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Kapitel 1

Der feine Nebel bedeckte den Boden und ließ alles um einen herum nur schwach erahnen. Trotz des frühen Herbst war es eiskalt und der Wetterbericht war sprachlos. Mein erster Gedanke, als ich aus dem Fenster des Autos blickte, in dem ich saß war der, dass diese eindeutig ein schlechtes Zeichen war. Einfach ausgedrückt: Mein neues Leben würde eindeutig nicht so verlaufen, wie ich es mir wünschte, auch wenn ich die Kälte liebte. Vielleicht würde es diesen Winter endlich wieder Schnee geben. Wie ich in den letzten drei Jahren die weiße Pracht vermisst hatte, die den Boden und die Häuserdächer bedeckt hatte. Diese Stille, die von ihm ausging und trotzdem faszinierte er jeden, auch wenn er viele Menschen behinderte. Seufzend schloss ich die Augen und lehnte mich tiefer in den Autositz. Die Frau auf dem Beifahrersitz drehte sich zu mir um. „Keine Sorge, Sharon, wir sind bald da“, meinte sie lächelnd, doch ich konnte die Unsicherheit in ihrer Stimme hören. Das war also meine neue Mutter. Mit dem Gedanken musste ich mich erst einmal anfreunden. Zwar schien Marie eine recht nette Person zu sein, aber man wusste ja nie. Der erste Eindruck war immer entscheidend, doch der zweite war viel wichtiger. Denn erst nach und nach begann man wirklich jemanden kennenzulernen. Bis jetzt wusste ich nur sehr wenig von meinen neuen Adoptiveltern, denn die meiste Zeit hatte ich geschwiegen, seitdem ich in diesem Auto saß. Allgemein sprach ich nicht viel mit den meisten Menschen, da ich keine Lust hatte mit ihnen zu diskutieren, wenn wir nicht einer Meinung waren. Und jetzt, wo ich endlich aus diesem schlimmen Waisenhaus herausgekommen war, wollte ich nicht alles wieder verlieren, nur weil ich einen falschen Satz, ein falsches Wort sagte. Also nickte ich nur und schaute weiter aus dem Fenster. Die Landschaftsbilder schossen an mir vorbei und ich sah nun, wie wir an einem Wald vorbeifuhren. „Wenn du etwas wissen willst, dann frag ruhig nach“, drang nun die sanfte Stimme von Charles, meinem neuen Vater an meine Ohren. Ich wandte den Blick von dem Fenster ab und warf dem Fahrer einen kurzen Blick zu. „Wann werde ich in die Schule gehen?“, fragte ich vorsichtig nach, obwohl das nicht wirklich die Frage war, die mir auf der Zunge brannte. „Erst in einer Woche. Wir haben bereits mit der Schulleitung gesprochen, damit du Zeit hast dich hier erst einmal einzugewöhnen“, erklärte mir Marie mit ihrer ruhigen und freundlichen Stimme. „Verstehe“, murmelte ich leise. „Sag mal, Sharon, welche Farbe soll eigentlich dein Zimmer bekommen?“, fragte Charles mich und ich warf ihm einen überraschten Blick zu. Ich war es nicht gewohnt, dass man mich so etwas fragte. Also überlegte ich kurz nach. Meine Lieblingsfarben waren blau, schwarz, blutrot und weiß. „Ein heller Türkiston wäre nicht schlecht. Aber auch nur, wenn Ihnen das nichts ausmacht. Ich will Ihnen keine Umstände bereiten“, erwiderte ich schließlich nach ein paar Minuten. „Ach, du machst uns doch keine Umstände. Wenn du etwas brauchst, dann sag es einfach“, erwiderte Marie beinahe schon erschrocken, dass ich nur daran gedacht hatte. „Magst du Türkis denn?