein, ich habe dich nicht gesehen. Als die Heilige mich herbrachte, lagst du schon hier in den Felsen. Ich hatte einige Mühe dich wieder zusammenzuflicken. Geht es dir wirklich gut? Keine Kopfschmerzen? Kein Schwindel? Keine Sehstörungen?« »Nein, bestimmt nicht.« Sie atmete erleichtert auf. »Dann ist es gut. Ich möchte mir das trotzdem nachher noch mal ansehen. Ich möchte gerne sichergehen, dass ich nichts übersehen habe bevor ich umgefallen bin.« Er sah sie verwirrt an. »Zusammenflicken? Übersehen? Was soll das heißen? Ich verstehe nur Bahnhof!« Sie lächelte. »Deine besondere Gabe ist die Macht über das Wetter, Warren. Du kannst Stürme entfesseln oder sie eben aufhalten. Meine besondere Gabe ist die Macht der Heilung. Als ich dich hier gefunden habe, hattest du einen ganz scheußlichen Schädelbasisbruch.« Er riss erschrocken die Augen auf. »Dann bist du der Schutzengel, dem ich es zu verdanken habe, dass ich diesen Sturz so erstaunlich gut überstanden habe?« Sie nickte ernst. »Ja, auch wenn die Benutzung dieses Wortes für mich eine Beleidigung für jeden echten Schutzengel sein dürfte, da ich nur bereits entstandene Schäden richten kann.« Sie zwinkerte ihm kurz zu. »Komm, setz dich zu mir. Ich möchte mir das noch mal ansehen.« Er blieb stehen und starrte in die Ferne. Was hatte das alles nur zu bedeuten? Wer war dieses Mädchen, das behauptete, es könnte einen Schädelbasisbruch so einfach heilen? Und was hatte das alles mit ihm zu tun? »Warren?« Julias sanfte Stimme riss ihn aus den düsteren Gedanken. »Du bist verwirrt, nicht wahr?« Er drehte sich zu ihr um und nickte stumm. »Das kann ich verstehen. Mir ging es genauso, als ich dieses hier in einem Schaufenster entdeckt habe.« Sie holte San Tanadina hervor. »Ein wundervoller Dolch nicht wahr? Aber auch genauso geheimnisvoll.« Sie bedeutete ihm noch einmal sich zu setzen und diesmal tat er es auch. »Weißt du, es gibt eine uralte Sage, die immer vom Besitzer dieses Dolches an seinen Nachfolger weitergegeben wurde - und das bereits seit Jahrtausenden.« Sie blickte hinauf zum Himmel, doch die Eule war verschwunden. Mit einem leisen Seufzer erzählte sie weiter. »Aber was hat das alles mit mir zu tun?« Sie sah ihn an. Wie gut sie ihn und seine Zweifel doch verstand. War sie nicht auch beinahe verzweifelt, als sie ihre neuen Gaben entdeckt hatte - vor allem nach ihrem seltsamen Erlebnis im Kunstunterricht. Ging es Kane und Sanura auch so? Bestimmt! »Du bist einer der fünf Krieger des Lichts. Ihr kommt erst jetzt ins Spiel, weil wir die Generation sind, die den Krieg gegen das Böse beenden soll.« »Aber warum gerade ich?« Sie schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht, Warren. Ich weiß auch nicht, warum die Wahl der Heiligen gerade auf mich fiel - keiner von uns weiß es. Uns bleibt nur, uns in unser Schicksal zu fügen und unser Bestes zu geben, denn wenn wir versagen, wird es auf dieser Welt keinen Platz mehr für so etwas wie Liebe, Zuneigung oder Freundschaft geben.« Er starrte nachdenklich zu Boden. Er konnte zwar mit Begriffen wie Liebe und Freundschaft nicht viel anfangen - er war im Heim aufgewachsen und hatte nie Freunde gehabt - aber wenn das Böse siegte würden wohl Hass und Neid regieren und damit konnte er noch viel weniger anfangen. »Bist du bereit uns zu helfen?« Er nickte unsicher. War er wirklich bereit? »Mach dir keine Sorgen. Das ist für uns alle neu. Wir haben nur einen alten Hasen in der Gruppe - unseren Hüter. Wir anderen sind auch erst vor ein paar Tagen oder Stunden hier rein gestolpert und zwei Krieger des Lichts wissen noch von gar nichts. Die anderen würde ich dir gerne vorstellen, wenn du willst.« Die Anderen? Warum nicht? Julia war ja ganz nett und vielleicht war es zur Abwechslung mal ganz schön, ein paar Freunde zu haben. Er nickte. »Gerne.« Und diesmal klang es auch einigermaßen überzeugend. »Gibt es jemanden, dem du Bescheid geben solltest, dass du noch lebst? Deine Eltern?« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Eltern. Ich lebe in einem Heim.« Julia wurde rot. »Oh, verzeih! Ich wollte nicht …« Er lächelte. Das erste Mal, seit sie einander getroffen hatten, lächelte er sie an. »Ist kein Problem, Julia! Ich habe meine Eltern nie kennen gelernt. Es ist völlig normal für mich in einem Heim zu leben.« »Nun, aber irgendjemandem dort solltest du vielleicht doch Entwarnung geben. Es hat doch gewiss eine Sturmwarnung gegeben - bei diesem Hurrikan.« Sie sah noch immer etwas verlegen drein. »Stimmt schon, sie haben alle in die Schutzkeller gebracht, als ich verschwunden bin. Ich glaube nicht, dass mich jemand vermisst.« »Warum nicht? Du hast doch bestimmt Freunde oder eine Erzieherin, die für dich - naja, ich sag mal - zuständig ist.« Er nickte. »Mit der Erzieherin hast du Recht, aber Freunde habe ich tatsächlich nicht.