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Halloween



Irgendwie fühlte Julia sich ganz schön albern. Angewidert sah sie in den Spiegel, der gleich neben dem Eingang hing. Aus irgendeinem Grund endete sie bei solchen Gelegenheiten immer als Hexe. Warum musste man sich an Halloween eigentlich verkleiden? Und was, um Gottes Willen, wollte sie auf dieser schrecklichen Party? Sie kannte hier doch niemanden - naja, außer Becky. Und Becky war dann auch der einzige Grund dafür, dass sie hier war. Wenn Becky nicht darauf bestanden hätte, sie wäre lieber brav zu Hause geblieben, hätte vielleicht ein bisschen ferngesehen und wäre dann pünktlich für den letzten Schultag in dieser Woche schlafen gegangen, aber … . Irgendjemand rempelte sie an. Erschrocken sah sie an sich hinunter. Nein, Glück gehabt! Ihr Kostüm war trocken und sauber. Ihre Cola allerdings lag in einer riesigen schmutzigen Lake am Boden. Dunkel nahm sie wahr, dass jemand eine Entschuldigung vor sich her nuschelte und weiterging. Angenervt sah sie auf ihre Uhr. Der Abend mochte ja vielleicht verloren sein, aber die Möglichkeit rechtzeitig ins Bett zu kommen, die hatte sie noch. Entschlossen machte sie sich auf die Suche nach ihrer Cousine, die sich vermutlich irgendwo im dicksten Gedränge hinten in der Halle herumtrieb. Irgendwie schaffte sie es immer einen Haufen Leute um sich zu scharen - selbst da wo sie wirklich niemanden kannte. Vorsichtig drängelte Julia sich durch eine Gruppe Jugendlicher, die etwas älter waren als sie. Überhaupt schienen hier alle älter als sie zu sein. Jedenfalls hatte sie noch niemanden entdeckt, der in ihrem Alter war. Beinahe stieß sie mit einem Jungen zusammen, der eine etwas ungewöhnliche Verkleidung gewählt hatte und ein Eulenkostüm trug. “Oh, entschuldige!” Sie sah zu ihm auf und für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Wie ein Blitz traf sie der Gedanke, dass sie … ja, dass sie etwas mit diesem Jungen verband. Einen Atemzug lang sah sie ihn sprachlos mit großen Augen an, doch dann sie zwang sie sich wegzusehen und ging weiter. Sie kannte den Jungen gar nicht. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Nach ein paar Schritten blieb sie irritiert stehen und sah sich um. Sie war sich sicher, ja, sie konnte es beinahe körperlich fühlen, dass jemand sie beobachtete. Hinter ihr stand noch immer dieser Junge im Eulenkostüm. Und erneut überkam sie das Gefühl, dass sie … zusammengehörten. So wie er sie ansah, musste er … . Sie schüttelte heftig den Kopf. Nein, das bildete sie sich alles nur ein! Liebe auf den ersten Blick? Das war doch nur ein Märchen. Sie drehte sich entschlossen wieder um und stieß einen erschrockenen Schrei aus. Sie stand vor einem älteren Jungen in Skelettkostüm, der offenbar sturzbetrunken war und ihr direkt in die Augen sah. Hastig murmelte sie eine Entschuldigung und wollte sich schnellstens verdrücken, doch plötzlich wusste sie, dass Skelett gleich zuschlagen würde. Wie ein Film legte sich das Bild seiner Faust vor ihre Augen, ohne jedoch ihren Blick auf das, was in dieser Sekunde tatsächlich vor ihr geschah zu trüben. Ohne zu überlegen, stellte sie ihr Colaglas auf dem Boden ab und blockte geschickt die Faust von Skelett mit der flachen Hand ab. Noch im selben Moment folgte sie dem seltsamen Phänomen, das sie bereits vor dem ersten Hieb gewarnt hatte, und wich mit einer fließenden Bewegung auch dem Schlag von “Skeletts” Kumpel aus, der ein unwahrscheinlich echt wirkendes Vampirkostüm trug. War das wirklich ein Kostüm? Oder war das tatsächlich ein Vampir? Mit einem letzten Blick auf ihre beiden Gegner hob sie ihr Glas wieder auf und tauchte in der Menge unter. Bevor die beiden es begriffen, war sie nicht mehr zu sehen. Die kostümierten Schlägertypen konnten sich nur noch verwirrt umsehen. “Verdammt, wo ist sie hin? Hinterher!” Sie zogen ihre Messer und stießen rücksichtslos jeden um, der ihnen gerade im Weg stand. Die Mädchen spritzten kreischend vor Angst auseinander. Ein paar Jungen standen fluchend wieder auf und stellten sich nach einem kurzen Blickwechsel Vampir und Skelett in den Weg. “So nicht, Freunde! Das hier ist eine Party!” Als die beiden Schläger nicht reagierten schlug der größte von ihnen zu, aber Skelett fing den Hieb ab und setzte seine Faust genau in die Magengrube seines Gegners, der stöhnend wieder zu Boden sank. Skelett sah sich um. “Sie ist weg! Raus hier, hier finden wir sie nie wieder!” Sie steckten ihre Messer wieder ein und gingen wieder in Richtung Ausgang. Ängstlich machten ihnen alle Platz, nur der Junge im Eulenkostüm, der noch immer wie betäubt an der selben Stelle stand, an der Julia ihn gerade stehen gelassen hatte, wich nicht aus. Skelett stieß ihn zur Seite und er ruderte heftig mit den Armen. Noch gerade rechtzeitig gelang es ihm, das Gleichgewicht zurück zu erlangen. Nervös griff er nach etwas, das an einer Kette um seinen Hals hing. “Hey, was wollt ihr eigentlich von ihr?” Das klang mutiger als er sich eigentlich fühlte, aber er musste es wissen. Er wusste nicht warum, aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass er und dieses Mädchen zusammengehörten. Er hatte nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt, aber das hier war etwas völlig Anderes als das, was er bisher unter Liebe verstanden hatte. Und dann: Wie sie gekämpft hatte! Als hätte sie vorher gewusst, was passieren würde. Er hatte bis jetzt nur einen gesehen, der so gekämpft hatte - seinen Großvater. Skelett blieb stehen und drehte sich zu ihm um. “Das geht dich gar nichts an!” Seine Faust fuhr direkt in die Magengrube des Jungen im Eulenkostüm. Der krümmte sich ein bisschen, blieb aber auf den Füßen. “Jetzt schon!” Der Eulenjunge ballte die Fäuste. Er täuschte einen Schlag mit der rechten vor, den Skelett mühelos abfing, aber die Linke, die fand ihr Ziel. Skelett krümmte sich vor Schmerz. “So, und jetzt noch mal, Freunde! Was wollt ihr von ihr?” Stöhnend antwortete Skelett: “Sie hat unserem Boss was gestohlen. Das sollen wir zurückholen.” Der Eulenjunge runzelte die Stirn. Irgendwie konnte er sich das nicht vorstellen. “Was hat sie denn gestohlen?” “Einen Dolch!” Etwas verwirrt fragte er nach. “Einen Dolch? Warum sollte sie einen Dolch stehlen?” “Frag sie das!” Skelett hatte sich einigermaßen von dem Schmerz erholt und machte sich jetzt schnell aus dem Staub. Der Eulenjunge sah ihnen verärgert nach. Frag sie das! Ja, wenn er sie wieder fand! Diese beiden Idioten hatten sie ja vertrieben.

Währenddessen hatte Julia ihre Cousine endlich gefunden. Sie stand inmitten einer ganzen Traube von jungen Leuten, die sich offenbar hervorragend amüsierten. “Hey, Julia! (Hick) Komm, trink noch Einen mit uns!” Angewidert sah Julia sich um und schnupperte. Alkohol! Sie hasste Alkohol - und das, was er dem Menschen antat. Merkten die denn wirklich alle nicht, dass sie sich völlig idiotisch benahmen? “Ah, nein, Becky, danke, aber ich glaube ich habe genug. Ich wollte gerade nach Hause gehen.” “Was jetzt schon? Es fängt doch gerade erst (Hick) an, so richtig lustig zu werden!” Julia schüttelte den Kopf. “Mag sein, Becky, aber ich muss - im Gegensatz zu dir - morgen noch mal zur Schule.” Becky sah ihre Cousine verständnislos an. “Schule? Du lieber Himmel, Julia! Warum, zum Teufel, nimmst du das alles bloß so genau? Jetzt vergesse mal die Schule und trink noch einen mit uns!” Becky legte ihren Arm um Julias Schultern und versuchte ihr ein Glas in die Hand zu drücken, doch Julia wand sich geschickt aus ihrer Umarmung. “Nein, wirklich, Becky. Ich habe genug getrunken. Wenn ich auch nur noch ein winziges Schlückchen mehr trinke, kann ich nicht mehr geradeaus sehen.” Sie wandte sich zum Gehen. “Viel Spaß noch, Leute!” “Warum bist du bloß immer so verdammt …” Angestrengt suchte sie nach dem richtigen Wort. “… vernünftig?“ murmelte Becky beleidigt. Julia kümmerte sich jedoch nicht mehr weiter um sie und mischte sich wieder unter die Menge. Völlig in Gedanken kämpfte sie sich zum Ausgang durch, wo sie schon wieder mit jemandem zusammenstieß. Eine hastige Entschuldigung murmelnd sah sie auf - bereit sich zu wehren, falls sie schon wieder auf so einen Schlägertypen gestoßen sein sollte. Sie sah jedoch nur in das freundliche Gesicht eines Jungen dessen mandelförmige Augen seine asiatische Abstammung verrieten. Es war schon wieder der Junge im Eulenkostüm. “Ich glaube,” meinte er lächelnd, “du solltest besser aufpassen, wo du hinläufst.” Sie errötete leicht. “Da hast du wahrscheinlich Recht, aber ich wollte sowieso gerade gehen.” Schon wieder machte sich das seltsame Gefühl in ihr breit, dass sie und dieser Junge irgendwie zusammengehörten, aber sie ignorierte es weiter. Das konnte nur Einbildung sein. OK, er sah ja ganz nett aus, aber das reichte wohl kaum aus, um dieses seltsame Gefühl zu erklären. “Das ist aber schade! Ich wollte dich gerade zu einem Drink einladen.” Sie sah sich angewidert in dem überfüllten Saal hinter ihr um und schüttelte den Kopf. “Ah, nein danke! Nicht hier und nicht jetzt. Vielleicht ein andermal!” Er nickte und musterte sie eingehend. Irgendetwas irritierte ihn an diesem Mädchen. Er hatte es vorhin schon gespürt, als sie das erste Mal zusammengestoßen waren. Es war beinahe, als würden sie zusammengehören, aber das konnte unmöglich sein. Er hatte sie in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen. “Ich verstehe. Offenbar fühlst du dich hier genauso wohl wie ich.” Sie sah ihn überrascht an, aber er zuckte nur mit den Schultern während er mit verächtlichen Blicken an ihr vorbei zu den zunehmend betrunkener werdenden Jugendlichen hinüber sah. “Eigentlich bin ich nur hier, damit ich meinen Eltern morgen erzählen kann, wie toll es war. Ich hasse solche Partys!” Sie lachte leise. “Es sieht tatsächlich so aus, als hätten wir da etwas gemeinsam. Ich bin nur hier, weil meine liebe Cousine mich mitgeschleppt hat - und jetzt steht sie da hinten irgendwo und lallt dummes Zeug.” Sie sah ihn an. Vielleicht hätte sie die Einladung doch annehmen sollen? Er schien tatsächlich ganz nett zu sein - und er war noch nüchtern. “Ich möchte wissen, wie viele von diesen Gestalten hier morgen die Schule schwänzen.” Er sah sich noch einmal um. “Ah, nein, das möchte ich, glaube ich, lieber nicht wissen.” Er musterte sie interessiert. Für ein Mädchen, das so schüchtern aussah, hatte sie erstaunlich sarkastisch geklungen. Das hätte er ihr auf den ersten Blick gar nicht zugetraut. Sie lächelte ihn an und sein Herz schmolz. Plötzlich war es für ihn überhaupt nicht mehr wichtig zu wissen, ob sie gestohlen hatte oder nicht. “Naja, ich gehe dann mal. Man sieht sich!” Sie ging weiter und winkte ihm lächelnd zu. Er öffnete den Mund, hatte noch so viele Fragen, aber er brachte kein Wort heraus. So ein Mist, jetzt hatte er alles vermasselt. Es wäre ein Wunder, wenn er sie jetzt noch mal treffen würde. Er wusste ja nicht einmal ihren Namen! Wenn er sie so finden wollte, war es gerade so, als ob er die berühmte Nadel im Heuhaufen suchen wollte.

