Mit einem lauten Knall fällt die Tür hinter mir ins Schloss. Heller Sonnenschein erwartet mich. Der Himmel ist strahlend blau und wolkenlos. Ich bleibe stehen und atme tief ein. Die Abgase der Autos, die wenige Meter von mir entfernt vorbeirauschen, dringen in meine Nase, der normale Mief der Großstadt. Dennoch inhaliere ich den Geruch wie ein Lebenselixier. Der Duft der Freiheit, die mich endlich wieder hat. Nach fast sechs Jahren hinter Gittern bin ich endlich wieder draußen. Einen Augenblick lasse ich die Szene einfach nur auf mich wirken, bevor ich mich langsam in Bewegung setze. Keiner der Leute, die an mir vorbeihuschen, würdigt mich auch nur eines einzigen Blickes, die Angst, jeder könnte mir an der Nasenspitze ansehen, dass ich gerade aus dem Knast gekommen bin, scheint vollkommen unbegründet. Die Anonymität der Stadt hat auch etwas Gutes.
Meine Hand umfasst den Zettel in der Jackentasche. Krampfhaft. Darauf steht die Adresse, an die ich mich wenden soll. Die U-Bahnstation ist genau gegenüber, von dort komme ich ans Ziel. Die Geräusche des fließenden Verkehrs klingen unnatürlich laut in meinen Ohren. Dabei habe ich die letzten Jahre nur wenige Meter von der Kreuzung entfernt verbracht. Auch wenn die Fenster vergittert waren, so konnte man sie doch öffnen und ich kenne das stete Rauschen. Dennoch hört es sich nun auf dieser Seite der Mauer ganz anders an. Viel lauter, lebendiger aber auch furchteinflößender.
Umständlich krame ich das Kleingeld aus der Tasche, um mir einen Fahrschein aus dem Automaten zu ziehen. Ganz schön teuer ist das Ticket in der Zeit geworden, in der ich nicht Teil der Gesellschaft sein durfte. Werde ich das jemals wieder sein? Mit einem Mal spüre ich die Einsamkeit erneut, die mich die die ganze Zeit begleitet hat. Ein wenig hatte ich wohl doch darauf gehofft, dass mich jemand abholt. Milena … Ronald … meine Eltern …
Mitten am Vormittag ist die Bahn nur spärlich gefüllt. Ich setze mich auf einen Eckplatz und stelle die Tasche mit meinem Hab und Gut auf meinen Schoß. Es ist schon erbärmlich, wie wenige persönliche Dinge ich bei mir habe. Alles passt locker in eine kleine Sporttasche. Ist das wirklich alles, was auch von meinem Leben übriggeblieben ist?
Die Mienen der Menschen in dem Waggon schwanken zwischen Desinteresse und Langeweile. Niemand interessiert sich für den anderen. Ich sollte froh darüber sein. Wer weiß, wie sie sich verhalten würden, wenn sie wüssten, dass sie neben einem Kerl sitzen, der den Vater seiner Freundin erschlagen hat. Ex-Freundin, denn dass es mit uns als Paar nichts werden kann, war uns beiden zu diesem Zeitpunkt schon klar. Meine Hand zittert, als die Erinnerung an den Moment wieder in meinen Kopf kommt, den Moment, der mich wohl mein ganzes Leben verfolgen wird, der es von Grund auf verändert hat. All die Pläne, die ich hatte, meine Wünsche und Träume, zerplatzten wie eine Seifenblase mit einem einzigen Schlag …
Fast verpasse ich den Bahnhof, an dem ich umsteigen muss. In letzter Sekunde springe ich aus dem Zug, direkt hinter mir schließen sich die Türen und er fährt an. Kopfschüttelnd geht ein alter Mann an mir vorbei. Er mustert mich und murmelt etwas Unverständliches vor sich hin. Mit meiner Tasche über der Schulter springe ich die Treppen zum anderen Bahnsteig hinunter. Der nächste Zug ist schon voller. Man merkt, dass man näher in die City kommt. Wehmut erfasst mich, als ich den Bahnhof passiere, in dessen Nähe ich früher gewohnt habe. Schweren Herzens habe ich zugestimmt, die Wohnung zu kündigen, als ich inhaftiert wurde. Wovon auch sollte ich die Miete bezahlen, für die ich vorher schon jeden Cent zusammenkratzen musste?
Wenig später habe ich mein Ziel erreicht. Ein wenig nervös bleibe ich vor dem imposanten Altbau stehen. Marmorstufen führen zu der breiten Tür, rechts und links flankiert von Skulpturen. Der Knauf an der Tür glänzt golden. Ein Knarren in der Sprechanlage ertönt, bevor sich eine sympathische Stimme meldet. Es summt und die Tür öffnet sich. Der Hausflur ist ähnlich überwältigend wie die äußere Erscheinung. Ich mochte die Bauten um die vorletzte Jahrhundertwende schon immer sehr, besonders wenn sie so gepflegt und hergerichtet sind wie dieser. Ein roter Teppich liegt auf den Stufen, die zu m Hochparterre hinaufführen. Er dämpft die Schritte und auch das leise Quietschen der Dielen, als ich mich auf den Weg in die zweite Etage mache.
