Die Macht der Sprache
Sie stand staunend in einem Wald - einem wunderbar hellen Laubwald - und freute sich an den vielen Vogelstimmen. Einen so schönen Wald hatte sie noch nie gesehen. Wohin sie auch sah, überall war nur junges zartes Grün zu sehen und helles Sonnenlicht, das spielerisch durch das Blätterdach hindurch fiel. Hinter ihr erklang das Rauschen großer Flügel und sie drehte sich um. Auf dem einzigen Baumstumpf, den sie hier entdeckte, war eine große Eule gelandet und sah sie aus ihren runden bernsteinfarbenen Augen an. Sie brauchte nur einen Moment, um zu wissen, dass sie keine gewöhnliche Eule vor sich hatte. Sie wusste in etwa, wie groß ein Uhu wurde und auch wie er aussah, aber diese Eule sah ganz anders aus und war auch sehr viel größer. Das konnte nur … ja, das konnte nur die Heilige Tania sein. Ihr und nur ihr hatte sie es zu verdanken, dass sie plötzlich Gefahren sehen konnte, die noch gar nicht da waren, dass sie diesen antiken Dolch mit Namen San Tanadina am Gürtel trug und nicht zuletzt auch, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen echten Freund hatte. Ohne die Heilige Tania hätte sie Mika vermutlich nie getroffen. Ohne die Heilige Tania hätte sie allerdings auch das Dutzend schlagkräftiger Jungen von der Gegenseite nicht getroffen, die ihr unbedingt San Tanadina abjagen wollten. Dennoch - das mochte sich möglicherweise noch ändern, aber das zählte jetzt nicht - es überwogen eindeutig die Vorteile, die ihr durch das Eingreifen der Heiligen Tania in ihr bisheriges Leben entstanden waren. Sie beugte das Knie und senkte den Kopf. »Steh auf, Trägerin des Lichts. Es ist Zeit, dass du erfährst, welche gefahrvollen Aufgaben auf dich warten.« “Was auch immer ihr mir auftragt, Heilige, ich bin bereit.” Langsam stand sie auf und betrachtete die Eule, die sie blinzelnd musterte. »Obwohl du noch jung bist an Jahren - zu jung für deine Aufgabe, musste ich dich jetzt rufen, denn das Dunkel wird stark in dieser Welt. Ich weiß, der Hüter des Lichts hat dir bereits von den Aufgaben der Träger San Tanadinas erzählt. Auch ihre Aufgabe war immer voller Gefahren, doch du bist die letzte in einer langen Reihe von Auserwählten. Auf dich fällt die Bürde der letzten Schlacht zwischen dem Guten und dem Bösen.« “Die letzte Schlacht, Heilige? Dann wird es danach nie wieder Kriege geben? Keinen Hass und keinen Neid?” Etwas wie ein Lächeln huschte über das Gesicht der Eule. »So die Götter wollen, wird es danach weder Kriege noch Hass noch Neid geben, doch dein Kampf wird lange dauern und niemand kann vorhersagen, wer am Ende siegen wird.« “Was wird passieren, wenn ich das Böse nicht vernichten kann?” »Dann wird die Welt in Dunkelheit versinken und es wird weder Liebe noch Freundschaft existieren.« “Das darf nicht geschehen, aber wenn das Böse so stark ist, wie ihr sagt, wie soll ich es dann besiegen? Selbst mit San Tanadina bin ich doch nur ein einfacher Mensch und so sehr Mika sich auch bemüht, er kann nicht immer bei mir sein und mir helfen.” »Hab keine Sorge, Trägerin des Lichts. Ich weiß um die Probleme eines menschlichen Körpers, der viel kostbare Zeit benötigt, um von einem Ort zum anderen zu kommen, und ebenso viel Zeit benötigt, um zu ruhen. Deshalb gab ich euch San Tanadina und San Tanabea. Sie sparen euch Wege und helfen euch eure Kräfte zu schonen. Doch trotzdem hast du Recht, Trägerin des Lichts, alleine werdet ihr es nicht schaffen. Deshalb habe ich noch 5 Helfer auserwählt und sie mit nützlichen Fähigkeiten betraut, die euch helfen werden. So wie du seit deiner Geburt die Gabe der Heilung besitzt, besitzen sie die ihren.« “Ich … Ich kann das schon seit meiner Geburt? Aber warum habe ich es dann erst so spät entdeckt?” »Aber du hast diese Gabe doch bereits bei deiner Geburt benutzt, Trägerin des Lichts. Du hast deine Fähigkeiten oft benutzt bis du es das erste Mal bewusst erlebt hast, doch sei vorsichtig mit dieser Gabe. Es kostet viel Kraft, jemanden auf diese Weise zu Heilen und du wirst danach immer eine Weile völlig kampfunfähig und damit angreifbar sein. Deshalb nutze dein Wissen um die Heilkunde der Natur und gebrauche die Gabe klug« “Mein Wissen um die Heilkunde der Natur? Aber ich weiß doch gar nichts von Medizin!” »Du hast es heute Nachmittag schon gespürt, Trägerin des Lichts. Du hast es beschrieben wie eine Tür in deinem Geist. Hinter dieser Tür verbirgt sich das Wissen deiner Ahnen - angefangen bei deinem verstorbenen Vater bis hin zu eurem ersten Urahnen - und es waren wahrlich große Heilerinnen darunter. Nutze ihr Wissen und du wirst auf alle Fragen eine Antwort finden. Und nun geh, Trägerin des Lichts. In deiner Welt dämmert bereits der Morgen und auch dein Geist bedarf noch der Ruhe, doch wisse, dass ich immer bei dir bin.« Plötzlich wurde alles dunkel um sie herum und sie bemerkte, dass sie die Augen geschlossen hatte. Sie öffnete sie wieder und erwartete fast wieder diesen wunderbaren Wald zu sehen doch jetzt befand sie sich wieder in ihrem Bett in ihrem Zimmer. Sie tastete unter ihr Kopfkissen. Nein, da war nichts. Hatte sie die ganze Geschichte mit dem Dolch und der Eule nur geträumt? Sie fühlte unter der Decke. Endlich fand sie, was sie gesucht hatte. Der Dolch - und Mika - waren kein Traum gewesen. Der Traum letzte Nacht war auch nicht wirklich ein Traum gewesen, denn was sie da gesehen hatte war, wie sie jetzt wusste, wirklich passiert. Dann konnte das eben auch kein Traum gewesen sein. Ihr war wirklich und leibhaftig die Heilige Tania, die göttliche Eule, von der Mika ihr erzählt hatte, erschienen und hatte ihr gesagt, dass sie noch 5 Helfer für sie im letzten Kampf zwischen Gut und Böse auserwählt hatte. 5 Helfer? Schön und gut, aber wo waren sie, diese Helfer? Wo sollte sie suchen und woran sie erkennen? Irgendwo in sich hörte sie die Heilige Tania sagen: »Du wirst sie an der geheimen Sprache der Götter erkennen, doch suche nicht nach ihnen, sie werden zu dir kommen.« Leise erklang eine Musik, die ihr inzwischen schon vertraut war, auch wenn sie dieses Mal wieder anders klang - nicht drängend oder jubelnd sondern seltsam beruhigend - und es dauerte nicht lange und sie war wieder eingeschlafen.
