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Der rätselhafte Jahrmarkt

Am Rande des Dorfes auf dem großen Festplatz stand ein Jahrmarkt. Niemand wusste, woher er gekommen war. Keiner hatte Wagen durch das Dorf fahren sehen. Doch auf einmal war er da.

 

Neugierig kamen die Dorfbewohner und schauten zu, wie die Schausteller ihre Buden aufbauten. Da saß jeder Handgriff, als ob sie nie etwas anderes getan hätten. Und bei den meisten traf das wohl auch zu. Ein Stand nach dem anderen öffnete. Der Leierkastenmann begann zu spielen. Die Budenbesitzer lockten die Besucher herbei: „Kommen Sie und sehen Sie eine einmalige Attraktion“ oder „So etwas haben Sie noch nie zuvor erlebt.“ Andere boten Waffeln und Süßigkeiten an. Ein Stelzenläufer mit langen bunten Hosen und einem lustigen Hut verteilte Luftballons. Die Kinder hüpften vor Aufregung. Denn da war ein Karussell mit schwarzen und weißen Pferden. Auf riesigen Schildern über den Buden stand mit schiefen Buchstaben: „Stärkster Mann der Welt“ oder „Die Karten sagen die Wahrheit“ oder „Die geheimnisvolle Kristallkugel“.

 

Die anfängliche Skepsis der Dorfbewohner über das plötzliche Erscheinen machte schnell der Neugier Platz. Da waren Stände mit buntem Glasschmuck, Knöpfen, Spitze und allerlei Firlefanz. Die Kinder hielten rote Zuckeräpfel in den Händen. Clowns liefen herum und machten ihre albernen Späße. Einer hatte sogar einen kleinen Affen mit Pluderhosen und einer glitzernden Weste auf der Schulter sitzen.

 

Der Jahrmarkt war voller Leben. Der Stelzenläufer hatte kleine Stelzen unterm Arm und zeigte den Kindern, wie man darauf laufen konnte. Das gab ein Gelächter. Alle wollten es versuchen. Manche von ihnen waren so geschickt, dass sie in kurzer Zeit das Gleichgewicht halten und schon ein paar Meter laufen konnten. Die jungen Frauen schmückten sich lieber mit den bunten Halsketten oder den Spitzenbändern und bestaunten sich dann im Spiegel. Das Dosenwerfen überließen sie den Männern. „Dann haben die zu tun und wir können in Ruhe überall gucken.“ Die Männer waren’s zufrieden, gab es doch gleich daneben den Stand mit Bier- und Weinfässern. Die jüngeren unter ihnen versuchten sich am Schießstand, um der Angebeteten eine Rose zu schießen, oder schlugen bei „Hau den Lukas“ so fest sie es vermochten, mit dem Hammer zu.

 

In all dem Trubel fiel es niemandem auf, dass manche der Wagen keine Sehenswürdigkeiten aufgebaut hatten. Vermutlich enthielten sie Hausrat und Werkzeug. Alle waren gleich: grasgrün mit braunen Dächern. Die Räder sahen aus wie aus einer Baumscheibe herausgeschnitten. Durch ihr Äußeres passten sie sich so perfekt in die Landschaft ein, als müssten sie dort stehen.

 

Spät am Abend ließ der Trubel allmählich nach. Die Mütter hatten ihre Kinder schon nach Hause gebracht. Für sie war es Zeit zum Schlafen gehen. Nur widerwillig hatten sie sich von den Karussellpferden getrennt. Manche hatten Bauchweh von zu viel Zuckerzeug. Die unermüdlichen männlichen Dorfbewohner gingen mit nicht ganz festen Schritten zu ihren Behausungen. Manch einer musste von den anderen mehr getragen werden, als dass er selbst laufen konnte. Doch irgendwann war überall Ruhe eingekehrt und der Jahrmarkt schloss seine Buden. Da öffnete sich einer der kleinen Wagen. Ein weißhaariger, bärtiger Mann trat heraus. Sein Gesicht war voller Furchen. Er schien uralt zu sein. Doch seine Augen blickten klar und aufmerksam. Er schaute sich um. Und als er niemanden mehr sah, stieß er durch seine ineinandergelegten Hände einen Käuzchenruf aus. Daraufhin öffneten sich auch die anderen grasgrünen Wagen. Ihre Bewohner traten heraus und folgten schweigend dem alten Mann auf seinem Weg zum nahegelegenen Wald, in dessen Mitte eine riesige alte Eiche auf einer Lichtung stand.