Sie stand in einem großen Raum, der trotz des riesigen Fensters irgendwie dunkel wirkte. Draußen funkelten einzelne Sonnenstrahlen zwischen den Bäumen eines dichten Waldes hindurch, vermochten jedoch keine Helligkeit ins Haus zu bringen. Sie sah sich um. Seltsam, wie deutlich sie in diesem kurzen Augenblick alles um sich herum wahrnahm. Es war beinahe, als würde sie alles gleichzeitig in sich aufnehmen. Auf dem riesigen antiken Schreibtisch vor dem Fenster brannte eine grelle Halogenleuchte, in deren Licht ein Mann saß, der genauso alt wirkte wie die wunderbar geschnitzten dunklen Holzmöbel, die an den Wänden standen. Japanische Tuschezeichnungen und Fotos lockerten die weißen Wände gegenüber dem Fenster auf. In einer Ecke glühten ein paar Räucherstäbchen vor einem kleinen Hausaltar, der einer Pagode nachempfunden war. Auf dem niedrigen Tisch zwischen den wuchtigen Polstermöbeln mit dunklem Lederbezug stand eine Schale mit japanischem Reisgebäck. Irgendwo im Haus entstand ein Geräusch. Der alte Mann blickte auf und horchte. Jetzt konnte sie auch sein Gesicht erkennen. Er war offenbar genauso japanischer Abstammung, wie alles hier. Er griff nach etwas an seiner Hüfte und sah ihr direkt in die Augen. »Die Zeit deiner Bestimmung ist gekommen, Trägerin des Lichts.« Ihr blieb keine Zeit, sich über die Sprache zu wundern, die ihr völlig unbekannt war und die sie dennoch mühelos verstand. Ihr blieb auch keine Zeit, Fragen zu stellen, was diese Worte bedeuten mochten, denn in diesem Moment trat ein Mann in den Raum und schoss, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, auf den alten Japaner. Sie sah noch wie der Mann getroffen auf seinen Schreibtisch fiel - die Schussverletzung an seinem Kopf war nur schwer zu übersehen - dann wurde es dunkel um sie. Von irgendwoher erklang Musik, die nicht von dieser Welt zu sein schien. Vor ihr glitzerte etwas und zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Dieses Etwas schien ein Licht auszustrahlen, das immer heller wurde. Gleichzeitig wurde auch die Musik lauter - drängender. Endlich konnte sie erkennen, was da vor ihr in der Luft schwebte und aus sich heraus zu leuchten schien. Es war ein Dolch - ein Dolch, wie sie noch nie einen gesehen hatte: Eine schmale silberne Klinge mit einer goldenen Inschrift in der selben seltsamen Sprache in der der alte Mann zu ihr gesprochen hatte, ein zarter Griff aus purem Gold und an seinem Ende eine wunderbare Kristallkugel in reinstem Silber gefasst, das in kleinen Tropfen über das Gold des Griffes floss. Irgendwie wirkte dieser Dolch geheimnisvoll. Sie wollte danach greifen, doch im selben Moment verblasste das Licht, der Dolch verschwand und sie griff ins Leere. Sie schrie überrascht auf und fuhr aus dem Schlaf. Verwirrt rieb sie sich die Augen und sah sich um. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass sie zu Hause war und in ihrem Bett lag. Sie musste das alles geträumt haben. Dabei hatte das so echt gewirkt, so als hätte sie es wirklich und wahrhaftig erlebt. Sie schüttelte heftig den Kopf. Es musste ihr jemand was in die Cola gemischt haben. Erst glaubte sie zu irgendeinem fremden Jungen zu gehören und jetzt träumte sie so etwas! Nach einem kurzen Blick auf die Uhr, legte sie sich zurück. Es war noch viel zu früh, um schon aufzustehen. Sie versuchte den Traum als Streich ihrer Fantasie abzuhaken, aber ihre Gedanken kehrten immer wieder zu ihm zurück. Schließlich stand sie auf und trat ans Fenster. Was hatte der alte Mann gesagt? »Die Zeit deiner Bestimmung ist gekommen, Trägerin des Lichts.« Sie öffnete das Fenster und ließ die frische, kühle Herbstluft in ihr Zimmer. Was sollte das bedeuten? Bestimmung? Sie hatte nie an so etwas wie Bestimmungen oder Schicksal geglaubt. Eine riesige Eule flog über die Dächer der Nachbarschaft und landete in dem Kastanienbaum vor ihrem Fenster. Blicklos starrte sie die Eule an, registrierte aber nebenbei solche Einzelheiten wie die seltsame Färbung und Größe dieser Eule. So eine Eule hatte sie noch nie gesehen. Ein paar Minuten grübelte sie noch über dieses seltsame Orakel aus ihrem Traum nach, aber schließlich sagte sie sich, dass es eben doch nur ein Traum gewesen war und ging wieder ins Bett. Einen Augenblick später war sie wieder eingeschlafen.


San Tanadina



Am folgenden Morgen stand sie wie gewohnt auf und machte sich müde und gedankenverloren auf den Schulweg. Sie wusste noch, dass sie einen verrückten Traum gehabt hatte und danach eine Weile nicht wieder hatte einschlafen können, aber was hatte sie eigentlich geträumt? Sie war sich sicher, dass es kein regelrechter Albtraum gewesen war, obwohl sie sich nicht erklären konnte, warum sie dann so schlecht wieder hatte einschlafen können. “Guten Morgen, Julia!“ Sie schrak auf. Vor ihr stand eine Nachbarin, die sie jeden Morgen auf dem Weg zur Schule traf. “Oh, entschuldigen sie, Frau Cornelsen. Ich war total in Gedanken. Guten Morgen!“ Sie beugte sich zu Frau Cornelsens Hund hinunter, um ihn zu streicheln - so wie sie es jeden Morgen tat - und sprang erschrocken zurück, als der kleine Terrier plötzlich anfing zu knurren und sie in die Hand biss. “Aua! Was ist denn mit dir los, Momo?” “Oh, mein Gott, Julia! Ist was passiert?” Frau Cornelsen war blass geworden. Die kleine Terrierhündin war eigentlich harmlos und liebte Julia. “Nein, nein, halb so wild! Keine Sorge, Frau Cornelsen. Nur ein Kratzer! Ich werde mir gleich in der Schule ein bisschen Pflaster besorgen.” Kopfschüttelnd sah sie zu dem noch immer knurrenden Hund hinunter. “Was hast du nur, altes Mädchen?” Sie hockte sich auf den Boden, wollte ihre kleine Freundin beruhigen, doch in diesem Moment trat jemand von hinten zu ihnen. “Das würde ich nicht machen.“ Erschrocken fuhr sie herum und sah in ein paar freundlicher fast schwarzer Augen. Sofort bemächtigte sich ihrer wieder das Gefühl, dass sie zu diesem Jungen gehörte. “Sie hat dich doch schon gebissen, oder?“ Sie starrte ihn an. Warum nur fühlte sie sich in seiner Gegenwart so seltsam? Sie kannte ihn doch gar nicht. Als sie nicht auf seine Frage reagierte, griff er nach ihrer verletzten Hand und sah sich die Wunde an. Sie begann zu schwitzen und ihr Herz raste. Das Blut schoss ihr in den Kopf. Jedem anderen Jungen hätte sie sofort ihre Hand entzogen. Warum tat sie es bei diesem hier nicht? “Bist du gegen Tetanus geimpft?“ Einen Augenblick schloss sie die Augen und unterdrückte dieses seltsame Gefühl, das sie immer überkam, wenn sie diesen Jungen ansah und entzog ihm endlich ihre Hand. “Wer hat dich eigentlich gefragt?” fragte sie ihn patzig und wandte sich wieder ihrer Nachbarin zu. “… Ich gehe jetzt besser weiter, Frau Cornelsen. Sonst komme ich noch zu spät zur Schule.“ Ohne den Jungen weiter zu beachten, ging sie weiter. Ihr war bewusst, dass sie ziemlich unhöflich gegen den Jungen war. Er hatte es doch wirklich gut gemeint! Aber dieses seltsame Zusammengehörigkeitsgefühl mit einem Jungen, den sie überhaupt nicht kannte, war ihr so unheimlich, dass sie ihn am liebsten nie wieder sehen wollte. “Warte!“ Sie ignorierte ihn weiter, aber er gab nicht auf. Mit ein paar Schritten war er wieder an ihrer Seite. “He, was ist mit dir, kleine Kürbishexe?“ Sie biss sich auf die Lippen und schwieg eisig. Was sollte das denn jetzt werden? Er grinste verlegen. “Ich glaube ich habe gestern schon vergessen, mich vorzustellen. Ich bin der komische Vogel, der versucht hat dich zu einem Drink einzuladen, ohne dich davon abhalten zu können, diese wunderbare Party fluchtartig zu verlassen, kleine Kürbishexe. Mein Name ist Kiyoshi Mijako Jatsushiro, aber alle nennen mich einfach nur Mika.” Er verbeugte sich mit einem kleinen etwas unsicheren Lachen. Sie schien heute noch unnahbarer als am vorigen Abend. “Und mein Name ist Julia - nicht kleine Kürbishexe!” fauchte sie ihn an und sah in eine andere Richtung. Er sah sie traurig an. Offensichtlich hatte er alles falsch gemacht. “Damit solltest du zu einem Arzt gehen, Julia. Mit einem Hundebiss ist nicht zu spaßen.“ Verlegen wies er auf ihre Hand. “Das geht dich gar nichts an!“ Er blieb stehen und sah ihr traurig nach wie sie die Treppe hinauf ging und verschwand. Dabei hatte er gestern Abend noch das Gefühl gehabt, dass sie ihn irgendwie mochte. Seufzend wandte er sich um und ging zum Schulbüro. Als er zehn Minuten später seiner neuen - natürlich nicht komplett anwesenden - Klasse vorgestellt wurde, stand er überrascht wieder vor ihr. Sie drehte genervt die Augen zur Decke. “Du schon wieder!“ Er setzte sich auf einen leeren Platz direkt neben ihr und sah sie an. Erneut überkam sie dieses seltsame Gefühl, dass sie irgendwie zusammengehörten. Sie schüttelte heftig den Kopf. Das war völliger Schwachsinn. Das bildete sie sich nur ein. Sie versuchte aufmerksam dem Unterricht zu folgen, aber das war gar nicht so einfach, denn ihre Gedanken kehrten immer wieder in die vergangene Nacht zurück. Was war es nur, was sie geträumt hatte? Und dann war da ja noch dieses andere Problem: Es war ihr fast unmöglich ihn nicht pausenlos anzusehen. Leider schien es ihm nicht besser zu gehen, denn jedes Mal, wenn sie zu ihm hinüber sah, wandte er sich verlegen ab. In den Pausen zog sie sich gewohnheitsmäßig in eine ruhige Ecke des Schulgebäudes zurück, in die sich für gewöhnlich weder Schüler noch Lehrer verirrten, und grübelte weiter über diesem Problem, von dem ihr Verstand ihr sagte, dass es eigentlich gar kein Problem darstellen dürfte. In der letzten Pause aber stand der Neue plötzlich vor ihr. “Julia?