Als ihre Mutter sie am nächsten Tag weckte, war es beinahe Mittag, so dass sie heftig erschrak, als sie auf die Uhr sah. Hastig sprang sie aus dem Bett und begann sich anzuziehen, doch als sie nach ihrer weiten Jeans griff stutzte sie. Irgendwie wollte sie Mika nicht mit diesen zwar bequemen aber doch hässlichen Klamotten begegnen - hatte das Bedürfnis sich für ihn doch ein bisschen hübscher zu machen, als sie es sonst tat. Zögernd nahm sie einen Rock aus dem Schrank, den sie sonst nur widerwillig anzog, und zog ihn an. Die weiße Bluse, die sie sonst dazu trug, fand sie, war dann allerdings doch ein bisschen viel des Guten. Stattdessen streifte sie einen Pullover über, der so perfekt zu dem Rock passte, dass er dazu zu gehören schien. Bevor sie zum Frühstück runter ging, befestigte sie noch sorgfältig San Tanadina an ihrem Gürtel und stellte erstaunt fest, dass sie sich schon Sekunden später fühlte, als hätte sie ihr Leben lang einen Dolch am Gürtel getragen. Es war überhaupt nicht ein bisschen ungewohnt. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr rannte sie die Treppe hinunter. Wenn sie rechtzeitig oben bei der Hütte sein wollte, musste sie sich beeilen. Das Frühstück musste eben ausfallen. Sie hatte bereits ihre Jacke in der Hand und wollte gerade mit der anderen Hand auf der Türklinke ihrer Mutter zurufen, dass sie wegging, als ihre Mutter im Flur erschien. “Ja, wo willst du denn jetzt so schnell hin? Du hast doch noch gar nicht gefrühstückt!” “Ich habe eine dringende Verabredung, Mum. Wenn ich jetzt noch frühstücke, komme ich zu spät.” Frau Wagner sah ihre Tochter kopfschüttelnd an. “Keine Verabredung kann wichtiger sein, als ein gesundes Frühstück, Julia. Du hast seit gestern Mittag nichts mehr gegessen. Im Übrigen wird dein Freund problemlos ein paar Minuten auf dich warten können.” Seufzend hängte Julia ihre Jacke wieder an den Haken. Wenn ihre Mutter in diesem Ton Julia sagte, hatte es keinen Sinn, ihr zu widersprechen. Gehorsam setzte sie sich in die Küche und zwang sich, nicht allzu sehr zu schlingen. Sie wusste, dass ihre Mutter sie scharf beobachtete. Eine unbedachte Bewegung ließ sie erschrocken zusammenfahren. San Tanadina! Das hatte sie ja beinahe vergessen! Wenn ihr Gefühl sie nicht trog, dann hatte sie eine Möglichkeit, ganz in Ruhe zu frühstücken und doch rechtzeitig oben an der Hütte zu sein. Lächelnd nahm sie sich noch ein Toast. Dass sie daran nicht gleich gedacht hatte! Sicher, Mika war sich nicht sicher, ob sie es konnte, aber wenn sie es nicht ausprobierte, würde sie es nie wissen. Fünf Minuten später zog sie allerdings doch ihre Jacke an und rannte aus der Haustür. Ihre Mutter würde sehr argwöhnisch werden, wenn sie jetzt einfach in ihr Zimmer ging und sich nicht mehr sehen ließe. Sie lief bis zum Waldrand, vergewisserte sich mit ihrem neuen Sinn, dass nirgendwo Gefahr drohte und auch sonst niemand zu sehen war und verschwand zwischen den Bäumen. Etwa 200 Meter weiter wurde der Wald so dicht, dass man vom Weg aus unmöglich erkennen konnte, was sich zwischen den Stämmen verbarg. Trotzdem ging sie noch ein paar Meter weiter. Dort hatte sie einmal vor langer Zeit einen großen regengeschützten Hochsitz entdeckt, den ein alter Förster gebaut haben musste, um die Aktivitäten des Wildes in dem wesentlich lichteren Teil des Waldes dahinter beobachten zu können. Dieser Hochsitz schien ihr der beste Ort für so ein Experiment zu sein. Vorsichtig kletterte sie die Leiter hinauf und machte es sich oben bequem. Sie nahm San Tanadina in die Hand, schloss die Augen und versuchte diese seltsame Tür in ihrem Geist, hinter der ihr geheimes Wissen verborgen war, wieder zu öffnen. Ihr geheimes Wissen! Was hatte die Heilige gesagt? Das Wissen ihrer Ahnen, angefangen bei ihrem verstorbenen Vater? Dann war ihr Vater also tot? Ihre Mutter hatte ihr einmal erzählt, dass er nach Amerika gegangen war. War er wirklich nach Amerika gegangen? Oder hatte sie das nur gesagt, um ihr nicht erzählen zu müssen, dass er gestorben war? Sie öffnete die Augen wieder. Eigentlich hatte sie gehofft eine Antwort auf die Frage zu bekommen, wie sie die geheime Sprache benutzen sollte, solange sie sie nicht bewusst beherrschte, doch jetzt mochte sie diese Tür nicht öffnen. Sie hatte Angst, den Erinnerungen ihres Vaters zu begegnen. Sie wagte ein Experiment und versuchte es einfach in ihrer eigenen Sprache. “Bitte, San Tanadina, bring mich hinauf in die geheime Kammer der Jagdhütte.” Sofort entstand wieder das Kraftfeld, das sie schon kannte und einen Moment später stand sie genau da, wo sie hin gewollt hatte. Die geheime Tür war noch verschlossen. Das hieß wohl, dass Mika noch nicht da war. Sie lauschte. Zu ihrer Überraschung hörte sie nebenan im Hauptraum Stimmen. “Hey, ich sag euch doch, dass sie noch nicht hier ist und jetzt verschwindet!” Sie runzelte die Stirn. Das war Mika. “San Tanadina, kannst du mir zeigen, was da los ist, ohne dass mich jemand sieht?” Wieder bildete sich ein Kraftfeld - schwächer diesmal, aber es blieb bestehen als sie den Raum gewechselt hatte. Mika stand aufrecht mitten im Raum mit einem ihrer Gegner im Rücken und seinem Messer an der Kehle. Sie sah sich um. Die anderen vier dieser Truppe waren auch da. Woher wussten die bloß, dass sie sich hier treffen wollten? Egal, jetzt musste sie erstmal Mika befreien. “San Tanadina, wie sieht es draußen aus?” Das Bild änderte sich, aber das Kraftfeld blieb. Sie sah sich aufmerksam um. Nein, hinter den Bäumen schien sich niemand zu verstecken. Und die 10 Typen, die ihnen gestern schon am See begegnet waren, hatten sich hinter