„Herr Bergmann, guten Tag, kommen Sie herein.“
Ein erstaunlich junger Typ mit Jeans, einem karierten Hemd und einem Pferdeschwanz erwartet mich an der geöffneten Tür. Freundlich lächelnd begrüßt er mich. Der Händedruck ist angenehm fest, ohne meine Finger zu zerquetschen. Ein seltsames Prickeln breitet sich auf meiner Haut aus, als mir bewusst wird, dass dies der erste freiwillige Körperkontakt seit langem ist, den ich erfahre.
„Clemens Härtel, willkommen. Wir werden in nächster Zeit miteinander zu tun haben.“
Interessiert schaue ich mich in der Wohnung um, als ich durch den langen Flur hinter ihm hergehe. Mein Blick bleibt unwillkürlich an dem festen Hintern hängen, der wohlproportioniert vor mir läuft. Abrupt wende ich mich ab und zwinge mich, stattdessen auf die Bilder zu schauen, die an den Wänden hängen. Es ist eine merkwürdige Mischung aus abstrakter Kunst und offensichtlichen Kinderbildern.
„Setzen Sie sich! Etwas zu trinken?“
Ich schüttle den Kopf, weil ich Angst habe, dass meine Stimme versagt. Es ist unglaublich, wie stark die Eindrücke auf mich wirken. Dabei war ich doch nur ein paar Jahre weg. Wie soll das wohl den Gefangenen gehen, die mehr als die doppelte Zeit fern ab der Realität leben müssen? Vorsichtig stelle ich die Tasche neben dem Stuhl ab, auf den ich mich setze. Trotz meiner Ablehnung stellt mein Gegenüber eine Flasche Wasser und ein Glas vor mir ab.
„Falls du es dir anders überlegst.“
Vom Sie ist er plötzlich ins vertrauliche Du gewechselt und gleich wandelt sich auch die Stimmung zwischen uns. Eine Barriere fällt und ich entspanne mich. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich beinahe aufgehört habe zu atmen, als beim Anblick seines verlängerten Rückens ein wildes Verlangen in mir aufstieg, Zum Leben gehört auch Sex und als Mann von 26 Jahren ist es ganz natürlich daran zu denken, wenn sich die Gelegenheit bietet … Halt, hier bietet sich gar nichts! Ich bin gerade eine knappe Stunde in der Freiheit und sitze Aug in Auge mit meinem Bewährungshelfer. Durch seine Hilfe werde ich hoffentlich wieder Fuß fassen im Leben, denn alles, was vorher war, existiert nicht mehr. Keine Wohnung, keine Arbeit, keine Freunde, keine Familie. Ziemlich viel „keine“ und diese Erkenntnis lässt mich schlucken. Nur mit Mühe unterdrücke ich die Tränen, die sich in meine Augen schleichen wollen. Zitternd greife ich nach der Flasche und gieße das Glas voll. Mit kleinen Schlucken bekomme ich meinen Körper wieder in den Griff.
„Ich bin Clemens. Wenn du nichts dagegen hast, können wir uns duzen. Das macht vieles leichter.“ Ich nicke stumm. Allein die Anrede kann die Distanz schon besser überbrücken, die sich zwischen Menschen bildet. „Einiges konnte ich schon im Vorfeld erreichen, aber ein paar Informationen musst du mir auch noch persönlich geben. Wenn du in der nächsten Zeit irgendwelche Probleme hast, kannst du dich immer an mich wenden.“ Er reicht mir eine Visitenkarte. Unter der offiziellen Nummer stehen noch zwei weitere. „… meine Privatnummern für Notfälle“, sagt er, als er meinen Blick sieht. „Ich vertraue darauf, dass du es nicht ausnutzt. Wenn es wichtig ist, bin ich immer da.“
Aus dem Stapel am Rande des Schreibtisches sucht Clemens einen Ordner heraus und schlägt ihn auf. Nach dem Abgleich der persönlichen Daten beginnt er zu erzählen, was er bereits für mich organisiert hat. Die tiefe Stimme hat einen angenehmen Klang und ich lausche andächtig. Immer wieder drifte ich ab und brauche meine ganze Konzentration, um die Worte auch zu verstehen. Mein Blick haftet erneut auf den vollen Lippen, die geradezu danach schreien, geküsst zu werden. Unruhig rutsche ich auf meinem Sitz hin und her und lenke meine Gedanken auf andere Wege, rufe unangenehme Erinnerungen hervor, um zu verhindern, dass meine Erregung noch weiter steigt. Zum Glück liegt meine Jacke in meinem Schoß und verdeckt das offensichtliche Problem.