“, fragte sie nach. Ich nickte schwach. „Und vor allem, Sharon, hör auf uns zu siezen“, warf Charles nun ein. „Aber…“, begann ich. „Kein aber! Schließlich sind wir jetzt eine Familie und da siezt man sich nicht“, tadelte mich Marie und ich musste leicht lächeln. „Ist gut“, murmelte ich leise. „Und Sharon, was sind so deine Hobbys?“, fragte Charles nach. „Ähm… ich lese gerne und vor allem zeichne ich für mein Leben gerne“, erklärte ich den beiden. „Was zeichnest du denn so?“, fragte Marie freundlich nach. „Eigentlich alles. Wenn ich etwas sehe, was mir gefällt, dann zeichne ich es. Die meisten ziehen es vor Fotos zu machen, doch ich finde, dass Fotos etwas Kaltes haben. Was ich damit sagen will, ihnen fehlt das Gefühl, das man in diesem Moment hatte, als man es gemacht hat. Niemand weiß, was derjenige gedacht hat, der es gemacht hat. Wenn man etwas zeichnet, dann legt man seine Gefühle in die Zeichnung hinein und versucht den anderen dieses Gefühl zu vermitteln. Das ist ja der Grund, wieso man etwas zeichnet, zumindest, weshalb ich zeichne. Ich finde, dass ein Bild mehr über einen Menschen aussagt als tausend Worte. Denn wenn man redet, dann kann man lügen, doch Bilder können niemals wirklich lügen…“, ich brach ab, „Oh tut mir leid, ich habe einfach losgeredet. Es kann ja sein, dass Sie, ich meine du, eine andere Ansicht vertrittst und ich will dir nicht meine aufzwingen.“ „Nein, ich fand das eine schöne Interpretation“, erwiderte Marie freundlich und ich bemerkte, wie Charles mir einen Blick zuwarf. „Es ist selten, dass Mädchen in deinem Alter eine solche Ansicht vertreten. Die meisten kümmern sich nur um die neusten Stars und die beste Mode. Ich bin mir sicher, dass wir bei dir die richtige Entscheidung getroffen haben“, antwortete er überrascht auf meinen fragenden Blick. Ich spürte, wie ich etwas rot wurde. Es war das erste Mal, dass jemand nicht über mich lachte, wenn ich dieses Argument vorbrachte. „Sag mal, Sharon, hast du dich eigentlich noch nicht gefragt, wieso wir jemanden adoptieren?“, fragte mich plötzlich Marie. Verwirrt schüttelte ich den Kopf. „An so etwas habe ich noch gar nicht gedacht. Ich meine, es kommen ständig Leute, die irgendjemanden adoptieren wollen und irgendwann fragt man sich nicht mehr, was der Grund dafür ist“, erklärte ich ihr. „Verstehe“, erwiderte Marie und ging aber nicht weiter auf das Thema ein. Zwar hatte sie mich jetzt neugierig gemacht, doch etwas in ihrem Blick sagte mir, dass ich sie nicht weiter fragen sollte, also ließ ich das Thema darauf beruhen. Das Auto bog nach rechts und blieb vor einem großen Haus stehen, welches im altmodischen Stil gehalten wurde und daher dieses gewisse etwas ausstrahlte, das mich so faszinierte. Eine Straße weiter stand eine imposante Kirche, die ebenfalls recht altmodisch erschien. Eigentlich interessierte ich mich nicht für Kirchen, doch diese hatte eine völlig andere Ausstrahlung als alle, die ich bis jetzt gesehen hatte. Als ich mich weiter umsah, erkannte ich, dass das Haus, so wie auch die Kirche etwas oberhalb auf einem kleinen Hügel lag. Ich stieg aus dem Auto aus und trat auf die Straße. Mein Blick kehrte zu dem Haus zurück und fiel auf das Namensschild, das an einem Tor angebracht war, das sich in dem kleinen schwarzen Zaun befand, der um das Haus herumging. Crow stand auf dem Schild und mein Blick kehrte zu Charles und Marie zurück. Das war also mein neues zuhause. Irgendwie war dieser Gedanke komisch, doch er gefiel mir. Etwas Wärmendes lag in ihm, was