dem Haus postiert und hielten den Weg im Blick. Sie nickte. “O K, San Tanadina, bitte setze mich in dieser Richtung 10 Meter hinter der Lichtung zwischen den Bäumen ab.” Das Bild veränderte sich wieder und diesmal erlosch das Kraftfeld. Sie trat auf die Lichtung, wie jemand, der sich nach einer langen Wanderung auf ein Päuschen freut und nichts Böses erwartet. Die ersten beiden ihrer Gegner schickte sie von hinten schlafen bevor sie es überhaupt merkten. Beinahe geräuschlos ließ sie sie zu Boden gleiten und erledigte auch die beiden nächsten ohne Gegenwehr, doch dann bemerkten die Kerle sie. Sie hatte keine Zeit, sich allzu lange mit ihnen herumzuschlagen. Gerade im rechten Moment kam ihr eine Idee. Sie trug ihren Schlüssel immer an einem dieser modernen langen Bänder um den Hals, damit sie ihn immer griffbereit hatte. Mit einem Lächeln streifte sie sich das Band über den Kopf und hatte in einer Minute alle 6 Gegner mit ihrem Schlüsselband gefesselt. An der Wand entdeckte sie ein altes Seil. Es sah zwar schon ein bisschen ramponiert aus, schien jedoch noch gut zu halten. Schnell fesselte sie die vier, die noch am Boden lagen und verknotete das Ende des Seils gut mit dem Band, das um die Handgelenke der restlichen 6 Gegner geschlungen war. Lächelnd nahm sie ihren Schlüssel von dem Band ab und ging um die Hütte herum. Summend öffnete sie die Tür. “Julia! Vorsicht! Das ist eine …” Er brach keuchend ab, als sich das Messer an seiner Kehle in die Haut fraß und fast sofort Blut an seinem Hals hinab rann, während das Leichentuch hinter dem Messer hämisch den Satz beendete. “Eine Falle. Ich glaube, das weiß sie inzwischen. Also, Kleine, rückst du jetzt raus, was wir haben wollen?” Er machte eine Pause in der er genüsslich das Messer noch ein bisschen fester in Mikas Hals drückte. Langsam wurde Mika blass. Er hatte Angst, das sah und spürte sie sofort. Das hatte sie auch - um ihn - doch äußerlich blieb sie absolut cool. Sie nahm San Tanadina aus seiner Scheide und zeigte ihn dem Leichentuch. “Ich nehme an, du meinst dieses hier?” Das Skelett machte gierig einen Schritt auf sie zu. “Weißt du, eigentlich brauche ich dieses nutzlose Ding gar nicht.” In Gedanken bat sie die Heilige Tania und San Tanadina um Vergebung. Mika riss erschrocken die Augen auf. Innerlich bebend vor Angst schritt sie auf Mika und Leichentuch zu. “Ah, ich glaube, dieses Spielzeug hier brauchst du nicht mehr.” Sie griff nach dem Messer, das noch immer drohte Mikas Kehle durchzuschneiden. Sie wunderte sich selbst, wie ruhig ihre Hand blieb und mit welcher Sicherheit sie ihm das Messer abnahm. Für eine Sekunde sah sie Mika in die Augen, der sich keuchend zu Boden sinken ließ. Er war am Ende mit den Nerven. “Andererseits will ich aber auch nicht, dass dieses schöne Messer dazu missbraucht wird, arme unschuldige Menschen umzubringen. Nein, wirklich, dazu ist es zu schade, Jungs.” Mit einer blitzschnellen Bewegung schlug sie dem Leichentuch ihre Handkante über die Halsschlagader und entwaffnete Skelett noch bevor Leichentuch am Boden angekommen war. “So, und jetzt nehmt dieses Arschloch hier und geht mir aus den Augen. Wenn ich euch heute noch mal hier oben sehe, platzt mir die Hutschnur und ich bleibe nicht so friedlich. Ach ja, und nehmt die 10 netten Kerle hinterm Haus, die ich in praktische Pakete zusammengeschnürt habe auch gleich mit.” Sie hievte Leichentuch von Mika herunter und stieß ihn seinen Kumpeln unsanft entgegen. Mit leichter Panik in den Augen flohen sie ins Freie. Sie kniete sich zu Mika auf den Boden und untersuchte die Wunde. Sie hatten Glück im Unglück gehabt. Es blutete zwar stark, aber Luftröhre und Schlagadern schienen unverletzt zu sein. Dass Mika in Ohnmacht gefallen war, wunderte sie nicht. Er war in den letzten Minuten durch die Hölle gegangen und die Wunde war trotz allem schlimm. Sie überlegte fieberhaft. Was sollte sie nur machen? Sie musste ihre Gabe einsetzen, aber die Heilige Tania hatte sie ausdrücklich gewarnt, sie wäre dann einige Stunden völlig außer Gefecht gesetzt und hier waren sie nicht sicher genug. Sie konnte ihn auch nicht so direkt mit nach Hause nehmen. Ihre Mutter würde einen Schreikrampf bekommen, wenn sie das ganze Blut sah. Mika murmelte undeutlich. Plötzlich begannen San Tanabea und San Tanadina wieder ein Kraftfeld um sie herum zu bilden und gleich darauf fand sie sich in einem dunklen Raum wieder, aber sie hatte keine Zeit, um sich umzusehen. Sie musste Mika helfen. Er musste glauben, dass sie hier erst einmal sicher waren, sonst hätte er sie nicht hierher gebracht bevor ihn die Kräfte ganz verlassen hatten. Sie legte ihre Hände sanft über die hässliche Wunde und konzentrierte sich. Eine halbe Ewigkeit saß sie so über ihn gebeugt und ohne sich zu bewegen bis sie erschöpft neben ihm zusammenbrach und lieben blieb. Benommen öffnete er die Augen und sah sich blinzelnd um. Es war dunkel. Das war gut. Sie hatten es geschafft. Sie waren nach Tan San gekommen. Vorsichtig berührte er seinen Hals an der Stelle, an der das Messer ihn verletzt hatte, doch er fühlte nur noch eine Menge eingetrocknetes Blut. Dann war es gar nicht so schlimm gewesen, wie es sich angefühlt hatte? Nein, er hatte doch geblutet wie ein Schwein. Das hieß … Julia! Hastig setzte er sich auf und sah sich um. Wenn er doch nur mehr sehen könnte! Er klatschte zwei mal in die Hände und hinter ihm ging klickend und summend eine kleine Schirmlampe an. Sanftes Licht durchflutete jetzt den Raum und endlich konnte er sie sehen. “Julia!” Sie lag in völlig verdrehter Haltung mit blutverschmierten Händen hinter ihm und war offenbar bewusstlos. Er sah sich ein bisschen hilflos um. Es schien ihr zwar nichts Besonderes zu fehlen - außer natürlich Ruhe und Schlaf - aber er konnte sie doch nicht so auf dem Boden liegen lassen. Vorsichtig stand er auf. Er schwankte ein bisschen, hielt sich aber auf den