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LESEPROBE
(AUSZUG AUS DEM PROLOG "SCHATTEN DER WAHRHEIT")

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„Wie geht es dem Patienten draußen?“, fragte einer der Chirurgen nach etwa einer halben Stunde.
„Mist, ich habe ihn total vergessen“, antwortete die Anästhesieschwester und lief sofort hinaus. Kaum war sie draußen, so hörte man ihren durchdringenden Schrei. „Herr Doktor schnell … schnell … er atmet nicht mehr!“
Der Anästhesist lief hinaus und sah den Patienten, der eben operiert worden war, in einem kreideblassen Zustand. Durch die geschlossenen Augenlider war nur ein schmaler Streifen der weißlichen Skleren sichtbar. Kleine Schweißperlen bedeckten seine Stirn. Er atmete kaum noch. Ein Krampfanfall setzte gerade ein. Der Blutdruck war nicht messbar. Der EKG-Monitor zeigte unregelmäßige Zacken im Sinne von frustranen Herzaktivitäten. Das rote Lämpchen blinkte ohne irgendeinen erkennbaren Rhythmus und setzte immer wieder für längere Intervalle aus.
Der Anästhesist drehte sofort die langsam tropfende Infusion voll auf und ließ die restliche Flüssigkeit in der Plastikflasche schnell durchlaufen. Er legte noch zwei Infusionen dazu. Mit Hilfe der Schwester schob er den Patienten sofort in den OP-Saal I zurück. Der Patient wurde wieder intubiert und an das Atemgerät angeschlossen. Die Sauerstoffsättigung im Blut zeigte nur noch 57%. Es folgten mehrere Injektionen über die noch in der Vene liegende Nadel.
Einer der Chirurgen kam zu ihnen mit vor der Brust gehaltenen Händen. „Was ist los?“, fragte er gelassen, als würde er sich nach der Wetterlage erkundigen. Die Stimme gehörte dem Chefarzt.
„Dem Patienten geht es miserabel. Die Sauerstoffsättigung fällt rapide ab. Der Blutdruck ist nicht messbar“, antwortete der Anästhesist, der immer noch mit seinen Spritzen herum hantierte.
„Woran liegt es denn?“, fragte diesmal der Chefarzt und blickte auf den Monitor. Die grünen Zacken sahen wüst aus.
„Ich glaube, er hat innere Blutungen. Ich denke, eine der Nähte ist insuffizient oder aufgegangen.“
Der EKG-Monitor spielte verrückt. Das Gepiepse bestand nur noch aus rasenden und dann aussetzenden Intervallen ohne jeden Rhythmus. Der Zustand des Patienten verschlechterte sich zunehmend. Jetzt liefen die Infusionen nicht mehr. Die Vene, in der die Nadel steckte, bekam eine bläuliche Verfärbung. Eine dicke Beule trat hervor.
Dr. Schultze hatte keine Zeit, nach einer neuen Vene zu suchen. Der Patient benötigte ein großkalibriges Blutgefäß. Für ihn kam nur noch ein Subclaviakatheter in Frage, auch wenn es sich hierbei um ein gefährliches Manöver handelte. Er musste es riskieren. Es gab keine Alternative. Über einen solchen Katheter hatte er zumindest die Möglichkeit, jede Menge Flüssigkeit, Kolloidlösungen, Blut und was noch alles zur Verfügung stand, zu infundieren.
Inzwischen gesellte sich auch der andere Chirurg dazu. „Sieht es schlimm aus?“, fragte er, nur um gesprochen zu haben.
„Er geht uns verloren“, antwortete der Anästhesist hektisch.
„Wir müssen dann den Operationssitus revidieren. Machen wir es schnell“, schrie der Chefarzt und griff nach einem Skalpell.
Der Patient wurde an den Nahtstellen schnell aufgeschnitten, ohne auf die Verhältnisse der Sterilität zu achten. In diesem Fall mussten sie alle Regeln des sterilen Arbeitens missachten. Eine erschreckende Szene überraschte die Ärzte. Der Anästhesist hatte mit seiner Vermutung völlig Recht. Der gesamte Bauchraum bestand nur noch aus einem See von Blut. Ein paar luftgefüllte Darmschlingen schwammen wie eine Schlange in der Blutlache. Das Blut stieg höher, sobald der Chefarzt seine Hände in die Wunde steckte, um sich an den Organen zu orientieren. Der Oberarzt steckte die Düse des Saugers in die rote Flüssigkeit. Das schlürfendes Geräusch wirkte gespenstisch und erfüllte den Raum. Unter der zu bewältigenden Blutmenge setzte er immer wieder aus.
Die Chirurgen stopften mehrere grüne Tücher zwischen die Darmschlingen. Das Rot des frischen Blutes vermischte sich mit dem Grün und bildete eine rostigbraune Farbe wie auf einem Wandbild aus dem Mittelalter.