mich beruhigte. Marie öffnete das Törchen und ich folgte ihr den kurzen gepflasterten Weg zur Haustür hinauf. Rechts und links neben mir war grüne Wiese und ein Apfelbaum stand auf der linken Hälfte, der seine riesigen Äste über den gartenabschnitt legte, so als würde er über diesen Ort wachen. Bereits jetzt gefiel mir dieser Platz und einem von meinen neuen Eltern anscheinend auch, denn unter dem Baum war einem weiße Bank angebracht worden, sodass sich die Äste über die Bank erstreckten. Jetzt wo es langsam Herbst wurde, leuchtete das Laub in den hellen Orangetönen und verlieh diesem ganzen einen beruhigenden Anblick. Nur mit viel Überwindung wandte ich meinen Blick von dem Ort ab und folgte Marie zur Tür. Diese war meinem Blick von eben gefolgt und schüttelte leicht den Kopf. „Jetzt sag du mir nicht auch noch, dass dieser Ort etwas erhebendes an sich hätte“, seufzte sie und ehe ich etwas erwähnen konnte, viel ihr Charles ins Wort. „Jetzt hab dich nicht so Marie. Es stimmt doch!“ Ich musste leicht lachen und die beiden sahen mich an, ehe sie auch lachten. „Endlich jemand, der meine Meinung vertritt und mich nicht als verrückt abtut“, lachte Charles und ich nickte. „Nein, aber ich finde auch, dass dieser Ort etwas Anziehendes hat. Man kann den Blick irgendwie nur schwer davon lösen“, stimmte ich ihm zu. „Wo bin ich hier nur gelandet“, murmelte Marie gespielt entsetzt und betrat dann das Haus. Charles und ich tauschten einen Blick, dann folgten wir ihr. „Mach dir nichts draus, Marie ist immer so. sie meint ich übertreibe, wenn ich mal wieder anfange von diesem Baum zu schwärmen. Was ist denn so schlimm daran, wenn man solche Orte mag?“, fragte er mich und ich lächelte nur. „Wer weiß das schon. Darf ich dich etwas fragen?“, fragte ich nach. „Klar, was gibt es?“ „Wer ist hier der Priester?“ Charles bekam daraufhin einen Lachanfall und ich verstand nicht, was er daran so witzig fand. „Oh tut mir leid. Weißt du, Sharon, ich bin der Priester“, erklärte er mir sein Verhalten und ich starrte ihn erschrocken an. „Aber wieso wolltest du das wissen?“ „Ach, mich hat nur die Kirche fasziniert, deshalb“, erklärte ich schnell. Das konnte ja etwas werden. Dabei hatte ich nichts mit Gott am Hut. Ehrlich gesagt glaubte ich nicht einmal daran, dass es etwas Gottähnliches gab und dann war mein neuer Vater doch tatsächlich ein Priester. Das konnte doch nicht wahr sein! „Du glaubst nicht an Gott, oder?“, fragte er nach und ich schüttelte den Kopf. „Hab ich mir schon gedacht. Kaum jemand in deinem Alter interessiert sich für Gott. Es ist schon fast traurig, aber was soll man schon dagegen tun?“, begann er mir vorzujammern. „Mach dir nichts draus, er wird immer so, wenn jemand sagt, dass er nicht an Gott glaubt. Am Anfang hat er mir jedes Mal, wenn wir uns getroffen haben eine Standpauke gehalten“, fiel Marie ihm ins Wort und bugsierte ihn unter Protestrufen in ein anderes Zimmer. „Du glaubst also auch nicht an Gott?“, fragte ich verwundert und folgte ihr. „Nein, ich weiß es ist komisch, dass ich mit einem Priester zusammen bin ohne an Gott zu glauben, aber so ist es nun einmal.