Beinen. Mit viel Mühe gelang es ihm endlich, Julia aufs Sofa zu legen. Anschließend sank er erschöpft in einen Sessel und schloss die Augen. Sekunden später war er eingeschlafen und wachte erst zwei Stunden später wieder auf als auch Julia sich wieder regte. “Julia! Alles in Ordnung mit dir?” Sie richtete sich unterdrückt gähnend auf und sah ihn an. “Mir geht es gut, Mika. Ich bin nur ein bisschen müde. Viel wichtiger ist, wie es dir geht. Der Kerl hat dich ja ganz schön zugerichtet.” “Mir geht’s schon viel besser. Nur noch ein bisschen wackelig auf den Beinen. … Danke, Julia! Jetzt hast du mir schon wieder das Leben gerettet …” Sie lächelte müde. “Hey, dazu sind Freunde doch da. Oder? Wir leben eben gefährlich.” “Aber eigentlich bin ich doch da, um dich zu beschützen, Julia! Statt dessen musst du ständig mich retten.” Sie sah ihn nachdenklich an. “Ich weiß nicht, Mika, aber ich glaube, ganz so ist es gar nicht. Ich weiß natürlich nicht, wie es bisher gewesen ist - vielleicht hatte der Hüter bis jetzt tatsächlich nur eine Beschützerrolle - aber wenn ich das richtig verstanden habe, bist du eben nicht nur Beschützer sondern Begleiter. Mag sein, dass ich in dem Ganzen die Hauptrolle habe, aber ich werde meine Aufgabe nicht ohne eure Hilfe lösen können. Du und die fünf anderen Helfer, die die Heilige mir letzte Nacht versprochen hat, ihr seid nicht einfach nur zu meinem Schutz da. Wir sind ein Team. Verstehst du?” Er sah sie mit großen Augen an. “Du hast mit der Heiligen Tania gesprochen?” Sie nickte. “Ja, sie ist mir letzte Nacht im Traum erschienen und hat mir ein paar Sachen erklärt. Weißt du, wir haben sozusagen die Ehre, die letzten Kämpfer für das Gute zu sein. Wenn wir versagen und das Böse nicht für immer und ewig vernichten können, versinkt die Welt für immer im Dunkel.” Er sah sie entsetzt an, aber sie lächelte. “Aber das heißt auch, Mika, dass wir solange nicht wirklich verloren haben, wie wir die Hoffnung und den Kampf nicht aufgeben. Wir haben viel Zeit und ich glaube um den Endkampf brauchen wir uns jetzt noch keine Sorgen machen.” Sie stand auf und trat zu ihm. “Und jetzt will ich mir deine Wunde noch mal ansehen.” “Nein, Julia, das brauchst du nicht. Es ist schon alles wieder in Ordnung. Bestimmt!” Er rückte von ihr ab und legte seine Hand über die Narbe, aber sie lächelte nur. “Ach, komm, Mika! Wovor hast du jetzt eigentlich Angst? Ich will es mir doch nur noch mal ansehen.” Er schüttelte den Kopf. “Nein, du hast auch so schon viel zu viel Energie für mich verschwendet.” Sie sah ihn ernst an. “Du hast Recht. Es hat mich eine Menge Energie gekostet, dich zu heilen, aber wie kommst du auf die Idee, dass diese Energie verschwendet ist? Für dich würde ich noch viel mehr geben.” Er sah sie zweifelnd an. “Warum?” Sie tat nachdenklich. ”Hm, lass mich überlegen! Also, erstens bis du mein Hüter, zweitens bist du mein Freund und drittens brauche ich dich einfach - und damit meine ich ganz sicher nicht unsere gemeinsame Aufgabe, sondern ganz privat. Ich habe noch nie jemanden gekannt, mit dem ich lieber zusammen gewesen wäre, als mit dir.” “Aber …” Sie legte ihm lächelnd ihren Finger auf die Lippen. “Nein, mein Lieber, kein Aber … Und jetzt tu mir einen Gefallen und lass mich die Wunde noch mal ansehen.” Widerstrebend ließ er die Hand sinken. Zufrieden musterte sie die Narbe. “Prima! Es ist alles gut verheilt, aber dass eine Narbe zurückbleibt, kann ich leider nicht ganz verhindern. Ich hoffe, ich finde eine Möglichkeit, dass sie wenigstens ein bisschen unauffälliger wird, damit du nicht in Erklärungsnot gerätst, wenn deine Eltern das sehen.” Er winkte ab. “Das ist nicht so wichtig, Julia. Mach dir da keine Gedanken drum.” Sie lächelte. “Mir ist es wichtig, Mika.” Er wollte ihr widersprechen, doch sie schüttelte den Kopf. “Lass nur, Mika. Erzähl mir lieber, wo wir hier sind. Das kommt mir alles so bekannt vor.” “Wir sind hier in Tan San. Naja, mein Großvater und ich haben das Haus immer so genannt. Er hat hier gelebt und … und hier ist er auch gestorben.” Einen Moment lang starrte er traurig zu Boden, doch dann lächelte er wieder. “Meine Eltern wunderten sich immer, warum ich alles wusste, was hier so passierte, obwohl wir nicht wirklich oft mit Großvater telefoniert haben. Sie konnten ja nicht wissen, dass ich bis spät abends hier war. Spät abends japanischer Zeit natürlich. In der Zeit habe ich nur nach japanischer Zeit gelebt.” “Wo genau liegt Tan San?” Sie sah ihn argwöhnisch an. “Im Tschugokugebirge nordöstlich von Hiroshima.” Sie seufzte. “Warum überrascht mich das jetzt gar nicht?” Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war beinahe fünf Uhr nachmittags. “Wie ist die Zeitumrechnung hier?” “Mitteleuropäische Zeit plus acht Stunden.” Sie rechnete. “Demnach haben wir hier tiefste Nacht. …” Über ihnen polterte etwas. Sie sahen einander erschrocken an. “Mäuse vielleicht? Ich nehme nicht an, dass ihr oft hier seid.” Mika schüttelte grimmig den Kopf. “Vor ein paar Tagen waren jedenfalls noch keine da.” Jemand fluchte laut. Julia wollte noch etwas sagen, doch er schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. Er nahm sie bei der Hand und befahl die Dolche flüsternd, sie in hundert Meter Entfernung im Wald abzusetzen. Kaum waren sie im Freien platzte Julia hervor: “Sag mal, bist du wahnsinnig geworden? Was ist bloß los mit dir?” Er atmete drei mal tief durch, um sich wieder zu beruhigen. “Entschuldige, aber wenn es um Tan San geht, verliere ich manchmal die Beherrschung. Ich hasse es, wenn fremde Leute sich in Tan San aufhalten. Und die da …” Er wies unwirsch zum Haus hinüber. “… haben da ganz sicher nichts verloren.” “Einbrecher?” Er schüttelte den Kopf. “Eher nicht. Die Leute halten es für unbewohnt. Niemand weiß, wem es gehört. Nicht mal meine Eltern. Sie glauben, Großvater hätte es bevor er starb noch verkauft. In Wirklichkeit hat