« Sie seufzte. Sie hatte auch nie Freunde gehabt, hatte sich immer alleine in irgendwelche Ecken verkrochen. »Hast du auch die Angewohnheit, ständig aus dem Dunstkreis von Lehrern und Erziehern zu verschwinden, um dann ganz plötzlich wieder zu erscheinen?« »Wieso auch? Kennst du das etwa?« Sie nickte. »Sehr gut sogar. Ich bin ein Meister dieses Faches. Ich bin auch nie vermisst worden, aber dann solltest du zumindest einmal kurz irgendwo vor einem Haufen Zeugen auftauchen, die bestätigen können, dass du nach Ende des Alarms noch da gewesen bist. Sonst geht es jemandem an den Kragen, wenn dich in den nächsten Stunden niemand mehr sieht.« Er gab sich geschlagen. »Also gut, ich gehe ja schon! Es wird aber eine Weile dauern, ehe ich wieder hier bin. Es ist immerhin eine halbe Stunde Fußmarsch bis dort.« Sie lächelte. »Das macht nichts. Ich komme einfach mit und kürze den Weg ab.« Er sah sie verwundert an. »Ich denke, du kennst dich hier nicht aus?« »Das brauche ich auch gar nicht, Warren. Weil du nämlich San Tanadina sagen wirst, wo wir plötzlich auftauchen können ohne gesehen zu werden.« Sie zwinkert ihm zu, griff nach San Tanadina und verschwand, um nur ein paar Meter unter ihm wieder aufzutauchen. »Wie machst du das?« Er hatte die Augen weit aufgerissen und starrte sie jetzt erschrocken an. Sie lächelte. »Naja, es hat eben auch Vorteile die Trägerin San Tanadinas zu sein. San Tanadina ermöglicht es mir überall in Sekundenschnelle hinzukommen ohne viel Zeit und Energie zu verschwenden.« Plötzlich leuchteten seine Augen. »Klasse! Dann bin ich ja nicht mehr in diesem Kaff hier festgenagelt!« Sie musste lachen. »Nein, das bist du nicht mehr! …« Er sah sie beleidigt an. Was gab es denn da zu lachen? »Entschuldige! Ich muss nur lachen, weil … naja, als ich von der Möglichkeit erfahren habe, habe ich genauso reagiert - Nein, das stimmt nicht ganz, aber ich hätte so reagiert, wenn ich nicht gerade einen verletzten Hüter vor mir gehabt hätte.« Sie grinste ihn an und endlich entspannten sich seine Züge wieder zu einem Lachen. »Aber, Warren, das Ganze hat leider auch einen Haken!« Er verschluckte sich vor Schreck und fing heftig an zu husten. Noch immer unterdrückt lachend schlug sie ihm auf den Rücken. »Das Problem ist nämlich, dass niemand etwas von unserem Kampf erfahren darf - und vor allem nicht von unseren Fähigkeiten.« Sie wurde wieder ernst. »Du wirst es vermutlich noch ein bisschen schwerer haben, das alles geheim zu halten als wir anderen, aber da wollen wir jetzt noch nicht drüber nachdenken. Jetzt wollen wir erst mal kurz zu dir nach Hause und dann zu den anderen.« Er nickte. »Am besten springen wir direkt unten in die Kellerräume. In den Schutzkellern unter dem Verwaltungstrakt gibt es aus irgendeinem Grund ein paar kleinere Räume, die nie benutzt werden und auch offenbar keinerlei Bedeutung haben. Dahin verkrieche ich mich öfters und gefunden hat mich da bis jetzt noch nie jemand.« Sie nickte. »Gib mir mal deine Hand. Wir brauchen Körperkontakt, damit San Tanadina dich mitnehmen kann.« Er reichte ihr die Hand, sie griff mit ihrer freien Hand nach San Tanadina und mit einer gemurmelten Bitte baute San Tanadina auch schon das Transportfeld auf. Sekunden später standen sie auch schon sicher in einem dunklen Raum. »Warte hier auf mich. Ich bin gleich wieder da.« »Ich würde eigentlich gerne sehen, wie du hier lebst.« Er lächelte. »Das lohnt beinahe gar nicht. Ich bin nicht mehr lange hier. Ich ziehe bald in mein neues Zuhause.« Sie sah ihn entgeistert an. »Ganz alleine? Oder zu Adoptiveltern?« »Alleine. Ich hatte offenbar einen reichen Erbonkel von dem niemand etwas wusste. Tja, und jetzt habe ich in Miami eine riesige Wohnung und zwei Hotels, deren Leitung ich übernehmen werde.« »Donnerwetter! Und das mit 16? Das nenne ich Glück!« Sie seufzte. »Also gut, bis gleich.« Sie ließ sich zu Boden sinken. »Falls ich einschlafen sollte, weck mich einfach. Ja?« Er nickte lächelnd und verschwand. Sie tat natürlich alles andere als zu schlafen. »Bitte, San Tanadina, kannst du mir zeigen, wo er hingeht?« Vor ihr in der Luft bildete sich ein kleines schimmerndes Kraftfeld in dessen Mitte sie tatsächlich beobachten konnte, wo er hinging. Eigentlich widerstrebte es ihr ja, ihn so zu beobachten, aber sie war einfach zu neugierig, wie so ein Heim aussah. Aus irgendeinem Grund traf er im Erdgeschoss niemanden und auch ihn schien das etwas zu irritieren, denn er wurde merklich unruhig. Schließlich klopfte er an eine Tür im 1. Stock und betrat kurz darauf den Raum dahinter. An einem Schreibtisch saß eine ältere sehr ernste Frau mit grauem Haar und sah ihn überrascht an. Er sprach eine Weile mit ihr, schien sich sogar mit ihr zu streiten, doch schließlich gab er ihr die Hand zum Abschied und machte sich offensichtlich auf den Rückweg zu ihr. Ein wenig enttäuscht sagte sie: »Danke, San Tanadina.