 

Es war eine seltsame Versammlung. Der Älteste war groß und kräftig mit breiten Schultern. Sein volles weißes Haar ragte ihm bis zu den Schultern und sein dichter Bart war ebenso weiß. Beim Gehen stützte er sich meist auf einen dicken Stab aus Holz. Seine Handlungen waren ruhig und bedächtig. Nur seine stahlblauen Augen straften sein Alter Lügen. Der Alte strahlte eine natürliche Autorität aus und die anderen sahen ihn voll Ehrfurcht und Respekt an, wenn er zu sprechen begann.

 

Die alte Frau, grauhaarig und gebückt, murmelte ständig vor sich hin und hielt Ausschau nach Kräutern und Heilpflanzen, die sie vorsichtig pflückte und in ihren Tragekorb gab. Ein unbeteiligter Beobachter hätte geglaubt, sie sei nicht ganz richtig im Kopf, aber da hätte er sich gründlich getäuscht. Moja sah alles und sie hörte alles, selbst den Flügelschlag eines Schmetterlings oder das Wachsen einer Blume. Es gab kein Kraut, das sie nicht kannte, keine Pflanze, die sie nicht zu verwenden wusste. Die anderen nannten sie respektvoll die Heilerin. Und damit hatten sie Recht. Allein in ihrem Wagen bereitete sie allerlei Säfte und Tinkturen zu. Wurzeln wurden zerstoßen, Beeren gepresst, Kräuter aufgekocht. Die Alte konnte Schmerzen lindern und Mensch und Tier von Krankheiten befreien.

 

Auch Aislinn, ein junges Mädchen war bei der Gruppe. Kaum erwachsen, schmal und feingliedrig, war sie von unbeschreiblicher Anmut. Ihre Stimme flatterte wie ein Hauch im Wind, kaum hörbar, doch von allen verstanden. Ihr langes weißblondes Haar schimmerte wie flüssiges Silber. Obwohl sie lächelte, umgab sie stets eine Aura von Melancholie und stiller Trauer. Niemand wusste, woher sie kam. Sie war erst vor kurzem zu den anderen gestoßen. Nur selten sprach sie. Doch immer folgte sie der alten Frau, wenn diese ihre Kräuter sammelte. Moja zeigte und erklärte geduldig. So lernte auch Aislinn die geheimen Kräfte der Natur. Sie war begierig, mehr zu erfahren und lauschte aufmerksam Mojas Worten, wenn diese ihr Wissen preisgab. Eine besondere Liebe verband das junge Mädchen mit den Bäumen. Etwas Unerklärliches zog sie an. Dann strich sie über die Rinde, lehnte sich an den Stamm und fühlte sich geborgen und beschützt. Ihr Lieblingsbaum war eine Eibe. Oft saß sie an ihrem Fuß und erzählte ihr alles, was sie bewegte. Und die Eibe lauschte.

 

Tanguy, der lebhafte junge Mann fiel schon allein durch seinen Bewegungsdrang auf. Er konnte keine Minute ruhig sitzen bleiben. Er war ein gut aussehender Bursche von kräftiger Statur mit dichtem schwarzem Haar. Seine Augen schauten lebhaft und voller Herausforderung in die Welt. Offensichtlich musste er sein Temperament mit Mühe unter Kontrolle halten. Gerne zettelte er Streit an, um dann den Gegner durch seine Körperkraft zu besiegen. Meist gelang ihm das, nur nicht bei dem jungen Prinzen des Ahornbaumes. Bei seinem letzten Kampf hatte er sich durch Unachtsamkeit selbst verletzt und eine Narbe auf dem linken Handrücken zurückbehalten. Die Narbe selbst störte Tanguy nicht weiter. Für ihn war sie ein Beweis seiner Kämpfernatur. Doch jedes Mal, wenn er sie ansah, erinnerte sie ihn an einen verlorenen Kampf. Das wurmte ihn. Seit Aislinn bei der Gruppe war, beobachtete Tanguy das Mädchen mit offenkundigem Interesse. Doch Aislinn war auf der Hut. Der Bursche strahlte etwas aus, was bei ihr Unbehagen hervorrief. Sie wich ihm aus, so oft sie konnte. Und immer war Moja in der Nähe.

 

Noch einige mehr, Männer wie Frauen, vervollständigten die Gruppe. Sie waren ebenfalls Mitglieder des Ordens und lebten wie die anderen zufrieden im Einklang mit der Natur. Außergewöhnliche Fähigkeiten hatten sie nicht, aber sie taten ihr Bestes für die Harmonie der Gemeinschaft. Alle verehrten Lord Oaktree als den Meister und Leiter des Ordens.

 

Als der Alte das Wort ergriff, war es mucksmäuschenstill. „Ihr Brüder und Schwestern des geheimen Ordens, Freunde und Beschützer der Natur, hört mich an. Zu diesem Platz haben uns die Sterne den Weg gewiesen. Hier sollen wir nach weiteren Hinweisen Ausschau halten. Es ist nunmehr drei Winter her, dass der Prinz den Ahornbaum verließ und aufbrach zu suchen, was ihn drängte, was er aber nicht in Worte fassen konnte. Er meinte nur, er wolle erfahren, wie es sich anfühle, vollständig zu sein. Dann ging er fort mit meinem Segen. Seit dieser Zeit gibt es kein Lebenszeichen mehr von ihm. Aislinn träumte letzte Nacht zum wiederholten Mal von einem Spiegel, von dem für den Prinzen Gefahr ausgehen soll. Doch der Traum sagte nichts über den Ort. Ich habe nicht herausgefunden, wo er sein soll. Hat euch ein Vogel oder ein Baum eine Nachricht überbracht, der Wind etwas zugeflüstert? Wie sollen wir ihn finden? Wer weiß einen Rat?“

 

Einer in der Gruppe stand auf: „Herr der Eichen, du Gelehrter und Weiser, du kennst die Geheimnisse der Natur. Du sprichst die Sprache des Wassers und der Gestirne. Alle Geistwesen verehren dich. Wer sind wir, dass wir dir einen Rat geben könnten? Sage uns, was wir tun sollen und wir werden dir in Treue und Ergebenheit dienen. Doch den Weg zum Spiegel wissen wir nicht.“

 

Lord Oaktree, der Herr der Eichen, sah nachdenklich auf die versammelte Gruppe. Schon viele Jahre war er Vorsteher des geheimen Ordens der Weisheit, ein Orden mit der Aufgabe, die Natur zu beschützen und altes Wissen weiter zu geben. Und so lebten alle Mitglieder im Einklang mit den Jahreszeiten. Jeder, der aufgenommen werden wollte, lernte zunächst die vielfältigen und wunderbaren Geheimnisse von Mutter Erde. Wenn er dieses Wissen erworben hatte, musste er einen Eid ablegen, alles zu tun, um dem Orden zu dienen und Schaden von ihm abzuwenden. Die Aufnahme wurde mit einem feierlichen Ritual vollzogen, bei dem das neue Mitglied von einem Baum aufgenommen wurde. Für jeden war es eine große Ehre, dem Orden anzugehören. Keiner hätte je die Gemeinschaft freiwillig verlassen. Und wenn es doch sein sollte, dann nur mit dem Segen des Ältesten und mit einem Amulett zum Schutz. Niemals wäre der Orden ohne Nachricht geblieben.

 

Oaktree dachte an den Tag zurück, als er den Ahornprinzen, Maple Knight, zum letzten Mal gesehen hatte. Schon längere Zeit hatte er sich Gedanken um den Jungen gemacht. Dieser war immer unruhiger geworden. Ständig mit seinen Gedanken unterwegs hatte er am Leben der Gemeinschaft kaum noch teilgenommen, sich meist abgesondert und allein im Wald aufgehalten. Oaktree hatte ihn zunächst nur beobachtet und gehofft, der Prinz würde von selbst zu ihm kommen. Da dies aber nicht geschehen war, hatte Oaktree ihn eines Abends aufgefordert, sich mitzuteilen.

 

„Ich vermag es nicht zu deuten, ehrwürdiger Meister“, hatte Maple Knight eine Erklärung versucht, „doch ist mein Inneres voller Unruhe, als wollte es mich auffordern, etwas zu tun, von dem ich nicht weiß, was es sein soll. Immer stärker wird das Gefühl des Unvollständigen in mir. Deshalb werde ich mich auf die Suche nach dem Unbekannten machen, das mich wieder eins mit mir werden lässt.“

 

Der Meister hatte daraufhin zustimmend genickt und gemeint: „Begib dich auf deinen Weg und wenn du gefunden hast, was du suchst, kehre gesund und wohlbehalten zu uns zurück. Nimm dieses Amulett zum Schutz mit auf die Reise. Schaust du hinein, werde ich wissen, wie es dir geht.“ Maple Knight hatte sich das Amulett, das aussah wie aus der Rinde eines Baumes geschnitzt, mit einer Kette um den Hals gehängt und war gegangen.

 

Von da an hatte der Älteste nichts mehr von ihm gehört. Das Amulett hatte keine Nachricht gesandt, was nur bedeuten konnte, dass der Prinz nicht in der Lage war, hineinzusehen. So waren sie aufgebrochen, ihn zu suchen. Als Ordensmitglieder wollten sie sich nicht zu erkennen geben. Es gab in dieser Zeit genügend hohe Herren, die es nicht gerne gesehen hätten, dass ein anderer, der nicht zu ihrem Stand gehörte, anerkannt wurde und eine Gruppe Menschen sich mit Dingen beschäftigten, von denen sie selbst keine Ahnung hatten. Aber als Jahrmarktsgaukler kamen sie überall hin, ohne beachtet zu werden. So hatten sie sich kurzerhand diesem Jahrmarkt angeschlossen. Den Schaustellern war es recht gewesen, zumal sich Moja in Kräuterkunde auskannte und ihre Krankheiten heilen konnte. Die Besucher würden keine Fragen stellen. Von Gauklern erwartete man Kuriositäten. Das war einer der Gründe, weshalb die Menschen so gerne zum Jahrmarkt kamen.

 

Auf ihrem Pfad der langen Suche hatte Aislinn eines Tages ihren Weg gekreuzt. Am Rande eines staubigen Weges war sie langsam dahingegangen, müde und erschöpft. Als die Wagen vorbeirollten, hatte Moja das Mädchen entdeckt und sofort angehalten. Nach einem Blick in ihr Gesicht hatte die Alte dem Mädchen bedeutet, aufzusteigen und neben ihr Platz zu nehmen. Lord Oaktree hatte eingewilligt, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass es nur vorübergehend sein würde. Von dem Orden hatte er noch nichts erwähnt.

 

In einer Vollmondnacht hatte Aislinn von einem Spiegel geträumt, hinter dem der Prinz verschwunden war. Von diesem Traum hatte sie Lord Oaktree berichtet. Da war ihm klargeworden, dass der Orden diesen Spiegel finden musste, wenn der Prinz gerettet werden sollte.

 

Muschelherz

 

Während die Mitglieder des Ordens auf der Suche nach ihm waren, saß Maple Knight, der Prinz des Ahornbaumes, völlig verzweifelt auf einem riesigen rauen Stein am Ufer eines Flusses. Hier war er angespült worden. Er erinnerte sich nicht mehr, was passiert war. Er wusste überhaupt nichts mehr, nicht, wer er war, noch, wo er herkam. Das einzige, was als Erinnerungsfetzen durch seinen Kopf schwebte, war das Bild eines schwarzhaarigen jungen Mannes, der plötzlich hinter ihm aufgetaucht war.

 

Als es dunkel wurde, legte sich der Prinz neben dem Felsbrocken auf die weiche Erde und schlief ein. Im Traum sah er sich vor einem Spiegel stehen. Anstelle seines Spiegelbildes schaute ihm ein junges Mädchen von ätherischer Schönheit entgegen. Es bedeutete ihm, durch den Spiegel zu steigen, um zu ihr zu gelangen. Als er am anderen Morgen erwachte, hatte er den Traum bereits vergessen. Nur eine unstillbare Sehnsucht war in ihm, die ihn nicht ruhen ließ. Irgendwann, hoffte er, würde er verstehen, was für ihn von Bedeutung sei. So wanderte er drauflos und folgte dem Lauf der Sonne, nicht wissend, dass der Orden auf der Suche nach ihm war.

 

Auf seiner Wanderung kam er in eine Gegend voller Eilande. Mal stattlich, mal winzig, bewohnt und auch unbewohnt, durchzogen sie wie bunte Flecken das große Wasser. Er schaute sehnsüchtig auf das Blau des Meeres. Dort draußen musste es wunderbar sein. So lieh er sich von einem der Fischer ein Boot und segelte hinaus. Er genoss den frischen Wind, der durch seine Haare fuhr, den Geruch des Wassers, die Sonne auf der Haut. Nach kurzer Zeit kam er an einer Insel vorbei, auf der rote Häuser mit leuchtend blauen Dächern standen. Vom Boot sah es so aus, als hätten sie weder Fenster noch Türen. Neugierig nahm er Kurs auf die Insel. Dort angekommen zog er sein Boot hoch, damit es nicht abgetrieben würde, und sah sich um. Es war niemand da. Prüfend ging er um jedes einzelne Haus. Vielleicht waren die Türen geschickt verborgen und ließen sich nur mit einem Knopf oder ähnlichem aufsperren. Mit der Hand strich er über das Holz, tastete nach einem Spalt. Doch er fand nichts. Nicht ein einziges Anzeichen dafür, dass sich die Häuser öffnen ließen.

 

Kopfschüttelnd setzte er sich ans Ufer und schaute aufs Meer. Vielleicht war draußen jemand, der etwas über die Häuser wusste. Weit und breit war niemand zu sehen. Das Wasser war voller Fische. Im Boot hatte eine Angel gelegen. Die holte sich der junge Mann, hielt sie ins Wasser und ließ seinen Gedanken freien Lauf. So vergingen die Stunden. Doch nicht ein einziger Fisch blieb an seiner Angel hängen.

 

Längst hätte die Dämmerung einsetzen müssen. Doch das tat sie nicht. Seltsam. Die Insel war so voller Gegensätze. Licht, das nicht dunkel und nicht hell war, Häuser, die weder Fenster noch Türen hatten, das Wasser voll von Fischen, und doch biss keiner an. Ein heftiger Wind kam auf, trotzdem blieb das Meer ruhig. Ihn beschlich ein unbehagliches Gefühl. Da fiel ihm ein, dass Mittsommernacht war, die Nacht der heidnischen Bräuche und mystischen Rituale.

 

Er wollte fort, aber etwas Unbestimmtes hielt ihn zurück. Jetzt musste es gegen Mitternacht sein. Plötzlich wurden die Türen sichtbar, die er vergeblich gesucht hatte, und Menschen kamen aus den Häusern. Sie liefen einander entgegen, fielen sich in die Arme, lachten, hielten sich bei den Händen und tanzten. Von irgendwoher hörte man Musik, eine Geige und eine Flöte spielten lebhafte Melodien. Dem jungen Mann fuhr die Musik in die Beine. Am liebsten hätte er mitgetanzt, doch seine Füße gehorchten ihm nicht. Er winkte, die Tänzer schienen ihn nicht zu sehen. Etwas Schemenhaftes kam auf ihn zu. Ein Wesen, halb schwarz, halb weiß. „Wer bist du? Was geschieht hier?“ Da hörte er eine Stimme:

 

Ohne das Licht gibt es auch keine Schatten.

Ohne den Schatten ist nirgendwo Licht.

Niemals zufrieden mit dem, was wir hatten.

Es war so viel, doch es reichte uns nicht.“

 

„Was meinst du damit?“ Das Wesen hielt ihm einen Spiegel hin. Er sah ein Fischerdorf. Boote kamen gerade vollbeladen vom Fang zurück. „Das waren wir früher“, wisperte das Wesen. „Wir wussten nicht zu schätzen, was wir besaßen. Von der Fischerei hätten wir gut leben können. Doch der Profit beim Schmuggel war viel höher. So schmuggelten wir in großem Umfang und dachten nicht mehr an das Fischen. Der Gott des Meeres wurde zornig, weil wir seine Gaben verschmähten. Und in einer Mittsommernacht schickte er eine Flutwelle, die alles Hab und Gut verschlang. Mancher, der sich ein Vermögen erhofft hatte, blieb auf See. Wir hatten nichts mehr, nur noch uns. Dann merkten wir, wie viel das tatsächlich war. Jedes Jahr in der Mittsommernacht erleben wir für ein paar Stunden dieses Glück des Miteinanders. Die übrige Zeit des Jahres sind wir in unseren Häusern gefangen.“

 

„Kann ich euch helfen?“ „Ja, das kannst du. Wenn wir aus den Häusern herauskommen und tanzen, sind die Türen offen. Du musst hineingehen und für uns etwas von Wert suchen, das wir dem Gott des Meeres opfern können. Hast du es gefunden, nimm es an dich und lauf so schnell du kannst, hinaus, bevor die Melodie verstummt und wir zurückkehren. Sonst schließen sich die Türen, und du musst bei uns bleiben.“