er nur dafür gesorgt, dass es in der Familie blieb. Dass ich einen Zufluchtsort hatte, von dem meine Eltern nichts wussten. Egal - aber wer bitte schön würde hier, mitten in der Wildnis, in einem unbewohnten Haus einbrechen? Das nächste Dorf ist 10 Kilometer entfernt und hat ungefähr 100 Einwohner - falls es überhaupt so viele sind.” “Aber was sollten sie sonst hier wollen?” Er sah grimmig zu seinem Haus hinüber, das in einiger Entfernung durch die Bäume blitzte. “Keine Ahnung! Aber das werde ich schnell herausfinden.” Er stürmte auf das Haus zu, ohne auf sie zu achten, doch sie rannte hinter ihm her und erreichte ihn noch gerade bevor er auf die Lichtung hinaus lief. Sie fasste ihn am Arm und zog ihn grob zurück. “Bist du wahnsinnig, einfach so loszustürmen? Selbst wenn es schlichte Einbrecher sind, oder einfach nur ein verirrter Jäger. Es besteht immer auch die Möglichkeit, dass es sich um bewaffnete Verbrecher handelt. An so etwas muss man vorsichtig herangehen.“ Mika sah sie verblüfft an und lachte schließlich. “Ich glaube, du hast zu viele Krimis gelesen, Julia. Aber gut, was glaubst du, was ich tun soll?“ Sie zuckte mit den Schultern. “Leise anschleichen und lauschen. Dann können wir immer noch entscheiden, was wir weiter unternehmen.” Sie dachte flüchtig daran, wie sie vorhin in der Jagdhütte erfahren hatte, was los war. Aber auf die Möglichkeit sollte er selber kommen. Er musste sich erst mal beruhigen. “Oder gibt uns San Tanadina eine bessere Möglichkeit?” Er sah sie an, als wäre sie gerade vom Himmel gefallen. “San Tanadina!” Er fiel ihr in die Arme und küsste sie bevor sie auch nur ahnte, was passierte. Ohne darüber nachzudenken, reagierte sie auf diesen stürmischen Beweis männlicher Zuneigung wie Millionen Frauen vor ihr und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Sie sahen einander einen Augenblick erschrocken an. Sie schlug sich mit der Hand vor den Mund. “Oh, mein Gott! Mika, entschuldige! Das wollte ich nicht. Das ging alles so schnell …” Sie legte die selbe Hand, mit der sie ihn eben geschlagen hatte, sanft an seine noch immer feuerrote Wange, während ihre Augen in ungeweinten Tränen schwammen. Er umschloss die Hand an seiner Wange mit seiner eigenen und zog sie herab. “Nein, Julia, ich muss mich entschuldigen. Ich hätte die Beherrschung nicht verlieren dürfen. Bitte verzeih!” Sie lächelte tränenverschwommen. “Also gut, sagen wir, wir haben beide einen Fehler gemacht. Dann sind wir quitt. OK?” Er nickte unglücklich. Das war nicht die Antwort gewesen, die er sich gewünscht hatte, aber immerhin schien sie ihm auch nicht übermäßig böse zu sein. “Und jetzt erzähl mir, was dir eben eingefallen ist, dass du so aus dem Häuschen warst.” Sie sah ihn lächelnd an. “Ah, naja, San Tanadina könnte uns völlig geräuschlos direkt in die oberen Räume bringen, ohne dass wir bemerkt werden. So könnten wir sehen, was gespielt wird, ohne entdeckt zu werden. Es ist nur so, dass …” Er sah verlegen zu Boden. “Was denn, Mika?” “Naja, ich möchte dich nicht unnötig in etwas Gefährliches verwickeln. Du hast dich kaum von unserem letzten Abenteuer erholt.” Zuerst sah sie ihn etwas verdutzt an, aber dann lachte sie leise. “Hey, jetzt mach aber mal halblang! Gefährlich wird unser Leben sowieso, da kommt es auf dieses kleine - Abenteuer, wie du es so schön nennst - auch nicht mehr an. Im Übrigen bin ich nicht die Einzige, die sich von unserem letzten Abenteuer noch nicht richtig erholt hat. Oder?” Sie zwinkerte ihm zu. “Na, komm, lass uns den Frieden in deinem Haus wieder herstellen, mein Freund.” Sie reichte ihm ihre Hand. Er sah zu den beleuchteten Fenstern hinauf. “Also gut!” Er holte tief Luft und griff unsicher nach ihrer Hand. Sie nickte. »Bitte zeigt uns, wie es im Arbeitszimmer aussieht.« Im nächsten Moment hatten die beiden magischen Dolche sie wieder ins Haus transportiert. Sie sahen sich angewidert um. In dem Bürostuhl lag ein wild aussehender Mann, der schon aussah wie ein Verbrecher, und kaute lässig auf einem Zahnstocher herum. Ein anderer Mann lief unruhig im Raum hin und her. “Hey, Mann, jetzt reg dich bloß nicht so auf. In zwei Stunden sitzen wir im Flieger nach Hawaii, Mann. Kalle kommt gleich mit der Kohle und dann verschwinden wir hier.” “Und was machen wir mit dem da, du Klugscheißer?” “Den lassen wir hier. Soll doch der Besitzer von dieser Bruchbude hier sehen, wie er mit ihm fertig wird. Und jetzt setz dich endlich hin. Du machst mich wahnsinnig mit diesem Hin- und her- Gerenne!” Mika stand daneben und rauchte vor Zorn. “Bruchbude!“ Knurrend wollte er sich auf den Sprecher stürzen, doch Julia hielt ihn eisern fest. “Halt! Dafür kannst du dich später rächen. Sieh lieber mal dort drüben!” Sie zeigte in eine der Ecken. Dort lag ein junger Japaner - offensichtlich aus reichem Haus - der etwa in ihrem Alter sein musste. Die Gangster hatten ihm die Hände hinterm Rücken mit Klebeband gefesselt und ein Stück desselben Klebebandes hinderte ihn daran, auch nur einen Mucks von sich zu geben. So wie er da lag, sah er aus, als sei er vor nicht all zu langer Zeit fürchterlich in den Magen getreten worden. “Diese Schweine!” “Wer ist das?” “Keine Ahnung! Ich nehme an, der Sohn von irgendeinem dieser stinkreichen Geschäftsleute in Hiroshima. Ich glaube Taro Kawashiri hat hier irgendwo in der Nähe ein Ferienhaus. Aber ganz egal wer er ist, wir müssen ihn hier raus holen.” Sie nickte. “Ja, und zwar schnell! Hoffen wir, dass dieser Kalle nicht all zu schnell kommt.” Die Tür wurde aufgestoßen und ein großer Mann stand wie ein Schrank vor ihnen. Sie sahen erst ihn und dann einander an. Sie stöhnte. “Schon zu spät! Wie sollen wir bloß mit dem fertig werden?” “Das werden wir schon schaffen. Hey, die Guten siegen doch immer! Oder?” Sie sah ihn zweifelnd an, doch schließlich nickte sie lächelnd. “Du hast Recht. Also los, gehen wir erst vor die Tür.” Er nickte kurz