„So, damit wäre erst einmal alles gesagt. Wir können dann los. Dein potentieller Arbeitgeber wartet schon auf dich und das Zimmer in der WG steht auch bereit. Wenn du keine weiteren Fragen mehr hast, dann gehen wir jetzt.“
„Wissen sie alle …?“, frage ich leise. Es ist ja nicht so, dass man ein Brandmal auf die Stirn oder auch nur eine Nummer auf den Arm tätowiert bekommt, die einen als Straftäter für alle Zeit markieren, aber dieser Teil meines Lebens ist eine Vergangenheit, die mich nie loslassen wird. Für die meisten Menschen ist es sicher unvorstellbar, mit einem Totschläger gemeinsam zu leben, zu arbeiten oder gar befreundet zu sein.
„Erich Webers Betrieb hat schon einige Male entlassene Strafgefangene eingestellt und ist bisher noch nie enttäuscht worden“, erklärt Clemens mit einem aufmunternden Lächeln. „Ich bin sicher, dir wird es dort gefallen. Erich war von deinen Arbeiten begeistert und er freut sich auf dich.“
Es tut gut zu hören, dass es jemanden gibt, der sich auf mich freut, selbst wenn ich denjenigen noch nicht kenne. Noch schöner wäre es gewesen, wenn wenigstens einer der Menschen, die mir wichtig waren, da wären, doch eigentlich war es schon klar, dass ich allein sein werde. Wie oft hat mich jemand besucht in siebzig Monaten? Meine Mutter ist genau zweimal gekommen und der letzte Besuch liegt auch schon mehr als drei Jahre zurück. Erst auf dem Weg nach draußen fällt mir auf, dass Clemens nichts zu meinen Mitbewohnern gesagt hat. Ich unterdrücke die Frage. Es ändert sowieso nichts daran, dass erst ein Treffen zeigen wird, ob wir miteinander auskommen.
Auf der Straße wendet sich Clemens zu mir. „Hast du etwas dagegen, wenn wir laufen? Mein Auto ist gerade in der Reparatur und es ist nicht besonders weit.“
Ich schüttle den Kopf. Irgendwie scheint meine Stimme in seiner Nähe dauerhaft zu versagen. Stumm trotte ich neben ihm her. Bewegung ist das, was ich im Gefängnis am meisten vermisst habe. Früher bin ich fast jeden Tag mindestens fünf Kilometer gelaufen und dann beschränkte sich mein Raum einen Großteil des Tages auf ein paar Quadratmeter, die ich zeitweise sogar noch teilen musste. Hoffentlich liegt meine neue Wohnung ähnlich günstig wie meine alte, wo der nahe Stadtpark mich jeden Abend zum Laufen angeregt hat. Jetzt würde ich wahrscheinlich auch auf blankem Asphalt laufen, doch auf Sandboden bekommt es den Gelenken einfach besser.
Von der Seite schiele ich immer wieder zu Clemens, der unermüdlich redet. Ich kann mir denken, was er beabsichtigt. Schließlich bin ich nicht der erste Frischentlassene, der sich bei ihm vorstellt, und vermutlich geht es den meisten so, die sich erst einmal wieder an das normale Leben gewöhnen müssen und Angst vor der Zukunft haben. Immerhin habe ich noch eine Zukunft, was man von Milenas Vater nicht behaupten kann. Auch wenn er ein Arschloch war und ich seinen Tod nicht beabsichtigt habe, so war ich doch schuld daran. Clemens Hände gestikulieren wild, zeigen mal hier und mal da hin. Sein Pferdeschwanz wippt und sein häufiges Lachen erhellt auch meine Laune.
In dieser Gegend bin ich früher nur selten gewesen. Rund um den Potsdamer Platz bis hin zum Brandenburger Tor sind viele Touristen unterwegs. Als Berliner verschlägt es einen meist nur mit Besuch von außerhalb an die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Verwundert folge ich Clemens, der plötzlich abbiegt und mitten zwischen den Stelen des Holocaust-Mahnmals entlangläuft. Sein Redeschwall hat aufgehört und er läuft still vor mir her. Als er stehenbleibt, pralle ich auf ihn. Die Säulen um uns herum sind mit jedem Schritt höher geworden. Nun stehen wir an der tiefsten Stelle, es ist ein beklemmendes Gefühl. Hier drin war ich noch nie. Das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“, das vor über zehn Jahren mitten in der Stadt auf einem riesigen Areal eröffnet wurde, hat mich nie interessiert. Am Rand, wenn die Betonblöcke noch so niedrig sind, dass man sich hinsetzen kann, sieht das wellenförmige Feld nicht besonders beeindruckend aus, aber hier unten kann ich mich dem Gefühl der Enge nicht entziehen. Vielleicht ist es auch meine Vergangenheit, die mich einholt. Mein Puls beginnt zu rasen, Schweiß bricht aus. Ich will nur noch raus hier. Unsanft drängle ich mich an Clemens vorbei und gehe dem Licht am Ende der Reihe entgegen. Das Echo der widerhallenden Schritte erinnert mich noch mehr an die Geräusche im Knast, die ich am liebsten schnell vergessen möchte.