« Mit einer Handbewegung wischte sie das Kraftfeld weg und blieb im Dunkeln sitzen. Eine Minute später war Warren wieder da. Sie sah ihn an und sprang erschrocken auf. Er war leichenblass. »Was ist passiert?« »Es hat heute morgen, kurz nachdem ich gegangen bin, eine riesige Explosion gegeben. Der ganze Wohntrakt liegt in Schutt und Asche. Die meisten sind tot, ein paar noch vermisst, aber wahrscheinlich bin ich der einzige - ich sag mal - Schüler, der überlebt hat.« Sie wurde blass. »Oh, mein Gott! Was … was willst du jetzt tun? Schließt du dich den Suchtrupps an?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das wollte die Direktorin nicht zulassen. Sie will bei meinem Anwalt anrufen, dass ich noch lebe und ich mich auf den Weg nach Miami mache, aber sicher nicht vor morgen Nachmittag ankommen würde. Ich habe darauf bestanden, dass ich alleine fahre.« »Alleine? Warren, das ist nicht dein Ernst!« Er lächelte schwach. »Warum? Ich bin schon immer ein Einzelgänger gewesen. - Nein, ich wollte dich bitten, dass ich die Nacht bei dir verbringen darf.« Er wurde rot. »Oder bei einem der Jungen, wenn dir das lieber ist. Ich will heute Nacht einfach nicht alleine sein. Man merkt erst, wenn keiner mehr da ist, wie sehr man die anderen eben doch gebraucht hat.« Ungeweinte Tränen standen in seinen Augen. Sachte nahm sie ihn in den Arm. »Natürlich bleibst du bei uns! Ich weiß noch nicht, wie ich es meiner Mutter beibringe, aber irgendwie schaffen wir das schon.« »Danke!« Er schluckte schwer. »Können wir das Haus auf normalem Weg verlassen? Ich habe mich zwar nie wirklich wohl gefühlt, aber es war eben doch mein Zuhause.« Er löste sich aus ihrer Umarmung behielt aber ihre Hand fest in der seinen und sah sie verschwommen an. Sie schluckte und nickte nur. Wortlos gingen sie durch die erschreckend leeren Flure und Treppenhäuser hinaus über den Hof zum Tor. Hinter dem Tor blieb er stehen und sah noch ein letztes Mal zurück auf das Gebäude, das in den letzten 15 Jahren sein zu Hause gewesen war. Von hier aus konnte man das gesamte Ausmaß der Zerstörung erkennen. Der Westflügel des Komplexes lag völlig in Schutt und Asche und viele Einsatzleute von Feuerwehr und Rettungsdienst suchten in den Trümmern nach Leichen oder Überlebenden. An einer Seite reihten sich schwarze Leichensäcke auf dem Trümmerfeld. »Wenn in einem von ihnen noch ein Hauch von Leben wäre, könnte ich ihn retten. Soll ich helfen gehen?« Sie sah ihn mitfühlend an, aber er schüttelte den Kopf und wischte mit einer entschlossenen Handbewegung die Tränen aus den Augen. »Nein, Julia, das würde nur unnötig unsere Aufgabe gefährden. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass das jemand überlebt hat.« Er seufzte kurz. »Lass uns gehen!« Sie nickte, legte ihre freie Hand an San Tanadina, murmelte: »Bitte bringe uns zu den anderen.« Und schon baute sich das Transportfeld auf, um sie Sekunden später im Geheimraum der Jagdhütte abzusetzen. Es schien bereits dunkel zu werden. Sie sah auf die Uhr. Es war tatsächlich schon ganz schön spät. Sanura lag im Bett und schlief fest. Sie legte ihren Finger auf die Lippen und bedeutete ihm stumm ihr zu folgen. Leise gingen sie hinüber in den Hauptraum, wo Mika und Kane saßen und sich leise auf japanisch unterhielten. Als sie eintraten hoben beide die Köpfe. Mika sprang erleichtert auf. “Julia! Bin ich froh, dass du wieder da bist!” Sie lächelte. »Ich auch. Ist alles klar bei euch? Fieber weg? Gift auch? Was machen deine Lungen? Hast du inhaliert?« Mika, der ihr entgegengelaufen war und sie vor Erleichterung hatte in den Arm nehmen wollen, blieb abrupt stehen und sah sie an. Eine derart kühle Begrüßung hatte er nicht erwartet, doch dann entdeckte er Warren, der dicht hinter ihr stand - Julias Hand noch immer in der seinen - und glaubte zu verstehen. »Alles in Ordnung. Sanura scheint noch nicht ganz über den Berg zu sein. Sie schläft.« Julia nickte. »Das ist gut so. Ich bin froh, dass es euch besser geht.« Vergeblich versuchte sie die etwas unterkühlte Begrüßung wieder gut zu machen. Wieder wanderte ihre Hand zu dem Dolch. »Sorry, Mika. Ich bin wirklich froh, wieder bei dir zu sein. Wir müssen nur ein bisschen Rücksicht auf Warren nehmen. Er hat gerade sein zu Hause verloren. Wir erzählen‘ s gleich ausführlich.« Er nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte. »Na, dann kommt rein, setzt euch! Wie wäre es mit einem Tee?« Sie schob Warren auf die Bank und setzte sich neben ihn. »Ah, das klingt wunderbar! Du bist ein Schatz! Vielen Dank!« Sie wandte sich an Warren. »Trinkst du auch eine Tasse Tee? Mika macht ganz fantastischen Tee.