“ Schmunzelnd nickte ich und folgte den beiden in einen Raum, der wie eine Küche aussah. „Das ist unsere Küche“, begann Marie zu erklären. Die nächsten zwei Stunden verbrachte sie damit mir das ganze Haus zu zeigen und mir verschiedene Dinge zu erklären. Am meisten faszinierte mich der Keller, der einzig und allein aus einer phänomenalen Bibliothek zu bestehen schien. Jetzt saß ich in meinem neuen Zimmer auf meinem neuen Bett und konnte mein Glück noch gar nicht fassen. Nicht nur, dass ich aus diesem stickigen Waisenhaus herausgekommen war, noch dazu hatte ich eine tolle neue Familie, die eine eigene Bibliothek besaß. Seufzend streckte ich mich und lies mich rückwärts in die Kissen sinken. Es war bereits früher Abend und die untergehende Sonne schickte ihre letzten Sonnenstrahlen durch die Balkontür aus Glas, die in meinem Zimmer war, und tauchte alles in goldenes Licht. Ein langer Seufzer entwich meinen Lippen und ich schloss die Augen. Dann setzte ich mich wieder auf und betrachtete erneut mein neues Zimmer. Es befand sich auf der linken Seite des Hauses und wann man auf den Balkon ging, dann konnte man die Kirche und den dazugehörigen Friedhof sehen, der in diesem Moment in das orange Licht getaucht wurde. Der Balkon befand sich ebenfalls links. Mein Bett stand an der Wand, die hinten war und auf der Nordseite lag. Der Balkon hingegen auf der Westseite. Ein Schreibtisch befand sich rechts von mir und auf ihm stand ein Laptop, der nun mir gehörte. Über dem Schreibtisch befand sich eine Magnetwand, die noch völlig leer war. Mein Kleiderschrank stand neben der Tür, die gegenüber von meinem Bett lag. Noch waren die Wände weiß, doch Marie hatte angeboten, dass wir morgen Farbe kaufen würden, wenn sie mir die Geschäfte und meinen Schulweg zeigte. Jetzt hatte sie mir erst einmal etwas Zeit gelassen, damit ich mich in meinem Zimmer umsehen konnte. Nachdem Charles meine Begeisterung für die Bibliothek gesehen hatte, hatte er noch ein schwarzes Bücherregal in mein Zimmer gehievt und nach dem Abendessen würde ich mit ihm hinunter gehen und mir ein paar der Bücher aussuchen dürfen. „Sharon, Charles, das Essen ist fertig“, rief Marie von unten und ich verließ mein Zimmer. Schnell huschte ich die Treppe in den ersten Stock hinunter, wo ich beinahe gegen Charles knallte und in letzter Sekunde schlitternd stehen blieb. Auch er fing sich ab und wir mussten beide lachen. „Und, wie findest du dein Zimmer?“, fragte mich der Priester und begann die Treppe hinunterzusteigen, die ins Erdgeschoss führte. Die riesige Bibliothek mitgerechnet besaß das Haus vier Stockwerke. Das Erdgeschoss, so sich die Küche, das Esszimmer, ein Badezimmer, der Flur und Charles Arbeitszimmer befanden. Im ersten Stock waren Charles Schlafzimmer, Maries, die beiden schliefen getrennt, da Charles meistens bis spät in die Nacht las und Marie davon ziemlich genervt war, ein weiteres Badezimmer, das Wohnzimmer, welches mich mehr an einen riesigen Saal erinnerte als an ein Zimmer, und zu guter Letzt Maries Computerraum. Marie war von Beruf Computerprogrammiererin und tat das auch in ihrer Freizeit leidenschaftlich gerne, weshalb sie dafür einen ganzen Raum benötigte. Und dann noch der zweite Stock, wo mein Zimmer, eine Terrasse, ein Badezimmer und ein Teeraum lag. Maries Mutter war Japanerin gewesen, weshalb auch Marie sehr viel Wert auf die Teezeremonien legte. Jeden Dienstag trafen sie und ihr Tee Club sich dort um über ihre neuen Teeentdeckungen und solche Dinge zu reden. Ich und Charles betraten das Esszimmer, wo Marie bereits herumwuselte und alle möglichen Dinge hereinbrachte. „Soll ich dir helfen?