“ Erschrocken sah sie auf. Sie hatte ihn nicht kommen gehört. “Bist du wahnsinnig? Mich so zu erschrecken!“ Verlegen sah er sie an. “Entschuldige! Das wollte ich nicht!“ Er setzte sich neben sie. “Hör mal, ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass es mir leid tut, dass ich dich den ganzen Morgen so angestarrt habe.“ Sagte er leise, ohne sie anzusehen. “Was du nicht sagst!“ Sie sah ihn unfreundlich an. “Weißt du, …” rang er sich endlich durch, “… ich wollte dich gestern Abend schon etwas fragen, aber irgendwie … .“ Er hob den Blick und sah sie wieder an. Er schluckte, als er ihr abweisendes Gesicht sah. “Und, was wolltest du von mir?“ fragte sie gereizt. “Naja, … ich habe von diesen komischen Typen gestern Abend … naja, du weißt schon: dieser Skelettheini und sein Kumpel … von denen habe ich eine sehr ernste Anschuldigung gegen dich gehört.“ “Wie bitte? Ich weiß ja nicht mal wer die waren! Was soll ich denn getan haben?“ Sie klang so ehrlich überrascht, dass ihm ein Stein vom Herzen fiel. “Dann hast du ihrem Boss also nichts gestohlen?“ Ihm fiel selbst auf, dass seiner Stimme nichts von der Erleichterung anzumerken war, die sich warm in ihm ausgebreitet hatte. Er spielte jetzt schon so lange diesen coolen Typen, der er gar nicht war, dass er jetzt völlig unfähig war, seine wahren Gefühle zu zeigen. Für eine Sekunde sah sie ihn mit aufgerissenen Augen an, dann schnappte sie fassungslos nach Luft und versetzte ihm im nächsten Augenblick eine gepfefferte Ohrfeige. “Sag mal, geht’s dir noch gut? Also ehrlich mal!” Sie stand erbost auf und ging. Wie konnte er nur auf so etwas kommen? Sie ging zum Kunstunterricht. Mika kam ein paar Minuten nach ihr. Seine Wange war noch immer feuerrot und er sah sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. Mit einem Ruck drehte sie sich um und strafte ihn mit Nichtachtung als sie sich an ihren Platz setzte. Im Grunde tat es ihr leid, dass sie so fest zugeschlagen hatte. Das musste ganz schön weh getan haben, aber in diesem Moment hatte sie nicht anders gekonnt. Sie runzelte die Stirn. Warum war sie eigentlich so wütend geworden? Das war doch sonst überhaupt nicht ihre Art? Verstohlen sah sie zu ihm hinüber. Er hatte die Wange scheinbar gelangweilt in seine Hand gelegt und starrte sie schon wieder nachdenklich an. Errötend wandte sie sich wieder der Lehrerin zu, die gerade ihre heutige Aufgabe erläuterte. Ihre Kunstlehrerin führte gleichzeitig den Theaterkurs der Schule und manchmal schien sie den Kunstunterricht mit dem Theater zu verwechseln. Jedenfalls sollten sie in dieser Stunde etwas in freier Assoziation zum Thema Japan zeichnen. Sie war in Kunst nie besonders gut gewesen und so machte sie sich lustlos an die Arbeit. Sie hatte ein bisschen Ahnung von Japan, weil sie von den Menschen dort und ihren Bräuchen um die Kirschblüte irgendwie fasziniert war und so war das erste, was ihr zum Thema Japan einfiel, die Kirschblüte. Sie fing an zu zeichnen, doch nach wenigen Augenblicken entstand eine merkwürdige Leere in ihrem Kopf, gegen die sie sich nicht wehren konnte. Es war als würde ihr Geist langsam einschlafen. Von außen war davon nichts zu bemerken. Sie wirkte hellwach und hochkonzentriert, doch in Wirklichkeit war sie sich kaum bewusst, dass sie noch immer im Kunstunterricht saß und zeichnete. Die Lehrerin, die leise durch die Klasse ging, blieb hinter ihr stehen und beobachtete fasziniert wie sie mit sicherem Strich das Portrait eines alten Japaners zauberte, das so lebendig wirkte, dass man beinahe erwartete, er würde sich im nächsten Moment bewegen. Um das Portrait herum entstanden Impressionen eines Raumes - geisterhaft im Hintergrund und doch gestochen scharf - der japanische Hausaltar in Form einer Pagode und die glühenden Räucherstäbchen davor, der schwere Schreibtisch vor dem großen Fenster, die japanischen Tuschezeichnungen an der Wand. Es war fantastisch, was dieses Mädchen plötzlich schaffte. Sonst konnte sie kaum einen geraden Strich zeichnen - und jetzt das! Die Lehrerin riss sich von dem Bild los und sah auf die Uhr. “Kommt jetzt bitte langsam zum Schluss.” Zögernd ging sie zurück zum Lehrerpult und sah sich in der Klasse um. Sie hatten alle fleißig gearbeitet und von einigen Schülerinnen sah sie erwartungsgemäß hübsche Zeichnungen. Sie sah zu Julia hinüber, die offenbar fertig war - jedenfalls starrte sie jetzt blicklos ins Leere. Die Lehrerin ging durch die ersten beiden Tischreihen und sammelte die Bilder ein - so wie sie es immer am Ende der Stunde tat. Bei Julia blieb sie stehen und sah das Bild eine Weile an. “Bist du schon mal in Japan gewesen, Julia?” Endlich löste sich diese merkwürdige Starre um das Mädchen. “Wie? Äh … nein …” Verwirrt sah sie die Lehrerin an. “Wieso?” Die Lehrerin lächelte. “Nun, Julia, ich staune nur über diese detailgetreue Wiedergabe einer typisch japanischen Einrichtung, die heute nur noch in wenigen alten und reichen Haushalten zu finden ist - allerdings sehr selten in dieser Schönheit.” Verwirrt sah Julia zu ihr hoch. Alles was sie hatte zeichnen wollen, war die japanische Kirschblüte. Sie konnte sich allerdings gerade noch an die ersten paar Striche erinnern, danach musste ihr Gedächtnis ausgefallen sein. Die Lehrerin wandte sich an eines der anderen Mädchen. “Judith, bitte sei so gut und sammle die restlichen Bilder für mich ein und dann könnt ihr alle gehen. Ich wünsche euch ein schönes Wochenende.” Jubelnd packten alle ihre Sachen zusammen, nur Julia blieb einen Augenblick wie erstarrt sitzen bevor sie nach ihrer Tasche griff. “Oh, Julia? Mit dir hätte ich gerne noch ein Wort gewechselt.” Julia sah ihre Lehrerin an und fragte sich, was wohl heute mit ihr los war - und was sie da eigentlich gezeichnet hatte, dass die Lehrerin so aufgeregt war. Sie folgte der Lehrerin, die zu ihrem Pult zurückkehrte und sich auf ihren Stuhl sinken ließ. “Wie kommt es nur, dass mir dein Talent bisher entgangen ist?” Julia sah sie mit großen Augen an. “Talent? Ich habe kein Talent! Frau Seki, sie wissen, dass ich nicht malen kann!” Die junge Frau nickte. “Du hast Recht, Julia, bis heute habe ich gewusst, dass du nicht malen kannst. Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, dass du dieses Bild gezeichnet hast und niemand anders, ich hätte es nicht geglaubt.” Sie legte das Blatt, das sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch. Julia trat näher und betrachtete es erstaunt. “Das habe ich gezeichnet? Merkwürdig, ich kann mich gar nicht daran erinnern.” Die Lehrerin nickte. “Ja, das glaube ich dir. Du sahst vorhin aus, als wärst du aus einer Art Trance erwacht. Ich glaube nicht, dass deine Freunde etwas bemerkt haben, aber ich hielt es nicht für ratsam, dich so hinaus in den Verkehr gehen zu lassen.” Julia schüttelte verwirrt den Kopf. “Trance? Aber warum sollte ich in Trance fallen? Ich dachte immer, das passiert nur dann, wenn man etwas dafür tut das man Meditation nennt.” Frau Seki lächelte. “Da bist du nur teilweise richtig informiert. Es ist richtig, dass es verschiedene Techniken gibt, mit deren Hilfe man in Trance fallen kann, aber es gibt Menschen, die ohne ihren Willen in Trance geraten. Einige der größten Künstler haben ihre wichtigsten Werke in einem unfreiwilligen Zustand der Trance geschaffen. Du scheinst eine solche Künstlerin zu sein. Achte in Zukunft mal darauf, ob dir etwas Ähnliches noch einmal passiert.” Julia nickte mechanisch, während sie noch immer ihre Zeichnung anstarrte. Wer war dieser alte Mann? Sie hatte das dringende Gefühl, dass sie ihn kennen müsste, obwohl sie sich sicher war, dass sie ihn noch nie gesehen hatte. “Ich würde das Bild gerne ausstellen, wenn du nichts dagegen hast. Überleg es dir einmal. Auch wenn du dich nicht daran erinnern kannst, wie du es gezeichnet hast: du kannst wirklich stolz darauf sein.” Julia hatte der Lehrerin gar nicht richtig zugehört. Zu sehr beschäftigte sie das Bild. “Wie? Achso, ja, danke. Ich werde darüber nachdenken. Darf ich es mitnehmen? Ich würde es gerne meiner Mutter zeigen.” Die Lehrerin nickte lächelnd. “Aber sicher, Julia. Die Note steht ja schon fest.” Die Note war Julia im Augenblick völlig gleichgültig. Sie brauchte nur etwas, um sich später zu beweisen, dass das nicht auch wieder bloß so ein verrückter Traum war, wie der in der vergangenen Nacht, an den sie sich einfach nicht mehr erinnern konnte. Sie steckte das Bild sorgfältig in ihre Mappe und verstaute die wieder in der Schultasche. “Also dann, Julia, schönes Wochenende.” “Danke, gleichfalls.” Sie verließ den Klassenraum, ging den Flur entlang nach draußen ohne auf ihre Umgebung zu achten und machte sich verwirrt auf den Heimweg. Verzweifelt dachte sie darüber nach, ob sie verrückt wurde. Sie hatte dieses Bild gemalt - daran bestand gar kein Zweifel. Frau Seki hatte es gesehen. Das Problem war nur … Nein, eigentlich gab es sogar zwei Probleme: 1. Sie konnte gar nicht malen und 2. Warum, zum Teufel, konnte sie sich an nichts erinnern? Wer war dieser alte Mann eigentlich? Der konnte doch wohl kaum Fantasie sein? Oder doch? Fragen über Fragen, aber keine Antwort in Sicht. Sie betrat das Haus. “Ich bin wieder da, Mum!