 

Der junge Mann sprang auf: „Ja, ich helfe euch.“ „Beeil dich“, drängte das Wesen, „es ist hohe Zeit.“ Er rannte, so schnell er konnte, in das nächste Haus und sah sich um. Es war vollkommen leer. Auch im nächsten Haus war nichts. Im Laufschritt ging es zum dritten, vierten, fünften Haus. Völlig außer Atem lehnte er sich an die Tür. Was sollte er tun? Es blieb nicht mehr viel Zeit. In diesem Moment wehte eine Windbö Sand in das Haus. Er musste husten und rieb sich die Augen. Dabei schaute er zu Boden. Was war das? Da lag eine kleine Muschel in Herzform. Ihr Perlmutt schimmerte wie ein silbernes Licht. Ohne zu zögern griff er das Muschelherz und rannte wie der Blitz aus dem Haus. Am Ufer warf er es in hohem Bogen ins Wasser und rief: „Gott des Meeres, dieses Herz bieten dir die Menschen der Insel als Geschenk. Nimm es bitte an. Etwas Wertvolleres als ein Herz gibt es nicht!“

 

Da erstrahlte das Meer in perlmuttfarbenem Licht und der Meeresgott erhob sich aus den Wellen: „Du hast das Wertvollste gefunden und die Inselbewohner erlöst. Mögen sie fortan wieder als Fischer leben und zufrieden sein mit dem, was das Meer ihnen schenkt. Dir aber, mein junger und doch so weiser Freund, wünsche ich, dass du findest, wonach dein Herz sucht.“

 

Die Sanduhr

 

Immer wieder wachte Aislinn mitten in der Nacht durch einen ihrer Träume auf. Seit sie klein war, sprachen die Traumgeister zu ihr. Ihre Mutter hatte die Sprache der Träume zu deuten gewusst und es die Tochter gelehrt. Nach der Mutter Tod war Aislinn in die Welt gegangen, wie es ihr die Traumgeister geraten hatten. Seit einiger Zeit kam in allen Träumen der gleiche junge Mann vor. Aislinn kannte ihn nicht. Offensichtlich war er auf der Suche. Wonach er suchte, wusste sie nicht. Dazu gab der Traum keine Hinweise. Aber sie spürte seine innere Unruhe. Aislinn verfügte von klein auf wie ihre Mutter über die Fähigkeit, Schwingungen zu spüren und zu fühlen, was in anderen Lebewesen vorging.

 

Sie schloss die Augen und der Traum der letzten Nacht stieg vor ihrem inneren Auge auf. Sie sah sich vor einer großen Sanduhr stehen. Daneben saß ein uralter Zwerg mit langem Bart, der die Uhr immer wieder umdrehte, sobald der Sand durchgerieselt war. Aislinn sah fasziniert zu, wie sich das Gehäuse der Uhr veränderte. Bei einem Sanddurchlauf war es grün wie junges Gras, mit vielen sprießenden Blumen. Bei der nächsten Drehung färbte es sich himmelblau und überall wuchsen Rosen. Nach einer weiteren Drehung nahm das Gehäuse das Aussehen einer riesigen Kornähre an, bevor es übersät war von Eiszapfen. Aislinn stand da und schaute, während der Zwerg unermüdlich drehte. Dabei schaute er sie mit einem unergründlichen Blick über den Rand seiner Brille an und murmelte:

 

Zeit, sie kommt und Zeit, sie geht.

Finde ihn, bevor‘s zu spät.

Die Natur braucht ihren Lauf.

Denn sonst hört das Leben auf.“

 

„Wofür ist es zu spät?“ wollte Aislinn wissen. „Nicht wofür“, entgegnete der Zwerg, „sondern für wen. Er ist auf der Suche. Eile dich, ihn zu finden. Ihm droht Gefahr.“ Aislinn erschrak. Sprach der Zwerg von dem jungen Mann? Sie gestand sich ein, dass sie immer Herzklopfen bekam, wenn sie an ihn dachte. „Du Hüter der Sanduhr, ich weiß nicht, wo ich nach ihm suchen muss. Wie soll ich da zur rechten Zeit kommen? So schnell sind Stunden und Tage dahin. Kannst du nicht die Uhr anhalten?“ „Dazu habe ich nicht die Macht. Die Zeit ist nicht nur für einen da. Sie muss ihre Aufgabe erfüllen und ihr Handeln trifft jeden. Niemand entkommt der Zeit.“ Damit schwieg der Zwerg.

