Abschied und Aufbruch
Es war ein sonniger Maimorgen, im Schulgarten standen Apfelbäume in voller Blüte. Da sollte man woanders sein als in einem muffigen Schulzimmer.
Sarah saß an ihrem Pult in der siebten Reihe, die Hände brav übereinander gelegt, und starrte ihre Lehrerin an, ohne sie richtig zu sehen. Sarah langweilte sich nicht nur wegen der Geographiestunde. Noch endlose sechs Wochen bis zu den Ferien. Wie sollte sie das nur aushalten?
Frau Esser schaute wie immer hilflos umher. Die Schüler machten alle, was sie wollten. Da wurde geredet, mit den Handys hantiert. Zwei Jungen spielten sogar Karten. Frau Esser hatte es noch nie geschafft, so etwas wie Disziplin herzustellen.
Jetzt sagte sie in erhobenem Ton: „Seid doch endlich einmal still! Nehmt euch ein Beispiel an Sarah. Seht mal, wie ruhig sie da sitzt!“
Sarah presste die Lippen zusammen. Das fehlte ihr noch, hier als Musterschülerin hingestellt zu werden. Sie galt ohnehin als Außenseiter, hatte kaum Freunde. Kein Wunder, wenn man alle paar Klassen die Schule wechselte, weil der Beruf des Vaters dies verlangte.
Noch ehe Sarah der Mittelpunkt des Interesses werden konnte, erste spitze Bemerkungen klangen schon auf, öffnete sich die Klassentür. Eine ältere Schülerin übertönte den Lärm:
„Sarah Wegner bitte zur Frau Direktor!“
Eine Vorladung so kurz vor den Zeugnissen verhieß nichts Gutes. Mit rotem Kopf stand Sarah auf.
„Du sollst deine Sachen mitnehmen“, sagte das Mädchen, „alle.“ Plötzlich war es ganz still in der Klasse. Alle sahen zu, wie Sarah ihre Bücher und allerlei Krimskrams in ihren Rucksack steckte. Es erschien ihr wie eine Ewigkeit, bis sie endlich den Klassenraum durchquert hatte und die Tür hinter ihr zufiel. Die ältere Schülerin sagte – leicht mitleidig -: „Du kennst ja den Weg!“, und verschwand um eine Ecke.
Vor dem ‚Allerheiligsten’ zögerte Sarah kurz. Auf der Tür stand lediglich ‚Büro’. Sie klopfte und öffnete. Frau Direktor Stark saß hinter ihrem wuchtigen Schreibtisch.
„Ach, Sarah, richtig. Komm und setz dich her.“ Das klang freundlich. Also vielleicht doch nicht die Zensuren, obwohl sich Sarah keiner Schuld bewusst war. Sie lernte leicht und hatte kaum Schwierigkeiten in ihren Lieblingsfächern. Das, was sie nicht besonders interessierte, ließ sie gerne links liegen, aber nie so, dass eine schlechte Note ihr Zeugnis verderben könnte.
Sie nahm Platz. Der Stuhl war hart mit steifer Lehne, sicher für arme Sünder gedacht. Die Direktorin legte die Fingerspitzen gegeneinander.
„Das, was ich dir jetzt sagen muss, ist nicht sehr erfreulich, Sarah. Dein Vater hatte einen Unfall.“
Sarah fühlte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.
Frau Stark hob die Hand. „Nichts Lebensgefährliches, wirklich, aber ein komplizierter Beinbruch, der wohl mehrfach operiert werden muss.“
Sarah atmete bewusst langsam ein und aus. Ein Beinbruch! Das klang nicht so schlimm. Kompliziert und mehrere Operationen, das war schon ernster.
„Wie ist es passiert?“ Sie wunderte sich über ihre Stimme. Die Direktorin klang erleichtert, weil Sarah die Nachricht so ruhig aufgenommen hatte.
„Ein Unfall auf der Baustelle, er ist irgendwo runtergefallen, und da ist es dann passiert. Man hat gleich hier angerufen. Dein Vater ist im Joseph-Hospital. Du sollst dorthin kommen. Ja, und dein Onkel ist unten und wartet auf dich.“
Sarah atmete auf. Hatte sie die ganze Zeit die Luft angehalten? Onkel Ju war da und brachte sie zu Paps. Das war gut . Frau Stark redete weiter, doch Sarah hörte nicht mehr zu. In ihrem Kopf drehte sich alles. Konnte sie jetzt endlich gehen?
„Sarah, hast du gehört, was ich gesagt habe?“
Schuldbewusst hob Sarah den Kopf. Die Schulleiterin lächelte mitleidig. „Ich habe gesagt, du sollst deine Sachen mitnehmen, weil du ja nicht mehr an diese Schule zurückkehrst.“
Pause! Sarah war sprachlos und hätte auch nicht gewusst, was sie darauf erwidern sollte.
„Wegen der plötzlichen Krankheit deines Vaters muss ein Arrangement getroffen werden, wo du in dieser Zeit bleiben kannst. Es sind nur noch wenige Wochen bis zu den Ferien. Deine Noten sind so gut, dass du diese Schulstunden ruhig versäumen kannst. Wichtige Arbeiten fallen nicht mehr an. Das Zeugnis wird dir dann zugeschickt. Dein Vater hat uns schon vor einiger Zeit mitgeteilt, dass du ab Herbst in eine andere Schule gehen wirst, wie du ja sicher weißt.“
Wissen? Sie wusste gar nichts. Es war mehr als ungewöhnlich, dass der Vater sie in seine Pläne nicht einbezog. Wann hatte er das beschlossen? Und jetzt war er krank, sehr krank sogar. Was sollte das bedeuten? Ein Arrangement, wo sie während seiner Krankheit bleiben sollte? Onkel Ju! Er würde alles wissen. Sie blickte fragend hoch. „Kann ich jetzt?“
„Natürlich, du willst zu deinem Vater und das schnell. Dein Onkel wartet in der Halle.“
Die freundliche Verabschiedung, ‚Alles Gute’ und so weiter glitten an Sarah ab wie Wasser von einem Vogelkleid. Sie fand sich vor der Bürotür wieder, den Rucksack über der Schulter. Leere, seltsam stille Gänge! Eine Schule zwischen den Pausen. Sie hastete die große Treppe zur Eingangshalle hinab, konnte niemanden sehen. Wo steckte Onkel Ju? Da, die Sitzecke! Dort war er.
Julius Wegner war ein breitschultriger, leicht übergewichtiger Mann mit freundlichen Lachfalten. Sein Haar war angegraut, wie Sarah überrascht bemerkte. Sie hatte ihn lange nicht gesehen und sich über sein Alter noch nie Gedanken gemacht. Er war eben Onkel Ju, ihr Lieblingsonkel. Sie hatte zwar keine anderen Onkel, aber wenn sie welche gehabt hätte, wäre Onkel Ju auch dann ihr Lieblingsonkel gewesen. Davon war sie fest überzeugt. Er weigerte sich konsequent, Julius ge-nannt zu werden, so schrecklich fand er den Namen. Nur seine Frau nannte ihn so, natürlich Tante Jutta, was konnte man von der schon erwarten. Für alle anderen war er einfach ‚Ju’.