« Er schüttelte den Kopf, blieb aber stumm. »Ist schon in Ordnung, Warren. Also gut, wir fangen am besten an. Das Mädchen, das nebenan schläft, heißt Sanura, sie kommt aus Mombasa. Sie ist unsere Kämpferin. Dies hier…« Sie deutete auf Kane, der zu Warrens rechter Seite saß. »Dies ist Kane, unser Sprachwunder und der etwas ungestüme junge Mann mit dem Händchen für wunderbaren Tee dort drüben ist Mika. Er ist der Hüter San Tanadinas. Tja, Jungs, und dies hier ist Warren. Er wird unser … ich sag mal …« Sie sah Warren augenzwinkernd an. »… Wetterfrosch sein. Er beherrscht nämlich das Wetter.« Er sah sie mit großen Augen an und man konnte deutlich sehen, dass er das für die Übertreibung des Jahres hielt, aber er sagte nichts. Sie legte ihre Hand auf seine, was Mika, der gerade mit ihrem Tee an den Tisch trat, zu einem eifersüchtigen Blick auf Warren veranlasste, aber Julia schüttelte ernst den Kopf. Kane, der den Blickwechsel zwischen Mika und Julia beobachtet hatte und wusste, was Mika für sie empfand, versuchte die Spannung ein bisschen zu lösen und gleichzeitig seine Neugier zu befriedigen. »Wo kommst du her? Dem Namen nach irgendwo aus Amerika.« Warren nickte und sah Julia an. Sie nickte ihm aufmunternd zu. »Ich habe in einer kleinen Stadt 200 km östlich von Atlanta gelebt.« Kane wechselte einen schnellen Blick mit Mika und sah Julia fragend an. Sie nickte und wandte sich an Warren. »Möchtest du es ihnen erzählen, oder soll ich es lieber tun?« Er sah sie dankbar an, schüttelte aber den Kopf. »Danke, Julia, aber ich glaube es ist besser, wenn ich es ihnen selbst erzähle.« Sie nickte und drückte seine Hand. Er sah die Jungen an. »Ich glaube ich fange am Besten ganz am Anfang an. Ich bin noch ein bisschen durcheinander.« Er schloss kurz die Augen und atmete tief durch. »Ich habe in einem Waisenheim gelebt. Ich bin heute sehr früh aus dem Haus gegangen, weil ein Hurrikan direkt auf uns zu kam. Ich kann solche Stürme irgendwie fühlen und es war ein riesiger Hurrikan, der das ganze Haus zerstört hätte. Ich gebe zu, ich habe das Heim nie wirklich gemocht, aber es war ein Zuhause, also musste ich den Sturm irgendwie aufhalten. Das habe ich auch geschafft, aber dann bin ich von den Felsen, auf denen ich mich postiert hatte, gestürzt und liegen geblieben. Da hat Julia mich schließlich gefunden und mir offensichtlich das Leben gerettet.« Er sah sie dankbar an und holte tief Luft. »Naja, sie hat darauf bestanden, dass wir bevor wir hierher kamen, kurz im Heim vorbeischauen, damit die wissen, dass ich noch lebe.« Er schluckte schwer, sprach aber gleich weiter. »Als wir ankamen, mussten wir erfahren, dass der gesamte Wohntrakt kurz nachdem ich gegangen bin, von einer gewaltigen Explosion zerstört worden ist.« Mika und Kane rissen die Augen auf und sahen sich erschrocken an. »Es gab keine Überlebenden außer mir und der Heimleiterin, die nicht im Heim lebt.« Mika sah betreten zu Boden. Dann war es ja völlig klar, dass Julia vorhin so seltsam reagiert hatte. Seine Hand fuhr zu San Tanabea an seinem Hals, aber er ließ sie wieder sinken, ohne etwas zu sagen. Was hätte er sagen sollen? Dass er eifersüchtig gewesen war? Dass er Angst gehabt hatte, dass sie Warren lieber mochte als ihn? Unmöglich! Julia hatte seine Handbewegung bemerkt und lächelte ihn an. Eine kurze Handbewegung zu ihrem Dolch ließ auch Kane wieder aufmerksam werden, während Warren wie erschlagen am Tisch saß und ins Leere starrte. »Hey, Kopf hoch, Mika!« Kane lächelte und wandte sich wieder Warren zu. »Dann hast du alle Freunde verloren? Das tut mir leid. Ich weiß wie es ist einen Freund zu verlieren, aber alle auf einmal? Das muss schrecklich sein.« Warren schluckte. »Freunde ist wohl ein bisschen übertrieben. Richtige Freunde habe ich nie gehabt, aber ich habe auch nie andere gleichaltrige als sie kennen gelernt. Es gibt - außer euch - jetzt nur noch 5 Menschen auf dieser Welt, die ich kenne. Das ist kein schönes Gefühl!« Mika wurde leichenblass. Stimmt, es war schlimm, wenn man Menschen verlor, aber wenn so wenige überblieben … Das war ja grauenhaft! Es musste doch eine Möglichkeit geben, ihm zu helfen! »Dann werden wir ab jetzt deine Familie sein, wenn du willst. Wir werden sicher auch eine Möglichkeit finden, dass du bei einem von uns wohnen kannst. Meine Eltern haben bestimmt nichts dagegen!« Warren sah zu ihm auf und lächelte ihn dankbar an. »Ich danke dir für das freundliche Angebot, Mika, aber es wird nicht nötig sein, dass ich bei einem von euch einziehe. Ich habe bereits eine Wohnung. Ich werde morgen in Miami erwartet.« Kane sah überrascht auf. »Donnerwetter! In Miami? So schnell und so weit weg?« »Es war bereits seit einigen Wochen geplant, dass ich das Heim verlasse, aber nicht so schnell und nicht auf diese Art und Weise. Eigentlich hatte ich meinen Geburtstag im März abwarten wollen ehe ich umziehe.