„Sorry, ich habe nicht daran gedacht, was dieser Ort für dich bedeuten kann“, sagt Clemens. Seine Stimme erklingt direkt hinter mir, obwohl ich bei meinem Lauf gar nicht bemerkt habe, dass er mir gefolgt ist. Langsam hat sich mein Herzschlag wieder beruhigt und die Beklemmung ist verschwunden. Die Kälte, die mich umfasst hat, ist weg und die Sonne streichelt meine Haut erneut. „Meine Ur-Großeltern waren Juden und sind im KZ gestorben“, erklärt Clemens, während wir langsam weiterlaufen. „Obwohl ich sie nur aus Erzählungen kenne, ist dieser Platz etwas Besonderes für mich und zieht mich magisch an. Sobald ich in der Nähe bin, muss ich hindurchlaufen.“
„Verstehe“, entgegne ich, obwohl ich das eigentlich nicht wirklich tue. Jeder Mensch hat sein eigenes Päckchen zu tragen und mit dem, was viele Menschen im Dritten Reich ertragen mussten, ist mein eigenes Leben ein wahres Honigschlecken. Damals wäre ich vielleicht schon vor der Tat verschleppt worden, nur weil ich Männer liebe.
Die Leichtigkeit zwischen uns ist verschwunden und ich bin froh, als Clemens wenig später durch einen Hauseingang auf den Hinterhof geht, auf dem die Tischlerwerkstatt ist, in der ich zukünftig arbeiten soll. Ich hatte Glück, dass ich im Gefängnis meine Lehre beenden konnte und auch eine passende Arbeit bekommen habe. Viele andere mussten Dinge tun, die weit von ihren normalen Berufen entfernt war.
Der Geruch von Holz, der uns beim Betreten des großen Raumes empfängt, fühlt sich an wie Heimat. Neugierig wandern meine Blicke umher, mustern die Werkzeuge und beobachten die beiden Männer, die in der Ecke stehen und lautstark miteinander diskutieren. Sobald sie uns bemerken, löst sich der Ältere von ihnen und kommt auf uns zu.
„Hallo Clemens“, begrüßt er zunächst meinen Nachbarn, bevor er mir seine Hand entgegenstreckt. „Du musst Gunnar Bergmann sein, richtig? Ich bin Erich, Erich Weber, aber für dich nur Erich.“ Er lacht und legt mir vertrauensvoll den Arm auf die Schulter. Vor Schreck zucke ich ein wenig zurück. Es ist mir peinlich, aber zum Glück geht Erich darüber kommentarlos hinweg. Er tritt einen Schritt zurück und weist mit einer ausholenden Armbewegung durch den Raum. „Das wird dein neues Arbeitsgebiet sein, wenn du willst. Der Torsten dort hinten wird dich gleich ein wenig umherführen, während ich mit Clemens noch Papierkram zu erledigen habe. Wenn alles geklärt ist, kannst du morgen anfangen. Das ist doch bestimmt in deinem Sinne.“
„Auf jeden Fall, vielen Dank!“
Zum Glück habe ich meine Stimme wiedergefunden und mache mich nicht gleich zum Deppen bei meinem neuen Arbeitgeber. Grinsend winkt Erich seinen Lehrling herbei, der mir den ganzen Betrieb zeigt. Da ein Geselle gerade gekündigt hat, ist Erich froh, mich zu bekommen. Anscheinend hat er schon genaue Vorstellungen, was ich machen soll und mit jeder Minute wächst meine Vorfreude darauf, endlich wieder für richtigen Lohn arbeiten zu können. Über Geld haben wir zwar nicht gesprochen und ich erwarte nicht viel, aber mehr als die paar Cent im Gefängnis werden es allemal sein.
Nach der Verabschiedung machen wir uns auf den Weg zu der Wohnung, in der ich nun leben soll. Wenn ich ehrlich bin, habe ich vor der Begegnung mit meinen Mitbewohnern noch mehr Angst als vor der mit den Kollegen und dem Chef. Das Privatleben zu teilen, bedeutet mehr als die Arbeitsstunden. Ein schwuler Ex-Knacki ist bestimmt nicht der Erste auf der Liste bei der Auswahl neuer Mitbewohner.