und schloss seine Hand wieder um San Tanabea. Ein kurzes Wort zu den Dolchen geflüstert und schon standen sie vor der Tür, die Kalle vorhin geräuschvoll ins Schloss zurückgeworfen hatte. Sie zog den Dolch aus seiner Scheide und nickte ihm grimmig zu. Er atmete tief durch und öffnete dann mit einem Ruck die Tür, sprang in den Raum hinein und erledigte noch in der Schrecksekunde den ersten ihrer Gegner, während Julia sich um den Mann mit dem Zahnstocher kümmerte und ihm die Pistole, die bereits auf den fremden Jungen gerichtet war, aus der Hand schlug. Sekunden später lag er neben seinem Kumpel auf dem Boden und rührte sich nicht mehr. Julia sah sich nach Mika um, der es mit dem “Schrank” aufgenommen hatte. “Ich mach das schon, Julia. Kümmere du dich um ihn.” Zweifelnd drehte sie sich zu dem Jungen um, der zusammengekrümmt am Boden lag und so aussah als sei er gerade schon wieder in den Magen getreten worden. Geschickt schnitt sie seine Fesseln durch. “Komm, ich bringe dich hier raus.” Der Fremde stand umständlich auf. Hinter ihr krachte etwas und sie fuhr erschrocken herum. “Mika!” Mika war rücklings gegen einen Schrank gefallen und blieb benommen liegen. Sie versuchte den Riesen mit einem Schlag mit der Handkante ins Genick auszuschalten, aber alles was passierte war, dass er sich umdrehte und nun auf sie losging. Er grinste hässlich und zeigte dabei eine Reihe von schwarz verfärbten Zahnstummeln. Beinahe wäre sie schon von seinem Atem umgefallen, so einen Mundgeruch hatte er. “Puh, du solltest mal zum Zahnarzt gehen! Du stinkst!” Mit Hilfe ihres neuen Extrasinns schaffte sie es, seinen Attacken auszuweichen und endlich einen gezielten Gegenangriff in seine Magengrube anzubringen, der ihn sich leicht zusammenkrümmen ließ. Die günstige Gelegenheit nutzend trat sie ihm mit voller Kraft vors Brustbein, was ihn mit Atemnot zu Boden stürzen ließ. Mit zwei schnellen Schritten war sie an Mikas Seite. “Mika! Was ist mit dir? Bist du verletzt?” Er öffnete stöhnend die Augen. “Ich glaube nicht, aber mein Gehirn hat was abbekommen. Mein Kopf dröhnt wie eine Glocke.” “Das können wir ändern. Mach die Augen wieder zu.” Sie legte ihre Fingerspitzen an seine Schläfen und massierte ihn sanft während sie vorsichtig die Energie ihrer heilenden Hände fließen ließ. “O K, geht’s dir besser?” Er öffnete vorsichtig die Augen. “Ja, schon viel besser. Danke! Aber du …” Er stand stöhnend auf. »Wer seid ihr?« Erschrocken fuhren die beiden herum. »Ach du Schreck! Dich hatte ich ja völlig vergessen! Ich heiße Kiyoshi Mijako Jatsushiro, aber alle nennen mich einfach nur Mika. Mir gehört dieses Haus hier.« Er sah sich verlegen um und griff nach dem Koffer, der vermutlich das Lösegeld enthielt. »Naja, und das hier …« Er warf den Aktenkoffer zu dem fremden Jungen hinüber. » … gehört wahrscheinlich deinem Vater.« Endlich lächelte der Fremde, der bisher offensichtlich nicht sicher gewesen war, ob er Freunde oder Feinde vor sich hatte. Er reichte Mika die Hand. »Ich heiße Kane. Danke. Ihr seid genau im richtigen Moment gekommen.« Mika nickte ernst. »Stimmt, das war keine Sekunde zu früh. Ist mit dir alles in Ordnung?« »Mit mir schon, aber was ist mit ihr?« Mika sah sich verwirrt nach Julia um, die mit dem Klebeband in der Hand, das die Gangster benutzt hatten, um Kane zu fesseln, über den beiden kleineren bereits sorgfältig verschnürten Ganoven stand und ihn giftig ansah. “Julia! Alles in Ordnung?” “Ja, ja, alles klar. Tu einfach so, als wäre ich gar nicht da.” Sie musterte ihn mit derartig kalten Blicken, dass er heftig erschrak . »Spricht sie unsere Sprache nicht?« Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Ja, natürlich! Kein Wunder, wenn sie sauer war. Wie hatte er das nur vergessen können? Mika schüttelte den Kopf. »Nein, Julia kommt aus Deutschland. Sie hat unsere Sprache nie gebraucht.« “Bitte entschuldige, Julia. Ich hatte nicht daran gedacht, dass du nicht japanisch sprichst.“ Er schlug die Augen verlegen nieder. Sie kniff die Augen zusammen. “So, du hast also nicht daran gedacht? Na, das ist ja nett von dir! Du bist ein Idiot, weißt du das? Ich glaube, ich gehe nach Hause!“ Sie trat mit einem letzten giftigen Blick an ihm vorbei und war schon fast auf dem Flur, ehe Mika endlich reagierte. “Julia! Warte!“ Sie blieb stehen, drehte sich aber nicht um. Mika schluckte schwer. “Ich weiß, ich hab mich benommen wie ein kompletter Idiot, aber bitte geh nicht!“ “Und warum sollte ich bleiben?“ “Weil …“ Er stockte kurz, doch dann gab er sich einen Ruck. “Weil ich dich brauche, Julia!“ Endlich drehte sie sich um. Ein weicher Zug hatte sich in ihr Gesicht geschlichen. Von Zorn war keine Spur mehr zu erkennen. “Also gut, ich werde bleiben, aber nur wenn du mir versprichst, in Zukunft nie wieder zu vergessen, dass ich kein Japanisch kann.“ Mika nickte erleichtert. “Ehrenwort!“ Kane nickte anerkennend. »Das hast du gut wieder hinbekommen. Kompliment!« “Darf ich auch etwas dazu sagen? Wenn du unsere Sprache nicht sprichst, dann werde ich eben versuchen deine zu sprechen.” Julia und Mika sahen ihn überrascht an. “Moment mal! Du sprichst deutsch? Du hast das alles verstanden? Dieses ganze Theater?” “Äh, ja! Ich habe alles verstanden.” Er errötete leicht als er Julias fassungslosen Blick bemerkte, sprach aber weiter. “Was das Sprechen betrifft: Meine Aussprache ist vermutlich miserabel. Ich habe mir die Sprache vor ein paar Tagen selbst beigebracht, weil mein Onkel mich mit nach Deutschland nehmen will.” Er trat auf Julia zu, die noch immer in der Tür stand und ihn anstarrte, und stellte sich mit einer formvollendeten Verbeugung vor. “Mein Name ist übrigens Kane, schöne Frau!“ Sie schnappte nach Luft. “Also … “ Sie sah von einem der Jungen zum anderen. Der eine sah sie an und grinste und der andere starrte fassungslos den plötzlichen Konkurrenten an. Sie schloss für einen Augenblick die Augen. Sie hätte im Leben nicht gedacht, dass sie jemals in eine solche Situation geraten würde. “Und mein Name ist Julia.” Plötzlich musste sie auch grinsen. “Oh, und für Komplimente dieser Art bin ich nur schwer zugänglich, mein Lieber.“ Sie sah zu Mika hinüber. “Da müsste schon ein anderer Idiot kommen.” Sie zwinkerte Mika zu. “Auch wenn ich zugegebener Maßen beeindruckt bin.” »Dafür, dass du dir das selbst beigebracht hast, sprichst du nämlich erstaunlich fließend, Kane. Wie hast du das gemacht?« Beide Jungen sahen Julia überrascht an. Sie hatte plötzlich in der geheimen Sprache weiter gesprochen. “Was ist das denn jetzt für eine Sprache? Und warum verstehe ich sie einfach?” Julia zog San Tanadina hervor und berührte vorsichtig den Kristall. »Heilige, ist Kane einer deiner Auserwählten?« Plötzlich ging ein helles Licht von San Tanadina aus und ließ den ganzen Raum in einem seltsamen Glanz erstrahlen. Von irgendwoher kam eine Musik, die Julia inzwischen schon vertraut war und die Stimme der Heiligen Tania schien aus dem Nichts zu erklingen. »Ja, Trägerin des Lichts, er ist mein Auserwählter. Er hat die Macht der Sprache. Doch seid auf der Hut. Das Böse versucht bereits ihn zu vernichten.« Das Licht erlosch wieder und sie waren wieder allein. “Was bedeutet das alles? Wer seid ihr?” Kane sah völlig verwirrt von einem zum anderen, und auch Mika wirkte etwas verstört. “Wwar das wirklich die Heilige Tania?” Sie nickte. “Ja, das war sie. Bitte, Mika, erklär du ihm, worum es hier geht. Ich bin zu müde dafür.” Er sah sie an. Sie wirkte wirklich sehr müde. “Willst du dich hinlegen?” Sie schüttelte lächelnd den Kopf. “Nein, es geht …“ Sie schwankte leicht und konnte sich in letzter Sekunde am Türrahmen festhalten. Seufzend sah sie ihn an. “Vielleicht hast du Recht, Mika. Ich sollte mich tatsächlich hinlegen.“ “Geh einfach direkt nach nebenan. Das ist mein Zimmer.” Sie nickte. “Oh, und Mika? Tu mir einen Gefallen. Ja? Bring es ihm ein bisschen schonender bei als mir. Es ist auch so schon schwierig genug das alles zu begreifen.” Sie zwinkerte ihm kurz müde zu und verließ den Raum in der Richtung, die Mika ihr gewiesen hatte. Kaum hatte sie sich auf sein Bett fallen lassen, schlief sie auch schon ein, während Mika nebenan versuchte, Kane beizubringen, was es mit der Heiligen Tania, den beiden Dolchen und ihrer Aufgabe auf sich hatte.
»Ach, du liebe Güte! Und das soll ich alles glauben? Das klingt ja wie ein Märchen!« Mika nickte. »Stimmt, so klingt es. Nur leider ist es keines. Und ich befürchte wir haben auch keine Zeit, erst groß zu überlegen, ob wir die Aufgabe annehmen oder nicht. Julia hatte San Tanadina kaum eine halbe Stunde in der Hand und von nichts auch nur eine blasse Ahnung und ist schon an einen Trupp von Eintreibern geraten, der nicht gerade zimperlich in der Wahl seiner Methoden ist. Wir beiden haben in den letzten 2 Tagen schon so oft in der Klemme gesteckt, dass selbst Julia inzwischen überzeugt ist.« Kane runzelte die Stirn. »Was genau meinst du, wenn du sagst “in der Klemme”?« Mika schluckte schwer. »Naja, heute Mittag z. B. hat jemand versucht mir die Kehle durchzuschneiden. Wenn Julia nicht so geistesgegenwärtig gewesen wäre, würde ich hier jetzt nicht mehr sitzen. Und das war nicht das erste Mal, dass Julia mir das Leben gerettet hat.« Kane warf einen Blick auf Mikas Hals, wo noch immer Blut klebte. »Sie hat heilende Hände, nicht wahr?« Mika sah ihn erstaunt an, nickte aber schließlich. »Woher weißt du das?« Kane grinste. »Das war nicht schwer zu erraten. So wie du vorhin gegen den Schrank gedonnert bist, hättest du eine scheußliche Gehirnerschütterung haben müssen. Die hast du aber offensichtlich nicht. Naja, und dein Hals sieht auch nicht gerade so aus, als wäre da heute ein Messer dran gewesen - mal abgesehen von dem ganzen Blut, das du noch nicht abbekommen hast.« Mika nickte. »Stimmt, war ’ne blöde Frage!« Er warf einen Blick auf die Uhr, die über der Tür hing. »Vielleicht solltest du erst mal deine Eltern anrufen und ihnen sagen, dass es dir gut geht. Sie werden sich Sorgen machen.« Kane nickte. »Du hast Recht. Geht das Telefon hier? Soweit ich weiß steht dieses Haus hier normalerweise leer.« »Stimmt, offiziell steht es leer, aber ich bin eigentlich fast täglich hier. San Tanabea kann manchmal extrem nützlich sein. Und das Telefon funktioniert auch immer. Oh, aber bitte tu mir einen Gefallen. Ja? Erwähne uns nicht. Es muss niemand wissen, dass wir hier sind. Wir werden verschwinden, bevor du und diese Typen hier abgeholt werdet. O K?« »Klar, aber wir sehen uns doch wieder, oder?« »Hey, natürlich! Wir gehören doch schließlich zum selben Team!« Er stand auf. »Ich sehe inzwischen nach Julia.« Kane nickte, stand ebenfalls auf und griff nach dem Telefon. Mika trat an Julias Bett. Sie musste wirklich sehr müde gewesen sein. Sie hatte es nicht mal geschafft, die Beine mit aufs Bett zu ziehen. Vorsichtig hob er ihre Beine hoch und deckte sie zu. Es klopfte leise an der Tür. Mit einem letzten Blick auf Julia trat er wieder auf den Flur. »Mein Onkel wird wohl in einer Stunde hier auftauchen. Werdet ihr das schaffen?« »Kein Problem. Wir brauchen nur ein paar Sekunden, um zu verschwinden. Aber warum dein Onkel? Wo sind denn deine Eltern?« Kane starrte einen Moment an Mika vorbei. »Naja, eigentlich erzähle ich immer allen, sie wären in Amerika und hätten mich bei meinem Onkel gelassen, weil ich da später die Firma übernehmen soll. Die Wahrheit ist … Sie sind tot.« »Oh, das tut mir leid, Kane.« »Ist nicht so schlimm. Das ist schon so lange her …« Eine einzelne kleine Träne schimmerte in seinen Augen und Mika legte ihm die Hand auf die Schulter. »Nicht annähernd lange genug, dass es nicht mehr wehtäte, mein Lieber.« Kane sah ihn mit großen Augen an. Er lächelte. »Stammt nicht von mir. Das hat Julia gestern zu mir gesagt, als ich ihr von San Tanadina erzählt habe und dabei erwähnen musste, dass mein Großvater der letzte Träger San Tanadinas war.