“, bot ich ihr an, doch sie schüttelte den Kopf. „Schon gut, Sharon, setz du dich schon mal hin“, winkte sie ab, „Und du hilf mir mal Charles!“ Dieser murmelte ein paar Dinge, die ich niemals aus dem Mund eines Priesters erwartet hätte. Kichernd setzte ich mich auf einen Stuhl und sah zu, wie Charles von Marie durch die Gegend kommandiert wurde. „Die Frau hat echt Nerven“, murmelte eben dieser, als er endlich fertig war mit seinem Teil und sich auf den Stuhl neben mir fallen ließ. Ich lachte. „Ach komm schon, sei ein Gentleman!“, erwiderte Marie und setzte sich ebenfalls hin. Das Abendessen verlief recht ruhig, wenn man mal davon absah, dass Marie sich die ganze Zeit wegen irgendetwas bei Charles beschwerte. Nachdem wir fertig gegessen hatten, stand Charles auf. „Komm Sharon, wir gehen in die Bibliothek.“ Ich stand auf und folgte ihm die Treppe hinunter in den riesigen Bibliothekkeller. Erneut staunte ich Löcher in die Luft, als ich die unzähligen Bücherregale sah, die aus dunklem Holz bestanden und jede Reihe hatte ein kleines goldenes Schildchen, dass auf die Kategorie und den Anfangsbuchstaben hinwies. „Sag mal, Charles, du wolltest doch nur so schnell wie möglich von Marie wegkommen, damit du nicht beim Abräumen helfen musst“, zog ich den Priester auf der lachen musste. „Hey, du kennst mich aber schon gut“, stellte er fest. „Ach was, Männer sind doch fast alle gleich“, erwiderte ich. „Vielleicht ist da sogar etwas dran“, stimmte er verlegen zu und ich verschwand zwischen zwei Bücherregalen. Mein Blick huschte über die unzähligen Goldschilder. Plötzlich blieb ich stehen und betrachtete ein dunkelrotes Buch. Vorsichtig zog ich den riesigen Wälzer aus dem Regal und fiel hin, da er schwerer war, als ich vermutet hatte. Eine riesige Staubwolke stieg von dem Buch aus und hüllte mich ein. Ich musste laut husten und Charles kam um die Ecke gerannt. Dann bekam er einen Lachanfall, als er mich auf dem Boden sitzen sah. Zugegeben, ich sah vermutlich gerade ziemlich lächerlich aus. Schließlich saß ich auf dem Boden, einer meiner Zöpfe hatte sich gelöst und ich war über und über mit Staub bedeckt. „Lach nicht. Immerhin kann ich nichts dafür, dass das Buch so staubig ist!“, beschwerte ich mich selbst halb belustigt, halb genervt bei ihm. „Tut mir leid. Welches Buch hast du überhaupt geholt?“, fragte er nach und ich hielt ihm den dicken Wälzer hin. Er zog sich seine Lesebrille auf und nahm mir das Buch ab. „Die Erforschung der Stärke des Geistes“, las er vor, „das Buch habe ich noch nie gelesen. Es gehörte meinem Großvater und ist schon sehr alt. Soweit ich weiß, hat er es sogar geschrieben. Vermutlich ist es deshalb auch sehr schwer zu lesen. Weltweit soll es nur sieben Exemplare geben. Na ja, ich würde es eh nie lesen, als kannst du es gerne haben, wenn du willst“, bot er mir an. „Wirklich? Ich meine, wenn es so selten ist“, warf ich ein. „Mein Großvater sagte einmal zu mir, dass ich es jemanden geben soll, der ihm würdig ist und wehe, wenn ich es unachtsam behandeln würde und einfach verkaufen sollte. Also denke ich, dass er nichts dagegen hätte, wenn du es bekommst“, versicherte mir Charles, „nebenbei bemerkt war er eh etwas seltsam.