Mit der Bahn fahren wir zurück in die Gegend meiner früheren Wohnung. Wenn meine WG hier irgendwo ist, kann ich zumindest meine alten Laufstrecken wiederbeleben. Clemens geht sogar zielgerichtet genau auf mein ehemaliges Haus zu. Ein wenig verändert hat es sich schon, es ist neu verputzt und hat nun eine fest verschlossene Haustür mit Klingelanlage.
„Der neue Eigentümer hat neben der Sanierung auch einige Umbauten veranlasst“, erklärt Clemens. „Die kleinen Mittelwohnungen auf den Etagen sind einer Nachbarwohnung zugeschlagen worden. Dort sind nun große Sechs-Zimmer-Wohnungen entstanden, die er bevorzugt an Studenten als WG vermietet. Hier wohnen lauter junge Leute wie du, ich bin mir sicher, dass du dich hier wohlfühlen wirst. Ich hoffe es zumindest. Die eigentliche Überraschung kommt ja noch.“ Nun macht er mich tatsächlich neugierig. Kennt er meine neuen Mitbewohner oder hat er nur mit dem Vermieter verhandelt? Wissen sie von meiner Geschichte? „Wenn es dir nicht gefällt, habe ich in Windeseile eine neue Bleibe für dich“, meint Clemens. Er nimmt einen Schlüssel aus der Tasche und schließt die Tür meiner ehemaligen Wohnung auf. „Wir sind ein bisschen spät dran. Ich muss mich beeilen, wenn ich meine Tochter rechtzeitig aus der Kita abholen will. Meine Frau ist auf einer Dienstreise, da bleibt alles am Papa hängen.“ Er lacht und ich verabschiede mich in Gedanken endgültig von meinen Sex-Fantasien. Wahrscheinlich wird jeder halbwegs ansehnliche Kerl solche Bilder in mir hervorrufen, bis ich den Nachholbedarf an Sex aufgeholt habe. „Schauen wir mal, ob deine Mitbewohner zuhause sind. Eigentlich…“
Als die Tür aufgeht, höre ich Kinderstimmen und Musik. Das verwirrt mich, denn von Kindern in einer WG hört man doch eher selten. Von dem ehemaligen Flur zweigt eine kleine Diele ab, die in die früher getrennte Wohnung führt.
„Da sind sie“, kreischt es plötzlich und ein kleiner Junge kommt angerannt. „Ist er das, Mama? Ist er das?“
Und dann sehe ich sie. Milena steht im Türrahmen. Sie sieht mich an und lächelt unsicher. Der Knirps umschlingt die Beine seiner Mutter und mustert mich aufmerksam aus sicherer Entfernung.
„Hallo Gunnar“, begrüßt mich die einzige Frau, mit der ich mal eine Beziehung versucht habe. Auf meine Weise habe ich sie wirklich geliebt, liebe sie wahrscheinlich immer noch, auch wenn ich mir sicher bin, dass sie mich hasst. Verwirrt blicke ich sie an, kann nicht verstehen, was hier gerade passiert.
Clemens tippt mich an. „Ich bin dann mal weg. Ihr schafft das schon. Ansonsten weißt du, wie du mich erreichst.“ Ohne auf meine Reaktion zu warten, ist er weg. Die Wohnungstür schließt sich hinter ihm und lässt mich mit Milena allein. Mit ihr und dem Jungen, der ihr so ähnlich sieht, dass er unzweifelhaft ihr Sohn ist.
„Ist er das, Mama?“, quengelt der Kleine erneut. Er zerrt an Milenas Bluse, bis sie ihren Blick von mir zu ihm wendet. „Ja, Marko, das ist er … dein Vater.“
Unwillkürlich drehe ich mich um. Wer steht hinter mir? Irgendjemand musst dort sein, sie kann doch unmöglich mich gemeint haben. Aber in meinem Rücken ist nur die Tür und die Wände des Flurs scheinen sich mit einem Mal zu bewegen. Sie kommen näher auf mich zu, engen mich ein, erdrücken mich…
„Ich bin Marko und Mama sagt, dass du mein Papa bist.“ Wie durch einen Nebel dringt die Stimme des Jungen zu mir durch. Breitbeinig steht er direkt vor mir und zieht an meinen Fingern, bis ich ihm direkt ins Gesicht schaue. „Stimmt das? Endlich habe ich auch einen Papa. Dann lachen die anderen Kinder nicht mehr über mich, weil mich mein Papa nie besucht. Du bleibst doch jetzt bei uns, oder? Mama hat gesagt, du wohnst bei uns. Du hast sogar ein eigenes Zimmer.“
Für einen kurzen Moment treffen sich Milenas und mein Blick. Sie zuckt unmerklich mit den Schultern und lächelt. Dann hat mich der Kleine wieder mit Beschlag belegt. Marko, mein Sohn.
