Cover


06/2011
Cover © www.pbaser.com
Alle Rechte liegen bei dem Autor


Ich blieb stehen und sah nach oben. Der Himmel war unverändert trüb und wolkenverhangen. Wie schon seit Tagen. Die Luft war reichlich kalt und machte den angebrochenen Nachmittag noch ungemütlicher. Ein Regenschauer würde nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Langsam setzte ich mich wieder in Bewegung und ging weiter den abgelegenen Kiesweg entlang. Zur einen Seite erstreckte sich weitläufig ein verwitterter Laubwald. Erst vor kurzem war hier der letzte Schnee geschmolzen. Die Bäume und Sträucher lagen kahl und ausgezehrt vor mir. Wirkten tot.
Ich musste an den Herbst denken. Das bunte Laub. Das Rascheln der Blätter unter den Schuhsolen. Schmerzlich sehnte ich mich danach. Ich mochte den Herbst einfach. Aber um diese Jahreszeit - absolute Fehlanzeige. Kein Laub weit und breit. Nur matschiger Dreck.
Mein Blick wanderte über den großflächigen See, der sich, durch einen schmalen Uferstreifen getrennt, zur anderen Seite des Weges befand. Das Wasser lag ruhig und reflektierte das triste Grau des Himmels. Fügte sich somit perfekt in die trostlose Kulisse.
Ich spürte ein heftiges Ziehen an der Leine in meiner Hand. Wurde dadurch unsanft aus meinen Gedanken gerissen. Ich kniete mich rasch nieder und lockte meinen ungeduldigen Vierbeiner zu mir.
„Na, Joe. Bin ich dir zu langsam?“ Liebevoll ließ ich meine Hand durch sein langes, schwarzes Fell gleiten. Kraulte ihn hinter den Ohren. Gleichzeitig sah ich mich um. Ließ meinen Blick über das spärlich bewachsene Seeufer und die vereinzelten Parkbänke gleiten. Niemand war zu sehen. Keine Sportler oder sonstigen Freiluftfanatiker. Also griff ich an Joes Halsband und löste es von der Leine. Begeistert von seiner plötzlichen Freiheit stürmte er davon. Vermutlich schon ganz scharf darauf, ausgiebig die Umgebung zu erkunden.
Ein leichtes Lächeln umspielte meine Mundwinkel. Ich und Hundebesitzer - wer hätte das gedacht? Allerdings, was hatte man mir schon für eine Wahl gelassen? Ich war buchstäblich dazu genötigt worden.
Zumindest schien das Tier etwas für mich übrig zu haben. Wie zur Bestätigung kam Joe gleich darauf wieder angetrabt und streifte im Vorbeigehen zutraulich mein Bein. Dabei hatte ihn mir meine kleine Schwester erst vor einem knappen Monat aufgedrängt. Wegen ihrem Umzug. Blöde Sache. Ein Blick in ihrer flehenden Augen und ich hatte verloren. Verdammt.

Nachdem ich wenige Meter weiter eine knorrige Trauerweide am Wegrand passiert hatte, steuerte ich auf eine alte Holzbank zu. Der Wind blies mir kalt ins Gesicht und ich wickelte mich fest in meine Jacke. Ich unterdrückte ein Schaudern und ließ mich auf das klamme Holz sinken.