« »Und das kannst du alles so spontan entscheiden?« Er nickte. »Ja, die Wohnung gehört mir. Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig, wann ich mich dort aufhalte oder nicht. Solange ich noch nicht volljährig bin, muss ich das natürlich mit der Heimleitung und meinem Anwalt absprechen, aber sonst …« »Eigentum! Wow, das nenne ich Glück!« Julia gähnte herzhaft. »Entschuldigt, Jungs, aber ich bin völlig fertig. Ich möchte gerne ins Bett. Und ihr könnt auch alle ein bisschen Schlaf brauchen. Ich habe Warren versprochen, dass er diese eine Nacht bei einem von uns schlafen kann und ich möchte ihn gerne entweder in meiner Nähe oder der von San Tanabea haben, weil da die Reaktionsgeschwindigkeit, wenn noch etwas sein sollte, am günstigsten ist. Das selbe gilt für Sanura. Mika, kannst du für einen von den beiden was einrichten?« Mika nickte. »Kein Problem!« Sie nickte. »Danke, Mika.« Sie sah Warren an. »Du kannst es dir also aussuchen, mein Freund. Ich bin jederzeit für dich da. Mika aber sicher auch.« Warren sah von Mika zu Julia und wieder zurück zu Mika. »Sei mir nicht böse, Mika. Ich bin sicher, dein Angebot war ehrlich und gut gemeint, aber ich würde gerne bei Julia bleiben - einfach weil sie gesehen hat, was passiert ist. Verstehst du?« Ein Stich Eifersucht durchfuhr Mika, aber er beherrschte sich. Das war eigentlich eine ganz natürliche Reaktion. Julia hatte ihm das Leben gerettet, war bei ihm gewesen, als er sich von seiner Heimat und seinen Freunden verabschiedet hatte und ihn kannte er noch nicht einmal eine halbe Stunde. »Ist schon in Ordnung, mein Freund!« Julia nickte erleichtert. Sie hatte befürchtet, Mika könnte sein Enttäuschung weniger gut verbergen. Sie stand auf. »Dann werde ich Sanura jetzt mal wecken.« Doch in diesem Moment trat sie gähnend durch die Tür. »Nicht nötig, Julia. Ich bin schon da. Schön, dass du wieder zurück bist!« Sie trat an den Tisch und stutzte. »Oh, entschuldige! Dich hatte ich gerade gar nicht so schnell gesehen.« Sie hielt Warren die Hand entgegen, der sie mit großen Augen ansah und schnell ihre Hand ergriff. Sie spürte, wie sein Blick an den Resten der Verbrennungen in ihrem Gesicht hängen blieben, ignorierte das aber. »Ich bin Sanura, die Kampfkatze.« Sie lächelte ihn an. Er sah sie verwirrt an. »Wieso Kampfkatze?« Sanura lachte leise. »Naja, mein Name bedeutet soviel wie Katze und meine Aufgabe hier in der Gruppe wird wohl vor allem der Kampf sein. Und wie heißt du?« Erschrocken bemerkte er, dass er vergessen hatte, sich vorzustellen. Diese graziöse Figur, der Makel dieser hässlichen Brandnarben in ihrem schönen Gesicht und dieses unwahrscheinliche Timbre in ihrer Stimme hatten ihn so verwirrt, dass er total seine gute Erziehung vergessen hatte. Er riss sich zusammen. »Oh, verzeih! Ich bin Warren - gewissermaßen der Wetterfrosch hier.« Jetzt war es an ihr verständnislos drein zublicken. »Naja, ich könnte dir eine hundertprozentig genaue Wettervorhersage liefern. Weil, wenn ich sage ein Sturm zieht auf, dann kommt für gewöhnlich auch einer - aus heiterem Himmel versteht sich.« Das verwirrte Sanura nur noch mehr, so dass Kane lachend eingriff. »Was er dir damit sagen möchte, Sanura, ist, dass er das Wetter genauso manipulieren kann, wie es ihm gerade passt.« »Achso! Ja, das verstehe ich!« »Sanura, wir haben gerade beschlossen, dass wir jetzt nach Hause gehen. Nur du musst dich noch entscheiden, ob du mit Mika gehst oder ob du lieber zu mir kommst.« Julia lächelte noch immer amüsiert über Warren und Sanura. »Oh, vielleicht solltest du wissen, dass ich nur ein Zimmer zur Verfügung habe und Warren auch bei mir übernachten wird.« Sanura sah von einem zum anderen und schließlich zu Mika. »Sei mir nicht böse, Mika. Ich kann dich wirklich gut leiden, aber ich möchte doch lieber mit Julia gehen.« Seltsamerweise schien Mika das nicht nur erwartet zu haben sondern schien sogar erleichtert zu sein. Er lächelte sie an. »Ist überhaupt kein Problem, Sanura!« Kane grinste, sagte aber nichts. »Prima, da das jetzt geklärt ist, würde ich sagen, bist du so lieb und bringst Kane nach Hause, Mika. Und ich nehme die beiden mit zu mir.« Sie machte eine Pause und sah ihn eindringlich an. »Und sei so lieb und sag mir Bescheid, wenn du zu Hause bist. Ja? Ich möchte mir gerne deine Lungen noch mal ansehen, nachdem ich vorhin so überstürzt aufgebrochen bin.« Mika sah sie kurz an und nickte, dann nahm er Kane bei der Hand und die beiden verschwanden stumm. Nur Kane winkte ihnen noch mal grinsend zu. Julia wandte sich ihren Begleitern zu. »Also gut, gebt euch mal die Hände und mir auch.« Die beiden sahen sich etwas verlegen an, taten aber, was Julia sagte. »Bitte, San Tanadina bringe uns zu mir nach Hause.