 

Aislinn ging auf die große Sanduhr zu und hob flehentlich die Hände. „Herrscherin der Zeit, ich flehe dich um Hilfe an. Ich bin auf der Suche nach einem jungen Mann. Vor langer Zeit ging er in die Welt und kam nicht zurück. Freilich weiß ich nicht, wo ich ihn finden kann. Doch retten will ich ihn aus der drohenden Gefahr. Was muss ich tun, dass die Zeit mir nicht davonläuft?“ Da begann die große Sanduhr zu leuchten. Ihr Licht fiel auf das Mädchen und eine Stimme erklang: „Der Zwerg spricht die Wahrheit. Der Lauf der Zeit ist die Grundlage des Lebens. Aber du hast ein gutes Herz. Darum will ich dir helfen. Folge immer dem Lauf der Sonne. Von jetzt an wird der Sand ein Jahr nicht weiter rinnen. Doch wisse: Findest du den Jüngling in dieser Zeit nicht, bleibt die Uhr für immer stehen. Es wird keine Jahreszeiten mehr geben, kein Blühen und Wachsen, kein Reifen und Ernten. Die Natur wird sterben.“ „Was wird mit Mensch und Tier geschehen, wenn die Natur stirbt?“, wollte Aislinn wissen. „Auch sie werden nicht mehr leben“, erwiderte die Herrscherin, „es sei denn, du setzt dein Leben gegen das der Natur.“ „So will ich es tun“, versprach Aislinn und verneigte sich. „Habt Dank, edle Herrscherin der Zeit.“ Dann lief sie, so schnell sie ihre Füße trugen, der Sonne entgegen.

 

Sie öffnete die Augen. Ja, genau das war der Traum gewesen. So intensiv, dass sie beinahe glaubte, es sei in Wirklichkeit geschehen. In diesem Augenblick flog eine zierliche kleine Elfe durch die Luft und blieb direkt vor Aislinns Gesicht stehen. Während ihre schillernden Flügel flink schlugen, hielt sie in ihren Händen etwas, das Aislinn nicht zu erkennen vermochte. Sie streckte die Finger nach der Elfe aus. Da drehte diese um, was sie in Händen hielt und Aislinn spürte, wie Sand durch ihre Finger rann. Also war der Traum kein Traum gewesen. „Ich danke dir, liebe Elfe“, rief Aislinn aus und machte sich eilig auf den Weg, in Richtung der Sonne. Nur wenig Schlaf gönnte sie sich. Ihre Nahrung waren wilde Früchte und Beeren.

 

Seit Wochen war sie unterwegs. Bei Wind und Wetter ging sie weiter, trotzte dem Regen und der Kälte. Der Hunger war schon lange ihr Begleiter geworden. Manches Mal war sie kurz davor, aufzugeben. Doch immer, wenn sie der Mut verlassen wollte, kam die kleine Elfe, die ihr den Sand gebracht hatte. Und jedes Mal war so viel Licht um das kleine Wesen, dass Aislinn neue Hoffnung schöpfte. „Nein“, sprach sie zu sich selbst, „ich gebe nicht auf. Ich werde ihn finden.“

 

Wieder war sie seit Tagesanbruch auf den Beinen, als sie die bunten Wagen eines Jahrmarktes sah, die an ihr vorbeirollten. Die ersten lenkten ihre Pferde bereits auf einen großen Platz, um dort Rast zu machen, als ein kleiner grasgrüner Wagen neben ihr anhielt. Eine alte Frau bedeutete ihr aufzusteigen. Aislinn setzte sich neben die Alte und sah sie vorsichtig von der Seite an. Sie sagte nichts und auch die alte Frau sprach nicht. Sie lenkte ihren Wagen wie die anderen zu dem Platz, stellte ihn aber dort etwas abseits. Während die einen Holz und Reisig sammelten, um ein Feuer zu entfachen, kümmerten sich andere um die Pferde, tränkten und füttern sie und rieben sie trocken. Zur gleichen Zeit brachten wieder andere Lebensmittel herbei, um Essen für alle zuzubereiten. Der große Kessel wurde übers Feuer gehängt und bald zog ein wunderbarer Duft durch die Luft.

 

Leise und schüchtern sprach Aislinn die alte Frau an. „Ich bin schon lange unterwegs und müde und hungrig. Darf ich mich euch für kurze Zeit anschließen?“ Der weißhaarige Mann hob den Kopf und sah ihr direkt in die Augen. Er kam Aislinn seltsam vertraut vor: „Verzeiht, wenn ich störe. Es wird wirklich nur kurz sein. Schon länger bin ich auf der Suche nach einem jungen Mann. Ich weiß nicht, wo ich ihn finde, aber ich darf keine Zeit verlieren.“ „Wer sich auf die Suche begibt, weiß nicht die Dauer seines Weges. Erzähle deine Geschichte, Mädchen“, forderte sie der Alte auf, „und sage, wer du bist.“ Und Aislinn begann.

 

Tanguys Fortgehen

 

Tanguy grollte insgeheim vor sich hin. Wieder hatte ihn Oaktree zurechtgewiesen. Tanguy verstand ihn nicht. Was war denn dabei, wenn die jungen Männer herausfinden wollten, wer der Stärkste von ihnen war? Sie hatten ein Wettrennen veranstaltet. Tanguy war der Sieger geworden. Zugegeben, er hatte einen auf die Seite geschoben. Ein anderer war über Tanguys Bein, das im Weg stand, gestolpert. Tanguy konnte hierin jedoch nichts Verwerfliches finden. Für ihn war es wichtig, immer der Erste zu sein. Dafür, so meinte er, waren alle Mittel gerechtfertigt. Hätte er nicht so gehandelt, hätte es ein anderer getan. Oaktree sah das offensichtlich anders. Er hatte Tanguy die Siegerkrone, die sich dieser triumphierend aufsetzen wollte, abgenommen und den Sieg aberkannt. Vor allen anderen.

 

Tanguy fühlte sich gedemütigt. Es war nicht das erste Mal, dass er wütend auf Oaktree war. „Was mischt sich der alte Mann eigentlich ein?“, dachte er wütend. „Soll er doch den jüngeren den Platz überlassen.“ Daher beschloss er, Oaktree zur Rede zu stellen. Er wollte ein für alle Mal klarstellen, dass er sich keine Vorschriften mehr machen ließ. Oaktree sah ihm ruhig entgegen, als Tanguy wütend auf ihn zukam. „Nun, Tanguy, hast du nachgedacht?“ „Es gibt keinen Grund, über irgendetwas nachzudenken. Ich wollte dir nur sagen, dass ich künftig meine Entscheidungen selbst treffe und mir von dir nichts mehr befehlen lasse, alter Mann. Ich habe es satt, immer als kleines Kind behandelt zu werden. Ab sofort bin nur ich allein für mein Leben verantwortlich. Und nur ich allein bestimme, was ich tue.“

 

Oaktree sah ihn nachdenklich an. „Du lebst in unserem Orden. Das heißt, dass du dich genau wie wir alle an Regeln halten musst. Diese Regeln haben ihren Zweck und sie sind gut. Willst du weiter bei uns bleiben, musst du dich in die Gemeinschaft einfügen.“ „Ich denke nicht daran“, schnaubte Tanguy wütend. „Ich lasse mir von niemandem Vorschriften machen.“ „Dann geh und lebe ab jetzt dein Leben außerhalb des Ordens“, entgegnete Oaktree traurig, aber bestimmt. Tanguy funkelte ihn wütend an. „Glaubst du etwa, dein geliebter Maple Knight würde zurückkommen? Wenn du dich da mal nicht irrst.“ Mit diesen Worten drehte er sich abrupt herum und ging seine Sachen holen. Nur wenige Minuten brauchte er, um sein Bündel zu schnüren. Dann kehrte er der Gemeinschaft den Rücken. Der Alte sah ihm nach und in ihm stieg eine unheilvolle Ahnung auf.

 

Das Land der Trolle

 

Auf seinem Weg, den er nun allein ging, zog Tanguy keinen Moment in Erwägung, dass er einen Fehler gemacht haben könnte. Im Gegenteil: Je länger er über alles nachdachte, desto größer wurde seine Wut und sein Zorn auf Oaktree. Noch größer allerdings war sein Groll auf Maple Knight, der, so meinte Tanguy, letztlich die Schuld

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Martina Hörle
Bildmaterialien: Martina Hörle
Cover: Wine van Velzen
Tag der Veröffentlichung: 07.04.2020
ISBN: 978-3-7487-3504-5

Alle Rechte vorbehalten

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