So weit war Sarah in ihren Gedankenblitzen gekommen, da fühlte sie sich auch schon in eine bärenartige Umarmung gezwängt, die ihr die Luft aus den Lungen presste.
„Kind, Kind, da bist du ja. Komm bloß schnell hier raus! Ich hasse Schulen heute noch genauso wie damals. Und sie riechen alle gleich, nämlich fürchterlich.“
Er nahm ihr den Rucksack ab, der wegen der vielen Bücher wirklich sehr schwer war. Kurz darauf saßen sie in seinem alten Mercedes. Sarah kuschelte sich in ihren Sitz, während der Onkel ihr von Vaters Unfall berichtete.
„Und das ist alles, was ich weiß. Dein Paps wird dir das genauer erzählen können, da bin ich sicher.“
Die sonst mit der Bahn einstündige Fahrt ging im Auto schneller vorüber, zumal um diese Vormittagsstunde wenig Verkehr herrschte. Onkel Ju wurde merkwürdig einsilbig, als Sarah sich nach weiteren Plänen erkundigte.
„Das wird dir alles dein Vater sagen!“
Und damit musste sie sich vorerst zufriedengeben.
Zu Beginn dieses denkwürdigen Sommers war Sarah zwölf Jahre jung und würde im Juli ihren dreizehnten Geburtstag feiern. Paps plante eine große Party. Sarah solle all ihre Freunde einladen, hatte er gesagt. Na, so viele würden das wohl nicht sein. Sarahs Vater war ein gesuchter Architekt. Wenn er Großbaustellen übernahm, die weit entfernt vom derzeitigen Wohnort lagen und solche übernahm er immer, zog er lieber gleich um in die neue Stadt. So kam es, dass Sarah zwar viele Städte und Wohnungen kennengelernt hatte, aber eigentlich keine Freunde besaß. Man hatte sich mit einigen Klassenkameraden ganz gut verstanden, schrieb sich nach dem Umzug noch einige Male, dann schlief der Kontakt meistens ein. Was jetzt nach Vaters Unfall aus der Geburtstagsparty werden würde, stand in den Sternen.
Sarah betrat den Besucherfahrstuhl des Krankenhauses. Onkel Ju war unten geblieben.
„Ich trinke einen Kaffee im Restaurant. Weißt du, Krankenhäuser hasse ich genauso wie Schulen.“
Sarah konnte sich alleine zurechtfinden. Sie betrachtete sich im Spiegel , der eine Seite des Lifts einnahm. Da gab es nichts Besonderes zu sehen. Ein Schulmädchen in der üblichen Montur, nämlich Pulli und Jeans. Dunkle, halblange Haare, Gesicht durchschnittlich, das fand sie jedenfalls. Was ihr Sorgen machte, waren der kräftige Körperbau und die breiten Schultern. Sarah war nicht dick, würde aber niemals zart und zierlich wirken. Und das war ihr geheimer Kummer. Wie gerne hätte sie ausgesehen wie die anderen Mädchen aus ihrer Klasse. Die machten sich zurecht, schminkten sich und sahen aus wie sechzehn. Sarah wusste, das konnte sie nicht, und deshalb ließ sie es besser gleich sein. Sie schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse.
„Sarah, du hast ja jetzt wohl andere Sorgen.“
Der Fahrstuhl hielt im dritten Stock. ‚Chirurgie’! Sie betrat den Flur und ging los. Onkel Ju hatte ihr die Zimmernummer genannt. Sie hörte die Stimmen schon am Ende des Ganges: tief und leise die ihres Vaters. Was für ein Glück, er konnte reden. Daneben eine kräftige Frauenstimme, die ihr unbekannt war. Sarah zögerte. Die Tür zum Zimmer 297 stand offen. Ihr Vater hatte tatsächlich Besuch. Empörung stieg in ihr hoch. Sie wollte jetzt zu ihrem Vater, ihn alleine sehen, alles hören, was passiert war. Was tat ausgerechnet jetzt eine fremde Frau bei ihm? Wer war das? Eine Krankenschwester?
„Es ist gut, dass du mich gerufen hast“, sagte die fremde Stimme. „Aber ich wäre sowieso gekommen. Ich war ja schon in der Stadt.“
„Ich weiß“, sagte ihr Vater müde.
„Vergiss nicht, was du versprochen hast!“ Wieder die Frau.
Sarahs Vater sagte: „Ein erzwungenes Versprechen ist keines.“
„Unsinn!“ Die Frau war ärgerlich. „Es ist die Zeit. Sie wird dreizehn. Du wusstest, dass die Zeit kommen würde.“
Sarah stand ungesehen hinter der Tür. Sie sprachen ohne Zweifel von ihr. Was ging hier vor?
„Und mein kleiner Unfall kam dir gerade recht, wie?“
„Willst du etwa sagen, ich hätte etwas damit zu tun?“
Die Fremde schien wütend.
„Natürlich nicht!“ Paul Wegner beschwichtigte, klang aber nicht überzeugt. Sonderbar, was man aus Stimmen heraushören konnte, wenn keine Gesichter dahinter standen. Sarah hielt es für angebracht, sich bemerkbar zu machen. Sie hüstelte und pochte mit einem Finger an den Türrahmen. Dann trat sie ins Zimmer.
Ihr Vater lag in einem Bett, unter der Decke über dem rechten Bein ein dicker Wulst aus Wäsche, sicherlich Verbände. Er war blass. In seinem Gesicht traten scharfe Linien hervor, die Sarah bisher nie aufgefallen waren. Bestimmt hatte er starke Schmerzen.
„Sarah!“ Er freute sich. Sie eilte an seine Seite und küsste ihn zaghaft auf die Wange.
„Paps, was machst du nur für Sachen?“
„Tja, man sollte eben nicht rückwärts treten, ohne sich vorher umzudrehen“, scherzte er. Sarah wollte ihn mit Fragen bestürmen, aber er winkte ab.
„Später“, sagte er „Zuerst möchte ich dir deine Kusine Molly vorstellen.“
Widerwillig drehte sie sich um. Die Frau, die den Vater eben so aufgeregt hatte, wollte sie am liebsten gar nicht sehen.
Diese Molly saß auf einem der wackligen Krankenhausstühle. Selbst im Sitzen sah man ihr an, dass sie groß war. Dunkle kurze Haare, ein rundliches Gesicht mit deutlich spitzem Kinn und lebhafte, fast schwarze Augen, die Sarah durchdringend, fast gierig musterten. Auffallend war eine große Warze auf ihrer rechten Wange. Sarah musste sich beherrschen, nicht nur auf dieses dunkle Ding zu starren. Ihr Vater hätte sie deswegen streng getadelt. So etwas ‚tat man nicht’.