“ Ich nickte und nachdem ich noch ein paar andere Bücher gefunden hatte, gingen wir wieder nach oben, wo Charles von Marie ausgeschimpft wurde. Mich schickte sie schon einmal nach oben. In meinem Zimmer ordnete ich die Bücher in den Schrank, nur das rote legte ich neben meinen Laptop. Ehe ich es lesen würde, würde ich erst einmal versuchen etwas im Internet darüber herauszufinden. Seufzend ging ich zur Balkontür und öffnete diese. Die kühle Luft kam mir entgegen und ich atmete tief ein. Inzwischen war es stockdunkel und nur die Sterne und der Mond erhellten die Nacht. Ich ging wieder nach drinnen und verließ mein Zimmer. Dann ging ich ins Bad und duschte erst einmal, da der Staub mich immer noch bedeckte. Nachdem ich fertig war, warf ich einen Blick aus dem Badezimmerfenster und mein Blick fiel auf den Apfelbaum, der vom Licht des Vollmonds erhellt wurde. Schnell huschte ich in mein neues Zimmer und setzte mich im Schneidersitz aufs Bett, zusammen mit einem Zeichenblock und einem Bleistift. Gedankenverloren huschte meine Hand über das Papier und meine Gedanken kreisten um den heutigen Tag. Schließlich beendete ich die Schwarzweißzeichnung und legte sie auf den Nachttisch. Mit einem kleinen Lächeln sah ich mich noch einmal in meinem Zimmer um, dann löschte ich die Lampe und kuschelte mich in die Kissen. Das Bild des mondbeschienenen Apfelbaums war also meine erste Zeichnung, die ich hier gemacht hatte. Eine Veränderung lag in der Luft und das wusste ich. Doch jetzt umhüllte mich die Stille der Nacht und ließ alles andere unwichtig erscheinen.

Kapitel 2
Die Sonnenstrahlen kitzelten mein Gesicht und ich öffnete verschlafen die Augen. Wo war ich? Gähnend setzte ich mich auf und dann fiel mir wieder alles ein. Ohne zu zögern kniff ich mir in den Arm um zu überprüfen, dass ich nicht noch träumte. Aber nein, ich war hellwach, wobei, ich war wohl eher halb wach. Mein Blick glitt zu der Uhr, die Marie über mein Bett gehängt hatte und mit einem Schlag war ich hellwach. Wir hatten bereits zwölf Uhr. Wie hatte ich nur so lange schlafen können? Ich war doch schon um elf Uhr ins Bett gegangen. Ich sprang aus dem Bett, verhedderte mich und fiel mit einem lauten Knall auf den Boden. Im gleichen Moment kam Marie ins Zimmer gerannt. „Alles in Ordnung, Sharon?“, fragte sie mich besorgt und ich stand lachend auf. „Ja, mir ist nichts passiert“, versicherte ich ihr und bückte mich um die Bettdecke aufzuheben. „Da bin ich aber erleichtert. Komm schnell runter, ich mache dir noch Frühstück. Charles ist in der Kirche und wenn er dort einmal ist, dann erwarte nicht, dass er sich heute noch einmal blicken lässt“, erwiderte sie und ich nickte. Dann ging Marie wieder nach draußen und ich machte erst einmal mein Bett. Dann huschte ich zu dem riesigen Kleiderschrank aus dunklem Ahornholz. Nachdem ich ihn nach etwas brauchbaren durchwühlt hatte, zog ich einen Rock heraus, der bis zu den Knien ging. Er war dunkelrot und hatte ein Schottenmuster. Dazu zog ich eine schwarze Bluse an, die ich schnell zuknöpfte. Obenrum war sie bereits etwas eng und ich musste leicht aufseufzen. Eigentlich war ich ja froh, dass ich nicht flach wie ein Brett war, doch dadurch passten mir inzwischen fast alle meine Kleider nicht mehr. Dann zog ich mir noch zwei paar schwarze Kniestrümpfe an und schlurfte ins Badezimmer. Zum Glück erinnerte ich mich noch, wo alles war, sodass ich nach kurzer Zeit die Haarbürste gefunden hatte. Ich ließ meine blonden Haare offen, sodass sie glatt über meine Schultern bis zu meiner Hüfte fielen. Dann huschte ich die Wendeltreppe hinunter und kam schließlich nach einer weiteren Treppe im Erdgeschoss an. Dort traf ich bereits auf Marie, die gerade aus der Küche kam und etwas zu suchen schien. „Ah, Sharon. Ich hatte völlig vergessen dich zu fragen, was du essen willst. Willst du Müsli, Brot oder Ei?