« Sie hielt die Augen in hoher Konzentration geschlossen, bis sie spürte, dass sie nicht mehr in der Jagdhütte waren. Sie sah sich um. Das hatte ja bestens geklappt. Sie waren 100 Meter von ihrem Haus entfernt aufgetaucht. »Ein kleines Stückchen werden wir laufen müssen. Meine Mum steht bestimmt schon am Fenster und wartet auf mich.« Sie wandte sich an Sanura. »Sag mal, Sanura, kannst du ein bisschen Englisch?« Sie nickte. »Das ist gut. Ich werde Mum ein Märchen erzählen, nach dem wir uns beim Kirchentag letztes Jahr kennen gelernt haben und uns heute zufällig über den Weg gelaufen sind. Zum Glück kann Mum noch weniger Englisch als ich, so dass es ihr hoffentlich nachher gar nicht mehr auffällt, wenn wir kein Englisch mehr sprechen.« »Wie heißt du eigentlich mit Nachnamen, Julia?« fragte Warren. »Oh, Wagner.« Stirnrunzelnd fragte er nach: »Wie der Komponist?« Julia nickte verwundert. »Ist der Name sehr häufig in Deutschland?« »Wie kommst du darauf?« Warren druckste ein wenig. »Naja,« meinte er schließlich, »Diese Hotels gehörten offenbar nicht meinem verstorbenen Onkel, sondern meinem Vater. Dieser Onkel war nur der Testamentvollstrecker meines Vaters, der diese Hotels sowohl mir als auch meiner Halbschwester hier aus Deutschland vermachte. Diese Schwester ist nur bisher noch nicht gefunden worden, soweit ich weiß. Jedenfalls sollte sie Wagner heißen. Ein Vorname wurde nicht genannt.« Julia starrte ihn hilflos an. »Naja, der Name ist schon nicht ganz selten.« Aber wie viele Männer zeugen erst hier ein Kind und gründen dann drüben auch eine Familie? Und ihr Vater war ja nach Amerika ausgewandert. Sie waren inzwischen vor Julias Haus angekommen. Sie riss sich zusammen. Das war jetzt nicht wichtig. »Hier ist es. … Oh - und wundert euch über nichts!« Sie schloss die Tür auf. “Mum?” “Ich bin in der Küche, Julia. Ich mache mir gerade einen Tee. Wollt ihr auch einen?” Julia betrat mit den beiden die Küche. Ihre Mutter stand am Herd und sah sie an. “Nun?” Julia stutzte eine Sekunde, ehe sie begriff, dass ihre beiden neuen Freunde natürlich kein Wort verstanden hatte. “She wants to know, if you want to have a cup of tea.” Warren sah sie beeindruckt an, wandte sich dann aber ihrer Mutter zu. “It’ s very nice, Mrs. Wagner, but I’ m not thirsty.” Frau Wagner sah ihre Tochter irritiert an. “Darf ich dir meine Freunde erst mal vorstellen, Mum? Das hier ist Sanura. Sie kommt aus Mombasa. Sie spricht zwar ganz gut englisch, ist aber ein bisschen schüchtern, wenn sie jemanden nicht kennt.” Frau Wagner reichte dem Mädchen noch immer reichlich verwirrt die Hand. “Und das hier ist Warren. Er kommt aus einem Ort etwa 200 km östlich von Atlanta. Wir haben uns letztes Jahr aufm Kirchentag kennen gelernt. Wir trafen uns vorhin zufällig. Naja, und weil wir uns so lange nicht gesehen haben, haben wir gehofft, sie könnten bei uns übernachten, ehe sie morgen wieder nach Hause müssen.” Frau Wagner war noch immer etwas verwirrt und so nickte sie zerstreut. “Ja, ja sicher, Kind. Kein Problem.” Sie stutzte. “Aber ihr wollt doch nicht alle im selben Zimmer schlafen? Das geht nicht!” Julia blickte zur Decke. “Mum, woran du nun schon wieder denkst! Ich glaube nicht, dass du dir da Sorgen drum zu machen brauchst. Aber falls es dich beruhigt: ich werde Warren das Gästezimmer richten und Sanura schläft bei mir.” Sie nickte. “Ja, dann ist es gut.” Sie trat zum Herd, wo der Wasserkessel gerade zu pfeifen anfing und drehte den Herd ab. “Naja, dann mal los, ihr drei. Oh, Julia, ich gehe noch mal zu Frau Orth rüber. Es kann spät werden. Macht nicht zu lange.” “Ist gut, Mum.” Sie sah ihre Freunde mit leuchtenden Augen an. “Let’ s go!” Zu dritt polterten sie die Treppen hoch. »Kommt rein, das hier ist mein Zimmer. Oh, Warren, hier direkt nebenan ist ein Gästezimmer. Ich habe Mum gesagt, dass du da drüben einquartiert wirst, aber wenn du möchtest, kannst du natürlich bei uns bleiben, nicht wahr, Sanura?« Sanura nickte lächelnd und sah den Jungen frech an. Ihm wurde heiß. Nervös nestelte er an seinem Kragen. »Oh, und das Bad ist direkt hier gegenüber, falls jemand sich frisch machen möchte.« »Ich glaube, ich gehe lieber noch mal kurz an die frische Luft!« Mit hochroten Ohren verließ er fluchtartig den Raum. Sanura lachte. »Der hat es aber eilig!« Julia lachte. »Ich weiß auch nicht, wie das kommt. Sag mal, springst du mit allen Jungs so um?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nie. Ich weiß auch nicht, was mich an ihm so reizt.« Julia berührte ihren Dolch, konzentrierte sich einen Moment und schon war das Bett frisch bezogen. »Hör mal, Sanura, ich weiß, dass du auch Schreckliches erlebt hast in den letzten Stunden, aber sei trotzdem ein bisschen vorsichtig mit ihm. Ja? Er hat heute auf einen Schlag alle Freunde und fast alle, die er überhaupt kannte verloren. Ich glaube das nimmt ihn mehr mit, als er es selbst zugeben würde.