“ Ihre Mutter trat aus dem Wohnzimmer. “Prima, mein Schatz! Ich mach dir was zu essen.“ Noch immer tief in Gedanken nickte sie und hängte ihre Jacke an den Haken. “Danke, Mum.“ Verwundert sah Frau Wagner ihre Tochter an. “Du lieber Himmel, Julia! Was ist denn mit dir los?“ Julia schüttelte den Kopf. “Nichts, Mum!“ Doch dann überlegte sie es sich anders. Ihrer Mutter würde sie ohnehin nichts vormachen können. Sie holte ihre Zeichnung aus der Tasche und sah sie seufzend an. “Na, komm schon, Julia. Erzähl! Was ist los?“ Mit leiser Stimme erzählte sie ihrer Mutter, was sie im Kunstunterricht erlebt hatte und reichte ihr schließlich die Zeichnung. “Das hast du gezeichnet?“ Julia nickte unglücklich. “Aber ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern. Frau Seki meint ich wäre in eine Art Trance gefallen, aber das kann doch nicht sein. Oder?“ Ihre Mutter sah sie mitfühlend an. “Mach dir keine Sorgen, mein Schatz. Du wärst nicht die erste, der so etwas passiert. Es gibt viele Künstler, die ihre wichtigsten Werke in einem Zustand unfreiwilliger Trance erschufen.“ Julia schniefte heftig. “Das hat Frau Seki auch gesagt!“ “Na, siehst du! Was hältst du davon, wenn du jetzt erst mal was isst und dann in die Bibliothek gehst. Dann kommst du sicher wieder auf andere Gedanken!“ “Dann glaubst du nicht, dass ich verrückt werde?“ Frau Wagner lächelte. “Nein, mein Schatz, du wirst nicht verrückt!“ Sie stellte einen großen Teller Nudeln vor ihre Tochter. “Und nun iss und hör auf zu grübeln!“ Zweifelnd griff Julia nach der Gabel. Frau Wagner runzelte die Stirn. “Sag mal, was hast du eigentlich mit deiner Hand gemacht?“ Mit einem kurzen Blick auf ihre verletzte Hand zuckte Julia mit den Schultern. “Ach, nichts! Da hat Momo mich heute früh gebissen.“ “Momo?“ “Ja, ich weiß auch nicht, was heute mit ihr los war. Ich wollte sie ganz normal begrüßen und dann fing sie auf einmal an zu knurren und hat mich gebissen.“ “Bist du schon beim Arzt gewesen?“ Julia schüttelte kauend den Kopf. “Ist nicht weiter schlimm, Mum.“ Frau Wagner hob die Augenbrauen. “Ich möchte trotzdem, dass du damit zum Arzt gehst. Mit einem Hundebiss ist nicht zu spaßen!“ Das hatte sie doch heute schon mal gehört? Julia runzelte die Stirn. Ach, richtig! Der Neue hatte das auch schon gesagt. Aber warum sollte sie zu einem Arzt gehen, wenn sie das später selber heilen konnte? Sie lächelte in sich hinein. “Was gibt’s denn da zu lachen?“ “Ach nichts, Mum. Wir haben nur heute einen Neuen in die Klasse bekommen und der hat das Selbe gesagt.“ “Na, dann hörst du hoffentlich auch auf uns!” “Klar, Mum!” Sie stand auf und stellte ihren leeren Teller und das Besteck in die Geschirrspülmaschine. “Ich mach mich gleich auf den Weg.” Vorher verstaute sie allerdings ihre Zeichnung sorgfältig wieder in ihrer Schultasche. Sie war schon halb an einem Schaufenster mit antikem Schmuck vorbei, als ihr klar wurde was sie darin gerade gesehen hatte. Sie ging ein paar Schritte zurück und starrte ungläubig in die Auslage des kleinen Antiquitätenladens, den sie normalerweise gar nicht beachtete. Plötzlich erinnerte sie sich auch wieder daran, was sie in der vergangenen Nacht geträumt hatte - zumindest an einen Teil davon. Ein Traum, den sie in ähnlicher Form schon öfter gehabt hatte. Ein Traum von einem geheimnisvollen Dolch. Und dort in der Auslage lag genau dieser Dolch. Kein Zweifel: Es war ganz sicher der Dolch aus ihrem Traum. Ohne darüber nachzudenken betrat sie den Laden und griff nach dem Dolch. »San Tanadina gibt dir Macht,« las sie, »doch gebrauche ihn klug. Nur der Träger des Lichts kann ihn beherrschen.« Im selben Moment war da auch wieder diese Musik aus ihrem Traum, doch diesmal klang sie irgendwie anders, weniger fordernd - eher … ja jubelnd, als wäre ein Traum in Erfüllung gegangen. “San Tanadina! Das hätte ich nicht erwartet!” Erschrocken fuhr sie herum. “Oh! Du bist es!” Verlegen ließ sie den Blick sinken. “Du, hör mal …” Sie wurde feuerrot, als ihr auffiel, was sie da in den Händen hielt. “Oh, den lege ich wohl besser zurück.” Sie drehte sich um und wollte den Dolch ins Schaufenster zurücklegen, doch Mika war mit zwei schnellen Schritten bei ihr und hielt sie zurück. “Aber …” Er legte ihr die Hand auf die Schulter. Das war es also! Sie war die Trägerin San Tanadinas! Erleichterung machte sich in ihm breit. Sie hatte wirklich nicht gestohlen. Diese beiden Typen am vergangenen Abend arbeiteten für jemanden, der von San Tanadina wusste. Aber woher hatte er gewusst, dass Julia für diesen Dolch bestimmt war? Sie hatte ihn doch noch gar nicht. “Kein Aber, meine Liebe! Ich möchte, dass du ihn behältst!” “Ich bin nicht “deine Liebe“! Ist das klar?” fauchte sie ihn an. Er fuhr sich verlegen durch die Haare. “Entschuldige. Und ich möchte mich auch für vorhin noch mal entschuldigen. Ich hätte diesen Typen niemals glauben dürfen! Bitte Entschuldige!“ Sie sah ihn lange einfach nur an. Warum war sie eigentlich so sauer auf ihn? Er hatte ihr doch gar nichts getan? Schließlich, als offensichtlich wurde, dass ihm ihr Schweigen langsam unangenehm wurde, seufzte sie. “Also gut! Was haben die eigentlich gesagt, was ich gestohlen haben soll?“ Plötzlich war sie neugierig. Wenn man ihr schon so etwas vorwarf, dann wollte sie auch die ganze Geschichte hören. Er wurde rot. “Einen Dolch!“ Sie musste lachen. “Einen Dolch? Und das hast du geglaubt? Was hätte ich denn mit einem Dolch anfangen sollen?“ “Naja, das habe ich sie auch gefragt, aber …“ Er hob kurz die Schultern. “Ja, und diesen Dolch hier, … “ Sie sah in das Schaufenster und suchte die Stelle, an der der Dolch in ihrer Hand gelegen hatte. “Das ist der Dolch, den diese Typen haben wollten, Julia!” platzte Mika hervor. “Ihr Boss will diesen Dolch an sich reißen. Ich hätte wissen müssen, dass es um San Tanadina ging, dass du seine Trägerin bist. Du bist für diesen Dolch bestimmt, Julia.” San Tanadina? Irgendwo in ihr regte sich etwas, aber wer oder was war San Tanadina und was hatte sie damit zu tun? Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. “Sag mal, wovon redest du da eigentlich?” Mika sah sie überrascht an. “Aber …” “Kein Aber, Mika. Ich will jetzt sofort wissen, was das alles soll! Wer ist San Tanadina? Und was zum Teufel habe ich damit zu tun?” Ein völlig irrationaler Zorn hatte sich ihrer bemächtigt. “Du weißt nicht? …” Er sah sie vorsichtig an. Offensichtlich hatte er schon wieder etwas falsch gemacht. “Nein, weiß ich nicht!” Sie sah ihn wütend an, während er immer mehr in sich zusammensank. “Bitte, Julia, beruhige dich wieder.” Sie tobte weiter, wollte die Worte des eingeschüchterten Jungen nicht hören, doch als sie gerade dem Drang nachgeben wollte, ihm eine von den wertvollen Porzellanfiguren, die auf dem Tisch neben ihr standen, an den Kopf zu werfen, veränderte sich plötzlich alles. Beruhigend klang diese seltsame Musik in ihren Ohren und plötzlich konnte sie die fast flehenden Worte des Jungen nicht mehr überhören. Plötzlich wusste sie gar nicht mehr, warum sie eigentlich so wütend geworden war. Das war etwas, das sie an sich selbst überhaupt nicht kannte. Normalerweise war sie die Ruhe in Person. Was nur hatte sie eben - schon wieder - so die Beherrschung verlieren lassen? Sie sah auf den Jungen, der völlig hilflos vor ihr stand und nicht wagte sie auch nur anzusehen. Sie schluckte schwer und legte ihm ihre Hand auf die Schulter. “Mika?” Er zuckte heftig zusammen als sie ihn berührte. Sie zog die Hand kurz zurück, legte sie jedoch gleich wieder sanft auf seine Schulter. “Bitte verzeih, Mika. Ich wollte nicht … naja, ich wollte dir nicht …” Sie brach hilflos ab. Nichts konnte diesen fürchterlichen Wutanfall entschuldigen. Nichts konnte ihn ungeschehen machen. Endlich sah er sie wieder an. “Naja, vermutlich bin ich selber schuld. Ich hätte einfach nicht voraussetzen dürfen, dass die Trägerin San Tanadinas hier im Laden auftaucht und sofort über alles bescheid weiß. Tut mir leid.” Sie seufzte. Jetzt fing er schon wieder mit diesen halben Andeutungen an. “Und wenn ich dich richtig verstanden habe, dann hältst du mich für diese mysteriöse Trägerin.” “Ja, ganz sicher. Ich erkläre es dir nachher. Ich muss noch arbeiten, aber in zwei Stunden habe ich Feierabend, dann können wir uns treffen.” Er sah sie verschmitzt an. “Vielleicht darf ich dich ja heute auf einen Drink einladen?” Das erste Mal an diesem