« Auch Kane lächelte jetzt. »Ich verstehe! Sie bedeutet dir viel, nicht wahr?« Mika lächelte nachdenklich. »Irgendwie schon. Dabei kennen wir uns auch erst zwei Tage. Komm wir setzen uns solange unten ins Wohnzimmer.« Schweigend gingen die beiden Jungen hinunter. »Glaubst du, diese Entführung hatte etwas mit San Tanadina zu tun? Ich glaube die Heilige Tania sprach davon, dass das Böse schon versucht, mich zu töten.« Mika starrte an ihm vorbei aus dem Fenster, hinter dem er im Licht der Lampen, den kleinen Garten sehen konnte, den sein Großvater mit viel Mühe hier mitten im Wald angelegt hatte. »Möglich. Es wundert mich jedenfalls, dass deutsche Verbrecher darauf kommen ausgerechnet dich zu entführen. Das ist zumindest nicht besonders nahe liegend. Ich bin gespannt, was sie der Polizei erzählen werden. Das solltest du dir übrigens auch noch überlegen.« Kane seufzte. »Da hast du wahrscheinlich Recht, aber was machen wir mit denen da oben? Die werden euch sicher erwähnen.« »Keine Sorge, dagegen werden wir gleich etwas unternehmen, aber vorher müssen wir wissen, was du erzählen wirst.« Er überlegte kurz. »Wie wär’s damit? Du hast dich mit Hilfe deines eigenen Messers von den Fesseln befreit und hast die beiden kleineren bei einem heftigen Streit erwischt und ausgeschaltet - Du hast doch Karate gelernt?« Er erwartete eigentlich gar keine Antwort und sprach gleich weiter. »Naja, und bei dem großen, dicken kam dir der Zufall zu Hilfe, dass er rücklings über einen Hocker gefallen ist und sich beim Fallen gegen das Regal selbst ausgeknockt hat.« Kane sah ihn zweifelnd an. »Das ist gut und schön. So könnte es passiert sein, aber wie willst du es schaffen, das die Typen da oben es auch so aussagen?« Mika sah auf die Uhr. Es war schon spät und Kanes Onkel würde vermutlich auch gleich auftauchen. »Das werden San Tanabea und San Tanadina schon richten. Komm, gehen wir wieder nach oben. Ich muss Julia sowieso gleich wecken.« Sie gingen also wieder nach oben und Mika setzte sich einen Moment hochkonzentriert an ihr Bett und bat die Heilige Tania um Hilfe. Plötzlich wachte Julia auf und sah sich leicht irritiert um, unsicher wo sie war und was sie geweckt hatte, doch einen Augenblick später trat ein entschlossener Ausdruck in ihr Gesicht und sie griff mit einer Hand nach San Tanadina und mit der anderen nach Mikas Hand. Eine Weile saßen sie so da und rührten sich nicht, doch schließlich öffnete Mika wieder die Augen und sah sie verwundert an. »Ich glaube durch unsere enge Verbindung zu San Tanadina und San Tanabea können wir in bestimmten Situationen die Gedanken des jeweils anderen verstehen. Mir ist das schon vorhin in der Jagdhütte so vorgekommen, aber dann habe ich gedacht, das kann nur Einbildung sein.« Kane sah verständnislos von einem zur anderen. “Das war eine sehr gute Idee von dir Mika. Das hätte wirklich böse enden können, aber ich glaube, ohne die Hilfe der Heiligen Tania hätten wir das nie geschafft. Beim nächsten Mal müssen wir besser aufpassen.” Mika nickte. “Du hast Recht.” Er wandte sich an Kane, der noch immer ziemlich verwirrt aussah. “Das gilt natürlich auch für dich. Niemand darf von uns erfahren. Ich möchte nicht wissen, was die Behörden mit uns anstellen, wenn die herausfinden dass wir magische Kräfte besitzen.” Julia nickte ernst. “Unsere Vorgänger haben nicht umsonst all die Jahrtausende hindurch alles geheim gehalten. Und wenn wir den großen Endkampf bestreiten und ihn schließlich auch gewinnen wollen, müssen wir es genauso halten.” Sie wandte sich an Kane. “Ich vermute, du wirst im Laufe der Zeit noch mehr seltsame Fähigkeiten an dir feststellen. Ich hoffe jedenfalls, dass du eine Möglichkeit findest uns auch alle Sprachen ins Gehirn zu bringen. Ich bin mir fast sicher, dass du das kannst. Keiner von uns wird eine solche Fähigkeit haben, um sie nur für sich selbst zu nutzen. Wir werden wohl ein bisschen experimentieren müssen.” Unten polterte die Tür und jemand rief etwas. Julia sah Kane an. “O K, wir verschwinden jetzt, aber denk daran, das wird nicht der letzte Versuch sein, dich aus dem Weg zu räumen. Wenn du Hilfe brauchst, denk einfach intensiv an San Tanadina. Wir kommen so schnell wir können.” Kane nickte und rief eine Antwort nach unten während er den Raum verließ. Julia und Mika reichten sich die Hände und verschwanden eine Sekunde später aus Tan San, um im selben Moment in der alten Jagdhütte wieder aufzutauchen. Julia warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war schon ganz schön spät geworden. “Ich glaube, wir sollten schlafen gehen, Mika. Ich bin hundemüde und du brauchst auch ein bisschen Ruhe. Du hast eine Menge Blut verloren, das muss dein Körper erst mal wieder ausgleichen.” Mika sah sie an. Am liebsten hätte er sie jetzt geküsst, aber das getraute er sich nicht - nicht nachdem er vorhin die Beherrschung verloren hatte und sich wieder eine Ohrfeige eingehandelt hatte. “Danke, Julia!” Sie lächelte. “Ist schon in Ordnung, mein Freund.” Sie stellte sich auf Zehenspitzen und küsste ihn leicht auf die Stirn. “Wie fühlst du dich? Soll ich dich nach Hause begleiten?” “Nein, Julia, das brauchst du nicht. Es geht mir gut.” Sie nickte. “Ist gut, Mika. Wenn du mich irgendwie brauchen solltest, mit San Tanabea dürftest du mich immer erreichen. Ich bin immer für dich da. OK?” Er nickte schluckend und fragte sich, wann er jemals etwas Ähnliches zu ihr sagen könnte. Bisher war immer sie es gewesen, die ihm half und nicht umgekehrt. “Prima! Na, dann … Tschüs!” Sie legte ihre Hand locker an den Dolch und verschwand. Unglücklich starrte er an die Stelle, an der sie eben noch gestanden hatte. Doch schließlich seufzte er, griff nach San Tanabea und verschwand ebenfalls.
Tag der Veröffentlichung: 04.12.2008
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