« Sanura riss erschrocken die Augen auf. »Oh Gott! Was ist passiert?« »Sie sind bei einer riesigen Explosion gestorben. Das ganze Wohngebäude des Waisenheims in dem er gelebt hat ist völlig zerstört worden.« »Dann hast du ihn genauso gerettet, wie mich? Aus dem Feuer heraus?« Julia schüttelte den Kopf und zog nebenbei ein zusammenklappbares Bett aus einer Ecke des Gästezimmers hervor. »Ich habe ihn gerettet, ja, aber nicht aus dem Feuer. Er war gar nicht zu Hause, als das Haus explodierte. Zu der Zeit war er auf dem Weg, genau diese Menschen vor einem fürchterlichen Hurrikan zu bewahren, der ohne Zweifel auch für etliche Tote gesorgt hätte.« Ungläubig starrte Sanura sie an. »Er hat versucht, mit seiner Gabe einen Hurrikan aufzuhalten?« Julia nickte. »Er hat es auch geschafft, aber dann ist er vor Erschöpfung umgefallen und ist einen riesigen Geröllberg heruntergepurzelt. Wenn die Heilige nicht eingegriffen hätte, würde er nicht mehr leben.« »Du meinst, wenn du nicht gekommen wärst?« »Nein, Sanura. Ich bin nur ein kleines Licht, das von der Heiligen auserwählt wurde für das Gute zu kämpfen. Ohne die Heilige hätte ich niemandem von euch helfen können.« »Warum bist du so bescheiden, Julia? Mika hat mir erzählt, dass du diese Fähigkeit schon lange vor San Tanadina hattest.« Julia lächelte gequält. »Mika erzählt zu viel! Aber gut, natürlich hat er Recht. Ich habe diese Fähigkeit schon seit meiner Geburt, aber woher habe ich sie? Oder warum? Durch Zufall? Wohl kaum! Weißt du, ich habe geglaubt, sie käme von Gott. Ich habe immer an ihn geglaubt, aber ich habe nie geahnt, dass es auch noch andere göttliche Wesen gibt und das ich eines einmal so hautnah erleben würde, wie in den letzten Tagen die Heilige.« »Du meinst diese göttliche Eule ist nicht nur irgendein Wesen das in Legenden vorkommt, aber nie existiert hat?« Warren war unbemerkt wieder hereingekommen. Erschrocken sahen die Mädchen ihn an, doch nach einer Sekunde entspannten sie sich wieder. »Nein, Warren, es gibt diese göttliche Eule wirklich. Ich habe sie mehrmals mit eigenen Augen gesehen und ohne sie hätte ich keinen von euch retten können, weil ich nie von euch erfahren hätte. Erinnerst du dich an die Eule, die über den Felsen ihre Kreise gezogen hat? Das war nicht nur ein völlig untypisches Verhalten für Eulen, sie war auch untypisch groß und untypisch gefärbt. Das war die Heilige.« Er runzelte die Stirn. »Ich hatte mich schon gewundert, warum eine Eule an hellerlichtem Tag so weit weg von einem Wald herumflog.« »Sie hat über uns gewacht, Warren. Sobald wir einigermaßen sicher unseren eigenen Sinnen trauen konnten, war sie weg - zumindest in dieser Gestalt.« Sie zog die Schutzhaube von dem Gästebett und faltete sie zusammen. »Könntest du so lieb sein und das Ding rüber in mein Zimmer schaffen?« Sie sah Warren bittend an. Der nickte. »Klar, kein Problem!« “Julia?” Frau Wagner stand unten an der Treppe. “Habt ihr auch genug gegessen? Du hast heut nicht mal gefrühstückt!” »Jetzt, wo sie es sagt: Ich habe tatsächlich Hunger. Wie steht‘ s mit euch?« Warren und Sanura sahen sich an und dann Julia und nickten. “Naja, also irgendwie hätten wir schon Hunger, Mum.” “Dann kommt runter. Ich mach euch was.” “Danke, Mum!” Sie sah ihre Freunde an. »Na, kommt, Freunde! Wenn Mum was zu Essen zaubert, sollten wir nicht lange warten!« Sie sah auf die Uhr. Wie lange war es eigentlich her, dass sie sich getrennt hatten? Müsste Mika nicht auch längst zu Hause sein? Naja, vielleicht aßen die beiden Jungen auch noch gemeinsam. Sie schienen sich ja ziemlich gut zu verstehen. Doch als sie nach dem Essen noch immer nichts von Mika gehört hatte, machte sie sich doch etwas Sorgen. Zudem fiel ihr ein, dass sie die geheimen Türen in der Jagdhütte nicht geschlossen hatten. »Freunde, ich fürchte, ich muss noch mal kurz weg. Wir haben vergessen, die geheimen Türen in der Jagdhütte wieder ordnungsgemäß zu verschließen und ich mache mir Sorgen um Mika. Er hat sich immer noch nicht gemeldet.« Die beiden sahen sich an und nickten. »Ist schon in Ordnung. Wir werden hier schon die Stellung halten.« »Danke! Erzählt meiner Mutter irgendein Märchen, wo ich bin, falls sie fragen sollte. Ich bin so schnell es geht zurück.« Sie berührte ihren Dolch und war im selben Moment verschwunden.