Tag lächelte sie ihn an. “Warum nicht? Ein anderer Tag, ein anderer Ort …“ Sie zwinkerte ihm zu. “Wo wollen wir uns treffen?” Er überlegte kurz. “Wie wäre es mit dem Waldsee? Ich bringe alles mit, was wir brauchen.” Sie nickte. “Schön ruhig da oben. Ich werde da sein.” Sie blickte auf den Dolch in ihrer Hand. “Aber den hier, nimmst du wohl lieber wieder.” Sie wollte ihn ihm in die Hand drücken, aber er machte einen hastigen Schritt rückwärts, wobei er beinahe eine wertvolle alte Porzellanfigur herunter gestoßen hätte. Geschickt fing er sie wieder auf, bevor sie am Boden zerschellte. “Das war knapp! Nein, bitte behalte ihn, Julia. Ich bin mir nicht sicher, ob er mich noch akzeptiert, jetzt, wo du ihn berührt hast. Hier ist er jedenfalls nicht mehr sicher.” Sie sah ihn verwirrt an. “Warum?” In dieser Sekunde kündigte die Türglocke eine Kundin an. “Oh, warte einen Augenblick, ich muss mich zuerst um diese Dame kümmern. Ich bin gleich wieder bei dir.” Er ging lächelnd auf die sehr elegant gekleidete Frau zu. “Guten Tag, meine Dame. Was dürfen wir für sie tun?” Sie sah sich angewidert in dem kleinen Laden um und meinte naserümpfend: “Ich suche eine große chinesische Vase für meinen Fern-Ost-Saal, aber ich glaube kaum, dass ich hier das Richtige finden werde.” Mika trat unter einer weiteren kleinen Verbeugung zurück. “Bitte sehen sie sich in Ruhe um, meine Dame. Ich bin sicher, sie werden etwas finden, das ganz ihrem Geschmack entspricht. Ich werde inzwischen den Geschäftsführer bitten, ihnen unsere Vase aus der Ming-Dynastie zu zeigen.” Er verschwand durch einen Vorhang in den hinteren Teil des Ladens. Die Frau sah ihm überrascht nach. Wenige Minuten später kehrte Mika mit einer riesigen chinesischen Vase im Arm und einem Mann zurück, der nur sein Vater sein konnte. Er stellte die Vase auf einem Tisch in der Nähe der wartenden Kundin ab und zog sich taktvoll zurück, um zu Julia zurückzukehren, die gerade den Dolch ins Schaufenster zurücklegen wollte. “Aber nicht doch, Julia!” Er legte ihr die Hand auf den Arm. “Ich habe das vorhin wirklich ernst gemeint. Du musst ihn behalten. Dieser Dolch ist sehr wertvoll - in mehr als einer Beziehung. … Das ist auch eines der Dinge, die ich dir nachher erklären werde. OK?” Sie seufzte. “OK, Mika. Ich nehme ihn mit. Wir sehen uns nachher oben am See.” Sie steckte den Dolch in die Jackentasche und zog ihn gleich darauf noch einmal heraus. Der Dolch steckte plötzlich in einer ledernen Scheide. Sie sah ungläubig auf die Waffe hinunter. Mika lächelte. “Mach dir da jetzt keine Gedanken drum. Nachher wirst du das alles begreifen.” Sie sah zweifelnd zu ihm auf, ließ sich aber durch sein Lächeln etwas aufmuntern. “Naja, dann bis nachher.” Er lächelte. “Bis nachher!” An der Tür winkte sie ihm noch mal kurz zu. Nachdenklich hob er die Hand und winkte ebenfalls. Wenn die Typen wirklich hinter San Tanadina her waren, dann würden sie es vielleicht noch einmal versuchen. Die Tür war noch nicht ganz ins Schloss gefallen. “Julia?” Sie blieb stehen und sah ihn durch die Glastür hindurch an. Er schluckte. “Pass auf dich auf. Ja?” Sie lächelte. “Du auch, Mika.”


Die Macht der Weisheit



Sie wusste selbst nicht genau warum, aber sie hatte sich von dem Antiquitätenladen aus direkt auf den Weg zu ihrem Treffpunkt gemacht. Sie war nur kurz zu Hause gewesen, hatte ihrer Mutter einen Zettel hingelegt (Komme heute später. Treffe mich noch mit einem Freund. Mach dir keine Sorgen. Julia) und war dann weitergegangen. Sie war sich auch nicht ganz sicher, warum sie ihre Schultasche mitnahm, aber das lag vielleicht daran, dass sich darin noch ein ungelöstes Rätsel befand, von dem sie hoffte, dass Mika eine Erklärung fand. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie gar nicht bemerkte, dass sich ihr ein paar finstere Gestalten näherten. Erst ihr seltsamer neuer Sinn, der sie vor nahender Gefahr warnte, machte sie darauf aufmerksam, dass sie nicht mehr alleine war. Sie sah sich blitzschnell um. Vor ihr stießen sich zwei ältere Jungen beidseits des Weges von den Bäumen ab, an denen sie gelehnt hatten, und versperrten ihr den Weg. Argwöhnisch kniff sie die Augen zusammen. “Was wollt ihr?” “Du hast was, das wir haben wollen, Süße!” “Ja, das ist sehr aufschlussreich!” Sie stutzte. “Moment mal! Ihr seid doch die Typen von gestern!” »Die, die behauptet haben, ich hätte einen Dolch gestohlen!« fügte sie in Gedanken hinzu. Die Jungen waren zwar gestern dick geschminkt gewesen und bei dem Licht hatte sie auch nicht wirklich viel erkennen können, aber diese blassen Gestalten hier waren bestimmt die Selben. “Stimmt!” nickte der, der gestern das Skelettkostüm getragen hatte. “Und jetzt gib uns endlich was wir haben wollen!” Sie schüttelte den Kopf. “Ich weiß leider immer noch nicht, was du meinst!” Das stimmte natürlich nicht, aber das brauchte Skelett ja nicht zu wissen. “Aber ich bin mir sicher, du wirst es mir gleich sagen.” Sie runzelte die Stirn. “Wer seid ihr eigentlich? Ich habe euch hier noch nie gesehen!“ In derselben Sekunde wusste sie, dass das Gespräch damit beendet war. Wie gestern schien sie plötzlich zwei oder drei Sekunden in die Zukunft zu sehen. Jedenfalls sah sie den Schlag schon kommen, da stand der Junge noch ganz ruhig da und sah seinen Kumpel vielsagend an. Sekunden später hatten die beiden Jungen sie in eine heftige Schlägerei verwickelt. Sie konnte zwar ihren Schlägen problemlos ausweichen und im Anfang auch den einen oder anderen Gegenangriff anbringen, aber als noch ein paar Jungen dazu kamen und sie sich plötzlich nicht mehr nur zwei Gegnern gegenüber sah sondern fünfen, ermüdete sie schnell und musste immer mehr Schläge einstecken. Sie blutete bereits aus mehreren kleinen Wunden und konnte sich kaum noch auf den Füßen halten, als Mika im Eiltempo den schmalen Waldweg herauf und ihr zu Hilfe kam. Sie schöpfte noch einmal frische Kraft und kämpfte mit Mika Seite an Seite bis die Gegner fluchend die Flucht ergriffen. Schwer atmend ließ sie sich auf den Boden sinken. “Das war keine Sekunde zu früh!” Sie schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Mit einem Blick auf die Uhr meinte sie verwundert: “Du bist früh! Ich meine, nicht dass ich nicht froh bin, dass du schon da bist, aber ich dachte, du musst noch arbeiten?” Er nickte noch etwas außer Atem. “Stimmt, aber als mein Vater merkte, dass ich mit den Gedanken mehr mit etwas anderem beschäftigt war als mit meiner Arbeit, hat er mich raus gescheucht.” Er grinste bei dem Gedanken daran was sein Vater gesagt hatte - Er meinte offenbar, Mika hätte sich verliebt. Er betrachtete das Mädchen an seiner Seite nachdenklich. Vielleicht hatte sein Vater da gar nicht so Unrecht. Irgendetwas war da. “Mika? Danke! Ich glaube du hast mir gerade das Leben gerettet!” Er schüttelte den Kopf. “Es hätte gar nicht erst soweit kommen dürfen. Das ist alles meine Schuld, Julia. Ich hätte dich nicht alleine lassen dürfen.” “So ein Unsinn! Du konntest doch nicht wissen, dass diese Typen mir auflauern würden.” “Aber es ist meine Aufgabe, dich zu beschützen. Wenn ich das richtig gemacht hätte, wäre das hier nicht nötig gewesen.” “Hey, nun mach aber mal Halblang! Ich meine, deinen Eifer in allen Ehren - was auch immer das bedeuten soll: Es ist deine Aufgabe mich zu beschützen - du kannst unmöglich rund um die Uhr auf mich aufpassen.” Sie stand umständlich wieder auf. “Komm, lass uns weitergehen, sonst kommen wir nie beim See an. Und dann tu mir einen Gefallen und erzähl mir endlich, was das alles zu bedeuten hat.” Er nickte seufzend. “Du hast Recht. Es wird Zeit, dass du alles erfährst.” Während sie also gemeinsam den Waldweg entlang zum See hinaufgingen, berichtete er Julia von einer alten Legende nach der vor Millionen von Jahren eine göttliche Eule - mit Namen Tania - einen magischen Dolch erschaffen haben soll, um die Welt vor dem Bösen zu schützen. In jeder Generation wählte sie einen Menschen, dem sie diese schwere Aufgabe mit Hilfe dieses Dolches, den sie San Tanadina nannte, übertrug. Doch weil dieser Träger San Tanadinas es bald nicht mehr alleine schaffte, das Böse aufzuhalten, erschuf sie auch noch einen kleinen Bruder zu diesem Dolch, den sie San Tanabea nannte und stellte dem Träger San Tanadinas den Hüter San Tanadinas an die Seite. Langsam begriff Julia worauf er hinaus wollte, wenn sie sich auch sträubte, das alles zu glauben. “Und du meinst, ich bin die nächste Trägerin San Tanadinas in einer langen Reihe von magisch begabten Wohltätern? Tut mir leid, Mika, aber es fällt mir schwer das zu glauben.” Er nickte lächelnd. “Ja, das glaube ich dir.” »Es klingt wie ein Märchen nicht wahr?