Sarah fand Molly auf Anhieb unsympathisch. Sie konnte nicht sagen, warum. Aber ein dumpfes Gefühl in ihrem Bauch, so etwas wie Angst, sagte ihr, dass sie die Begegnung mit dieser Frau später noch oft verfluchen würde. Stattdessen fragte sie: „Kusine? Ich wusste nicht, dass wir außer Onkel Ju und seiner Familie noch Verwandte haben.“
„Ich bin eine Kusine deiner Mutter, also deine Großkusine“, sagte die Frau.
Sarah schluckte. Ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben. Sie wusste nicht viel von ihr. Es existierte nur ein einziges unscharfes Foto, das eine junge, sehr hellhaarige Frau bei einem Fest zeigte. Sie lächelte und winkte mit einer Hand, wohl zu dem Fotografen. Und jetzt sollte es plötzlich Verwandte dieser unbekannten Mutter geben. Fragend blickte Sarah zu ihrem Vater. Der nickte und quälte sich ein Lächeln ab.
„Ich kenne Molly schon seit dreizehn Jahren.“
„Aber ich habe sie nie vorher gesehen und auch nichts von ihr gehört.“ Sarah hörte selbst, wie abwehrend ihre Stimme klang.
„Nun, ich habe mich zwischendurch immer wieder erkundigt, wie es dir geht“, lächelte Molly. „Jetzt lasse ich euch mal lieber allein. Ihr habt euch sicher viel zu sagen.“
Sprach’s und erhob sich. Sie war wirklich so groß wie erwartet.
„Wo ist Ju? In der Cafeteria?“
Sarah nickte, und Molly sagte: „Na, dann gehe ich mal alte Bekanntschaften auffrischen.“
Als sie draußen war, atmete Sarah erleichtert auf. Gut, dass die fort war. Aber gleich fragte sie:
„Was, Onkel Ju kennt sie auch?“
Ihr Vater nickte. „Er hat uns doch damals aus Altenbergen abgeholt. Du warst noch ein winziges Baby.“
Altenbergen? Kusine Molly? Sarah sagte ratlos:
„Warum weiß ich davon nichts? Nie hat mir einer etwas gesagt, weder über meine Mutter noch über diese komische Molly. Was will die hier überhaupt?“
Paul Wegners Stimme klang gepresst.
„Sie wird dich mitnehmen, Sarah. Du musst bei ihr bleiben, bis ich wieder in Ordnung bin. Der Unfall hat unsere geplanten Ferien und alles andere durcheinandergebracht. Du kannst ja nicht alleine bleiben, jemand muss für dich sorgen.“
Sarah stand wie erstarrt. Das also war das getroffene Arrangement. Alles, ohne sie zu fragen.
„Du willst, dass ich bei einer fremden Frau bleibe, bis du wieder gesund bist? Warum bei ihr? Warum kann ich nicht zu Onkel Ju? Er ist schließlich mein Patenonkel. Und Paten müssen im Notfall helfen.“
Paps Mundwinkel zuckten. „Ich wusste gar nicht, dass du auf so etwas Wert legst. Aber du weißt, zu Onkel Ju kannst du nicht.“
Sarah blickte zu Boden. Er hatte ja recht. Die Stadtwohnung des Onkels war beengt. Außerdem gab es dort die neunjährigen Zwillinge Thomas und Steffen, eine wahre Landplage, und nicht zuletzt Tante Jutta. Sie und Sarah verband eine lebhafte Abneigung. Es gab kein Zusammentreffen ohne Streit. Der Vater wartete, bis sie diese Informationen verarbeitet hatte.
„Außerdem ist Molly auch so eine Art Patin von dir. Sie hat deiner Mutter beigestanden und dich einige Zeit bei sich behalten, als du noch klein warst.“
Sarah atmete durch, dann legte sie los: „Es tut mir furchtbar leid, dass du dir das Bein gebrochen und große Schmerzen hast. Es tut mir leid, dass ich erst heute erfahren habe, meine jetzige Schule ist out, und ich gehe ab Herbst woanders hin, obwohl ich gar nichts davon wusste.“
Zuckte ihr Vater jetzt schuldbewusst zusammen? Je länger sie sprach, desto wütender wurde Sarah.
„Jetzt soll ich zu einer vollkommen fremden Frau, die du angeblich kennst, und von der ich noch nie gehört habe. Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein.“
Bevor ihr Vater antworten konnte, - er war blass und die Sache war ihm sichtlich unangenehm -, ertönte von der Tür her eine tiefe Stimme: „Sarah, Schluss jetzt!“
Onkel Ju! Sie drehte sich um. Er sah sehr böse aus. So kannte sie ihren Lieblingsonkel bisher nicht. Folgsam ging sie mit hinaus. Der Onkel führte sie zu einem der riesigen Fenster und drückte sie auf die Bank.
„So, mein Fräulein, jetzt ist es genug. Ich höre immer nur von dir: ‚Ich, ich, ich!’ Hast du dabei eine Sekunde lang an deinen Vater gedacht? Er hat schlimme Schmerzen und obwohl er es sich nicht anmerken lässt bestimmt auch Angst, ob sein Bein je wieder in Ordnung kommt. Ich habe mit dem Oberarzt gesprochen. Dein Vater wird morgen das erste Mal operiert. Knochen sind gesplittert, und es gibt wahrscheinlich noch zwei weitere Operationen. Danach muss er in eine Reha-Klinik und wieder laufen lernen. Kannst du dir das vorstellen? Aber alles, was du sagst, ist: ‚Wie kannst du mich zu dieser Frau geben?’“ Zuletzt hatte er sie an den Schultern gefasst und leicht geschüttelt. Sarah war den Tränen nahe.
„Es ist doch nur …, - er hat mir gar nichts gesagt, mich einfach vor vollendete Tatsachen gestellt. Und diese Molly …“
„Molly“, sagte Onkel Ju ruhig, „ist eine patente Frau. Sie hat sich angeboten, in dieser Situation zu helfen. Dein Vater und auch ich sind dankbar dafür.“
„Ich mag sie nicht“, stieß Sarah hervor. „Sie ist so …“
Ihr fehlten die Worte. Sie wusste ihr tiefes Unbehagen nicht auszudrücken. Unheimlich – wäre das rechte Wort gewesen, aber da hätte ihr Onkel nur gelacht.
„Du kennst sie doch gar nicht“, wandte Ju ein. „Glaub mir, sie wird sich rührend um dich kümmern. Sarah! Wir wollen nur dein Bestes. Immer! Doch dies hier ist eine Notsituation. Glaube mir, du bist in Altenbergen gut aufgehoben.“
„Wo liegt das überhaupt?“, fragte Sarah mürrisch.