Erschöpft schloss ich die Augen und seufzte leise. Nicht etwa, weil der Spaziergang so lang gewesen wäre oder so anstrengend. Nein, rein körperlich war ich topfit.
Was mich komplett erschöpfte, mich regelrecht auslaugte, war mein beschissenes Leben. Ich war es so leid. Ein erneutes Seufzen kam über meine Lippen.
Allein bei dem Gedanken, am nächsten Tag wieder in meinem deprimierenden Alltag zu versinken, hob sich mir gehörig der Magen. Mir wurde schlecht. Der Horror, den ich Arbeit nannte, kotzte mich einfach an. Eine deprimierende Mutlosigkeit hatte sich seit langem in mir breitgemacht. Hielt mich oft nächtelang wach. Ich war gefangen in dieser endlosen Tretmühle aus streitenden Kollegen, unzufriedenen Vorgesetzten und geistlosen, monotonen Aufgaben. Ich hasste es. Es machte mich krank, jeden Morgen aufstehen zu müssen. Wieder dort hin zu müssen. Ohne Aussicht auf einen Ausweg. Ohne Hoffnung.
In manchen Momenten wünschte ich mir, ich hätte das Rückgrat, einfach aufzustehen und zu gehen. Alles hinzuschmeißen und dem Drecksloch, ohne eine Träne zu vergießen, den Rücken zuzukehren.
Aber ich war kein Idiot. Auch kein Träumer. Rein finanziell gesehen konnte ich es mir schlichtweg nicht leisten. Ich brauchte den verdammten Job. Eben mal was Neues finden - da machte ich mir gar nichts vor - war so schnell nicht möglich.
„Stell dich nicht so an, Bub.“ hatte mein Vater einmal gesagt „Andere wären froh, wenn sie einen Arbeitsplatz hätten. Im Leben muss man halt manchmal die Zähne zusammenbeißen.“
Zähne zusammenbeißen. Ja, das hatten meine Eltern früher oft zu mir gesagt. Einfach durchhalten.
Aber was passierte, wenn man irgendwann nicht mehr konnte? Keine Kraft mehr zum Durchhalten hatte? Die Zähne zu oft und zu lange zusammengebissen hatte? Bis von Zuversicht und Lebensfreude nichts mehr übrig geblieben war. In meiner Familie zumindest hatte das nie eine Rolle gespielt. Es hatte sich schließlich keiner wirklich für den anderen interessiert. Keiner sich je um den anderen gekümmert.
Aber was machte das schon? Ich hatte mich längst damit abgefunden. Mit meiner Arbeit, die ich hasste. Mit meiner Familie, die sich einen Dreck umeinander scherte. Mit meinem Leben, meiner persönlichen Hölle, die mich gefangen hielt. Mich nicht entkommen ließ. Als hätte sie, wie ein wildes Raubtier, messerscharfe Reißzähne tief in mich geschlagen. Mir sämtlichen Optimismus und jeden Glauben ausgesaugt.

Was zurückblieb, war eine unendliche Leere tief in mir. Die sich ungehindert ausbreitete, an mir nagte, mich innerlich zerfraß. Ich schaffte es nicht mehr, sie zu verdrängen. In diesem Moment überkam sie mich total. Dieses erdrückende Gefühl raubte mir den Atem, drohte mich zu ersticken. Ich schnappte nach Luft, doch meine Lungen wollten sich nicht mit Sauerstoff füllen. Mein Herz raste. Pochte laut in meinen Ohren. War es das jetzt?
Ich fühlte mich ausgeliefert, hilflos, im Stich gelassen. Ich wollte nur noch, dass es aufhörte. Hatte es satt, zu kämpfen.

Plötzlich spürte ich etwas Kaltes auf meinem Gesicht. Einen Tropfen. Langsam lief er meine Schläfe hinab. Dann noch ein Tropfen auf meiner Wange. Und noch einer.
Endlich schaffte ich es, wieder etwas Luft in meine Lungen zu zwingen. Ich nahm einen vorsichtigen Atemzug. Hörte mein eigenes, heiseres Röcheln. Doch die krampfhafte Atemnot ließ allmählich nach. Erleichterung breitete sich in mir aus. Mehrmals atmete ich tief durch. Beruhigte mich langsam wieder. Saß einfach nur da. Atmete.
Schließlich öffnete ich die Augen und blickte auf zum Himmel. Immer mehr Regentropfen fielen herab. Innerhalb nur weniger Minuten wurde aus dem vereinzelten Tröpfeln ein heftiger Wolkenbruch. Das laute Prasseln des Regens im See und den Bäume betäubte meinen Ohren.
Ich war bereits nass bis auf die Knochen. Konnte das eisige Wasser überall auf meiner Haut spüren. Der matschige Boden unter meinen Füßen durchweichte meine Turnschuhe und Socken. Schauder jagten meinen Rücken hinunter. Mir war kalt.
Trotzdem bewegte ich mich kein Stück. Ich dachte gar nicht daran, aufzustehen. Stattdessen schloss ich wieder die Augen und ließ meinen Kopf ins Genick sinken. Alles, nur nicht wieder nachgrübeln. Ich konzentrierte mich auf jeden einzelnen Regentropfen, der mir ins Gesicht fiel. Fühlte, wie die vielen kleinen Sturzbäche ihren Weg nach unten suchten. An meinem Kinn zusammenfanden und vereint auf meine Brust liefen.
Es war ein eigenartiges Gefühl. Irgendwie befreiend. Als ob der Regen all die bedrückenden Gefühle von mir abwaschen würde. Diese beschissene Leere in mir wieder etwas ausfüllen könnte. Echt seltsam - seltsam schön.
Warum spürte ich dann auch heiße Tropfen meine Wangen hinablaufen? Ich konnte das Salz auf meinen Lippen schmecken. Scheiße.