Bevor ich mich wehren kann, zerrt er mich hinter sich her und zeigt mir alles. Sein Zimmer, Milenas Zimmer, mein Zimmer, die Küche, das Bad. Nur eine Tür bleibt verschlossen und wird mit keinem Wort erwähnt. Erst nach der Rundtour und nach einem Versprechen, ihm am Abend etwas vorzulesen, entlässt mich der Wirbelwind, damit ich mich mit seiner Mutter unterhalten kann. Murrend zieht er sich in sein Zimmer zurück und beschäftigt sich mit der Holzeisenbahn, die auf dem Boden aufgebaut ist.
„Es tut mir leid, dass du es so erfahren musstest“, meint Milena schließlich.
Wir sitzen uns in der gemütlichen Wohnküche gegenüber und trinken Kaffee. Zum ersten Mal seit Jahren schmeckt Kaffee so, wie ich es liebe. Allein der Geschmack auf der Zunge verwöhnt mich. Mein Blick streift meine Ex-Freundin, die es nicht für nötig befunden hatte, mir überhaupt von ihrer Schwangerschaft zu erzählen und mir nun einen Sohn präsentiert, der bald sieben Jahre alt sein muss. Seltsamerweise habe ich vom ersten Moment an keinen Zweifel, dass er wirklich mein Sohn ist, obwohl wir nur ein paar Mal miteinander geschlafen haben. Das letzte Mal, bevor ich mir endgültig eingestanden habe, dass ich schwul bin, muss es gewesen sein. Damals kannte ich Ronald schon, war verliebt in ihn und habe mich gewundert, dass es überhaupt geklappt hat, mit einer Frau zu schlafen. Mit seinem Bild vor meinem inneren Auge habe ich es getan und mein schlechtes Gewissen meldet sich sofort wieder. Wieso sitzen wir uns hier friedlich gegenüber, nach alldem, was ich Milena angetan habe? Mit einem Mann betrogen, geschwängert und am Ende im Affekt sogar noch ihren Vater geschlagen, der so unglücklich fiel, dass er starb. Was geht noch mehr?
„Ich habe den richtigen Zeitpunkt verpasst“, gibt Milena zu. „Am Anfang wollte ich nichts mit dir zu tun haben. Ich war verletzt und wütend. Aber ich wusste vom ersten Augenblick an, dass ich das Kind haben wollte. Marko ist ein Kind der Liebe, auch wenn es zwischen uns nicht klappen konnte. Das habe ich schließlich eingesehen. Du wolltest, dass es mit uns klappt, aber es ging nicht und gegen einen Mann konnte ich nicht kämpfen.“
Ich schäme mich und bewundere die Ruhe, mit der sie spricht. Das letzte Gespräch, an das ich mich mit ihr erinnere, war das, das zu dem fatalen Unfall führte, und es war alles andere als ruhig, Weder Milena, noch ich oder ihr Vater sprachen ruhig. Die Emotionen kochten hoch und als ihr Vater plötzlich auf seine Tochter losging, verlor ich die Beherrschung. Wenn jemand Strafe verdient hatte, dann ich und nicht Milena. Sie konnte nichts dafür, dass sie sich in den falschen Mann verliebt hatte.
„Marko weiß schon eine ganze Weile, dass du sein Vater bist“, erklärt Milena. „Ich habe ihm auch erklärt, dass du im Gefängnis warst, allerdings nicht warum. Für mich ist es wichtig, dass er weiß, woher er kommt und außerdem war ich mir immer sicher, dass du ein toller Vater sein wirst.“
„Aber dein … dein Vater … was damals geschehen ist …“ Ich ringe nach Worten, weil ich einfach nicht begreifen kann, dass sie mir augenscheinlich verziehen hat. „Du …“
„Es war mein Unfall und er hat verdient, was er bekommen hat“, sagt Milena hart. „Du kennst nur einen Bruchteil unserer Geschichte und neben der Trauer, weil er trotz allem mein Vater war, war auch die Erleichterung zu spüren, dass es vorbei war. Außerdem hast du es nicht mit Absicht getan und hast inzwischen gebüßt.“
Ich kann noch immer nicht glauben, dass wir hier zusammen sitzen. Wie Freunde, die sich lange Zeit nicht gesehen haben. Ich habe einen Sohn. Das ist eine Nachricht, die ich erst einmal verdauen muss. Milena erzählt mir von der Zeit der Schwangerschaft und den Jahren, in denen sie sich allein um den Jungen gekümmert hat. Die brennende Frage, warum sie mich nicht ein einziges Mal besucht hat, um mir wenigstens zu sagen, dass sie ein Kind von mir bekommen hat, stelle ich nicht. Wenn diese Wohngemeinschaft tatsächlich funktionieren soll, dann werde ich es später sicher noch erfahren. Momentan bin ich einfach nur überwältigt.
„Ronald war meine größte Hilfe“, sagt Milena plötzlich und allein die Erwähnung des Namens lässt die Schmetterlinge in meinem Bauch wieder fliegen. Niemand kann wissen, ob aus unserer Beziehung jemals etwas Festes hätte werden können. Wir haben uns Hals über Kopf ineinander verliebt und wollten die Welt umarmen. Doch ich war offiziell noch mit Milena zusammen und musste mich erst einmal trennen, bevor wir offen zueinander stehen konnten. Es ist erst ein paar Jahre her, aber für mich ist es eine Ewigkeit. Es sind Momente aus einem anderen Leben.
„Mein Ronald?“, frage ich mit zittriger Stimme.
„Der Typ, mit dem du mich betrogen hast.“ Milenas Stimme klingt zum ersten Mal hart und verletzt. Doch es dauert nur einen Moment, bis sie wieder locker weiterredet. „Dein Freund wurde zu meinem Freund.“ Sie lacht. „Nicht so, wie du vielleicht denkst. Diese Phase hatte er wohl schon vor dir hinter sich gebracht. Aber nachdem meine Familie nichts mehr mit mir zu tun haben wollte, war es ausgerechnet der Mann, an den ich meinen Freund verloren hatte, der mir zur Seite stand und immer für mich da war.“
Die Gefühle in meinem Innern rotieren. Bevor ich jedoch reagieren kann, trippeln ein paar kleine Füße zu uns und mein Sohn klettert ungefragt auf meinen Schoß. Erstaunlich, wie wenig Berührungsängste er mit einem ihm doch fremden Mann hat. Darüber sollten wir unbedingt einmal reden.
„Du sollst mit mir spielen“, verlangt er energisch. „Ihr habt schon so lange gequatscht. Bald muss ich ins Bett und dann kannst du mir etwas vorlesen. Das hast du versprochen. Was man verspricht, muss man halten, sagt meine Mama immer.“
Kinder verhalten sich meist ohne Zwang. Das tut gut. Auch wenn es mir noch immer schwerfällt zu glauben, dass ich einen Sohn habe. Milena scheucht uns ins Kinderzimmer. Sie wird den Abendbrottisch decken und uns dann rufen. Ich bin ein wenig unsicher. Viel Erfahrung mit Kindern habe ich nicht und meine Vorbereitungszeit war null. Doch Marko macht es mir leicht. Er erklärt genau, was er von mir will und in kurzer Zeit sind wir mitten drin in unserem Rollenspiel. Es ist beinahe schade, als seine Mutter uns zum Essen ruft.
Am Tisch sitzen wir zu dritt wie eine richtige kleine Familie. Mein Magen knurrt plötzlich und zeigt mir, dass sich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen habe. Das hier ist meine erste Mahlzeit in Freiheit, eine ganz besondere in mehrfacher Hinsicht. Marko erzählt mir von der Schule und einer Aufführung dort, an der er teilnehmen wird. Er nimmt mir das Versprechen ab mitzukommen, obwohl ich nicht genau verstehe, was er dort macht, sage ich natürlich zu.
Nach dem Zähneputzen muss ich vorlesen. Mehr als eine halbe Stunde lese ich aus einem Buch mit Drachen, Hexen und allerlei anderer Fabelwesen. Marko hängt gebannt an meinen Lippen und selbst mir gefällt die Geschichte. Erst als Milena ein Machtwort spricht, höre ich auf und muss schwören, morgen weiter zu lesen. Das tue ich gern.
Als ich schließlich endlich in meinem Zimmer bin, flackern die Szenen des Tages noch einmal an mir vorbei. Gestern noch habe ich auf meiner harten Pritsche gelegen und geschwankt zwischen der Vorfreude und der Angst vor dem Leben draußen. Und jetzt? Jetzt liege ich in einem breiten Bett, das nach Weichspüler riecht, und starre an die Decke. Nebenan schläft ein kleiner Junge, der mein Sohn ist, und seine Mutter, die mich wie selbstverständlich als Freund aufgenommen hat, obwohl ich in der Vergangenheit so viel Unheil über sie gebracht habe.
Es klopft. Erst leise, dann etwas lauter.
„Komm herein“, rufe ich in der Erwartung, dass Milenas Kopf gleich im Türrahmen erscheint. Doch das, was ich dann sehe, übertrifft alle Erwartungen. Ronald. Schon als der Spalt der Tür breiter wird und ich noch gar nichts sehe, weiß ich instinktiv, dass er es ist. Ich nehme ihn mit allen Sinnen wahr, die mir zur Verfügung stehen. Ich rieche ihn. Der Duft, den ich solange nicht mehr riechen durfte, erreicht meine Nase und sofort steht mein Körper in Flammen. Gänsehaut breitet sich überall aus, als ich aus dem Bett springe und ihn ansehe. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit stehe ich dem Mann gegenüber, in den ich mich vom ersten Augenblick an verliebt habe. Im Grunde habe ich nicht damit gerechnet, ihn jemals wieder zu sehen. Kein Besuch, kein Brief, keine Nachricht haben mich im Gefängnis erreicht. Nun steht er hier, in Lebensgröße und augenscheinlich genauso aufgeregt wie ich bin. Leise schließt er die Tür und lehnt sich mit dem Rücken daran.
„Hallo Kleiner“, ruft er leise und der Klang seiner Stimme, die meinen Spitznamen ausspricht, lässt mich erschauern. Er ist nur ein paar Zentimeter größer als ich, aber den Namen hatte ich am ersten Abend schon weg. Die braunen Locken sind etwas kürzer als früher, aber ganz gebändigt hat er sie noch immer nicht. Die Zeit hat es gut mit ihm gemeint, er sieht noch besser aus als in meiner Erinnerung. Kein einziges Foto hatte ich von meiner großen Liebe und doch kommen mir sofort alle Details seines Körpers wieder in den Sinn. Die kleine Zahnlücke, mit der er immer spielt, wenn er nervös ist. Das Muttermal neben dem Schlüsselbein, das immer ein wenig nach Knutschfleck aussah. „Schön, dass du wieder da bist.“
Die Sekunden des Wiedersehens, die kleine Pause, die brauchten wir anscheinend beide, doch nun gibt es kein Halten mehr. Mit einem großen Schritt bin ich bei ihm und presse mich an ihn. Unsere Lippen treffen sich zu einem Kuss, der all die Sehnsucht und das Verlangen ausdrückt, das wir beide empfinden. Jahre, die vergangen sind, bedeuten nichts und die Welt scheint still zu stehen. Es gibt nur uns, mich und ihn, zwei Liebende, die endlich wieder zueinander gefunden haben. Viele Fragen bleiben in diesem Moment ungestellt, zu groß ist das Verlangen nacheinander. Ich will ihn spüren, merke endlich, wie das Leben wieder in meinen Körper hineinfließt und ich weiß, dass nun alles wieder gut wird. Warum ich die ganze Zeit nicht ein Wort von ihm gehört habe, weshalb er nicht wenigstens geschrieben hat, all das ist nebensächlich, denn jetzt ist er da, bei mir.
Ronalds Hände legen sich in meinen Nacken und streicheln mich zärtlich, während seine Lippen mein Gesicht liebkosen. Ungeduldig schiebt er mich zum Bett, schon auf dem Weg verlieren wir unsere Shirts. Hektisch fummele ich an seiner Hose herum, froh darüber, dass Ronald mich schnell uns sicher aus meiner eigenen quälenden Enge befreit. Wir legen uns seitlich gegenüber und betrachten uns. Mit einem Mal ist die Eile verschwunden. Ohne Worte sind wir uns einig. Ich lasse meinen Finger über Ronalds Seite wandern und beobachte die Gänsehaut, die sich an jeder Stelle bildet, die ich berühre. Er malt kleine Kreise auf meinen Bauch, vielleicht sind es sogar Herzen, ich weiß es nicht. Wir sollten reden, doch im Moment helfen keine Worte, nur Berührungen und Nähe. Zärtliche Küsse, sanfte Streicheleinheiten, das Meer der Gefühle bricht wie eine tosende Flutwelle über mich herein. Sehnsucht und Zweifel mischen sich mit Liebe und Gewissheit. Ich habe keine Ahnung, wie mein Leben in Freiheit von hier an werden wird. Aber ich glaube fest daran, dass es wunderbar wird, denn die beiden wichtigsten Menschen meines Lebens, die ich verloren geglaubt hatte, sind wieder bei mir und haben sogar noch ein Geschenk mitgebracht, Marko, meinen Sohn.
„Ich liebe dich, Gunnar. Kannst du mir verzeihen, dass ich mich nie bei dir gemeldet habe?“ Ich lege meine Hand auf die meines Freundes, die uns beide umfasst und langsam dem Höhepunkt entgegentreibt. Gemeinsam erhöhen wir den Rhythmus bis zur Erlösung. „Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben“, gebe ich zu. Irgendwann will ich es wissen, was ihn dazu gebracht hat, so lange zu schweigen, aber nicht jetzt. In diesem Augenblick ist es nur wichtig, dass er da ist.
Texte: Mia Grieg
Bildmaterialien: pixabay / Covergestaltung: Caro Sodar
Tag der Veröffentlichung: 26.04.2016
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