Kaum im Betrieb klang das Schlürfen des Saugers wie das Krächzen eines Motorrollers, der einen steilen Hang zu meistern hatte. Es gab ein dumpfes Blubb. Und Stille. Er gab seinen Geist auf.
„So ein Scheißding“, schrie der Oberarzt wutentbrannt und schleuderte den Schlauch auf den Boden. Die Anästhesieschwester rannte in den OP-Saal nebenan und holte einen neuen Sauger. Keine Zeit verlieren. Weitersaugen.
Die hektische Arbeit der Chirurgen wurde regelmäßig von dem verzweifelten Geschrei, wie „Saugen, saugen… Tuch… schnell noch eins… wo bleibt das Tuch, verdammt noch mal?“ begleitet.
Den Chirurgen gelang es nicht, die Blutungsquelle auszumachen. Sie saß irgendwo und wurde von der roten Flüssigkeit bedeckt. „Absaugen, absaugen… hier“, befahl der Chefarzt dem zweiten Operateur. Der Oberarzt bewegte die Öffnung des Schlauches an die Stelle. Das Schlürfen wurde lauter und machte den Chefarzt noch nervöser. Die OP-Schwester warf einen Blick auf das Gefäß, in dem das gesaugte Blut gesammelt wurde. Es war voll. In dem Moment schaltete der Sauger automatisch ab.
„Was ist denn nun, verdammt?“, schrie der Oberarzt.
„Das Gefäß ist voll“, antwortete die Schwester.
„Worauf warten Sie denn? Wechseln Sie es aus!“, befahl er. Die Mundmaske bildete einen merkwürdigen Kontrast zu seinen vor Wut geröteten Wangen.
„Keine Zeit“, mischte sich der Anästhesist ein, „wir verlieren ihn.“ Die Verzweiflung in seiner Stimme war deutlich hörbar.
Der Oberarzt schleuderte den Saugerschlauch durch den Raum, so dass das ganze Gerät umkippte und langsam wegrollte. Die Chirurgen steckten nun ihre Hände in die auseinander klaffende Wunde und drückten blind irgendwelche Strukturen zusammen.
Die Flüssigkeit in den Infusionsflaschen lief mit einer rasanten Geschwindigkeit in den Subclaviakatheter des Patienten. Die Anästhesieschwester wechselte sie, ohne darauf zu achten, ob sie vollständig leer waren. Der Piepston am Monitor war nun unzählbar schnell. Er ähnelte mehr einem Dauerton. Die grünen EKG-Zacken verliefen sehr unregelmäßig und hatten eine Haarnadelform.
Der Anästhesist spritzte immer wieder irgendwelche Medikamente in den Katheter. Die Haut des Patienten schimmerte unter den OP-Lampen wächsern. Die Sauerstoffsättigung zählte wie beim Countdown für den Start einer Rakete abwärts.
„Wir müssen ihn defibrillieren!“, schrie der Anästhesist. „Also los“, befahl er seiner Helferin, die im Nu den Defibrillator heranschaffte.
Alle entfernten sich aus der Nähe der Liege. Dr. Schultze legte die Paddels, nachdem die Schwester sie mit einem Gel befeuchtet hatte, auf den Brustkorb und lud dann die Energie auf.
„Alle weg, weg“, befahl er. „Eins, zwei und Stoß!“
Der Oberkörper des Patienten hob sich nach der Energieentladung einige Zentimeter von der Unterlage ab. Die Kurve am Monitor änderte sich nicht. Der nächste Stoß folgte; diesmal mit höherer Energie. Ebenfalls ohne Erfolg. Dann noch eine und noch eine… Immer wieder höhere Energien wurden abgegeben. Der Oberkörper hob sich bei jedem Stoß von der Unterlage ab.
„Hören Sie auf“, flüsterte der Chefarzt resigniert. Seine Augen blickten ratlos auf den Boden. „Hören Sie auf. Es hat keinen Sinn mehr.“
„Ja, da haben Sie Recht“, antwortete Dr. Schultze ebenfalls resigniert und legte die Paddels auf den Defibrillator.
Aus und Amen. Alle Maßnahmen waren für die Katz. Sie hatten den Patienten nicht retten können. So schnell verwandelt sich ein lebendiger Körper in eine Leiche. Ein winzig kleiner Fehler und er verabschiedete sich für immer.
Der blutverschmierte Körper lag nun leblos auf der Liege. Die Haut glänzte eigenartig, fad, unnatürlich.
Die Ärzte schauten einander mit müden und traurigen Blicken an. Die Realität kreiste grausam über ihren Köpfen. Es gab kein Zurück mehr. Ihnen blieb nun nur noch ein einziger Schritt: Die Wunde zuzunähen

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Tag der Veröffentlichung: 19.03.2011

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