Gleich darauf tauchte sie in der alten Jagdhütte wieder auf und traute ihren Augen kaum. Das Bett im geheimen Zimmer war gerichtet und die Tür fest verschlossen. Sie öffnete sie vorsichtig von innen und stellte verblüfft fest, dass im Hauptraum tatsächlich noch jemand war. Mika stand am Herd und hielt seine eigene kleine Teezeremonie. Er hob den Kopf, sah sich um und entdeckte Julia. »Entschuldige, Mika. Ich wollte dich nicht stören.« Er schüttelte den Kopf. »Ist nicht schlimm. Komm rein. Möchtest du auch eine Tasse?« Sie nickte. »Gerne, danke!« Er goss jedem eine Tasse heißen Tee ein und setzte sich ihr gegenüber an den großen Tisch. Eine Weile saßen sie schweigend beieinander, doch schließlich gab Julia sich einen Ruck. “Sag mal, Mika, irre ich mich, oder bist du wirklich so schlecht auf Warren zu sprechen?” Mika schüttelte den Kopf. “Ich habe nichts gegen ihn, Julia. Bestimmt! Ihr …” Er überlegte angestrengt, wie er sich ausdrücken sollte. Sie musste noch nicht unbedingt wissen, dass er sich in sie verliebt hatte und jetzt rasend eifersüchtig war. “Ihr habt mich einfach auf dem falschen Fuß erwischt. Das ist alles!” Sie sah ihn mit gehobenen Augenbrauen an. “Auf dem falschen Fuß erwischt?” Das Blut schoss ihm ins Gesicht und auch Julia, die endlich begriff, was los war, wurde rot. “Oh, ich verstehe!” Sie schwieg eine Weile ehe sie unvermittelt weiter sprach. “Ich wollte dir nicht wehtun, Mika. Bitte entschuldige. Mir war einfach noch nicht klar, wie nahe wir einander schon waren.” Er sah sie leicht erschrocken an. Meinte sie jetzt das, was er glaubte, dass sie es meinte? Hatte sie ihn wirklich durchschaut? “Julia …” Sie lächelte traurig. “Weißt du, ich habe vom ersten Augenblick an irgendwie gewusst, dass wir beiden zusammengehören, aber ich habe es immer wieder ignoriert und verdrängt, weil ich dachte, es wäre zu früh für so etwas, aber ich glaube, das war falsch, Mika. Lass uns ehrlich zueinander sein, damit uns so etwas wie vorhin nie wieder passiert. Ja?” Er schluckte. Deshalb hatte sie ihn also so schnell durchschaut. Plötzlich bemerkte er, dass sie noch auf eine Antwort wartete. “Ja.” krächzte er und hustete heftig. Schnell nahm er einen Schluck Tee, um die trockene Kehle wieder in Schwung zu bringen. Lächelnd trat sie um den Tisch herum zu ihm und streckte ihm ihre Hand entgegen. “Ehrenwort?” Einen Augenblick lang starrte er sie verblüfft an, doch dann stand er auf und reichte ihr die Hand. “Ehrenwort!” “Und ich verspreche dir auch, dass ich immer ehrlich zu dir sein werde.” Er starrte sie unverwandt an und schüttelte schließlich den Kopf. “Warum musste das jetzt eigentlich gleich so feierlich ausfallen?” Sie sah ihn verständnislos an, doch dann fing sie an zu lachen. “Oh, ich liebe dich, du Dummchen!” Sie fiel ihm um den Hals. “Das musste so feierlich sein, damit wir uns immer daran erinnern, Mika. Ein locker dahergeredetes Versprechen vergisst man, aber ich möchte mich daran erinnern. Ich will dir nie wieder so unnötig weh tun, verstehst du?” Er legte unsicher seine Arme um sie und nickte halb überzeugt. Sie schmiegte sich eng an ihn und schnurrte schon beinahe, als sie wieder sprach. “Nur zu deiner Beruhigung: Ich glaube nicht, dass Warren was in der Richtung von mir will. Und ich bin mir völlig sicher, dass ich nichts von ihm will. Ich bin nur dein und der Heiligen.” “Danke, Julia! Es tut gut, das so von dir zu hören. Bitte verzeih mir diese dumme Eifersucht. Ja?“ Sie sah ihn liebevoll an und näherte sich zaghaft seinen Lippen zu einem ersten Kuss. “Vergessen und vergeben, Liebster. Und jetzt tu mir den Gefallen und lass mich kurz nach deinen Verletzungen schauen. Ja?” Seufzend löste er seine Umarmung, dabei hätte er sie am liebsten nie wieder losgelassen. Sie lächelte ihn an. “Ach, Mika, ich würde auch gerne noch ein bisschen bei dir bleiben, aber Mum dreht durch, wenn sie erfährt, dass sie fremde Leute, die nicht mal ihre Sprache sprechen, im Haus hat und ich nicht dabei bin. Außerdem bin ich wirklich hundemüde.” “Ich weiß, Liebes! Das war ein langer und anstrengender Tag für dich.” Er küsste sie auf die Stirn. “Ruh dich aus. Ich habe mit Kane abgesprochen, dass wir uns erst mittags treffen.” Sie lächelte müde, während sie ihre Hände forschend über seiner Brust schweben ließ. “Das ist lieb gemeint, Mika, aber es wird nichts nützen. Ich habe ja die anderen beiden bei mir.” “Die kann ich doch abholen!” “Zwecklos, mein Lieber! Aber ich komm schon klar. Und jetzt …” Sie verschloss ihm mit einem Kuss die Lippen, die er gerade zu einem Widerspruch geöffnet hatte. “Und jetzt muss ich wirklich gehen.” Sie legte ihre Hand flüchtig auf San Tanadina und war eine Sekunde später einfach verschwunden. Etwas überrascht starrte er auf die Stelle, an der sie eben noch gestanden hatte, doch schließlich schüttelte er den Kopf, schloss die geheimen Türen, ließ das gebrauchte Geschirr verschwinden und machte sich auch auf den Heimweg.

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Tag der Veröffentlichung: 16.11.2009

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