« Sie riss die Augen auf. Mika hatte plötzlich in einer fremden Sprache weiter gesprochen - in derselben Sprache übrigens, in der auch die Inschrift auf dem Dolch verfasst war - und sie hatte ihn trotzdem mühelos verstanden. “Was ist das für eine Sprache? Und warum verstehe ich sie einfach so?” “Das ist die Sprache der Heiligen Tania. Heute sprechen sie nur noch der Träger und der Hüter San Tanadinas und niemand anderes.” Sie runzelte die Stirn. Das hieß, wenn Mika Recht hatte und ihr nicht einfach nur einen riesigen Bären aufzubinden versuchte, dass sie tatsächlich die nächste Trägerin San Tanadinas war. Wieder erinnerte sie sich an ihren Traum - diesmal jedoch an den anderen Teil. Was hatte der alte Mann zu ihr gesagt? »Die Zeit deiner Bestimmung ist gekommen, Trägerin des Lichts.« Das passte alles gut zusammen. Sie seufzte. “Also gut, tun wir mal so, als ob ich diese Geschichte glauben würde. Was wollen dann diese komischen Typen von vorhin mit diesem Dolch?” Er hob kurz die Schultern. “Ich vermute, irgendjemand hat damals das Geheimnis meines Großvaters entdeckt.” Sie sah ihn stirnrunzelnd an. “Naja, er war der letzte Träger San Tanadinas. Er starb vor 5 Jahren.” Er trat ans Ufer des kleinen Waldsees, den sie gerade erreicht hatten, und sah traurig auf seine im Sonnenlicht glänzende Oberfläche. “Oh, das tut mir leid.” Er lächelte matt. “Das braucht es nicht, Julia. Es ist lange her.” Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. “Nicht annähernd lange genug, dass es nicht mehr wehtun würde.” Er sah sie an und seufzte. “Nein, du hast Recht. Manchmal tut es noch verdammt weh.” Plötzlich fiel ihr etwas ein und sie fing hastig an, in ihrer Schultasche zu kramen. Etwas verwirrt sah er sie an. “Was ist … was suchst du denn da auf einmal?” Gerade zog sie triumphierend ein Blatt aus der Mappe und sah ihn an. “Dies hier habe ich gesucht. Ist das dein Großvater?” Sie gab ihm das Blatt und er sah erstaunt auf die Zeichnung. “Ja, das ist er. Woher kennst du ihn?” Sie schüttelte den Kopf. “Ich kenne ihn gar nicht, Mika. Das ist eines der merkwürdigen Dinge, die mir in den letzten Tagen passieren.” Verwirrt sah er von der Zeichnung zu Julia und wieder zurück auf das Bild. “Wieso merkwürdig? Ich kann an diesem Bild - außer der Tatsache, dass er extrem gut getroffen ist und das Bild künstlerisch perfekt gearbeitet ist - nichts Besonderes finden.” Sie nickte. “Das ist es ja gerade, Mika. Es gibt genau drei Dinge, die ich daran merkwürdig finde: 1. Ich habe deinen Großvater in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. 2. Ich kann gar nicht malen und doch habe ich 3. dieses Bild gezeichnet - ohne mich übrigens 4. daran erinnern zu können.” “Moment mal! Du hast das gezeichnet?” Sie nickte. “Und du hast ihn nie gesehen?” Sie schüttelte den Kopf. “Nie!” Er sah sie nachdenklich an. “Sag mal, ist das das Bild, das du vorhin im Kunstunterricht gezeichnet hast?” “Wie kommst du darauf?” Er wurde rot. “Naja, ich konnte meine Augen nicht von dir lassen. Tut mir leid.” “Oh!” machte sie und schüttelte errötend den Kopf als sie daran dachte, was direkt vor diesem Unterricht passiert war. “Hör mal, Mika. Das mit der Ohrfeige … Das tut mir wirklich leid! Das hat bestimmt ganz schön weh getan! … Ich meine, das ist sicher keine Entschuldigung, aber ich war heute morgen ziemlich mies drauf und dann …” Er lächelte. “Das muss dir nicht leid tun. Ich hatte sie verdient.” Er grinste. “Aber weh getan hat es tatsächlich. Ich glaube, ich spüre deine Hand immer noch, aber egal! Wir sprachen über dieses Bild hier. Das ist das Bild, nicht wahr?” Sie nickte. “Dann kann eigentlich nur San Tanadina dahinter stecken.” Sie sah ihn zweifelnd an. “Möglich. … Sag mal, wie ist er eigentlich gestorben?” Im selben Augenblick, in dem sie es ausgesprochen hatte, wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. “Oh, entschuldige, Mika! Bitte vergesse, was ich gerade gesagt habe. Das war nicht …” Er lächelte traurig. “Ist nicht schlimm! Ich weiß nicht wie er tatsächlich gestorben ist. Meine Eltern bleiben hartnäckig bei der Version mit dem Herzinfarkt, aber soweit ich im Dorf gehört habe, ist er wohl erschossen worden.” Seine Stimme hatte eine solche Bitterkeit angenommen, dass sie erschrak. Er hatte offenbar sehr an seinem Großvater gehangen. “Du hast nie die Wahrheit erfahren?” Er schüttelte den Kopf. “Nur geflüsterte Bruchstücke hinter vorgehaltener Hand - Gerüchte.” Sie zögerte. Sollte sie ihm wirklich von ihrem Traum erzählen? Wenn seine Eltern es ihm nicht hatten sagen wollen, hatte es vielleicht einen Grund. Durfte sie ihnen da reinpfuschen? Andererseits war es für Mika offenbar wichtig. Wäre es ihr egal gewesen zu wissen, wie ihre liebste Großmutter gestorben ist? Hätte sie nicht auch die Wahrheit wissen wollen? Sicher, die Wahrheit tat manchmal weh, aber tat es nicht noch mehr weh, wenn man so im Ungewissen lebte? Und schließlich war es fünf Jahre her. Seine Eltern mochten ihm vielleicht nur nicht eingestehen, dass sie ihn damals angelogen hatten. Sie gab sich einen Ruck. “Weißt du,” sagte sie leise, “einer der Gründe, weshalb ich heute morgen so … gereizt war, war ein ziemlich übler Traum an den ich mich morgens nicht mehr recht erinnern konnte. Eben fiel mir wieder ein, was es gewesen ist. Ich habe letzte Nacht miterlebt, was damals passiert ist. Es waren keine Gerüchte, Mika, er ist wirklich erschossen worden.” Sie schauderte als sie an den seltsamen Traum zurückdachte. “Der Typ hat nicht einmal gezielt bevor er ihn von hinten in den Kopf geschossen hat.” Mit Tränen in den Augen sah er aufs Wasser hinaus, doch seine Stimme klang fest. “Danke, Julia!” Sie zuckte leicht zusammen. “Danke? Wofür? Dafür, dass ich meine Neugier nicht im Zaum halten konnte? Du hast so an deinem Großvater gehangen, und jetzt komme ich daher und habe nichts besseres zu reden als über seinen Tod?” Er sah sie lächelnd an und wischte seine Tränen aus den Augen. “Nein, Julia, dafür, dass du den Mut hattest, den meine Eltern nicht hatten und mir die Wahrheit gesagt hast.” “Kunststück!” sagte sie leise. “Jemandem, der einen Menschen nicht so gut kennt, fällt es immer leichter, ihm so etwas zu sagen.” “Aber es ist dir doch gar nicht leicht gefallen, Julia!” Sie sah ihn an. Zwecklos es zu leugnen. Sie seufzte. “Nein, du hast Recht. Es ist mir nicht leicht gefallen, aber schließlich hast du ein Recht auf die Wahrheit und ich hätte es nicht fertig gebracht, dieses Geheimnis für mich zu behalten.” Sie sah auf den See hinaus. Er nahm ihre Hand und drückte sie fest. “Danke! Du glaubst gar nicht wie wichtig das für mich ist!” “Doch, Mika! Ich weiß …” Sie brach ab und sah sich aufmerksam um. “Vorsicht! Sie sind wieder da.” Er sah sie überrascht an, doch dann nickte er entschlossen. “Also gut, wir werden kämpfen müssen. Ich weiß nicht wer hinter diesen Typen steht und wie viel er über unsere Macht weiß. Halt dich ein bisschen zurück. Ich will nicht, dass du unnötig verletzt wirst.” “Einen Teufel werde ich tun! Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich mich irgendwo verkrieche, wenn du in Gefahr bist?” Im selben Augenblick überlagerte das Bild eines auf Mika zufliegenden Wurfgeschosses ihren Blick. Blitzschnell hob sie die Hand und fing den Stein geschickt ab bevor er Mika an den Kopf traf. Erschrocken drehte er sich um und starrte auf den Stein in ihrer Hand. “Verdammt, damit hatte ich nicht gerechnet. Danke!” Sie schüttelte den Kopf. “Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Da kommen sie.” Sie nickte in Richtung der Bäume, wo gerade die 5 Jungen von vorhin und noch 10 um Einiges ältere in weit gefächerter Linie hinter den Bäumen hervorkamen und mit ihren Messern spielten. Mika folgte ihrem Blick und stöhnte. “Ohje! Heilige Tania hilf uns! Wenn wir das heil überstehen …” Er wehrte die beiden ersten Gegner gleichzeitig ab indem er sich unter ihren Fäusten hinweg duckte und ihnen die Beine unter den Körpern wegzog. “… hast du was gut bei mir.” Sie lachte, während sie wie nebenbei einem ihrer Gegner das Messer aus der Hand nahm, mit dem er ihr eigentlich gerade von hinten die Kehle durchschneiden wollte und sich dabei völlig sicher fühlte. Doch statt Julias klebte Sekunden später sein eigenes Blut und das von zwei anderen, die ihr zufällig im Weg standen, an dem Messer, das sie sofort danach gelangweilt in den See hinter ihr warf. “Ich werde darauf zurückkommen. Achtung! Hinter dir!” Sie bückte sich nach einem Ast, der zu ihren Füßen am Boden lag, während zwei ihrer Gegner sich über ihr gegenseitig K O schlugen, weil sie offensichtlich nicht mit ihrer Bewegung gerechnet hatten, und schlug mit dem Knüppel zwei anderen vor die Schienbeine. Mit einem Schlag mit der Handkante ins Genick machte sie beide endgültig kampfunfähig und trat gleichzeitig einem anderen, der hinter ihrem Rücken Mika ins Kreuz springen wollte, derartig in die Kniekehlen, dass er erschrocken auf die Knie fiel und von Mika ausgeknockt wurde. Auf diese Weise erledigten sie in erstaunlich kurzer Zeit alle ihre Gegner. Mika trat schwer atmend zu Julia und reichte ihr die Hand. “Danke, Julia! Ich glaube du hast mir heute schon öfter als einmal das Leben gerettet!” Grinsend nahm sie seine Hand. “Natürlich! Du mir aber auch, mein Freund. Ich würde meinen wir sind quitt. Oder?” Er sah sie unglücklich an. “Also gut - quitt!” “Prima! Und jetzt lass uns hier verschwinden ehe die wieder zu sich kommen.” “Wo sollen wir hingehen?” “Ich weiß nicht.” Mit einem Blick auf die Uhr, der ihr zeigte, dass es noch nicht allzu spät war, schlug sie vor, zu der alten Jagdhütte oben am Berg zu gehen. Mika sah sie zweifelnd an. “Aber bitte nicht zu Fuß. Ich fürchte ich habe mir den Knöchel verstaucht.” Erschrocken sah sie ihn an. “Oh, verzeih, da hätte ich gleich nach fragen sollen. Ist sonst noch etwas verletzt? Willst du lieber nach Hause gehen?” Er lächelte. “Nein, sonst bin ich heil geblieben. Du doch hoffentlich auch?” Sie nickte flüchtig. “Komm setz dich mal hier auf den Stein. Ich sehe mir mal deinen Fuß an.” Er sah sich um und schüttelte den Kopf. “Nein, lass uns erst mal hier verschwinden. Dann können wir uns immer noch darum kümmern. Gib mir mal bitte deine Hand und nimm San Tanadina in die andere.” Etwas verwirrt tat sie wie geheißen und staunte als Mika seine Hand um San Tanabea schloss und in dieser anderen Sprache sagte: »Bitte bringt uns zur alten Jagdhütte.« Die beiden Dolche fingen plötzlich an zu glühen. Etwas wie ein Kraftfeld schien von ihnen auszugehen und die beiden schließlich völlig einzuhüllen und dann standen sie von einer Sekunde zur anderen nicht mehr am See sondern tatsächlich an der Jagdhütte. Das war alles so schnell gegangen, dass Julia jetzt erst die Zeit fand zu reagieren. “Was … was ist das denn?” Mika lächelte etwas verzerrt als er auf die Hütte zuhumpelte. “Das war eine der Fähigkeiten von den beiden Dolchen. Sie können dich in Nullzeit an jeden Ort der Welt bringen.” Doch plötzlich interessierte sie diese Erklärung gar nicht mehr wirklich. “Das kannst du mir später erklären. Erst mal müssen wir uns um deinen Fuß kümmern. Das scheint schlimmer zu sein als nur verstaucht.” Mit ein paar schnellen Schritten war sie wieder an seiner Seite und stützte ihn. Ein paar Minuten später saß er einigermaßen bequem auf der Holzbank in der Hütte und ließ sich von ihr den Schuh von dem bereits stark angeschwollenen Fuß ziehen. “Ich weiß nicht! Sollten wir den Schuh nicht vielleicht doch lieber dran lassen? Vielleicht kriege ich ihn nachher nicht mehr an.” “Unsinn! Wie soll ich dir denn dann helfen?” Sie zog ihm auch noch den Strumpf vom Fuß und begann den Knöchel vorsichtig abzutasten. Bei ihrem Versuch den Fuß zu bewegen, schrie er laut auf. “Entschuldige, das wollte ich nicht. Ich will mal sehen, was ich tun kann. Schließ mal die Augen und versuche dich zu entspannen.” Sie schlossen beide die Augen, während sie die Hände langsam nach seinem Fuß ausstreckte und den Knöchel sanft mit den Händen umschloss. Ein paar Minuten blieb sie in tiefer Konzentration und völlig reglos am Boden knien, doch Mika öffnete die Augen schon nach einer kurzen Weile wieder und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Ein leises Leuchten schien von ihren Händen auszugehen, aber da mochten ihm seine angestrengten Sinne einen Streich spielen. Sicher war er sich aber, dass etwas wie Energie von ihren Händen ausging und ihre Konzentration und innere Anspannung waren beinahe greifbar. Ganz langsam ließ der Schmerz nach, bis er fast gar nicht mehr spürbar war und endlich regte sich auch Julia wieder. Sie sah ihn an. “Tut es noch sehr weh?” “Nnein! Was …” “Beweg ihn mal.” Er starrte sie schaudernd an, bewegte aber gehorsam den verletzten Fuß - aber das tat gar nicht mehr weh. Auch die Schwellung war fast verschwunden. Endlich brachte er den Satz zu Ende, den er vorhin begonnen hatte. “Was … Wie hast du das gemacht?” Sie lächelte erschöpft. “Ich habe nur deinen gebrochenen Knöchel geheilt. Das ist alles.” Sie setzte sich richtig hin und lehnte sich mit dem Rücken an die Bank. “Aber …” Sie sah lächelnd zu ihm auf. “Ich glaube nicht, dass es etwas mit San Tanadina zu tun hat, Mika. Das konnte ich schon immer, aber ich tue es nicht sehr oft, weil ich es geheim halten muss.” Sie grinste schief. “Obwohl mir wahrscheinlich sowieso niemand glauben würde.“ Er nickte. “Ich jedenfalls glaube es dir. Was ist mit dir? Du siehst erschöpft aus.” Sie nickte. “Ja, du hast Recht. Es war ein bisschen anstrengend.” Sie schloss die Augen und schlief fast sofort ein. Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, stand er auf und öffnete auf der anderen Seite des Raumes eine geheime Tür, die zu einer kleinen Schlafkammer führte. Er schlug die Decken und Kissen kräftig auf und hoffte, dass das Bettzeug nach der langen Zeit nicht allzu muffig roch. Naserümpfend schnupperte er daran. Nein, er hatte diesen geheimen Ort schon zu lange nicht mehr benutzt. So konnte er es unmöglich lassen. Entschlossen griff er nach San Tanabea. Plötzlich fuhr ein frischer Wind von nirgendwo durch den Raum und nahm den Staub von einem Jahr und den ganzen muffigen Geruch nach abgestandener Luft mit, als er - genauso schnell, wie er gekommen war - auch wieder verschwand. Zufrieden nickend sah er sich um. So war es schon besser. Er trat wieder hinaus in den großen Raum und schloss einen der großen Schränke auf, die unsichtbar hinter der Täfelung verborgen waren, und zauberte eine kleine Küche hervor, in der er jetzt einen Kessel mit frischem Wasser auf die kleine Flamme setzte. Anschließend nahm er das tief und fest schlafende Mädchen vorsichtig auf die Arme und trug es hinüber in das weiche Bett, um es sorgsam bis unter das Kinn zuzudecken. Sie seufzte tief auf und kuschelte sich in die Kissen. Einen Moment sah er lächelnd auf sie hinab, doch dann wandte er sich ab und verließ den kleinen Raum, um sich wieder um sein Teewasser zu kümmern. Ein wirklicher Teemeister wie sein Großvater war er zwar nicht - das würde er auch wahrscheinlich nie werden - aber er versuchte trotzdem alles genauso zu machen, wie er es ihm damals beigebracht hatte. Konzentriert versuchte er sich an jedes Wort zu erinnern während er langsam seine Vorbereitungen traf, bis er sich schließlich ganz in seiner persönlichen Teezeremonie verlor und weder über den Tee noch über irgendetwas anderes noch nachdachte und einfach tat was der Tee brauchte. Erst ein leises Geräusch aus dem Nebenzimmer, das durch die halb geöffnete Tür zu ihm herüber drang, brachte ihn wieder aus dem seltsam entrückten Zustand in die Wirklichkeit zurück. Er goss Tee in die beiden japanischen Teeschalen und trug sie auf einem kleinen Tablett nach nebenan, wo Julia gerade eben erwachte und sich ein wenig verwirrt umsah. “Wo … wo bin ich!” Er lächelte. “Du bist noch immer in der alten Jagdhütte. Komm trink erstmal was. Das wird dir gut tun.” Julia war noch immer verwirrt. “Aber das Bett … Ich meine, ich habe hier noch nie eines gesehen und was ist das für ein Raum?” Er reichte ihr eine Teeschale. “Naja, diese alte Hütte hier steht zwar immer offen, aber sie birgt da ein paar Geheimnisse, die noch niemand entdeckt hat.” Sie schlürfte vorsichtig an dem heißen Getränk und entspannte sich langsam wieder. “Danke, Mika, der tut tatsächlich gut.” Sie dachte einen Augenblick nach während sie weiter trank. “Es ist seltsam. Irgendwie scheint dieser Tee mir mit jedem Schluck mehr Kraft zurückzugeben.” Sie schwieg wieder einen Augenblick. “In Japan gibt es doch diese Tradition mit Teezeremonien, oder?” Mika nickte, unsicher worauf sie hinaus wollte. “Bist du so ein Teemeister?” Erschrocken sah er sie an. “Um Himmels Willen, nein! Wie kommst du denn darauf?” Sie lächelte. “Ich kann mich natürlich auch irren, aber das ganze Haus hier - und der Tee eben ganz besonders - schwingt plötzlich ganz anders als vorhin - und ich bin mir irgendwie sicher, dass es dein Rhythmus ist.” Er starrte sie mit großen Augen an. Woher wusste sie von seiner privaten kleinen Teezeremonie? Sie hatte doch geschlafen. Oder etwa nicht? Aber selbst wenn sie wach gewesen wäre: Eine Teezeremonie gebietet Schweigen. Sie hätte nichts zu hören vermocht außer einem bisschen Geschirrgeklapper. Und sie konnte unmöglich wissen, dass er sozusagen Schüler auf dem Weg des Tees war. “Mika?” Sie sah ihn fragend an. Seufzend nickte er. “Du hast Recht. Ich habe versucht den Tee nach dem Zeremoniell zu bereiten. Mein Großvater war Teemeister und hat mich damals auf den Weg des Tees gebracht, aber ein Teemeister bin ich noch lange nicht. Es braucht Jahrzehnte um sich zu vervollkommnen.” Sie nickte. “Du bist bescheiden.” Sie grinste ein bisschen. “Weißt du, irgendwie gefällt mir das. Ich mag Menschen, die bescheiden sind.” Sie wurde wieder ernst. Er hatte sich auf einen Stuhl neben dem Bett gesetzt. Jetzt streckte sie die Hand aus und legte sie auf seine. “Aber, Mika, noch mehr mag ich Menschen, die auch wissen was sie können und was sie wert sind. Stell dich nicht unter den Scheffel. Ich glaube du bist heute weiter auf dem Weg des Tees gekommen, als du selber glaubst. Bitte gehe diesen Weg weiter. Suche dir einen Teemeister, wenn du glaubst, dass dir das hilft, dich zu vervollkommnen, aber geh weiter. Es wird Zeiten geben, in denen du den Frieden brauchen wirst, den dir die Zeremonien geben. Mir jedenfalls hat es verdammt gut getan. Danke!” Sie drückte seine Hand kurz und ließ sie dann los. Schweigend genoss sie den Rest ihres Tees während Mika tief in Gedanken neben ihr saß und seinen kalt werden ließ. “Woher hast du es gewusst?” Sie hatten so lange geschwiegen, dass sie einen Augenblick überlegen musste, was er meinte. “Ich weiß es nicht. Ich habe einfach plötzlich gespürt, dass da etwas war und als ich versuchte dem näher auf den Grund zu gehen … Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll … Es war ein bisschen als hätte sich in meinem Kopf eine Tür geöffnet, hinter der sich eine unglaubliche Weisheit verbirgt - eine Weisheit, die nicht die meine ist, über die ich aber trotzdem verfüge.” Sie lächelte. “Klingt irgendwie verrückt, oder?” “Nein, gar nicht.” grinsend schüttelte er den Kopf. “Für mich hört sich das mehr so an, als hätte die Heilige Tania da ihr ihre Finger im Spiel gehabt.” Er wurde wieder ernst. “Danke, Julia!” Fragend sah sie ihn an. “Wofür?” “Naja, gut möglich, dass ich tatsächlich zu bescheiden bin, aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass ich auf dem Weg des Tees noch einen weiten Weg vor mir habe. … Ich hatte nach Großvaters Tot einfach Angst den Weg wirklich weiter zu gehen und ich glaube, ich hatte vorhin ein bisschen Angst, dass ich mich irgendwie selbst verraten haben könnte und du mich auslachen könntest.” Sie nickte langsam und nachdenklich. “Naja, ich glaube, wenn du mir das gestern erzählt hättest, ich hätte wahrscheinlich tatsächlich gelacht. Aber ich habe diese Veränderung in dir, in diesem ganzen Haus beinahe körperlich gespürt und ich habe einfach gewusst, dass es gut und richtig ist. Das ist dein Weg, Mika - auch wenn ich immer noch nicht genau weiß woher dieses Wissen kommt.” Sie seufzte. “Hoffentlich finde ich meinen Weg auch bald.“ Er lächelte. “Hey, keine Sorge! Die Heilige Tania wird dich führen. Auf sie kannst du dich verlassen.” Er blickte zur Uhr und erschrak ein wenig. “Ohje, wir sollten langsam aufbrechen. Es ist schon beinahe 9 Uhr.” “So spät schon? Du lieber Himmel, wie die Zeit vergeht!” Sie sprang aus dem Bett und begann blitzschnell alles aufzuräumen. Zuerst wollte Mika protestieren und alles alleine machen, doch er spürte, dass sie sich auf keine Diskussionen einlassen würde und hielt lieber gleich den Mund. Eine Viertelstunde später hatten sie alles wieder sauber und die geheimen Türen sorgfältig verschlossen. “Zeigst du mir jetzt, wie du uns vorhin hierher gebracht hast?” Er nickte. “Aber ich bin mir nicht sicher, ob du das alleine mit San Tanadina kannst. Großvater konnte es jedenfalls nicht. Es scheint jeder andere Fähigkeiten von ihnen zu bekommen, denn er hat mir erzählt, mein Vorgänger konnte es auch nicht. Ich bin auch nur durch Zufall darauf gestoßen.” Sie seufzte. “Ich glaube nicht, dass heute Zeit für Experimente ist.” Sie gähnte unterdrückt. “Tu mir einen Gefallen und bring mich einfach nur nach Hause. Ja? Irgendwie bin ich trotz allem noch hundemüde.” Er nickte. “Gerne!” Er nahm ihre Hand und schloss seine andere um San Tanabea. »Bitte setzt uns bei Julia zu Hause ab.« Wieder baute sich dieses seltsame Energiefeld auf und im nächsten Moment standen sie in der dunklen Straße vor Julias Haus. “Danke, Mika! Danke für diesen schönen Nachmittag. Ich habe selten … Ich meine ich habe nie wirkliche Freunde gehabt, aber deine Gesellschaft habe ich wirklich genossen, mein Freund.” Er sah sie überrascht an. Seltsam, konnte sie Gedanken lesen, oder so etwas? Nein, sie hatte ja von sich selbst gesprochen - auch wenn es sich für ihn anhörte, als ob sie seine eigenen Gedanken aussprach. “Freund? Willst du wirklich damit sagen, dass du … dass wir Freunde sein sollen?” Sie nickte. “Könntest du dir das vorstellen?” Er lachte befreit auf. “Da fragst du noch lange? Und ob ich mir das vorstellen kann. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen!” Sie lächelte. “Danke, Mika! Das bedeutet mir sehr viel - vor allem nach unserer kleinen … Meinungsverschiedenheit heute morgen! ” Sie musste schon wieder an die Ohrfeige denken, die sie ihm am Vormittag versetzt hatte und legte ihre Hand an seine Wange. “Sag mal, tut das wirklich immer noch weh?“ Er lächelte. “Ein bisschen schon, aber das macht nichts.“ “Natürlich macht das was!“ Sie schloss kurz die Augen und konzentrierte sich. “Oh je!“ murmelte sie und ließ ihre heilenden Energien fließen. Er sah sie überrascht an. “Julia! Was ist?“ Sie lächelte traurig. “Ich hätte im Traum nicht gedacht, dass es so schlimm war. Entschuldige Mika, das wollte ich wirklich nicht.“ “Wovon redest du eigentlich? Das war doch nur eine Ohrfeige!“ Sie schüttelte den Kopf. “War es nicht! Und das weißt du auch!“ Er sah sie ehrlich verwirrt an. “Nein, weiß ich nicht!“ Unglauben machte sich in ihrem Gesicht breit. “Mika! Ich habe dir den Kiefer ausgerenkt! Willst du mir ernsthaft erzählen, das hättest du nicht gemerkt?“ Er nickte. “Das habe ich tatsächlich nicht gemerkt. Ich habe in dem Moment über was ganz anderes nachgedacht, Julia! Du gehst mir doch schon seit gestern nicht mehr aus dem K …“ Er biss sich auf die Lippen. “Entschuldige! Bitte vergiss es!“ Sie grinste ihn an. “Mal sehen!“ Sie umarmte ihn kurz. “Gute Nacht, mein Freund. Wenn du morgen Zeit hast - du bist jederzeit willkommen.” Er nickte. “Treffen wir uns mittags oben in der Hütte?” Sie nickte. “Ich werde da sein.” Er lächelte und wandte sich zum Gehen. “Na, dann bis Morgen. Gute Nacht, kleine Kürbishexe!” Sie zwinkerte lächelnd. “Gute Nacht, komischer Vogel!” Sie winkte ihm noch mal kurz zu, wandte sich dann zur Tür und betrat das Haus. “Ich bin wieder da!” Ihre Mutter trat aus dem Wohnzimmer in den Flur und musterte ihre Tochter. “Ja, das sehe ich, meine Liebe. Wer war denn dieser nette junge Mann eben? Willst du mir deinen Freund gar nicht vorstellen?” “Ach, das war nur Mika.” Sie stutzte und sah ihre Mutter an. “Moment mal. Woran denkst du, wenn du Freund sagst? Du glaubst doch wohl nicht …?” Ihre Mutter antwortete nicht, sah sie nur unentwegt an. Julia seufzte. “Offensichtlich doch! Mum, wir sind einfach nur Freunde. Verstehst du? Nur Freunde - kein Paar.” “Achso? Deshalb fällst du ihm wohl auch zum Abschied um den Hals, wie?” “Ich habe was?” Sie lachte auf. “Ja, du hast Recht, ich habe ihn zum Abschied umarmt, aber heißt das sofort, dass da was zwischen uns sein muss? Mein Gott, wir verstehen uns einfach nur gut. Das ist alles.” “Na, dein Wort in Gottes Gehörgang, meine Liebe. Jetzt weiß ich allerdings immer noch nicht, wer er eigentlich ist? Ich glaube nicht, dass ich ihn schon mal gesehen habe.” “Nein, ich habe ihn ja auch erst gestern kennen gelernt. Er heißt Mika - äh, wie heißt er eigentlich noch richtig? Mi … Mijaki … ah, ich hab’s wieder. Kiyoshi Mijako Jatsushiro. Er geht seit heute in meine Klasse. Sein Vater hat diesen kleinen Antiquitätenladen drüben in der Fußgängerzone.” Frau Wagner seufzte. “Also gut, Kind. Ich mache mir ja nur Sorgen um dich. Und wenn du mir sagst, dass da nichts zwischen euch ist, dann glaube ich dir das ja auch, aber ich würde ihn trotzdem gerne kennen lernen. Weißt du, ich habe in den letzten Tagen ein paar Jungen hier in der Gegend gesehen, die waren mir ein bisschen unheimlich.” Überrascht sah Julia auf. “Du meinst doch wohl nicht dieses Klappergestell, das zusammen mit so einem Leichentuch durch die Gegend zieht?” “Naja, die Beschreibung ist zwar dürftig aber passend. Demnach kennst du sie?” Julia runzelte ärgerlich die Stirn. “Kennen? Nein, nicht wirklich! Ich möchte nur gerne wissen, was die eigentlich von mir wollen. Wie lange, sagtest du, laufen die hier schon rum? Nicht erst seit gestern?” “Na, so drei, vier Tage habe ich sie mindestens schon gesehen. Wieso?” “Seltsam, warum sind sie mir dann nicht schon eher aufgefallen, wenn sie mich schon so lange beobachten? Das verstehe ich nicht. Geh denen bloß aus dem Weg, Mum, die sind verdammt gewalttätig. Gestern auf der Party haben sie versucht eine riesige Schlägerei anzuzetteln und als sie uns vorhin im Wald begegnet sind, haben sie mit ihren Messern geklappert. Die haben mit Sicherheit nichts Gutes im Sinn.” “Aber wieso beobachten sie dich? Bist du sicher, dass sie wirklich hinter dir her sind und du sie nicht zufällig immer triffst?” “Ich weiß zwar nicht, was sie von mir wollen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mir vorhin absichtlich im Wald aufgelauert haben. Wir hatten einige Mühe, ihnen zu entkommen. Mika hat Einiges einstecken müssen, weil er mir geholfen hat.” Erschrocken starrte ihre Mutter sie an. “Und du? Bist du verletzt?” “Nein, Mum, nur ein paar Prellungen und Kratzer, nichts weiter. Ich bin nur hundemüde, Mum.” “Willst du nichts mehr essen? Du hast doch noch nichts gegessen!” “Ich habe gar keinen Hunger, Mum. Ich glaube, ich will jetzt nur noch schlafen. Gute Nacht!” Sie wandte sich ab und ging gähnend die Treppe hinauf in ihr Zimmer.

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Tag der Veröffentlichung: 24.11.2008

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