Eine leichte Berührung an meinem Knie. Joe hatte wohl genug von der unfreiwilligen kalten Dusche. Aber ich wollte noch nicht gehen. Nur noch ein bisschen. Meine Haut fühlte sich inzwischen angenehm taub an unter dem eisigen Regenwasser. Die Tropfen fielen in Strömen auf meine Stirn, meine geschlossenen Augenlider, meine Lippen. Wie durch Watte. Dumpf. Ganz weit weg.
Eine geschmeidige Bewegung war neben mir zu erahnen. Eine sanfte Erschütterung. Dann fühlte ich schon den warmen Körper an meinem Oberschenkel. Offenbar hatte sich mein vierbeiniger Begleiter zu mir auf die Bank gesellt.
Ich nahm es nur am Rande war. Mein Kopf fühlte sich inzwischen bedrohlich schwer an. Die Gedanken krochen träge, wie dicker, zähflüssiger Honig. Ein unschönes Pochen machte sich in meiner Schläfe bemerkbar.
Ich war plötzlich wahnsinnig müde. Am liebsten wäre ich auf der Stelle eingeschlafen. Doch dafür war mir eindeutig zu kalt. Ein leichtes Beben durchfuhr meinen Körper. Nur der eine Fleck an meinem rechten Oberschenkel war schön warm. Dort wo Joe sich an mich geschmiegt hatte.
Mein Joe. Er war bei mir. Seine Gegenwart linderte meinen Niedergeschlagenheit ein wenig. War irgendwie tröstlich. Sie half mir dabei, den wabernden Nebel in meinem Kopf zurückzudrängen. Wieder aufzutauchen.
Benommen schlug ich die Augen auf. Musste erst mal das Wasser wegblinzeln. Mit meinem klatschnassen Jackenärmel fuhr ich mir übers Gesicht. Sah hinüber zu Joe. Erschrak.

Ich sah direkt in ein Paar schokoladenbrauner Augen. Das mich ebenfalls aufmerksam musterte. Mich regelrecht festnagelte.
Einzelne Strähnen seines halblangen, schwarzen Haares klebten dem jungen Mann feucht im Gesicht. Auch die Kleidung meines Gegenübers war völlig durchnässt. Er saß direkt neben mir. War so nahe, dass sein Oberschenkel meinen berührte.
Ich erbleichte. Vorhin war ich mir sicher gewesen, niemanden gesehen zu haben. Absolut alleine zu sein. Ich hatte überhaupt nicht registriert, dass sich jemand genähert hatte. Seit wann war der Kerl schon hier? Verdammt, hatte er mich eben etwa heulen gesehen? Entsetzt starrte ich den Typen an. Wusste nicht, wie ich reagieren sollte.
Dann - dieses Lächeln. Er lächelte mich an. Er hatte ein atemberaubendes Lächeln. Mit einer Intensität, einer Zärtlichkeit, die mir durch Mark und Bein fuhr.
Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf. Brachte reichlich Luft zwischen uns. Ließ ihn dabei keine Sekunde aus den Augen. Mir wollte nichts einfallen, das ich hätte sagen können. Wie hätte ich mich auch vernünftig verhalten sollen, bei dem durchdringenden Blick, mit dem er mich ansah?
Er hatte ein schönes Gesicht. Soweit ich das beurteilen konnte. Ebenmäßige, markante Gesichtszüge, eine gerade Nase. Allerdings bedeckten feine Stoppeln sein Kinn. Ließen ihn etwas schlampig wirken. Völlig aus dem Konzept brachten mich seine ausdrucksstarken, tiefbraunen Augen, die zu mir aufsahen. Sie waren erfüllt von einer wohligen Wärme. Einer starken Vertrautheit.
Das schmerzhafte Pulsieren in meinem Kopf holte mich unsanft in die Realität zurück. Was tat ich hier überhaupt? Einen völlig Fremden anschmachten - einen Kerl? Das konnte doch echt nicht wahr sein! Ich hatte genug davon.
Kurzerhand drehte ich mich um und stapfte trotzig durch den matschigen Untergrund, Richtung Kiesweg. Der heftige Platzregen hatte allmählich nachgelassen. War kaum mehr als ein feines Nieseln. Ich wolle nur noch nach Hause. Wo, verdammt nochmal, steckte nun wieder der Hund?
Ich wurde von hinten an der Schulter gepackt und forsch herumgewirbelt. Adrenalin schoss mir ins Blut. Reflexartig ballte ich meine Rechte zur Faust und schlug zu. Verfehlte nur knapp das Gesicht dieses Typen. Scheiße! Er schnappte sich mein Handgelenk und hielt es fest.
„Was läuft denn bei dir schief, Mann? Bist du noch ganz dicht?!“ Wütend riss ich an der Hand. Versuchte mit aller Kraft, mich aus seinem Griff zu befreien. Was bildete sich diese Arschloch überhaupt ein?
Nur einen Moment war ich unachtsam. Blitzschnell packte er zu und bekam meine linke Schulter zu fassen. Zog mich mit einem heftigen Ruck an sich. Völlig überrumpelt fand ich mich in seinen Armen wieder. Eine Hand ließ er, wie selbstverständlich, in mein Genick gleiten. Er vergrub seine Finger tief in meinem Haar. Hielt mich fest an sich gedrückt.
Sein betörender Duft stieg mir in die Nase. Ich konnte seinen Atem warm an meinem Ohr fühlen. Hektisch beschleunigte sich mein Puls.
„Schon Okay. Bitte sei nicht mehr traurig. Ich liebe dich so sehr...“
Ich erstarrte. Es war nicht mehr als ein Flüstern, doch ich hatte jedes Wort deutlich vernommen. Gänsehaut rieselte meinen Körper hinunter.
Was hatte der Kerl da eben gesagt? Die Bedeutung seiner Worte schaffte es irgendwie nicht, bis in mein Gehirn vorzudringen. Ich fühlte mich wie vom Blitz getroffen. War wie versteinert. Das alles konnte doch unmöglich echt passieren! Drehte ich jetzt total durch?
Bestimmt war ich vorhin im Regen auf der Bank bewusstlos zusammengebrochen. Hatte jetzt einfach fiebrige Wahnvorstellungen. Ja, so musste es sein. Gleich würde ich total verstört aus meinem Fiebertraum aufschrecken. Oder gar nicht mehr aufwachen. Je nachdem.