“, fragte sie nach und kniete sich auf den Boden. „Ähm. Ich hole Müsli, aber Marie, was machst du da?“, fragte ich die junge Frau und bückte mich zu ihr herunter. In diesem Moment ertönte ein lautes HA und ich zuckte zusammen. Marie sprang auf und hielt in ihrer linken Hand einen Stiefel, der anscheinend unter die Kommode gerutscht war. „Hab ich dich endlich“, murmelte sie triumphierend und bemerkte dann meinen skeptischen Blick, „Oh tut mir leid, das kam dir bestimmt komisch vor.“ „Ach was, wenn du wüsstest, was es im Waisenhaus schon alles gab“, winkte ich ab, wobei ich trotzdem ihr Schuhsuchmanöver ziemlich irritierend fand. Zwar stimmte es, dass manche im Waisenhaus seltsamere Dinge gemacht hatten, trotzdem hatte ich so etwas nicht von Marie erwartet, die gerade summend in die Küche lief, wohlgemerkt mit dem Schuh in der Hand. Wollte sie mir etwa Schuhmüsli machen? Kopfschüttelnd folgte ich ihr in die Küche und erst jetzt schien das Computergenie zu bemerken, dass sie immer noch den Stiefel mit sich herum trug. Seufzend drehte sie sich um und huschte an mir vorbei zurück in den Flur, wo sie den Stiefel wieder zu den anderen stellte. Dann ging sie zurück in die Küche und begann etwas aus einem der unzähligen Schränke zu holen. Ehrlich gesagt hatte ich noch nie so viele Schränke in einer Küche gesehen, aber was wunderte mich noch an diesem Haus. Ich setzte mich an den Esszimmertisch, nachdem ich nach einem weiteren skeptischen Blick die Küche verlassen hatte und hoffte, dass Marie nicht immer so durcheinander war, denn sonst wunderte ich mich nicht mehr, wenn plötzlich ein Stiefel oder ein Buch auf meinem Teller lag, anstatt einer Scheibe Toast oder einer Schüssel Salat. Doch schließlich kam Marie mit dem Müsli, welches zumindest einmal so aussah, als wäre es Müsli. Um sie nicht zu kränken probierte ich es und stellte erleichtert fest, dass es auch welches war. „Und wie hast du geschlafen, Sharon?“, fragte sie mich und ich schluckte den Rest in meinem Mund hinunter. „Gut danke“, murmelte ich und aß dann weiter. „Wenn du willst, dann können wir nachdem du fertig gegessen hast losgehen Wenn ich dir alles gezeigt habe, dann können wir etwas essen gehen. Obwohl das hier ein kleines Dorf ist, gibt es hier phänomenales Essen und viel mehr Geschäfte als man denkt“, erklärte mir Marie den heutigen Tagesplan, „Gibt es etwas, was du nicht isst?“ „Ich mag keine Tomaten, aber sonst eigentlich alles“, erwiderte ich nach kurzem Überlegen. „Magst du Sushi?“, fragte sie nach. „Ich hab bis jetzt erst zweimal welches gegessen und das ist schon länger her“, gab ich zurück. „Mein Bruder hat nämlich ein Sushirestaurant und seine Sushi sind einmalig gut. Also wenn du willst können wir dann dort etwas essen“, schlug mir Marie vor.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 08.08.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für Yume und Hiro ^^

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