„Ganz im Süden, schon gebirgig. Ein idyllischer kleiner Ort direkt am Rand eines der letzten Urwälder, die wir in Europa noch haben.“
Der Onkel schwärmte weiter. Sarah hörte nicht mehr zu. Was interessierte sie diese Idylle? Sie würde dort viele Wochen verbringen müssen und kannte niemanden. Allein die Vorstellung machte sie ganz krank. Sie wandte ihrem Onkel den Rücken zu und starrte hinaus in die parkähnlichen Krankenhaus-Anlagen. Da stand Kusine Molly an einer Parkbank mit einem Kind. Das Kind war trotz der warmen Sonne in einen Kapuzenmantel gehüllt. Es gestikulierte wild mit beiden Händen. Molly und ein Kind? Sehr mütterlich war die ihr nicht vorgekommen. Jetzt steckte sie der kleinen Gestalt etwas zu, sprach mit ihr, wandte sich dann zum Gehen.
Sarah konnte das Gesicht des Kindes durch die sonderbare Kapuze nicht erkennen. Es starrte Molly kurz hinterher und ging in die entgegengesetzte Richtung davon mit einem merkwürdig wackelnden Gang. Seltsam!
Onkel Ju hatte seine Lobeshymne beendet und schaute Sarah erwartungsvoll an.
„Ist ja gut“, seufzte sie, „ich gehe ja mit ihr. Was bleibt mir denn schon anderes übrig?“ Aber alles in ihr wehrte sich dagegen.
Der Onkel atmete erleichtert auf.
„Sie sind alle froh, mich loszuwerden“, dachte Sarah aufsässig.
„Du wirst sehen, Kind, es wird dir gefallen. Und nun komm mit! Wir wollen deinem Vater wenigstens die Sorgen um dich nehmen.“ Sie gingen in das Krankenzimmer zurück.
„Dracula, wir haben ja Dracula vergessen,“ rief Sarah zwei
Stunden später, als sie die Wohnungstür aufschloss.
„Dracula, der Vampir?“ Molly, die hinter ihr stand, wirkte zum ersten Mal verblüfft, wie Sarah befriedigt feststellte.
„Ach, du kennst dich mit Kinofilmen aus?“ Sarahs spöttische Bemerkung trug ihr einen bösen Blick von Onkel Ju ein. Molly sagte nur trocken: „Nein, eher mit Literatur.“
Als Onkel Ju sich räusperte, erklärte Sarah einlenkend: „Dracula ist unser Kater. Paps hat ihn als Jungtier auf einer Baustelle gefunden und mitgebracht. Doch es war wohl zu spät, ihn an Menschen zu gewöhnen. Er hat sich nie richtig zähmen lassen. Pass nur auf, er beißt gerne. Sein Name passt zu ihm.“
„Keine Sorge, ich komme mit allen Tieren gut zurecht.“
„Und wie!“, lachte Onkel Ju hinter ihnen. „Mollys Hof ist der reinste Zoo, wenn ich mich recht erinnere.“
Aber das Problem war ernst. Frau Schulze, die Nachbarin, die das Tier in Notfällen manchmal mit versorgte, würde selbst in einigen Tagen in den Urlaub fahren. Wer kümmerte sich dann um Dracula?
„Wir nehmen ihn mit“, verkündete Molly. „Bei mir wird es ihm gefallen.“
„Glaubst du“, dachte Sarah und erwartete, dass der Kater – wie bei jedem Besucher und manchmal auch bei Herrchen und Frauchen – hervorschießen und Molly die Krallen in die Wade hauen würde. Nichts geschah.
„Dracula!“, rief Sarah. Ein Maunzen! Der große schwarzweiße Kater kam gemütlich aus der Küche. Ein prüfender Blick, dann strich er Molly schnurrend um die Beine. Sarah schaute fassungslos. Auch Onkel Ju, der Draculas Krallen schon mehr als einmal zu spüren bekommen hatte, war erstaunt.
„So sind sie alle bei mir“, verkündete Molly zufrieden.
Sarah dachte resigniert: „Erst lassen mich Paps und Onkel Ju im Stich und jetzt sogar der Kater.“
„Aber was machen wir mit ihm?“, drängte sie.
„Ich sagte doch, er kommt mit. Ihr habt bestimmt einen Transportkorb, um mit ihm zum Tierarzt zu fahren. Er wird während der Zugreise wunderbar schlafen und gar keinen Ärger machen.“ Sarah hatte daran ihre Zweifel, aber sie machte sich folgsam auf die Suche nach dem Korb.
Die nächste Stunde verging mit Packen. Onkel Ju suchte die notwendigsten Dinge für Sarahs Vater zusammen. Schließlich hatte der nach dem Unfall nichts mit ins Krankenhaus nehmen können. Sarah sammelte wahllos einige Habseligkeiten ein. Erst jetzt war ihr der Ernst der Lage klar geworden. Sie musste fort aus der Wohnung, ihrem Zuhause, vielleicht für lange Zeit. Es war ein Albtraum. Konnte keiner sie aufwecken?
„Nimm nicht zuviel mit“, meinte Molly, „Unterwäsche und so, persönliche Sachen, was du meinst. Einige Jeans, T-Shirts. Das meiste habe ich da. Ich habe schon viele Kinder beherbergt. Und bei uns brauchst du nicht viel.“
„Und diese Kinder haben alle ihre Kleider bei dir gelassen? Wann war das? Vor hundert Jahren? Und du glaubst, dass ich diese Klamotten trage? Klamotten von anderen?“ Sarah sagte das natürlich nicht laut, aber in ihr rumorte es immer stärker. Doch so ganz konnte sie sich nicht beherrschen. „Hast du in deinem Dorf eine Jugendherberge, oder so was?“
Molly überging den aggresiven Tonfall und lächelte. „Wir sind da wie eine große Familie. Du wirst schon sehen.“
Sarah wollte das gar nicht sehen, aber sie wurde ja nicht gefragt. Außerdem hätte sie viel lieber alleine gepackt, doch Molly blieb ständig hinter ihr. Sie ging ihr schon jetzt auf die Nerven. Was sollte das noch werden?
„Das Handy kannst du dalassen. Bei uns gibt es keinen Empfang.“
Fassungslos blickte Sarah auf.
„Ja, wir leben in einem tiefen Tal. Aussichtslos!“
„Und wie soll ich meinen Vater erreichen, um zu erfahren wie es ihm geht?“ Jetzt klang Sarahs Stimme schon nicht mehr so sicher. Es war alles ein bisschen viel gewesen seit dem heutigen Morgen.
„Keine Angst, wir haben im Ort eine Poststation. Dort kannst du so oft du willst mit deinem Vater telefonieren.“
„Soll das heißen, du hast kein eigenes Telefon?“
Sarah konnte es nicht fassen.
„Warum sollte ich, wenn es andauernd streikt?“ Molly lachte. „Es geht ganz gut ohne, du wirst sehen, genau wie ohne Fernsehen.“
Auch das noch! Das wurde ja immer schlimmer. Sarah schwankte. Sollte sie einfach weglaufen oder lieber hin zum Obdachlosenasyl und sich als Waisenkind ausgeben?
Onkel Ju rettete die Situation, weil er nach Dingen fragte, die in Vaters Tasche gepackt werden mussten. Bei dieser Gelegenheit ließ Sarah das Handy samt Aufladegerät in ihrer Tasche verschwinden. Man konnte ja nie wissen!
Der Wirbel später im Krankenhaus ließ Sarah keine Zeit zum Nachdenken. Da war der Abschied vom Vater, Austausch von Adressen und Telefonnummern, Onkel Ju nun tatsächlich in Eile. Er musste dringend nach Haus. Und dann flossen doch noch die Tränen, obwohl Sarah sich tapfer bemühte, nicht zu weinen. Es ging einfach nicht mehr. Sie kam sich so hilflos vor, alleingelassen und ja – abgeschoben. Erst als sie die Blicke der beiden Männer sah, die ratlos hin und herflogen, beruhigte sie sich. Das: „Nun mach es uns nicht so schwer, Kind!“ ihres Vaters half weniger als Kusine Mollys fester Griff um ihre Schultern.
„Reiß dich zusammen!“ Mit diesem strengen Befehl ließ Sarah sich wegführen. Sie warf keinen Blick zurück. Verräter, alle miteinander!
Stunden später im Zug wusste Sarah nicht, was sie alles vergessen hatte. Jetzt saß sie hier und atmete zum ersten Mal seit dem Morgen wieder richtig durch. „Nimm dich zusammen,“ ermahnte sie sich, obwohl ihr schon wieder zum Heulen war.
Sie waren alleine im Abteil. Molly hatte die Sitze gegenüber mit ihrer Länge beschlagnahmt und hielt die Augen geschlossen. Also keine Unterhaltung! Sarah war es recht.
Im Transportkorb schlief Dracula wie ein Baby. Ohne jede Gegenwehr hatte er sich dort hineinschieben lassen. Molly hatte ihm irgend etwas ins Maul gesteckt, eine Pille oder so. Sie hatte es nicht genau sehen können.
„Ihm geht es besser als mir“, dachte sie, verloren in Selbstmitleid. Draußen glitt die Landschaft in der beginnenden Dämmerung vorbei. Was für ein Tag! Ihre Augen fielen zu. Die leisen Stampfgeräusche des Zuges wirkten einschläfernd. Draußen auf dem Gang war noch Unruhe. Eine kleine Gestalt glitt am Abteilfenster vorbei. Sarah riss die Augen auf. War das nicht dieses Kind gewesen? Das von heute aus dem Krankenhauspark im Kapuzenmantel?
„Sarah, du spinnst!“, schalt sie sich. Sie wollte nicht mehr überlegen, sank auf ihrer Bank zusammen und fiel in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie ständig hochschreckte.
Molly erwies sich als überraschend nett und natürlich. Als sie in der Nacht Hunger bekamen, besorgte sie belegte Brote und Getränke. Später schliefen sie wieder, allen voran der Kater, der sich nicht rührte. Der Zug stampfte durch die Dunkelheit. Sarah hatte keine Ahnung, wo sie waren. Gegen fünf Uhr früh, es wurde bereits hell, hielt der Zug zum letzten Mal. Endstation! Sie zerrten ihr Gepäck auf den Bahnsteig. Sie mussten sich nicht beeilen, da der Zug nicht weiterfuhr. Sarah schaute sich um: Eine kleine Bahnstation, außer dem Bahnhofsgebäude keine anderen Häuser in Sicht, auch kein Mensch. In der Ferne konnte man die Umrisse einer Ortschaft erkennen.
„Keine Sorge, gleich kommt unser Transporter“, sagte Molly. Sie wirkte auch nicht mehr ganz frisch, wie Sarah befriedigt fand. Insgeheim grollte sie Molly immer noch, so als wäre die schuld an ihrer Situation. Und sie mochte die Frau wirklich nicht, da war sie sich ganz sicher.
„Wir fahren mit dem Postauto, es muss jeden Moment kommen.“
Postauto! Also kein eigenes Auto. Sarah seufzte, sehnte sich gleichzeitig nur nach einem bequemen Bett, denn ihr Rücken schmerzte. Eisenbahnsitze! Und sie war übermüdet.
Ein Kleinlaster mit offenem Ladedeck bog um die Ecke. Der Fahrer, sie konnte ihn nicht erkennen, winkte aus dem Fenster. Sie hoben Koffer, Taschen und den Korb von Dracula auf die Ladefläche.
Molly sagte: „Setz dich nur dazu, wir sind ja gleich da.“
Damit verschwand sie im Führerhaus.
„Na, wunderbar!“ Sarahs Laune sank mit den Bemühungen, auf das Ladedeck zu klettern. Mühsam zwängte sie sich zwischen große Pakete, hielt den Katzenkorb fest und hoffte, ihre Koffer würden nicht herunterfallen.
Die Fahrt ging einige Minuten durch lichte Wäldchen und dann steil abwärts. Sarah hatte sich etwas entspannt und wurde neugierig. Was mochte das für eine Straße sein? Da sie hinten saß, konnte sie nicht sehen, was vor ihnen lag. Der Steilhang war enorm, ähnlich wie auf einer Fahrt mit ihrem Vater in den Alpen vor ein paar Jahren. Vorsichtig richtete sie sich auf, drehte sich herum und schaute nach vorn. Ihre Hände umklammerten die Umrandung des Führerhauses.
Der Anblick war atemberaubend. Tief unten lag ein kleines Dorf, Häuser mit rundlichen Dächern, Gärten daneben, dahinter in Wiesen ein See und dann ein riesenhafter Wald. Eine Mauer aus Bäumen! Wie hoch die waren, konnte man von hier aus nicht einmal erahnen. Und dieses unendliche Grün erstreckte sich weit hinaus, bis irgendwo in der Ferne steile Berggipfel dem Wald eine Grenze setzten.
Das also war Onkel Jus letzter Urwald, seine Idylle. Sarah war geneigt, ihm zu glauben. Aber idyllisch konnte sie das nicht nennen. Eher gewaltig!
Sie hatten sich dem Dorf genähert. Auf einem großen ungepflasterten Platz vor den ersten Häusern hielt der Laster an. Molly stieg aus, hinter ihr eine kleine Gestalt. Sarah krabbelte etwas ungelenk von der Ladefläche.
„Ah, du hast schon die Aussicht bewundert, ja?“, lachte Molly. Doch Sarah starrte auf die Person neben ihr. Der Kapuzenmantel aus dem Krankenhausgarten und – vielleicht – aus dem Zug. Aber das war kein Kind, sondern ein kleingewachsener Mann, dem Gesicht nach nicht einmal mehr jung. Er reichte ihr kaum bis zur Brust, konnte also nicht größer als einen Meter und etwa zwanzig Zentimeter sein. Er hatte wuschige lange Haare, ganz schwarz. Unter dichten Brauen fixierten sie stechende Augen. Schön war er nicht mit seiner Knollennase. Mund und Kinn verschwanden unter einem wirren Bart, der bis unters Kinn reichte.
„Na, genug geschaut?“ Die Stimme knarrte und klang unfreundlich. „Wohl noch nie einen Zwerg gesehen!“
Sarah errötete. Dieses Starren war sehr unhöflich gewesen.
„Das ist Grindo“, stellte Molly vor.
Grindo verschwand in einer Scheune und kam mit einem kleinen Handkarren wieder. Mühelos wuchtete der das Gepäck darauf. Den Katzenkorb behandelte er sehr vorsichtig, wie Sarah bemerkte. Dracula war aufgewacht und maunzte kläglich. Er hatte sichtlich genug von dieser Reise.
„Gleich sind wir ja da“, tröstete Molly.
Grindo verschwand ohne Abschiedsgruß wieder im Lastwagen. Sarah überlegte noch, wie er wohl ohne Hilfe in das hohe Führerhaus gekommen sein mochte, als ihr auffiel, dass sonst niemand mehr darin saß.
„Er fährt den Wagen allein. Aber wie denn?“
„Oh, das!“ Molly winkte ab. „Der Wagen ist extra für ihn umgebaut worden. Der hat Automatik. Die Pedale sind für Grindo höhergelegt. Hier sind alle an ihn gewöhnt, deshalb hat er auf dein Erstaunen sauer reagiert. Er ist nicht immer so unfreundlich.“
Damit ergriff sie die Zugstange des Handwagens und ging los, eine kleine Gasse hinab, vorab an Häusern, die alle Vorgärten und angebaute Schuppen oder Scheunen hatten. Die kopfsteingepflasterten Sträßchen waren sämtlich sehr eng. Hier konnte kein Auto fahren. Darum wohl der Parkplatz vor dem Ort. Die Häuser wirkten gemütlich. Das lag sicher an den tiefgezogenen Dächern. Statt Schindeln lag ein dichtes Strohpolster darauf.
„Sie sehen aus, als hätten sie Pudelmützen übergezogen“, meinte Sarah.
„Ja, das ist unser Material zum Dachdecken“, erklärte Molly, „ein besonderes Gras, hart mit scharfen Rändern! Wir haben draußen im Tal einige Felder davon. Es muss nicht gesät werden, wächst von selbst. Bevor man es verwenden kann, muss es mehrere Jahre in den Scheunen trocknen.“
Sie seufzte kurz. „Früher hatte hier jede Familie ihr eigenes Lager. Heute werden die Vorräte nur noch für Ausbesserungen benötigt. Neubauten gibt es schon lange nicht mehr.“
Molly schien das zu bedauern.
Sarah notierte sich im Geiste, dass es ein Gras gab, das fest und regensicher Hausdächer abdichten konnte. Irgendwann würde sie in der Schule damit prahlen können. Nur den Namen dieser Graspflanze musste sie noch erfahren. Molly kannte ihn nicht. Die Dorfbewohner nannten die Gräser ‚Dachbinsen’.
Auch gut! Sarahs Gedanken wanderten weiter. Sie hatte sich noch nicht von Grindo erholt.
„Ist Grindo Liliputaner oder ein Zwergenmensch? Du weißt schon, die mit großem Kopf und zu langen Armen. Habe ich schon im Fernsehen gesehen. So sieht er eigentlich nicht aus.“
Molly schüttelte den Kopf. Sarah sah es nur von hinten, da sie wegen der schmalen Straße hinter dem Karren gehen musste.
„Er ist ein richtiger Zwerg, wie er dir ja sagte.“
„Aber Zwerge gibt es doch nur im Märchen“, rief Sarah aus.
„Meinst du? Die Zwerge sind eine eigene Rasse, ganz anders als Menschen. Ein stolzes und uraltes Volk. Sie leben im Alten Wald.“
Molly deutete voraus auf die weit entfernte Baumgrenze. Sarah schluckte. Molly schien das ernst zu meinen. Aber wie konnte man in einem Wald, noch dazu in einem Urwald, leben?
„Warum ist Grindo dann nicht dort, im Wald, meine ich, sondern fährt hier bei euch das Postauto?“
„Er will es eben so. Zwerge sind eigensinnig.“
Sarah gab noch nicht auf. „Und was hat er in unserer Stadt gemacht? Ich habe ihn dort mit dir gesehen.“
Schade, dass sie Mollys Gesicht nicht vor sich hatte. Die zögerte unmerklich, so glaubte Sarah, ehe sie antwortete.
„Du musst dich irren, Sarah. Grindo verlässt nie das Tal. Sein weitester Weg ist bis zur Bahnstation, wohin er die Pakete schafft oder im Städtchen oben einige Besorgungen für die Leute macht.“
„Aber er war dort.“ Sarah wollte der Sache auf den Grund gehen.
„Wie gesagt, Grindo fährt niemals mit dem Zug.“
„Das habe ich auch nicht gesagt“, dachte Sarah, schwieg jedoch. Hier galt es ein Geheimnis zu ergründen, und das würde sie tun.
„So, und da vorne ist dein Urlaubsdomizil.“ Damit wechselte Molly das Thema. Es war das letzte Haus des Ortes. Sie waren die ganze Zeit weiter bergab gegangen und jetzt im Tal angekommen. Einige Meter voraus plätscherte ein Bächlein. Mollys Haus war nicht größer als die anderen im Dorf. Weiß gestrichen, die Fensterläden rot, was sehr frisch wirkte. Das Obergeschoss hatte schräge Wände. Im Vorgarten Blumen und Kräuter. Als Stadtmensch kannte Sarah nicht viele davon.
„Jetzt lassen wir erst einmal deinen Kater raus.“
Molly setzte den Katzenkorb ab und öffnete das Törchen.
„Er wird weglaufen“, rief Sarah entsetzt. „Er ist doch an die Wohnung gewöhnt. Die freie Natur kennt er nicht.“
So sehr Dracula sie manchmal geärgert hatte durch seine tätlichen Angriffe, dass er hier einfach verschwand, wollte sie doch nicht.
„Der läuft schon nicht weg. Es wird ihm hier gefallen“, versicherte die Kusine. Sie beobachteten, wie Dracula vorsichtig herauskam und sich erst einmal ausgiebig streckte. Der Korb war für eine so große Katze zu eng. Dann ging er an die Hecke neben dem Vorgarten und verrichtete sein Geschäft. Molly öffnete eine Pforte in der Hecke.
„Die Hecke führt in den hinteren Garten. Den kann Dracula schon einmal inspizieren und sich mit den anderen Tieren bekanntmachen.“
Der Kater folgte dieser Aufforderung sofort und verschwand durch die Gartentür.
„So, ich mache uns jetzt einen Tee, und dann ab mit dir ins Bett. Du hast einiges an Schlaf nachzuholen.“
Damit öffnete Molly die unverschlossene Haustür, und Sarah folgte ihr.
Am Nachmittag des Ankunfttages – sie hatte sich einigermaßen von der Reise erholt – versuchte Sarah, das Krankenhaus zu erreichen. Sie wollte dringend erfahren, wie es ihrem Vater nach der Operation ging. Die Poststation lag in der Mitte des Ortes. Langsam stieg Sarah die steile Gasse hinauf. Das zog ganz schön in den Waden. Sie fand das Gebäude sofort, weil es sich von den anderen Häuschen unterschied: Ein größerer Backsteinbau, zweigeschossig, mit einer holzgeschnitzten Eingangstür. Hier befand sich auch, wie ein Schild auswies, die Ortsbürgermeisterei. Für vielleicht gerade mal zweihundert Einwohner ein eigener Bürgermeister, das fand Sarah ganz schon aufwändig.
„Ach, da ist ja Mollys Kleine!“ Schon die Begrüßung der Postmeisterin war Sarah zuwider. Jeder schien hier zu wissen, dass sie bei Molly wohnte. Doch deswegen war sie noch lange nicht ‚Mollys Kleine’. Die dicke Frau im blaukarierten Kittel, man stelle sich blaukariert mal vor, stürzte auf Sarah zu und hätte sie beinahe umarmt. Sie konnte gerade noch zurückweichen.
Der Raum war klein. Ein Tisch mit einer Waage und Papieren verriet die Poststelle. In Regalen am Fenster und der hinteren Wand stapelten sich Großbehälter für haltbare Lebensmittel und Einmachgläser. Hier war also gleichzeitig der ‚Supermarkt’ von Altenbergen. In einer Ecke hing das Telefon an der Wand, schwarz, noch mit Wählscheibe und außerdem ohne Kabine. Hier würde Sarah niemals ungestört telefonieren können.
„Ich weiß, du möchtest wegen deines Vaters anrufen, der so krank ist“, säuselte die Frau. Woher wusste die das?
„Aber das Telefon ist wieder einmal gestört. Das passiert leider häufig. Du kannst jetzt nicht anrufen.“
So etwas hatte Sarah beim Anblick der altmodischen Gerätschaften schon befürchtet. Wie sollte sie hier nur jemals Kontakt zur Außenwelt aufnehmen können? Beinahe wollte sie verzweifeln.
Sarah, ausgesetzt am Ende der Welt, in Altenbergen!
Doch dann zauberte die Postfrau etwas aus ihrem Schreibtisch.
„Hier ist ein Telegramm für dich, von deinem Onkel. Er hat wohl versucht, dich hier anzurufen und gemerkt, dass die Leitung gestört ist.“
Natürlich war der Umschlag aufgerissen. Die Frau wusste also genau, was drin stand und das, bevor Sarah es hatte lesen können. Sie warf der Dicken einen bösen Blick zu, schluckte jedoch ihre Wut herunter und las.
„Operation gut überstanden, Vater geht es d.U.e.! Melde mich, wenn Telefon funktioniert, sonst brieflich. Hoffe, du bist in Ordnung. Onkel Ju.“
‚d.U.e.’ sollte wohl heißen: den Umständen entsprechend. Nun, ihr Vater würde sich im Moment alles andere als wohlfühlen. Sicher lag er noch auf der Intensivstation. Doch die Hauptsache war, dass sie wusste, er hatte die Operation erst einmal hinter sich.
Sarah murmelte ein halbherziges ‚Danke’ und eilte hinaus. Hinter ihr verklang der Sermon der Postfrau. Irgendwann würde sie einer Unterhaltung mit ihr nicht entkommen, das wusste Sarah. Aber bitte nicht heute! So ganz allein fühlte sie sich jetzt nicht mehr. Das Telegramm tröstete sie etwas. Onkel Ju hatte sie nicht vergessen, hielt Kontakt zu ihr. Und wenn irgend etwas passieren sollte, konnte sie sich an ihn wenden, zur Not mit einem Brief.
Abends im Bett überdachte sie, was ihr alles in diesen beiden Tagen widerfahren war. Sie fühlte sich ganz schön erledigt. Nach und nach fielen ihr einige sonderbare Dinge ein. Warum hatte sie nicht vorher erfahren, dass Paps sie auf eine andere Schule schicken wollte und von der alten einfach abgemeldet hatte? Warum, ohne mit ihr darüber zu sprechen?
Dann das Gespräch im Krankenzimmer zwischen Molly und ihrem Vater. Sarah hatte es ungewollt mitbekommen. Mollys Worte: „Ich wäre sowieso jetzt gekommen.“ Und: „Sie ist bald dreizehn, es ist die Zeit.“ Was bedeutete das?
Paps, der indirekt andeutete, ‚Sie’, nämlich Molly und wer?, hätten etwas mit dem Unfall auf der Baustelle zu tun. Und der von einem erzwungenen Versprechen gesprochen hatte.
Dann Grindo, der ein ‚echter’ Zwerg sein sollte. Das glaubte Sarah immer noch nicht. Hatte sie ihn wirklich mit Molly im Krankenhausgarten gesehen und später dann auch im Zug? Molly bestritt es, und Sarah hatte nicht den Mut, darauf zu beharren. Dazu war Molly zu bestimmend. Was sie sagte, sagte sie, und Punkt! Das hatte Sarah schon begriffen. Außerdem war sie sich nicht sicher. Vielleicht hatte sie sich ja auch geirrt.
Mit einem Mal fühlte sie sich traurig. Der ganze Druck der beiden vergangenen Tage fiel wie eine undurchdringliche Decke hinunter und drohte sie zu ersticken. Niemand war da, mit dem sie reden konnte. Man hatte sie abgeschoben, beiseite geräumt. Sie war ganz allein. Ein Schluchzen stieg in Sarah auf, und sie wollte schon losheulen, als draußen ein Vogel plötzlich losträllerte. Er klang überschwänglich vor Freude, so als gäbe es keine Sorgen auf der Welt. Und dieser Gesang führte sie in die Wirklichkeit zurück. So schlimm würde es schon nicht werden.
Auch wenn der Gedanke an Molly sie noch leicht bedrückte, sagte sie laut: „Weißt du was, Sarah? Wir lassen mal alles auf uns zukommen. Mal sehen, was passiert. In jedem Fall haben wir fast sechs Wochen früher Ferien als alle anderen, und das ist doch auch schon was.“ Laut gähnend, drehte sie sich im Bett um. Am nächsten Morgen würde alles anders aussehen. Und so war es dann auch.
Im Dorf
Sarah lebte sich schnell ein. Sie hatte zwar noch einige Vorbehalte gegenüber Molly, doch die gab sich freundlich, wenn auch zurückhaltend. Sie behandelte Sarah wie eine Erwachsene, die man in den Alltag eingewiesen und der man alles erklärt hatte. Ansonsten musste Sarah sehen, wie sie zurechtkam. Sie musste noch lernen, damit umzugehen. Dracula fühlte sich wohl und dachte gar nicht ans Weglaufen. Es gab feste Fütterungszeiten, die er genoss. Und noch mehr schien er seine Freiheit zu genießen. Er hatte mit den zwei Hauskatzen Freundschaft geschlossen, eine davon eine Katzendame, der er den Hof machte. Im hinteren Garten gab es noch einige freche Gänse. Nach kurzem Geschnatter ergriffen sie vor Draculas Fauchen die Flucht und gingen ihm seitdem aus dem Weg.
Dann war da ein Stall für drei Ziegen und deren Zicklein. Die sprangen tagsüber auf der Obstbaumwiese herum. Alle Tiere liefen frei umher. Nur eine Hecke umgrenzte das Grundstück. Sarah hatte das alles besichtigt, und es gefiel ihr. Ihr Zimmer hoch oben unterm Pudelmützendach gefiel ihr auch. In die Schrägwand war ein großes Fenster eingelassen. Das Bett stand direkt darunter. Wenn Sarah lag, konnte sie in den Himmel schauen.
Was ihr weniger gefiel: Im Dorf, - sie hatte es schnell erkundet bei ihrem zweiten vergeblichen Versuch, zu telefonieren -, gab es keine Kinder und andere Jugendliche.
„Du bist gut“, sagte Molly, als sie fragte. „Die haben doch noch keine Ferien. Nicht jeder ist so gut dran wie du.“
Sarah schluckte. War das spöttisch gemeint? So ganz wusste sie noch nicht, woran sie mit der Kusine war.
„Warum kommen sie denn nachmittags nicht aus der Schule heim?“
„Das wäre viel zu umständlich. Die nächste Schule liegt über fünfzig Kilometer weit weg, Schulbusse gibt es nicht. Die schulpflichtigen Kinder besuchen ein weiter entferntes Internat und kommen nur in den Ferien heim. Nicht allerdings im Winter. Da sind wir hier von der Welt abgeschnitten, sobald der Schnee kommt. Und der kommt immer.“
„Im Winter bin ich zum Glück nicht mehr hier“, dachte Sarah. Sie hatte recht gehabt. Sie war wirklich am Ende der Welt gelandet. „Und Weihnachten?“, fiel ihr dann ein. „Da muss man doch zuhause sein!“
Sie konnte sich ein Weihnachtsfest ohne Paps und Onkel Ju trotz dessen schrecklicher Familie einfach nicht vorstellen.
„Ach, Weihnachten!“ Molly winkte ab. „Die Kinder feiern schön in der Schule. Und es gibt ja andere Feste, an denen sie dabeisein können, zum Beispiel unsere Sonnenwendfeier. Die findet hier Anfang Juli statt. Du wirst sie in diesem Jahr mit uns erleben. Diesmal fällt sie fast genau mit dem ersten Sommervollmond zusammen. Das ist etwas Besonderes.“
Was das Fest und der Vollmond miteinander zu tun hatten, war Sarah nicht ganz klar, aber auch egal. Doch einem Fest in naher Zukunft sah sie unbehaglich entgegen. Allein der Gedanke an so viele Menschen auf einmal störte sie. Sarah lebte mit ihrem Vater sehr zurückgezogen. Und irgendwelche Unternehmungen wie Essengehen oder ins Kino machten sie und Paps stets gemeinsam. Ihr gefiel das, doch Onkel Ju hatte mehr als einmal gesagt, sie solle mehr mit Gleichaltrigen umgehen.
„Lass uns mal machen!“, schmunzelte ihr Vater dann. „Sie geht noch früh genug von mir fort. Solange verbringen wir unsere Freizeit miteinander.“
Molly schwärmte inzwischen weiter. „Dazu kommt noch der Markt: Hunderte von Buden mit allen möglichen guten Sachen. Aussteller aus der Region und von weit her machen mit. Alles steht voll mit Ständen vom Berg herunter bis an den Waldrand. Dann sind auch viele Fremde im Dorf.“
Stolz fuhr sie fort: „Es ist unsere größte Touristen-Attraktion im Jahr. Die ist sehr berühmt, und den Fremden gefällt es.“
Also tatsächlich Tourismus in Altenbergen! Wer hätte das gedacht? Die Aussicht auf den Markt stimmte Sarah schon fröhlicher. Man konnte etwas kaufen und sicher auch mit den Standinhabern handeln. Das hatte sie in Italien immer so gerne gemacht.
„Zum Abschluss, kurz vor dem ersten Schnee, kommt dann noch unser Erntedankfest Ende September. Auch ein schönes Fest.“
„Was erntet ihr denn hier?“ Sarah hatte bisher noch keine bestellten Felder gesehen.
„Alles, was unsere Gärten hergeben: Obst, Gemüse, viel Eingemachtes. Ziegenprodukte, Wollartikel, Handarbeiten, eben solche Sachen. Die werden dann auch schon für den nächsten Markt aufbewahrt. Du wirst sehen“, sagte Molly.
Dieses Fest würde sie ganz gewiss nicht sehen. Sarah hatte nicht vor, bis Ende September in Altenbergen zu bleiben. Jetzt war erst Ende Mai und bis Ferienbeginn noch einige Zeit hin. Wie es aussah, bekam sie bis dahin keine gleichaltrige Gesellschaft. Das waren eher langweilige Aussichten. Ein Mädchen zum Tratschen und Erzählen wäre nett gewesen. Mit Molly konnte sie nicht so gut reden wie mit ihrem Vater. Wenn der von der Arbeit kam, plauderten sie stundenlang, erzählten sich gegenseitig alles, was so am Tag passiert war. Molly blieb zwar immer höflich, aber distanziert. Gefühlsausbrüche kannte sie anscheinend nicht. Stets sprach sie mit ruhiger Stimme. Und wenn ihr Sarahs unentwegte Fragen zu viel wurden, schwieg sie einfach oder fing ein anderes Thema an. Etwas, das Sarah hasste! Undenkbar, Molly ihr Herz auszuschütten.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Ruth Cantor
Bildmaterialien: Ruth Cantor
Tag der Veröffentlichung: 29.04.2014
ISBN: 978-3-7368-0586-6
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