Dass sich ein Paar weicher Lippen heiß auf meine gelegt hatten, merkte ich erst, als ich seine angenehme Wärme in mich sickern spürte. Verdammt, war mir kalt.
Moment mal, küsste mich der Typ gerade? Sanft liebkoste er meine Lippen. Zärtlich, fast bedächtig. Als wäre ich unheimlich zerbrechlich. Unwillkürlich breitete sich ein wohliges Kribbeln in mir aus.
Scheiße, nein! Ich wollte das nicht. Ich ließ mich doch nicht einfach küssen. Schon gar nicht von einem Mann! Was war nur los mit mir? Warum wehrte ich mich nicht? Ich ließ es einfach zu. Ließ es anstandslos geschehen.
Mein Körper wurde nachgiebig und anschmiegsam. Seine Hand streichelte liebevoll meine Wange. Ergeben schloss ich die Augen und ließ den Kopf ins Genick fallen. Gab dem sachten Druck nach. Er schlang einen Arm um meine Hüfte und zog mich leidenschaftlich an sich.
Ein vorsichtiges Herantasten. Eine verlockende Aufforderung. Nach kurzem Zögern gewährte ich seiner Zunge Einlass. Ließ mich endgültig fallen. Konnte ihn in jeder Faser meines Körpers spüren. Seine Zungenspitze umspielte aufreizend meine eigene. Neckte mich sanft. Ließ mich aufstöhnen. Mein Bauch war erfüllt von einem aufregenden Prickeln.
Ich fühlte mich unglaublich geborgen in seinem Arm. Beschützt. Als hätte ich mich genau danach gesehnt. Nach ihm. Dabei kannte ich den Kerl überhaupt nicht.
Nach einer viel zu kurzen Ewigkeit zog er sich wieder von mir zurück. Streifte noch einmal sanft meine Lippen mit seinen. Hinterließ einen süßen Geschmack in meinem Mund.
Ich fühlte mich wie betäubt. War außerstande, irgendetwas wahrzunehmen, bis auf ihn. Seinen berauschenden Geruch. Seine warmen geschmeidigen Finger in meinem Nacken. Sein leises Atemgeräusch.
Dann löste er sich endgültig von mir. Es wurde plötzlich unerträglich still. Dennoch hielt ich die Augen weiterhin geschlossen. Konnte mich noch nicht dazu durchringen, sie zu öffnen. Ich wusste auch so, dass er weg war. Ich war allein.

Langsam blendete mein Bewusstsein die Umgebung wieder ein. Ich hörte das schwache Nieseln des Regens. Spürte die schneidende Kälte des Windes durch meine nassen Klamotten. Merkte, dass ich am ganzen Leib zitterte. Ich hatte keine Wahl. Resignierend schlug ich die Augen auf und fand eben jenes Bild vor, das ich erwartet hatte: viel Natur, keine Menschenseele. Trotzdem war ich ein bisschen enttäuscht. Also doch nur ein Traum...

Mit einem Mal vernahm ich ein schwaches Geräusch hinter mir. Das mich dennoch heftig zusammenzucken ließ. Meine Gedanken überschlugen sich. Ich drehte mich um.
Erblickte Joe, der dort hinter mir saß. Er musterte mich aufmerksam. Mit seinen schokoladenbraunen Augen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.07.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /