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Folgenschwere Entscheidungen

Hier gleich eine Anmerkung zu Beginn:

Eine Menge wurde aus der Originalszene des Buches entnommen.
Lasst euch davon bitte nicht abschrecken und lest dieses Kapitel bitte bis zum Schluss.

Ich hoffe, es ist trotz der Originalworte aus dem Buch gut geworden.

Viel von dem Gespräch spielt sich in Bellas Kopf ab.

Das  Kursivgeschriebene stellt das Unterbewusstsein dar.
Das Fettgeschriebene verdeutlicht Bellas richtige Dialoge mit ihrem Unterbewusstsein.

Ich denke mal, ihr werdet da schon durch sehen.

Na dann. Ich hoffe, das Kapitel wird ein must read Chapter.
Viel Spaß!

Disclamer: Alle Charaktere und Worte aus dem Originalwerk gehören Stephenie Meyer.

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Bellas POV

 

 

„Bella, wir müssen abreisen.“

Seine Stimme war geschäftsmäßig und kalt, als er diese Worte sagte. Die Angst in meinem Inneren steigerte sich. Von diesem Moment an meldete sich mein Unterbewusstsein, um seine Meinung zum Gespräch beizutragen.

 

Oh, oh. Du weißt doch was das bedeutet, oder?

 

Ich holte tief Luft und versuchte wie immer meine innere Stimme zu verdrängen. So gut mir das eben in meiner jetzigen Situation gelang.

„Warum jetzt? Noch ein Jahr ...“, fragte ich ihn, um ihn verstehen zu können und um mich von meiner inneren Stimme abzulenken.

 

Du kannst dich nicht ewig vor der Wahrheit verstecken.“, mahnte meine innere Stimme.

 

„Bella, es ist an der Zeit. Wie lange könnten wir noch in Forks bleiben? Carlisle geht kaum für dreißig durch, und jetzt muss er sich schon für dreiunddreißig ausgeben. Wir hätten ohnehin bald wieder neu anfangen müssen.“

Seine Antwort verwirrte mich und ich versuchte seine Worte zu begreifen. Er starrte mit kaltem Blick zurück. Als ich begriff, dass ich ihn falsch verstanden hatte, wurde mir übel. Doch mein Unterbewusstsein nickte nur.

Siehst du? Die Wahrheit wird dich letztendlich doch einholen. Beginne endlich zu begreifen und fange an, auf mich zu hören.

 

Ich musste schlucken und atmete tief durch. Nun war ich wohl an einem Punkt angekommen, an dem ich die Worte meines Unterbewusstseins nicht mehr länger ignorieren konnte. Die ganzen Monate über, hatte mich meine innere Stimme vor genau dem hier gewarnt. Wann hatte es eigentlich angefangen, dass sich mein Unterbewusstsein so stark in meine bewussten Entscheidungen eingemischt hatte? Das musste in dem Zeitraum begonnen haben, als ich herausgefunden hatte, was die Cullens waren und bevor Edward mir auf der Lichtung gesagt hatte, dass er in mich verliebt sei.

„Wenn du wir sagst...“, flüsterte ich und kam nicht umhin langsam zu realisieren, dass mein schlimmster Albtraum gerade war wurde.

Ein kleiner Teil von mir hoffte, dem noch entrinnen zu können.

„Ich rede von mir und meiner Familie.“ Jedes Wort klar und deutlich.

Hast du es nun endlich verstanden? Er redet von sich und seiner Familie. Es geht nicht um dich und ihn. Nur um seine Familie, zu der du…

„Bitte, bitte! Sei endlich still und hör‘ auf zu reden. Das will ich alles nicht hören. Das kann nicht sein. Das kann nicht die Wahrheit sein. Nein, nein, nein.“, antworte ich meinem Unterbewusstsein verzweifelt.

 

Edward wartete während meines inneren Kampfes ohne ein Anzeichen von Ungeduld. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich wieder etwas sagen konnte.

 

„Gut“, sagte ich. „Dann komme ich mit euch.“

Oh Isabella Swan, was tust du da nur? Was hoffst du damit zu erreichen? Du kannst vor der Wahrheit nicht länger fliehen. Aber gut, wenn du es nicht auf die sanfte Weise lernen willst, musst es eben auf die harte Tour lernen. Egal, was letztendlich das Ergebnis sein wird. Du weißt, dass ich immer für dich da sein werde.

Gab es denn keinen Weg, diese nervige innere Stimme abzustellen? Es reichte schon, dass seine Worte mein Herz vor Angst schneller schlagen ließen. Da brauchte ich nun wirklich nicht meine eigene, die mir zusätzlich noch die Luft zum Atmen nahm.

 

„Das geht nicht, Bella. Da, wo wir hingehen ... das ist nicht der richtige Ort für dich.“

Da hat er vielleicht nicht ganz unrecht, oder?

„Wo du bist, ist immer der richtige Ort für mich.“, widersprach ich ihm und gleichzeitig mir selbst.

Da liegst du richtig, Bella. Du brauchst ihn.

Ich war erleichtert, dass mein Bewusstsein und mein Unterbewusstsein sich wenigstens in diesem Punkt einig waren.

„Ich bin nicht gut für dich, Bella.“

Da liegst du falsch, Edward. Sie braucht dich. Mehr als du ahnst. Du kannst es ihm ruhig sagen, doch es wird nichts ändern, so leid es mir auch tut. Glaub mir.

Ich gab es auf zu versuchen, mein Unterbewusstsein ruhig zu stellen. Ich brauchte meine ganze Kraft – die immer weniger wurde – jetzt dazu, dass Schlimmste zu verhindern.

„Sei nicht albern.“ Das sollte wütend klingen, aber es klang nur flehend.

„Du bist das Beste in meinem Leben.“

Bitte. Das musste er doch wissen. Er wusste doch, was ich für ihn fühlte. Wie ich mich mit ihm fühlte. Glücklich. Ganz. Vollständig.

„Meine Welt ist nichts für dich“, sagte er grimmig.

Welche Beweise brauchst du noch? Isabella, sieh nun endlich der Wahrheit ins Gesicht, bevor es noch viel schlimmer wird.

Noch schlimmer? Was könnte denn noch schlimmer sein?

Daraufhin schwieg mein Unterbewusstsein und gab keinen Kommentar ab.

 

„Was mit Jasper passiert ist - das war nichts, Edward! Gar nichts!“, hielt ich verzweifelt dagegen und versuchte noch immer die Stimme in meinem Kopf zu ignorieren.

Ich musste verhindern, dass mein Albtraum wahr wurde – mit allen Mitteln, die ich zur Verfügung hatte.

Es war viel mehr als nichts.

Was meinte meine innere Stimme damit? Doch sie schwieg erneut.

„Hm, man hätte auf jeden Fall damit rechnen müssen“, sagte er.

Da hat er leider recht.

„Du hast es versprochen! In Phoenix hast du versprochen zu bleiben ...“


Verhindere es mit Allem was du hast, sagte ich mir immer wieder, doch mein Unterbewusstsein schüttelte nur traurig und resigniert mit dem Kopf.

„Solange es gut für dich ist“, korrigierte er mich.

„Nein! Dir geht es um meine Seele, stimmt's?“, rief ich zornig, die Worte platzten aus mir heraus - aber irgendwie hörte es sich immer noch flehend an.

„Carlisle hat mir davon erzählt, aber das ist mir egal, Edward. Es ist mir egal! Du kannst meine Seele haben. Ohne dich will ich sie nicht - sie gehört dir schon jetzt!“

 

Ja, das tut sie. Und genau das wird dein Verderben sein. Du hast unglücklicherweise dem Falschen dein Herz und deine Seele geschenkt. Aber die Gefühle lassen sich nun einmal nicht steuern, nicht wahr? Das Herz macht was es eben will. So ist es bei dir und so ist es bei ihm. Wie bei jedem Menschen.

 

Er holte tief Luft und starrte lange zu Boden. Sein Mund verzog sich ein ganz kleines bisschen. Als er schließlich aufschaute, hatte sein Blick sich verändert, er war jetzt noch härter - als wäre das flüssige Gold gefroren.

„Bella, ich möchte dich nicht dabeihaben.“

Er sagte es langsam und betonte jedes einzelne Wort, und dabei sah er mich mit seinem kalten Blick an, während ich die Bedeutung seiner Worte erfasste.

Jetzt fängt es an schlimmer zu werden.

„Du ... willst mich nicht ... haben?“

Es waren seltsame Worte, die aus meinem Mund kamen.

Genau das hat er gerade gesagt.

„Nein.“

 

Dieses eine Wort ließ mich innerlich erbeben. Auch wenn ich es nur ungern zugab, so langsam musste ich mir eingestehen, dass ich dem näher kommenden Albtraum so gut wie nicht mehr aufhalten konnte. Weil er mir seine Hilfe verweigerte. Er wollte mich nicht bei sich haben. Was bedeutete das? Er. Wollte. Mich. Nicht. Dabei. Haben.

Du weißt ganz genau, was diese Worte bedeuten Bella. Ich habe dir immer wieder gesagt, dass dies eines Tages passieren wird, aber du wolltest ja lieber die harte Variante. Du wolltest die Wahrheit nicht sehen und hast zugelassen, dass deine Liebe zu ihm mit jedem Tag größer und intensiver geworden ist. Und nun sieh dir an, was dir das gebracht hat.

 

„Tja, das ändert die Lage.“ Es wunderte mich selbst, wie ruhig und vernünftig das herauskam. Wahrscheinlich, weil ich wie betäubt war. Ich begriff nicht, was er mir da sagte. Ich wollte es einfach nicht begreifen.

Er wandte den Blick ab und schaute in die Bäume, dann sagte er: „Natürlich werde ich dich immer in gewisser Weise lieben. Doch was neulich geschehen ist, hat mir gezeigt, dass sich etwas ändern muss. Denn ich bin ... ich bin es leid, immerzu etwas vorgeben zu müssen, was ich nicht bin. Ich bin kein Mensch.“

 

Merkst du, dass er sich selbst widerspricht? Das er dich immer lieben wird, ist eine Lüge, so wie alles eine Lüge war. Er ist es leid etwas vorzuspielen – Mensch zu spielen. Dein lieber Edward erträgt nicht mehr unter Menschen zu sein. Unter deinesgleichen zu sein. Mit dir zusammen zu sein. Er hat es wahrscheinlich nie wirklich ertragen, mit dir Zeit zu verbringen. Wie hatte er sich damals ausgedrückt? Du warst – oder bist – für ihn wie eine Art Dämon, der aus seiner persönlichen Hölle aufgestiegen ist, um ihn zu ruinieren. Du hast ihn ruiniert und seine Familie gleich mit dazu. Bald wirst du verstehen, was ich damit meine. Das einzige, was ihn dazu verleitet hatte bei dir zu sein, waren deine stummen Gedanken, also unter anderem Ich.

 

Edward schaute mich wieder an, und die eisige Glätte seines perfekten Gesichts war tatsächlich unmenschlich.

„Ich habe das viel zu lange zugelassen, und das tut mir leid.“

Ja, dass er seine Zeit mit dir verschwendet hat, die er hätte besser nutzen können.

„Nein.“

Meine Stimme war nur noch ein Flüstern; jetzt drang mir die Wahrheit allmählich ins Bewusstsein und tröpfelte wie Säure durch meine Adern.

„Tu das nicht.“

Es ist zu spät, Isabella. Viel zu spät. Hast du es noch immer nicht begriffen?

Ich schaute zu Edward und sein Blick verriet mir, dass meine Worte viel zu spät kamen und meine innere Stimme recht hatte. Schon wieder. Wie sie es die ganze Zeit gehabt hatte.

Edward hatte es schon getan. Er hatte sich von mir gelöst und das viel ihm nicht allzu schwer gefallen zu sein, wie ich seinem Blick entnehmen konnte. Das gab den Worten meines Unterbewusstseins mehr Bedeutung, Gewicht und Wahrheit.

„Du bist nicht gut für mich, Bella.“

Jetzt drehte er das, was er vorhin gesagt hatte, um, und darauf konnte ich nichts mehr erwidern.

Niemand wusste besser als ich, dass ich nicht gut genug für ihn war.

 

Ja, weil ich es dir seit Monaten immer und immer wieder gesagt habe. Warum musste es nur soweit kommen? Warum hast du ihn so weit gebracht, dass er diese Worte aussprechen musste, die du niemals hören wolltest und deren Bedeutung du immer wieder verdrängt hast?

Darauf konnte ich ebenfalls nichts erwidern. Mein Unterbewusstsein hatte recht. So recht.

Ich öffnete den Mund zu einer Antwort und schloss ihn dann wieder. Ich versuchte es noch einmal.

„Wenn ... wenn du es so willst.“

Du liebst es dich selbst immer mehr zu verstümmeln, oder Isabella Swan? Warum drehst du das Messer immer mehr in die Wunde?

Edward nickte.

Mein ganzer Körper wurde taub. Vom Hals an abwärts hatte ich überhaupt kein Gefühl mehr.

„Aber um einen Gefallen möchte ich dich noch bitten, wenn es nicht zu viel verlangt ist“, sagte er.

Ich wusste nicht, was er in meinem Blick gesehen hatte, denn als Reaktion darauf flackerte ganz kurz etwas über sein Gesicht. Doch bevor ich es deuten konnte, waren seine Züge schon wieder zu der unbewegten Maske erstarrt.

Es war nichts, Bella. Und wenn doch ist es unwichtig.

„Was du willst“, versprach ich, jetzt mit etwas kräftigerer Stimme.

Was sollte er jetzt noch von dir wollen? Was soll das bringen?

„Still“, zischte ich meiner inneren Stimme so kräftig wie ich konnte zu.

Er ist meine große Liebe und für ihn würde ich ALLES tun – ALLES. Selbst jetzt. Er brauchte es nur zu sagen.

 

Als ich ihn ansah, schmolzen seine eisigen Augen. Das Gold wurde wieder flüssig, mit überwältigender Intensität brannte sich sein Blick in meinen.

„Tu nichts Dummes oder Waghalsiges“, befahl er und war auf einmal gar nicht mehr distanziert.

„Begreifst du, was ich sage?“

Ich nickte hilflos.

Warum sollte ihn das kümmern? Er will dich nicht mehr. Hast du das vergessen?

Natürlich hatte ich das nicht. Wie könnte ich alles was mit ihm zu tun hat je vergessen? Egal, ob es gute oder eben schlechte Zeiten waren.

Sein Blick wurde wieder kühl und unnahbar.

„Ich denke selbstverständlich an Charlie. Er braucht dich. Pass auf dich auf - ihm zuliebe.“

Wieder nickte ich. „Ja“, flüsterte ich.

Mein Unterbewusstsein grummelte und biss die Zähne zusammen, sagte jedoch nichts dazu.

Jetzt wirkte er ein kleines bisschen entspannter.

Warum sollte er das denn sein? Höchstens weil er dich jetzt endlich los ist!

„Und ich verspreche dir im Gegenzug auch etwas“, sagte er.

„Ich verspreche dir, dass du mich heute zum letzten Mal siehst. Ich werde nicht zurückkehren. Ich werde dich nicht noch einmal einer solchen Gefahr aussetzen. Du kannst dein Leben ungestört von mir weiterleben. Es wird so sein, als hätte es mich nie gegeben.“

Als Edward diese Worte von sich gegeben hatte, schien mein Unterbewusstsein vor Wut zu explodieren. Die Stimme in meinem Kopf brüllte mich förmlich an und zwar so laut, dass Edwards Worte in den Hintergrund traten und ich einen weiteren inneren Kampf austrug.

 

Jetzt ist es genug. Ich habe lange genug geschwiegen.

Ach ja?

Isabella Marie Swan. Ich werde dir jetzt die Augen öffnen und dir die bittere Wahrheit offenbaren. Auch wenn sie dir nicht gefallen wird, aber du wirst letztendlich einsehen, dass ich recht habe. Denn irgendwann musst du aufwachen. Also warum nicht jetzt, wenn du langsam lernst einen Teil der grausamen Wahrheit zu begreifen und zu akzeptieren?

Bitte, nicht jetzt. Hat das nicht Zeit?

Nein!

Ab diesem Moment verschwamm Edward vor meinen Augen. Ich sah ihn zwar immer noch an, doch in Wirklichkeit tat ich es nicht. Ich sah nur durch ihn hindurch, da ich mich jetzt nicht mehr am Waldrand bei Charlies Haus befand. Körperlich schon, aber geistig war ich an einem ganz anderen Ort.

Ich war in meinem Kopf und stand mir selbst – also meinem Unterbewusstsein – gegenüber und führte das Gespräch meines Lebens (mit mir selbst). Es war ein innerer Kampf zwischen dem Bewusstsein und Unterbewusstsein. Am Rande nahm ich noch wahr, dass Edwards Lippen sich bewegten und er irgendetwas sagte. Was er jedoch sagte, hörte ich nicht. Ich war im Moment einfach nicht in der Lage irgendetwas zu hören, auf irgendetwas zu reagieren, was außerhalb meines Kopfes stattfand.

Bella, du wirst mir jetzt zuhören, ob du willst oder nicht!

Bitte nicht jetzt. Ich muss seine Worte hören. Die letzten Worte die er mit seiner wunderschönen Stimme an mich richtet.

Mein inneres Ich seufzte verzweifelt und schaute mich mit trauriger Resignation an.

Bella, ich möchte doch nur… Aber wenn du das Loch in deinem Herzen noch vergrößern möchtest, dann bitte.

Ich befand mich nicht ganz im Hier und Jetzt und konnte Edward nur schemenhaft durch meine Augen wahrnehmen. Doch seine Stimme konnte ich jetzt wieder hören, auch wenn sie weiter weg klang.

 

„Das wäre dann wohl alles. Wir werden dich nicht mehr belästigen.“, sprach er gerade.

Verdammt, was hatte er nur davor gesagt? Ich wollte nichts verpassen, egal wie schlimm es auch war. Es ging hier immerhin um Edward.

Die Tatsache, dass er in der Mehrzahl sprach, ließ mich aufhorchen - dabei hätte ich nicht gedacht, dass ich überhaupt noch irgendetwas bemerken würde.

„Alice kommt nicht mehr wieder“, sagte ich und wunderte mich, wie ich überhaupt sprechen konnte.

Ich wusste nicht, wie er mich hören konnte - die Worte kamen lautlos heraus -, doch er schien zu verstehen. Langsam schüttelte er den Kopf und ließ mein Gesicht dabei nicht aus den Augen. Wie es wohl aussah? Nein, die Antwort darauf wollte ich nicht wissen.

„Nein. Sie sind alle fort. Ich bin geblieben, um mich von dir zu verabschieden.“

„Alice ist weg?“, fragte ich ungläubig.

Warum tust du dir wieder und wieder selbst weh, Isabella? Du bist wirklich masochistisch.

 

„Sie wollte dir auf Wiedersehen sagen, aber ich konnte sie überzeugen, dass ein glatter Bruch besser für dich ist.“

Mir war schwindlig und ich konnte mich kaum konzentrieren. Ich versuchte normal zu atmen. Ich musste mich konzentrieren, um aus diesem Albtraum herauszufinden, obwohl ich wusste, dass es zwecklos war.

„Leb wohl, Bella“, sagte er mit derselben ruhigen, friedlichen Stimme.

„Warte!“, brachte ich mühsam heraus.

Ich streckte die Arme nach ihm aus und zwang meine gefühllosen Beine vorwärts.

Bella, du kannst ihn nicht aufhalten. Er hat sich entschieden. Endgültig. Und das weißt du auch.

Einen Moment lang dachte ich, auch er würde die Arme nach mir ausstrecken. Doch seine kalten Hände umfassten meine Handgelenke und drückten meine Arme sanft herunter. Er beugte sich zu mir herab und drückte mir einen ganz leichten, flüchtigen Kuss auf die Stirn. Ich schloss die Augen. Mein Unterbewusstsein knurrte bei seiner Geste.

Was erlaubt er sich eigentlich?! Wie kann er das JETZT NOCH tun?

„Pass auf dich auf.“

Die Worte waren ein kühler Hauch auf meiner Haut.

Warum sagst du so leere Worte. Es kann dir doch egal sein, was aus ihr wird. Ach ja, das ist es dir ja. Aber mir nicht.

Dann erhob sich eine leichte, unnatürliche Brise. Ich riss die Augen auf. Die Blätter eines kleinen Weinblattahorns bebten von dem leichten Wind, den Edward aufgewirbelt hatte.

Er war weg.

 

Meine große Liebe, der ich mein Herz und meine Seele geschenkt habe und für die ich alles getan hätte – und tun würde –, hatte mich für immer verlassen. Nun war ich allein. Allein mit mir selbst. Jetzt war ich bereit mich meiner inneren Stimme zu stellen und ihr zuzuhören. Nun ja, nicht wirklich bereit. Aber ich hatte jetzt in diesem Moment nichts Wichtiges mehr zu tun. Denn das Wichtigste in meinem Leben war gerade vor mir geflohen.

Nun hat das grausame Spektakel endlich ein Ende gefunden. Ein Spektakel, welches du für dich durch deine verzweifelten Versuche noch viel schlimmer gemacht hast.

Von meiner Umwelt nahm ich nichts mehr wahr. Äußerlich stand ich aufrecht – jedenfalls kam es mir so vor – und schaute mit den Augen auf die Stelle, wo Edward sich gerade eben noch befunden hatte. Ich befand mich nun mit meinem ganzen der Konzentration in meinem Kopf und sah meinem zweiten Ich ins Gesicht. Das Gesicht meines Unterbewusstseins war eine Mischung aus Wut, Trauer, Verzweiflung und Resignation. Seltsam das ich mein Gesicht so gut lesen konnte. Warum war ich für so etwas überhaupt in der Lage? Eigentlich ist dieses ganze folgende Gespräch unwichtig. So wie alles andere auch. Er war gegangen. Für immer.

Bist du bereit die schmerzhafte Wahrheit zu erfahren und zu erkennen?

Ich reagierte nicht. Was könnte denn noch schlimmer sein als das?

Wo soll ich anfangen?

Es ist doch sowieso alles egal. Sag, was du zu sagen hast und dann lass mich in Ruhe.

Mein Unterbewusstsein schüttelte daraufhin nur mit dem Kopf.

Also dann…

Das, wovor ich dich immer gewarnt hatte, ist nun doch alles eingetreten. Ich habe dir die ganze Zeit gesagt, dass er dich eines Tages verlassen wird, weil du nicht gut genug für ihn bist. Du bist nur ein Mensch und er ist ein Vampir. Ihr seid einfach zu unterschiedlich. „Lamm und Löwe“ wie er es einst ausgedrückt hatte. Eine sehr treffende Beschreibung.

Du hast ihm nie irgendetwas bedeutet. Du warst für ihn nur ein dummes, erbärmliches, schwaches, zerbrechliches Menschenmädchen, das ihn fasziniert hatte. Er hat dich nur als wissenschaftliches Experiment gesehen, wie du es damals gedacht hast. Diese ganze Liebes-Geschichte diente nur dazu, dich bei Laune zu halten.

Ich hielt mir mit beiden Händen meine Ohren und kniff die Augen fest zu.

Bitte, kein Wort mehr. Es tut so weh. Ich ertrage das keine einzige Sekunde mehr. Bitte lass mich zufrieden.

Die Hände auf meinen Ohren wurden mir entfernt. Ich hatte nicht genügend Kraft dagegen anzukämpfen. Neue Worte meines Unterbewusstseins drangen an mein Ohr.

 

Du warst für ihn nur eine Ablenkung. Ein kleiner Klecks in der grauen Ewigkeit des monotonen Vampiralltags. Mehr nicht. Nur ein dummes Menschlein, mit dem er gespielt hat, dessen er nun überdrüssig geworden ist. Du warst wie Dreck an seinem edlen, glänzenden, hochwertigen Schuh, welchen er sich heute endlich abgestreift hat. Denn niemand mag Dreck auf Markenschuhe. Er hat dich nie wirklich geliebt. Es war alles nur Fassade. Und da ist er nicht der einzige.

Diese letzten Worte ließen meine Augen sich wieder öffnen. Ich wollte mein Unterbewusstsein anschreien, dass es endlich still sein sollte. Aber ich konnte einfach nicht. Ich hatte keinerlei Kraft mehr irgendetwas zu erwidern. Durch seinen Weggang wurde ich leer und kraftlos. Ein Teil von mir wollte meiner inneren Stimme weiter zuhören. Warum auch nicht? Bis jetzt hatte sie nur die reine Wahrheit ausgesprochen und alles andere ist bedeutungslos geworden. Ja, ich hatte wirklich eine masochistische Ader. Aber egal.

 

Die ganze Cullen-Familie hat dich nie geliebt.

Mein Unterbewusstsein wartete, doch von mir kam keine Reaktion. Ich konnte nur noch zuhören.


Du hast ihnen ebenfalls nie irgendetwas bedeutet!

„Das stimmt nicht!“, brachte ich heraus.

Ach nein? Dann werde ich dir mal die Wahrheit vor Augen führen. Wenn du ihnen etwas bedeutet hättest, dann hätten sie sich doch wenigstens von dir verabschieden können, oder? Ach, eigentlich zählt dieses Argument gar nicht richtig. Edward ist geblieben, um sich von dir zu verabschieden. Aber das hat gar nichts zu bedeuten. Weil es ihm nichts bedeutet hat. Er hat es nur aus Anstand und Höflichkeit getan. Mehr nicht.

Ja, das stimmte wohl. Dieses Verhalten würde auch zu Ihm passen.

Für jeden einzelnen der Familie warst und bist du ein Nichts, Isabella. Du hast nie zur Familie gehört. Nie. Weil du eben nur ein schwächliches, kleines Menschenmädchen bist. Du warst ihnen nie etwas wert gewesen, weil du es auch niemanden etwas wert bist. Das ist eine Tatsache.

„Das ist nicht wahr!“, hielt ich verzweifelt dagegen.

Ich sollte niemanden etwas wert sein? Gar niemanden? Nicht einmal meinen Eltern?

Lass mich ausreden und du wirst verstehen.

Wenn ich dich bitten würde aufzuhören, würdest du es trotzdem nicht tun.

Ich konnte mein inneres Ich nicht sehen, da es sich immer noch an meinem Ohr befand. Die Kraft meinen Kopf zu drehen besaß ich nicht mehr.

 

Was du für ihn warst, weißt du bereits.

Für Emmett warst du nur ein Unterhaltungszweck. Etwas, dass seine Lachanfälle am Tag steigerte. Du warst für ihn immer eine Lachnummer gewesen. Ein erbärmliches Mädchen, welches nur so durchs Leben stolperte. Ja, darüber kann man auch nur lachen. Der liebe Emmett ist völlig auf seine Kosten gekommen.

 

Dem hatte ich nichts entgegen zu setzen. Alles stimmte.

 

Für Rosalie warst du eine Gefahr, was sie auch gesagt hat. Ein Eindringling, der die Harmonie der Familie nur gestört hat. Durch dein Auftauchen und SEIN Egoismus wurde das empfindliche Zahnradgetriebe durcheinander gebracht. Rosalie hatte von Anfang an recht gehabt. Du hast ihnen nur Probleme und Unannehmlichkeiten bereitet. Denk nur an die Sache mit James.

Für Alice warst du ein kleines Spielzeug, ähnlich wie für IHN. „Oh, ein Mensch in unserem Haus. Mal sehen, was alles geschehen wird?“ Auch hat dich Alice in diesem Haus erduldet, weil du ein guter Test für Jasper gewesen bist. Durch dich konnte getestet werden, wie stark Jaspers Selbstbeherrschung inzwischen geworden ist. Ein lebender Leckerbissen, der er (normalerweise) nicht anrühren durfte.

Jasper fand diese Idee bestimmt auch ganz gut. Denn du weißt ja, dass er – laut Alice – es nicht ertragen kann, schwach zu sein. Doch wie man sieht, ist er in dem Test durchgefallen. Jasper wurde durch dich wieder vor Augen geführt, wie schwach er ist. Dafür hasst er dich. Und Alice hasst dich dafür, dass es ihrem Mann deinetwegen schlecht geht.

Carlisle und Esme, die du als deine zweiten Eltern angesehen hast, haben dich auch nie wirklich geliebt. Für Carlisle bist du ebenfalls nur ein schwacher Mensch. Eine Patientin, die durch ihre Tollpatschigkeit öfter als jemand sonst im Krankenhaus behandelt werden muss. Mehr warst du für ihn nicht. Wenn du ihm wirklich etwas bedeuten würdest, wenn er dich tatsächlich als einen Teil der Familie – als seine neue Tochter – sehen würde, dann hätte er als Familienoberhaupt ein Machtwort gesprochen und verhindert, dass gleich alle Cullens gegangen sind. Für die Gefühle seines Sohnes kann er ja nichts. Oder wenigstens hätte er dafür sorgen können, dass sich wirklich alle von dir verabschiedet hätten.

Aber er hat nichts getan.

Das beweist doch, dass du nie zu ihnen – zu dieser Familie gehört hast. Du stehst mit der Familie nicht auf einer Stufe, sondern unter ihnen. Carlisle war seine Familie wichtiger als du. Verständlich. Er muss dafür sorgen, dass die Familie zusammen bleibt und das wäre sie nicht gewesen, wenn nur Edward gegangen wäre. Wenn einer geht, dann gehen alle. Das ist wahrer Familienzusammenhalt. Wie sollte es auch anders sein? Du bist keine von ihnen und wirst es auch niemals werden. So kannst auch nie ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft werden. Deine große Liebe hat dich nicht geliebt. Warum sollte er dich verwandeln wollen?

Was Esme angeht. Für sie bist du nichts, weil du nie wirklich Edward glücklich gemacht hast. Denn wie er mal gesagt hatte, ist Esme glücklich, wenn ihr Sohn glücklich ist. Und das war er nie. Also hast du logischerweise Esme auch nie glücklich gemacht. Deine Anwesenheit hat sie nie wirklich gefreut. Es war alles nur Fassade gewesen, um die Ablenkung bei Laune zu halten, weil Edward eine selbstsüchtige Kreatur ist, wie er es ausgedrückt hatte.

Siehst du es jetzt ein, dass dich keiner von den Cullens geliebt hat?

 

So schmerzlich es auch war, was mein Unterbewusstsein mir sagte, klang alles logisch und verständlich. Sicherlich hatte meine innere Stimme recht. So wie mit allem anderen auch.

 

So. Kommen wir jetzt zu Renee und Charlie.

Ich zuckte zusammen, erwiderte nichts dazu, lauschte nur den Worten meiner inneren Stimme.

Beide lieben dich nicht wirklich, Isabella. Ich werde es dir erklären. Es wird Zeit, dass du auch diesen Teil der Wahrheit begreifst.

Mein Unterbewusstsein hatte recht. Es ist alles wirklich grausam, was es mir da zuflüsterte.

 

Renee ist unglücklich geworden, weil sie wegen dir weniger Zeit mit Phil verbringen konnte. Deswegen bist du doch fort gegangen und nach Forks zu Charlie gezogen. Du bist dem Glück deiner Mutter im Weg gestanden, darum bist du aus ihrem Leben verschwunden. Deine Anwesenheit hat sie nur gestört. Ihr geht es viel besser ohne dich, oder siehst du das anders?

Ich wollte – oder musste? – widersprechen, doch als mir diese Worte wieder und wieder durch den Kopf gingen, musste ich wohl einsehen, dass mein Unterbewusstsein auch in diesem Punkt richtig lag. Renee ging es wirklich viel besser ohne mich. Wenn ich da an ihre Mails denke, die sie mir schreibt? Man kann ihr Glück durch ihre Worte förmlich spüren. Nein, Renee ist erwachsen – mehr als früher – und sie hat Phil nun gänzlich an ihrer Seite. Eigentlich braucht sie mich nicht mehr. Aber bedeutete das wirklich, dass sie mich nicht liebt?

War sie nun unglücklich, als du bei ihr in Phoenix gewesen bist, oder nicht? Du weißt, dass du sie gestört hast, nicht wahr?

Traurig seufzend stimmte ich zu und gab mich geschlagen. Ja, ich sah ein, dass meine innere Stimme mir schlagende Argumente präsentierte.

Und Charlie?

 

Seien wir ehrlich, Bella. Für ihn macht es keinen großen Unterschied, ob du bei hm lebst oder nicht. Er hat die letzten 17 Jahre sein Leben gut allein gelebt. Er hat seine Arbeit, seine Angelei und Baseballabende mit Harry Clearwater und mit Billy. Er ist glücklich. Auf seine Art. Und wenn du da bist, was macht ihr da schon gemeinsam? Er schaut seine Spiele, du kochst für ihn, dann setzt ihr euch gemeinsam hin, um Abend zu essen. Ihr redet währenddessen zwar miteinander, aber viel ist es meistens auch nicht. Zum Angeln begleitest du ihn auch nicht, weil es nichts für dich ist. Ihr habt so gut wie keine Gemeinsamkeiten, kein Thema, über das ihr euch unterhalten könntet. Außer was? Jungs und College?Eine super Beziehung Bella.

Nein, nein. Charlie kommt ganz gut allein zurecht, wie er es immer getan hat. Was für eine Rolle spielst du schon in seinem Leben? Richtig, keine besonders große. Wenn du nicht da wärst, würde er schon schnell darüber hinwegkommen und/oder sich ablenken mit irgendetwas. Wie immer.

Du siehst: Es ist nicht von Bedeutung, ob du da bist oder nicht. Keiner liebt dich. Keiner braucht dich. Und deine große Liebe will dich nicht. Deine Existenz ist niemandem wichtig. Nicht so sehr, wie sie sein sollte. Sie ist sinnlos. Sie war ja nicht mal geplant, nicht wahr? Du warst vielleicht nicht unbedingt ein Wunschkind. Du warst ein Unfall. Ein Unfall, der ruhig nicht hätte sein müssen. Oder noch nicht zu dieser Zeit.

 

Auch das stimmte. Die frühe Heirat von Renee war wirklich überstürzt, wie sie selbst immer sagte. Frisch von der High School und sozusagen gleich den ersten Mann genommen, zu dem sie sich hingezogen fühlte. Alles war neu und aufregend für meine Mutter damals gewesen. Genau wie ihre Schwangerschaft. Neu, aufregend und ja, vielleicht nicht gerade geplant. Sie hatte mich aber gewollt, ganz sicher. Jedoch hat sie wohl doch erkannt – wenn vielleicht nicht bewusst –, dass ich für sie doch nur ein Hindernis war. Nun, da sie ihr Glück in Phil gefunden hatte.

Vielleicht war ich wirklich ein Unfall, der meinen Eltern hätte erspart bleiben können. Für Charlie hätte meine Nicht-Existenz nichts geändert und für Renee auch nicht. Sie wäre früher oder später sowieso aus Forks weg gegangen, da sie es nicht ertrug so lange auf die Sonne zu verzichten. Mein Auftauchen hatte diese Flucht aus der Stadt des Regens wenn überhaupt nur etwas beschleunigt. Und Phil hatte – und hätte – Renee ohne mich kennen gelernt.

Ja, meine Existenz spielte für niemanden eine große Rolle. Ich war wirklich ein Nichts.

Wem würde es schon kümmern, wenn du nicht mehr da wärst? Charlie kann für sich selbst sorgen. Renee ist glücklich mit Phil. Den Cullens bist du egal. Nur ein Menschlein von vielen. Eine kleine Ameise. Störend und trotzdem da. Alle würden sie mehr oder weniger mit Gleichgültigkeit auf deinen Tod reagieren. Edward wäre es egal, weil du kleines Mädchen keine Macht über ihn besitzt. Erinnerst du dich an seine Worte von damals auf der Lichtung? Vielleicht wird er auch froh sein, dass die Gefahr, in der er seine Familie gebracht hatte, endlich beseitigt ist. Er hatte doch damals gesagt, dass er schon genug Gründe gehabt hätte, um dich zu töten.

Rosalie würde sich mit ihm freuen und sogar Luftsprünge machen, bildlich gesprochen natürlich. Keine Gefahr mehr für die Familie. Keine Möglichkeit mehr, dass Geheimnis verraten wird. Dass du es sowieso niemals tun würdest, ist nicht wichtig. Es ging ihr immer nur ums Prinzip. Emmett würde es mit einem Schulterzucken abtun.

Jasper wird froh sein, wenn der Beweis seiner Schwäche nicht mehr unter den Lebenden weilt. Alice wird schon was Neues finden. Sie ist eine Frohnatur – wenn das überhaupt alles echt und nicht vorgespielt war. Und sie wird froh sein, wenn Jasper nicht mehr leiden muss. Carlisle wird es sicherlich aus der Sicht des Arztes betrachten. Zum Leben gehört auch der Tod. Jeder (Mensch) stirbt irgendwann. Manche früher, manche später. Du bei deinem Glück eher früher. Niemand könnte das besser wissen als er.

Esme? Da bin ich mir nicht sicher. Aber wenn es Edward gleichgültig ist beziehungsweise dein Tod ihn auf irgendeine Weise glücklich macht, dann wird sie auch glücklich sein.

 

In meinem Kopf konnte ich nicht mehr aufrecht stehen. Ich brach zusammen, landete mit den Knien auf den dunklen schwarz-blauen Boden, hielt den Kopf gesenkt und stützte mich vorgebeugt mit ausgestreckten Armen vom Boden ab.

 

Bitte, bitte. Kein Wort mehr. Der Schmerz. Das ist alles zu viel. Es tut einfach zu weh. Okay, du hast gewonnen. Ich akzeptiere die Wahrheit – so grausam sie auch ist – und werde nichts mehr verdrängen. Und langsam bin ich davon überzeugt, dass du mit allem recht hast. Du hast wirklich kräftige Argumente und logische Schlussfolgerungen. Es ist alles plausibel. Aber warum hast du mir das alles erzählt? Willst du damit sagen, dass ich mir ruhig das Leben nehmen kann, da es sowieso niemanden groß interessieren wird?

 

Du kannst doch den schrecklichen Schmerz durch seinen Verlust kaum ertragen, oder? Nicht zu vergessen die Erkenntnis, dass dich niemand liebt und niemand braucht.

Ja.

 

Dann wäre das wohl ein guter Ausweg, um deinen Qualen ein Ende zu bereiten.

 

Mag sein. Aber das könnte ich nie tun.

 

Und warum nicht?“, zischte meine innere Stimme leicht verwirrt und wütend.

 

Sie drang nun nicht mehr von der Seite an meine Ohren. Mein Unterbewusstsein schien mir laut der Stimme wieder gegenüber zu stehen. Meinen Kopf hob ich nicht.

 

Das Versprechen, das er mir abgenommen hat, werde ich unter gar keinen Umständen brechen.

 

Warum willst du dich überhaupt daran halten? Er hat dich darum gebeten nichts Dummes oder Waghalsiges zu tun, weil Charlie dich angeblich braucht, was du ja jetzt weißt, kompletter Unsinn ist. Und sein Versprechen hat er doch gleich gebrochen, als er es gegeben hatte. Als hätte es ihn nie gegeben? Nichts wird mehr so sein wie es war, bevor er in dein Leben getreten ist. Das wissen wir beide.

Du hast dich durch ihn komplett verändert und dies lässt sich nicht einfach ungeschehen machen. Außerdem gibt es da noch die CD mit deinem Schlaflied, die Fotos und die Narbe von James Bissabdruck auf deiner Hand. Zwei dieser Beweise lassen sich wohl leicht beseitigen, der dritte aber nicht. Durch diesen einen Makel wirst du immer an ihm erinnert werden, selbst wenn du ihn vergessen wolltest, was du nicht willst. Also sag mir was für einen vernünftigen Grund hast du, dein Versprechen halten zu wollen?

 

Du hast wieder einmal mit Allem recht. Dennoch wirst du mich diesmal nicht umstimmen können. Auch wenn es eigentlich Blödsinn ist, sich an eine Abmachung zu halten, die der andere längst gebrochen hat, so werde ich es ihm nicht gleichtun. Vielleicht bin ich nicht wie er. Vielleicht will ich auch einfach nicht wie er sein. Vielleicht löse ich mich mehr von ihm, wenn ich mein Versprechen breche. Vielleicht fühle ich mich ihm auf irgendeine seltsame Weise etwas näher, wenn ich mir seine letzten Worte zu Herzen und sie ernst nehme.

Ich weiß, dass es absolut verrückt klingt. Aber ich glaube, dass es das genau für mich bedeutet. Tja, ich wusste eben schon immer, dass ich ein Freak bin. Und wie ich bereits gesagt hatte, ist er mein Ein und Alles und für ihn würde ich auch Alles tun. Egal was. Und wenn er will, dass ich nichts Dummes oder Waghalsiges tue, dann mache ich so etwas auch nicht. Und sich umzubringen ist wohl ziemlich dumm und waghalsig.

 

Also willst du lieber an deinen Schmerzen zugrunde gehen? Wirklich masochistisch Bella, wirklich.

 

Nein, natürlich nicht! Jede Sekunde schmerzt. Wie soll ich da 60 oder 70 Jahre aushalten? Wenn es nur noch einen anderen Weg gäbe, den Qualen zu entkommen. Ich würde alles tun. Alles.

 

Ich glaube, ich kann dir eine Alternative anbieten.

 

Überrascht hob ich meinen Kopf und starrte mein Unterbewusstsein ins Gesicht, welches die Stirn vor Überlegungen in Falten gezogen hatte.

 

„Wirklich?“, fragte ich mehr oder weniger hoffnungsvoll.

 

Ich bin mir aber nicht sicher, ob du damit zufrieden sein wirst.

 

Sag es mir, bitte.

 

Ich lege dich – und somit auch mich – schlafen, bis der Körper seine Kräfte aufgebraucht hat und dein Leben somit zu Ende ist. Du wirst dich praktisch zu Tode schlafen. Und bevor du etwas sagst, diese Idee ist weder waghalsig, noch dumm. Was soll daran waghalsig sein, sich schlafen zu legen? Wieso soll es dumm sein, diese Möglichkeit wahrzunehmen, deinen Qualen zu entkommen? Es bringt nur Vorteile, wenn du weggesperrt in einem Zimmer im Bett liegst.

 

Und was für welche sollen das sein?

 

Wenn du dich in diesem Zustand befindest, stehst du niemandem mehr im Weg. Nicht mehr dir selbst, nicht deinen Eltern, denen es ohne dich gut gehen wird und besonders nicht den Cullens. Du tust ihnen mit deiner Entscheidung sogar einen Gefallen, vor allem Rosalie. Wenn du schläfst und nie wieder aufwachen wirst, ist das Geheimnis in Sicherheit. Komm schon, tue Rosalie wenigstens diesen Gefallen. Überleg‘ doch mal. Sie war die einzige, die dir hinsichtlich ihrer Gefühle zu dir nie etwas vorgespielt hat, im Gegensatz zu den anderen. Lieber bekommt man doch ehrlichen Hass zu spüren, als falsche unechte Sympathie oder Liebe.

 

Ich dachte so gut ich konnte über diese Möglichkeit und deren Vorteile nach. Wieder einmal musste ich erkennen, dass mein Unterbewusstsein wirklich gute Argumente vorbringen und mich so sehr gut überzeugen konnte. Vor allem die Worte über Rosalie waren für meine Entscheidung bedeutsam. Meine innere Stimme hatte so recht. Warum sollte ich ihr – und allen anderen – den Gefallen nicht tun und mein Leben auf diese Art und Weise beenden?

Es hatte wirklich nur positive Aspekte. Nebenbei würde ich auch so von meinen Schmerzen befreit werden und mein Versprechen würde ich durch meine Entscheidung ebenfalls nicht brechen. Zu Schlafen – egal für wie lange – war weder dumm, noch waghalsig. Warum war es denn dumm, meine überflüssige Existenz so zu verbringen? Schließlich bracht und liebt mich niemand. Nein, mich würde niemand großartig vermissen. Auch nicht meine Mitschüler. Angela vielleicht etwas. Aber sie hatte ja Ben. Sie würde mich schnell wieder vergessen haben. Und Jessica würde ich sogar auch noch einen Gefallen tun.

Wenn ich weg war, konnte Mike sich endgültig von mir lösen und seine Schwärmerei für mich hinter sich lassen. Er wäre wieder wirklich frei für Jessica, die schon immer ein Auge auf Mike geworfen hatte. Ja, auch Jessica würde sich über meinen Weggang freuen. Und Mike würde durch seine neue Freundin keinen Gedanken mehr an mich verschwenden.

Ja, mein Entschluss stand nun endgültig fest. Ich würde mich für diesen Ausweg entscheiden.

 

Natürlich werden Rosalie und die anderen von ihrer Familie nie erfahren, was aus dir geworden ist, was du unter anderem für sie getan hast. Denn dafür müssten sie sich für dich wenigstens etwas interessieren, was sie nie getan haben und auch nie tun werden. Denn…

 

Denn ich bedeute ihnen nichts, genauso wie ich allen anderen Menschen nichts bedeute, ja das habe ich selbst inzwischen begriffen. Es ist auch egal. Ich weiß, was ich getan habe und dass ich mein Versprechen ihm gegenüber nicht gebrochen habe. Das reicht mir. Alles andere ist nicht mehr wichtig. Wie funktioniert das nun mit dem Schlafen legen?

 

Mein Unterbewusstsein hielt mir eine Hand hin. Ich ergriff sie und wurde wieder hochgezogen, sodass ich nun wieder aufrecht stand. Ich blickte mir selbst ins Gesicht und sah, dass mein Unterbewusstsein leicht lächelte. Meine Hand war noch nicht frei gegeben worden.

 

Es ist ganz einfach. Siehst du hinter mir dieses schwarze Loch?

Ich blickte an mir selbst vorbei und sah ein Loch vor mir. Ein schwarzes Nichts. Genau wie ich ein Nichts bin. Wie passend.

 

„Da muss ich hinein gehen?“, fragte ich und schaute mich wieder an.

Mein Unterbewusstsein nickte.

 

Ja. Du musst nur in die Dunkelheit gehen und schon wird sich dein Körper schlafen legen. Wenn du dort bist, wirst du nichts mehr spüren. Du befindest dich fern von jeder Realität. Für dich wird keine Zeit vergehen, egal wie lange dein Herz noch schlagen wird.

Die schützende Dunkelheit, die dich umgeben wird, wird deinen Schmerz so gut wie ganz dämpfen. Hier in deinem Inneren wirst du immer das 18-jährige Mädchen bleiben, das von ihrem Freund verlassen wurde, während dein Körper altern wird. Bei dir liegt der Fall anders herum, als bei den Cullens. Ihre Körper altern nicht, dafür aber ihre Seelen. Sie reifen innerlich, während du es nicht mehr tust. Welch‘ Ironie, nicht wahr?

 

So makaber diese Situation auch sein wird. Dort werde ich ihn auch nie vergessen, wenn die Zeit still steht, oder?

 

Das ist wahr.

 

Das ist gut. Auch ist es irgendwie gut, dass der Schmerz nicht zu 100 Prozent verschwinden wird. Ich brauche ihn. Denn er ist der Beweis, dass es ihn in meinem Leben einmal gegeben hat. Ich brauche diesen minimalen Anteil meines Schmerzes, um ihn nicht zu vergessen, um an ihn denken zu können. Selbst dort in der Finsternis. Auf diese Art und Weise ist es bestimmt ganz angenehm den Schmerz zu empfinden und Erinnerungen wach rufen zu können. All dies kann ich tun, obwohl ich dort – wenn ich hineingehe – gefangen sein werde. Aber ich werde dort im Nichts wenigstens etwas Frieden erlangen, bis mein Körper an Altersschwäche gestorben ist und ich völlig gefahrlos wieder aus der Dunkelheit treten kann.

Vor meinem körperlichen Tod – seelisch bin ich es ja schon – sehe ich es nicht als notwendig an, die schützende Dunkelheit zu verlassen. Warum sollte ich auch aufwachen? Wofür oder für wen sollte ich überhaupt noch leben (wollen)? Dafür bin ich niemandem wichtig genug.

 

Du liegst mit allem richtig, Bella. Ich bin sehr froh, dass du endlich alles verstanden hast.

 

Auch wenn es schwierig war, so danke ich dir trotzdem irgendwie, dass du mir die Wahrheit gesagt hast.

 

Dafür bin ich da. Du musst mir für nichts danken. Du weißt, dass ich eigentlich nur das Beste für dich – für uns – will. Auch wenn meine Methoden etwas…außergewöhnlich sind. Ich bin nur da, um dir zu helfen. Bist du bereit, dich von Allem zu lösen? Vom Leben, der Realität, den Menschen und deinen Schmerzen?

 

Ich nickte und brachte ein seliges ruhiges Lächeln zustande. Froh, dem schrecklichem Schmerz so entkommen zu können, dass er erträglich wird.

 

Dann komm mit mir. Habe keine Angst vor der Dunkelheit. Sie ist nicht dein Feind. Sie will dich nur schützen. Denk immer daran.

Ich nickte.

Ja.

 

So zog mich mein Unterbewusstsein hinter sich her, bis wir vor dem Eingang des schwarzen Nichts standen. Mein Unterbewusstsein drehte sich noch einmal zu mir um, nur um ganz sicher zu gehen, dass ich meine Meinung nicht doch noch änderte. Aber das wollte ich nicht mehr. Ich hatte mich entschieden. So wie…er sich entschieden hatte.

Mein inneres Ich lächelte mir noch einmal kurz zu, wandte den Kopf wieder von mir ab und trat langsam mit mir in die Dunkelheit. Dort angekommen war alles schwarz und ich war allein. Die Dunkelheit hatte mich sofort umschlossen. Ich konnte mich selbst nicht mehr sehen.

 

„Wo bist du?“, fragte ich verzweifelt. Ich wollte nicht ganz allein sein. Da hörte ich meine innere Stimme.

 

Ich bin immer bei dir, auch wenn du mich ab jetzt nicht mehr sehen kannst. Habe keine Angst. Ich bin hier. Lasse dich nun auf die Dunkelheit ein. Lass einfach los. Es ist ganz einfach.

 

Die Worte meines Unterbewusstseins beruhigen mich und langsam wich meine Angst. Ich atmete tief ein und wieder aus. Die Dunkelheit schien in meinem Körper einzudringen. Schon vom ersten Moment an, fühlte ich mich wohl. Die Dunkelheit war nicht gefährlich. Sogleich merkte ich, wie mein Schmerz immer weniger wurde, bis er schließlich auf einen kleinen minimalen Punkt zusammen schrumpfte. Ich spürte ihn fast nicht mehr. Er war erträglich.

Ich horchte in mich hinein. Ich spürte tatsächlich gar nichts mehr, außer den kleinen nun wohltuenden Stich des Schmerzes. Aber ansonsten nichts mehr. Keine Trauer, keine Angst, keine Verzweiflung. Nein, es gab nur noch die Leere, in der ich mich mit dem kleinen Punkt befand. Ich lächelte zufrieden. Hier werde ich es aushalten können, bis meine Zeit abgelaufen ist. Wie lange das wohl dauern wird? 70 Jahre? 30 Jahre? Nur einige Monate? Egal. Zeit spielte keine Rolle. Hier stand sie still.

 

Auktorialer Erzähler

 

Und draußen in der Wirklichkeit, als Isabella Marie Swan endgültig beschlossen hatte, ihren Geist in ihrem Inneren weg zu sperren, fiel ihr Köper rücklings auf den Waldboden, sodass die toten, leeren, fast schwarzen Augen in den bewölkten Himmel schauten, ohne ihn wirklich zu sehen. Für einen winzigen Moment konnte man ein kleines schwaches Lächeln auf ihren blassen Lippen erkennen. Doch niemand war da, der dies hätte sehen können. So schnell es auch da war, so schnell verschwand es auch wieder. Genau wie das einst fröhliche Mädchen Bella Swan, das Edward Cullen für immer und ewig lieben würde.

 

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So Leute. Ich hoffe euch hat es gefallen. Was haltet ihr von Bellas Unterbewusstsein und dessen Argumenten?
Bin gespannt auf eure Meinungen.

Was aus dieser neuen Geschichte noch wird, weiß ich noch nicht. Mir spukte diese Idee nur schon eine Weile im Kopf herum, sodass ich es nicht mehr länger aushielt und sie endlich aufs Papier bringen musste.
Eigentlich sollte das nur ein One-Shot sein, aber ich glaube es reicht für eine Kurzgeschichte.
Mal sehen.

 

 

Stillstand...

Edwards POV




Braun.

Irgendetwas regte sich da in meinem Inneren.

Braun.

Warum kam mir dieses Wort überhaupt in den Sinn?

Braun.

Warum verspürte ich bei plötzlich ein schmerzhaftes Ziehen in meiner Brust? Warum spürte ich überhaupt etwas?

Braun.

Was hatte es mit diesem Wort auf sich, dass ich wieder etwas fühlte?
Denn ich hatte es mit der Zeit verlernt, irgendetwas zu empfinden. Denn so war es besser für mich. Nachdem ich meine große Liebe, mein Leben, mein Ein und Alles verlassen hatte, lebte ich im Nichts. Ich hatte mich für diesen Weg entschieden, da ich an meinen Schmerzen des Verlustes zugrunde gegangen wäre. Obwohl, bin ich das nicht sowieso schon? Zugrunde gegangen? Ja, nur auf eine andere Weise. Auf eine stille, nicht wahnsinnige grauenhafte Weise.

Braun.

Schon merkwürdig, was ein Wort in meinem Innersten anrichten konnte. Warum tauchte dieses einfache Wort in meinen Gedanken auf? Wie kam es dazu, dass ich überhaupt wieder dachte? Die letzte Zeit war mein Kopf wie leer gefegt. Ein Vakuum.

Braun.

Zum ersten Mal, seit ich wieder angefangen hatte zu denken, blinzelte ich und konnte meine Umwelt wieder wahrnehmen.

Braun.

Darum war diese Farbe in meinem Kopf präsent. Ich starrte vor mir auf einen schrägen fauligen und nassen braunen Holzbalken. Er musste wohl von oben runter gestürzt, mir auf dem Kopf gefallen sein und schließlich diese Schrägläge eingenommen haben. Wäre mein Körper nicht dort, wo er sich gerade befand, wäre der Pfeiler ganz zu Boden gefallen. Also musste sich durch diesen dumpfen – kaum spürbarem – Schlag mein Gehirn und seine Denkprozesse irgendwie wieder in Gang gesetzt haben. Wenn auch nur sehr langsam, was sehr peinlich ist, wenn man berücksichtigte, was ich war.

Braun.

Schon wieder so ein schmerzhaftes Stechen in der Brust. Warum löste die Farbe dieses Balkens solche Schmerzen in mir aus? Ich verstand mich gerade selbst nicht. Ich blinzelte erneut ein paar Mal, um meinen Sehsinn zu schärfen, was eigentlich unnötig war. Wieder sah ich den Balken vor mir, der auf mich draufgefallen war. Das Holz – das braune Holz – musste schon sehr alt und morsch gewesen sein.

Nun, da mein Denken wieder eingesetzt hatte und die Leere in mir verdrängt wurde – denn verschwunden war sie sicher nicht – begann ich mich umzusehen. Ich drehte meinen Kopf in Vampirgeschwindigkeit in beide Richtungen, wodurch er von meinem Kopf  und auf dem Boden fiel. Der leise Aufprall kam mir unnatürlich laut vor und ich zuckte zusammen. Ich stellte fest, dass ich mich in einer kleinen Holzhütte befinden musste.

Überall Braun.

Es stach erneut in mir und ich nahm bewusst wahr, wie ich den Mund vor Qual verzog.
Wo befand ich mich überhaupt?
Wie lange saß ich schon hier? Wie viel Zeit war eigentlich vergangen?
War es gerade Tag oder Nacht?
Die Antwort auf diese Frage war schnell gefunden, als ich durch den Türspalt unter der Eingangstür das Licht sah. Es war Tag, wie es schien.

Ich versuchte mich zu erinnern, wie ich hier her gekommen bin. Für eine Weile war alles verschwommen, doch nach und nach fiel mir alles wieder ein. Nach diesem schrecklichen Tag bin ich meiner Familie nach Dillingham, eine Stadt in Alaska, nachgereist. Dort verbrachte ich ungefähr drei Wochen still in meinem Zimmer mit meinen ungeöffneten Kartons.
Warum hätte ich sie auch öffnen sollen?
Es gab für mich keinen Grund, den kahlen Raum mit meinen Sachen zu füllen. Alles was mir etwas wert war, hatte ich in Forks zurück gelassen. Meine CD-Sammlung, meinen Flügel – und das aller Wertvollste – SIE.

Rosalie hatte mir einen Schraubenschlüssel an den Kopf geworfen und mich so aus meiner gerissen.

„Edward, hör jetzt endlich damit auf, hier nur so dämlich rumzusitzen und benimm dich gefälligst wieder normal. Die ganze Familie und besonders ich halten das einfach nicht mehr aus. Wir haben nur wegen dir Forks verlassen und was tust du? Einfach nur dasitzen und vor dich hinstarren.“, fauchte Rosalie mich wütend an.

Die anderen gaben es nicht laut zu, jedoch waren sie teilweise auf Roses Seite, auch wenn sie verstanden, dass es nicht einfach für mich war. Rosalie war jedoch zu selbstsüchtig dafür, um für meine Situation Verständnis aufzubringen.

„Trauere meinetwegen noch ein wenig – auch wenn ich finde, dass drei Wochen lang genug waren –, aber komm doch mal langsam darüber hinweg. Die Familie kann nur wieder eine Familie sein, wenn du dich wieder normal benimmst und wir dann alle – auch du – so weiter machen können wie zuvor. Herr Gott, sie ist doch nur ein erbärmliches Menschenmädchen, das sowieso irgendwann stirbt und wir es überleben werden. Mehr ist sie nicht. Außerdem war sie doch nur eine Gefahr für unsere Familie und ein Klotz am Bein. Ohne sie ist die Familie viel besser dran.“

Sie hatte es tatsächlich gewagt, mir diese Worte ins Gesicht zu sagen. Rosalie verstand mein Verhalten einfach nicht und hatte die leise Befürchtung, dass ich bis zu IHREM Ableben so…sein würde. Das sprach sie aber nicht laut aus, dafür war ihre Wut zu übermächtig. Rosalie würde nie verstehen können, wie ich mich fühlte und das sich nach IHREM Tod keine Verbesserung einstellen würde – ganz im Gegenteil.

Als diese Worte von Rosalie bei mir angekommen waren und ich deren Bedeutung begriffen hatte, knurrte ich sie an. Meine erste Reaktion seit drei Wochen. Ich ging in Angriffsstellung, spannte meine Muskeln an und war bereit zum Angriff, als ich mich anders entschied. Es war sehr verlockend Miss Selbstverliebt anzugreifen, doch als ich in die Gesichter der anderen, die hinter Rosalie im Raum standen, gesehen hatte, könnte ich es nicht tun. Alle hatten ängstlich und mit großen Augen die Situation mitverfolgt.

Carlisle und Emmett waren kurz davor gewesen zwischen uns zu gehen, bevor die Situation eskalieren konnte. Esme hatte mit dem Gedanken gespielt zu mir zu eilen, mich in den Arm zu nehmen und zu beruhigen. Unseren Eltern machte es schwer zu schaffen, dass die Familie seit dem Umzug sich so verändert hatte und immer mehr zerbrach. In den Gedanken der beiden hatte ich sehen können, was dies bedeutete.

Alle saßen mehr oder weniger rum und versuchten sich abzulenken. Die Fröhlichkeit und Harmonie die sonst bei den Cullens herrschte, existierte nicht mehr. Alice war ein Trauerkloß geworden. Unsere Frohnatur hatte keinen Spaß mehr. Nicht mal mehr das Shoppen erfreute sie.

Emmett hatte das Lachen, geschweige denn das Lächeln verlernt. Er machte keine Scherze mehr. Selbst das Jagen nach Grizzly-Bären stimmte ihn nicht fröhlich. Er tat das nur, um überhaupt etwas zu tun zu haben. Aufgrund von Emmetts Zustand litt auch die Beziehung zu seiner Rosalie darunter. Das einst so vielfältige Liebesleben zwischen den beiden ließ nun zu wünschen übrig. Dabei hatte Emmett früher förmlich an Rosalie geklebt. Das war wahrscheinlich noch ein Grund, warum seine Frau so wütend auf mich war.

Besonders Jasper litt sehr unter meiner Entscheidung und deren Folgen. Geplagt von seinen eigenen Schuldgefühlen, musste er auch meine Emotionen ertragen, wenn ich welche denn zuließ. Gerade wieder hatte ich in seinen Gedanken gehört, dass er sich doch besser unter Kontrolle hätte haben müssen. Ich hatte ihm schon vor drei Wochen – bevor wir SIE verlassen hatten – mehr als einmal gesagt, dass es nicht seine Schuld gewesen war. Wenn nicht dieser Unfall passiert wäre, dann wäre es etwas anderes gewesen, was mich zu dieser Entscheidung gebracht hätte. Aber ich gab es auf, ihn umzustimmen. Er würde es sich immer wieder vorhalten, egal was ich sagen würde.

Alice wirkte wie die anderen erleichtert, dass ich Rosalie nicht angegriffen hatte, doch ein verzweifelter, bittendender Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht.

°Bitte Edward. Erspare dir, uns allen den Schmerz und lass uns nach Forks zurückkehren. Besser jetzt als später. Ich weiß, dass du so oder so einbrechen wirst, glaub mir. Also warum noch länger warten. Und ich bin sicher, dass…SIE auch so leidet wie du. Sie ist nicht wie andere Menschen, die mal schnell vergessen und weiter machen. Sie war schon immer anders. Das müsstest du doch am besten wissen.°, sprachen Alices Gedanken zu mir.

Natürlich wusste ich das. Aber trotz allem, war SIE ein Mensch. Und Menschen vergaßen schnell. Bei IHR würde es vielleicht etwas länger dauern – was ich natürlich nicht hoffte –, aber SIE würde mich irgendwann vergessen haben. Ich würde bald nur eine verblasste Erinnerung für SIE sein, auch wenn es mich einerseits schmerzte, dass es so kommen würde.

°Bitte lass mich nach Bella sehen, um es dir zu beweisen. Dann hat das unnötige Leid endlich ein Ende, wir kehren nach Forks zurück und diese Familie wird wieder eine Familie – mit IHR.°, flehte Alice mich an, doch ein Blick in meine Augen genügte, um ihre Gedanken diesbezüglich zum Schweigen zu bringen.

Der Blick von Alice wurde wieder traurig und der bittende, leicht hoffnungsvolle Blick war wieder verschwunden. Alice kannte meinen Standpunkt und meine Bitte, nicht ihre Gabe zu nutzen. Es fiel ihr zwar sehr schwer, doch sie hielt sich zurück und respektierte meinen Wunsch, den ich ihr gegenüber geäußert hatte, als meine Familie von meinem Entschluss erfuhr. Es tat mir leid, dass ich Alice quälte, doch so war es besser. Wir hatten SIE verlassen und nicht das Recht, uns wieder in ihr Leben einzumischen. Außerdem wollte ich sie nicht in den Armen eines anderen sehen. Allein die Vorstellung jagte Schmerzen durch meinen Körper. Aus den Augenwinkeln sah ich Jasper zusammen zucken.

Nun richtete ich meine ganze Aufmerksamkeit wieder Rosalie die ebenfalls ihre Kampfstellung aufgegeben hatte. Ihr Gesicht zierte ein wütender, herausfordernder Ausdruck. In diesem Augenblick benutze ich zum ersten Mal seit drei Wochen meine Stimme. Sie klang kalt, emotionslos und fremd.

„Rosalie. Du hast nicht im Mindesten eine Ahnung wie es in mir aussieht. Ich werde niemals so weiter machen können wie zuvor. Stelle dir doch nur mal vor, dass Emmett ein Mensch wäre, der durch dich ständig in Gefahr wäre und du ihn zu seiner eigenen Sicherheit für immer verlassen müsstest.“

Auf Rosalies Gesicht breitete sich ein entsetzter Ausdruck aus. Die Augen waren aufgerissen. Ich schüttelte den Kopf.

„Ach, was rede ich da eigentlich? Du bist viel zu selbst verliebt, um das zu verstehen. Weißt du, äußerlich magst du eine blonde Schönheit sein, aber im Inneren bist du in meinen Augen einfach nur kaltherzig, selbstsüchtig und widerwärtig. Du solltest froh sein, dass Emmett dich als Partnerin damals akzeptiert hat.“

Rosalie schnappte erschrocken nach Luft und wirkte durch meine Worte geschockt und traurig. In ihren Gedanken konnte ich hören, wie sehr ich sie mit meinen Worten getroffen hatte. Das geschah ihr ganz recht. Ich konnte nicht leugnen, dass sich in meinen Inneren eine böse Genugtuung ausbreitete. Fast hätte ich lächeln müssen, doch ich unterdrückte es. Emmett sah mich böse an und ein Knurren entwich ihm. Ich erwiderte seinen Blick gelangweilt.

„Wenn du noch einmal…“, setzte er im bedrohlichem Tonfall an, doch ich unterbrach ihn.

„Ich bin wirklich froh, dass sie dir in an den Fersen klebt und nicht mir. Wenn ich daran denke, dass Carlisle und Esme hofften, dass sie und ich ein Paar werden könnten, wird mir schlecht. Einfach widerwärtig.“

Angeekelt verzog ich meinen Mund und Emmett reagierte mit einem tieferen Grollen aus seiner Brust und wollte gerade auf mich los stürmen, als ich erneut sprach.

„Ich werde diese Familie verlassen und meine eigenen Wege gehen. Ich schade ihr nur noch mehr und sähe hier Zwietracht, wie ihr seht. Es ist wohl für alle das Beste, wenn ich die Gemeinschaft verlasse.“

Alle sahen mich mit großen Augen bestürzt an, außer Rosalie. Sie reagierte überhaupt nicht mehr, seit sie meine Worte an Emmett vernommen hatte. Meine Verkündung ließ Emmetts Zorn verschwinden und er gab seine Stellung auf. Er bekam jetzt regelrecht Angst.

„Nein Bruder. Bitte. Hör zu, es tut mir leid, dass ich dich angreifen wollte. Aber es war wirklich nicht okay, was du gerade meiner Frau an den Kopf geworfen hattest. Wirklich, es tut mir leid. Das ist jedoch kein Grund die Familie zu verlassen. Bitte, ich flehe dich an! Wir haben…SIE doch schon verloren.
Wenn du jetzt auch noch gehst, dann… dann wird es uns nur noch dreckiger gehen, als ohnehin schon. Bitte, tu das nicht. Denk doch auch mal an Esme. Du warst immer ihr Liebling und Sorgenkind, weil du ihr erster neuer Sohn warst. Soll sie jetzt noch dich verlieren, wo sie doch schon ein Kind verloren hat? Bitte tu ihr das nicht an. Tu es Carlisle nicht an, der immer für dich da war, dir immer zur Seite gestanden hatte. Bitte. Wenn du es nicht für mich tust, dann tue es für unsere Eltern. Du wirst sehen, wenn wir uns alle zusammenreißen, dann…“

„Lass es, Emmett.“, unterbrach Alices seine wohl ernste längste Rede überhaupt.
Ihre Stimme klang tonlos.
„Er hat sich entschieden. Und ich sehe nicht, dass er seine Entscheidung ändern wird. Deine Worte sind völlig umsonst. Keine Worte dieser Welt werden ihn umstimmen können.“

Esme wollte gerade etwas sagen und mich nochmal bitten nicht zu gehen, doch ich schüttelte nur den Kopf. Alle – außer der geschockten Rosalie – starrten mich mit tiefster Traurigkeit an. Eine lange bedrückende Stille trat ein, die ich nach einer kleinen Ewigkeit unterbrach.

„Dann werde ich jetzt gehen. Lebt wohl.“, sagte ich und die anderen ließen mich durch, sodass ich den Raum und schließlich das Haus verlassen konnte.

In meinen Kopf konnte ich sehen, wie sie mir alle bedrückt nach sahen. Nur Rosalie nicht. Sie hatte sich seit meinen Worten nicht mehr bewegt oder etwas gesagt.

Ich wusste damals noch nicht, wie lange ich fort sein würde. Würde ich zu ihnen zurückkehren, würde Alice es schon sehen und den anderen mitteilen, dachte ich. Aber meine Worte zu Rosalie bereute ich bis heute nicht. Es war nur die Wahrheit gewesen.

Und dann zog ich mich in Wälder oder leerstehende Häuser zurück und igelte mich ein. Gab mich dem Nichts hin. Ich zog durch die Welt ohne genau zu wissen wohin – jagte sehr selten – und landete schließlich in dieser Holzhütte irgendwo in Brasilien. Wäre dieser braune Balken nicht auf mir drauf gefallen würde ich noch immer in dieser Leere sein. Doch nun wanderten meine Gedanken wieder, was aber auch bedeutete, dass der Schmerz mehr und mehr zurückkam, je weiter die Gedanken wanderten.

Braun.

Nur eine Farbe und doch war es für mich so viel mehr. Ich starrte auf die Holzwand mir gegenüber. Möbel oder etwas anderes war hier in der Hütte gar nicht vorhanden. Es war nur ein kleiner Raum, der aus zusammen genagelten Brettern und Balken erschaffen wurde. Mehr nicht. Die Bretter wiesen verschiedene Brauntöne auf, dennoch erschienen sie mir alle falsch.

Das Braun war nicht kraftvoll und dunkel genug. Das Holz war nicht so braun wie…Schokolade.

Braun wie Schokolade.
Schokoladenbraun.

Es stach sehr intensiv in meiner Brust. Ich wollte meine Gedanken stoppen, um den Schmerz zu vermeiden, doch sie waren nicht mehr aufzuhalten. Die Bretter waren nicht…schokoladenbraun. Auch besaß die Farbe der Hölzer keine Tiefe, keine Lebendigkeit. Wie könnten sie auch.

Bretter waren keine…Augen.

Schokoladenbraune Augen, die tief waren und geheimnisvoll in einem schönen blassen Gesicht wirkten.
Wieder spürte ich Schmerz.

Nein, diese Bretter hatten nicht IHRE Augenfarbe, die zu IHRER mahagonifarbenen langen Haarpracht passte, welches dieses natürlich schöne Gesicht umrahmte.
Wieder durchfuhr mich ein Schmerz, nur noch intensiver.

Und dieses zarte Rot, welches die blasse Haut überzog, wenn SIE verlegen war.
Der Schmerz hielt an und steigerte sich.

Ich sah SIE vor mir.

Wie das Licht in IHREN Augen verschwand und eine Schwärze in ihnen trat, als sie meinen Lügen geglaubt hatte. SIE hatte so verletzt ausgesehen und doch hatte ich SIE in IHREM Schmerz zurück gelassen. Ich konnte noch immer nicht begreifen, wie SIE mir so einfach glauben konnte. Als hätte IHR unsere gemeinsame Zeit gar nichts bedeutet.
Wie konntest du nur?

Wie konntest du mir nur glauben – BELLA?

Als ich wagte, diesen Namen wieder zu denken, erbebte mein ganzer Körper vor Schmerzen und ich schrie. Ich schrie so laut, dass sie Vögel in den nahe umliegenden Bäumen hoch schreckten und davon flogen. Ich schrie wie ich noch nie geschrien hatte und mein Körper krümmte sich vor Qualen. Zuerst war ich vorn übergebeugt, doch dann fiel mein Körper zur Seite um. Auf dem Boden liegend rollte ich mich zusammen wie ein Fötus und betete, dass es endlich vorbei sein würde. Trotzdem ich vor Schmerzen schrie, war in meinem Kopf noch genug Platz, sodass ich zur gleichen Zeit denken konnte.
(Gelobt sei das Vampirgehirn.)

Bella.
Meine Bella.

Ich hatte sowieso bereits Schmerzen. Es machte keinen Unterschied, dass ich an meine Bella dachte.

Wie es meiner Liebsten wohl ging?
Hatte sie mich bereits vergessen?
Dachte sie noch ab und zu an mich?
War sie glücklich mit einem anderen?
War er der richtige für sie?
Begriff dieser Junge, was für einen wertvollen Schatz er besaß?

Das bezweifelte ich etwas. Man musste schon ganz genau hinsehen, um den wahren Wert ihres Wesens zu erkennen. Und die meisten Jungs im Teenageralter waren eher oberflächlich – eben mehr aufs Körperliche fixiert. Ein gutes Beispiel wäre Mike Newton. Er hatte schon von Anfang an ein Auge auf meine Bella geworfen. Hoffentlich war er nicht der neue Junge an ihrer Seite, wenn sie denn einen hatte. Da war ich mir aber sehr sicher. Sie war bei dem männlichen Geschlecht schon immer sehr begehrt gewesen. Mike Newton würde meiner Bella NIEMALS würdig sein. Sein Geist war einfach viel zu beschränkt.

Aber was ging mich das alles an?
Warum durchfuhr mich die Eifersucht, wenn ich an Mike Newton oder an einem anderen möglichen Jungen dachte?

Weil ich sie liebte.

Ich liebte sie so sehr, wie es ein Mensch niemals tun konnte. Auch wenn ich ihr meine ewige Liebe geschenkt hatte, auch wenn ich eifersüchtig war – hatte ich dazu kein Recht, so zu empfinden. Ich hatte Bella verlassen und sie so für die menschlichen Männer frei gegeben.

Sie war nicht mehr meine Bella.
Ich besaß sie nicht mehr.
Nein, ich sollte keine Eifersucht empfinden, denn das hieße, dass ich Besitzansprüche an Bella stellte. Aber die konnte ich nicht stellen, da ich ihr Leben verlassen hatte.
Obwohl mir das alles bewusst war, änderte es nichts an der Tatsache, dass ich dieses schreckliche Gefühl empfand.

Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Wie eine CD in der Endlosschleife. Ich wurde vor Schmerzen fast wahnsinnig und hatte keine Ahnung, wie lange ich bereits schrie. Es war grauenhaft. Ich wünschte mir wieder die schützende Taubheit zurück, als mir ein neuer Gedanke kam und meine Schreie abrupt stoppten.

Ich könnte zu IHR – zu Bella – zurückkehren. Dieser Gedanke war mir in all der Zeit – obwohl ich nicht wusste, wie viel Zeit seit dem 16. September vergangen war – noch nie gekommen. Ich könnte nach Forks zurückgehen, nur um nach…Bella zu sehen. Zu sehen, ob meine Entscheidung denn richtig und sie nun glücklich war – ohne mich.  Es würde mich einerseits zerreißen, wenn sie mit einem anderen zusammen war, aber auf der anderen Seite würde es mich selbst wieder etwas glücklicher machen.

Wenn ich sah, dass Bella wieder fröhlich war. Dass ihre Augen wieder vor Freude leuchteten, dann wusste ich, dass meine Entscheidung zu gehen richtig gewesen war. Wenn ich diese Gewissheit hätte, dann konnte ich besser mit meinem Schmerz leben, bis ihr langes glückliches Leben vorbei war. Ja, dann würde wenigstens ein Teil meiner Selbst Freude empfinden, weil meine große Liebe ihr Leben unbeschwert und ohne Gefahren lebte.

Bei diesen Gedanken, Bella wiederzusehen, hörte das Beben meines Körpers auf und ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Inneren aus. Ich konnte es kaum glauben, aber ich spürte, wie sich ein Mundwinkel leicht nach oben bog. Ich seufze – beinahe friedlich – und stand in weniger als einer Sekunde aufrecht. In meiner Hosentasche vibrierte es. Natürlich wusste ich wer dran sein würde, als ich das Gespräch annahm.

„Oh, Edward. Das ist ja wunderbar. Endlich hast du dich entschieden, nach Forks zurückzukehren. Eine bessere Wahl hättest du gar nicht treffen. Glaubst du wir…“

Ich unterbrach Alices aufgeregtes Geplapper, wobei ich bei ihrer freudig klingenden Stimme lächeln musste. Sie klang so ganz anders, als ich entschloss meine Familie zu verlassen. Ich fragte mich, ob sie mir wohl verzeihen würden. Schließlich hatte ich ihnen mit meinem Verhalten und Fortgang nur Kummer bereitet.

„Alice, Alice, ganz ruhig.“, begann ich.
„Ja, ich werde nach Forks zurückkehren. Aber ich tue das erst mal nur, um zu sehen, wie es ihr geht. Sollte sie glücklich sein, besteht für uns kein Grund wieder nach Forks zu ziehen. Dadurch würden wir uns nur wieder in ihr Leben einmischen und ihr neues Glück gefährden.“

„Aber Edward, ich könnte doch meine Gabe einsetzen. Dann wüssten wir schon jetzt, ob wir alle wieder zu Bella zurückkehren oder nicht.“ Alice stimmte klang traurig und hoffnungsvoll, als sie sprach.

„NEIN!“, sagte ich scharf, beruhigte mich sogleich aber wieder. „Alice, ich bitte dich. Schau nicht in ihre Zukunft. Selbst jetzt nicht, wenn ich nicht in deiner Nähe bin und nicht deine Gedanken lesen kann. Die Vorstellung, dass du es vor mir weißt, aber ich nicht will, dass du es mir sagst, ist entsetzlich. Oder auch die andere, dass ihr alle es schon wisst, nur ich nicht. Bitte Alice, verstehe mich doch. Es ist mir wichtig, dass ich weiß, dass wir alle – vor allem du – ahnungslos sind, wenn ich jetzt nach Forks aufbreche.
Ich muss Bella und ihr neues Leben mit eigenen Augen sehen. Denn nur so bin ich hundertprozentig von dem Ergebnis meiner Entscheidung überzeugt und kann weiterleben. Die Bilder in deinem Kopf wären für mich nur ein fader Abklatsch der Wirklichkeit. Es müssen meine eigenen Augen sein, die sehen.“, bat ich mit eindringlicher Stimme.

Nach einer kurzen Stille antwortete Alice mir.

„Gut, Edward. Ich verstehe das. Wenn du es so willst, dann werde ich nicht nur in ihre, sondern auch nicht in deine Zukunft schauen. Aber dafür musst du umgehend zu uns zurückkehren und uns Bericht erstatten. Und das ist keine Bitte, lieber Bruder. Das verlange ich von dir!“

Erstaunt von Alice Worten hielt ich einen Moment inne. Sie wollte ab jetzt nicht nur Bellas, sondern auch meine Zukunft meiden? Und das nur, damit sie völlig ahnungslos blieb – wie der Rest meiner Familie –, bis ich zu ihnen kam und ihnen alles erzählte? Denn ich wusste, wenn sie in meine Zukunft schauen würde, dann würde sie nicht mehr an sich halten können und den anderen alles erzählen, bevor ich überhaupt da war.

Oder aber Emmett würde Alice mehr oder weniger dazu zwingen, alles zu beichten. Er vermisste seine kleine Schwester schrecklich und war sehr schwer zu überzeugen gewesen, Forks und Bella zu verlassen. Das Alice sich mal so zurückhalten würde können, hätte ich niemals für möglich gehalten. Was hatte ich doch für eine großartige Schwester.

„Ja, danke sehr Alice.“, antwortete ich verblüfft.
„Ihr seid doch immer noch in Dillingham, oder?“

Ich konnte förmlich sehen, wie Alice mit den Augen rollte.

„Ja, Edward. So viel Zeit ist noch nicht vergangen, dass ein erneuter Umzug nötig war. Lass uns alle nicht zulange warten. Und nur damit du es weißt: Nur weil wir so eine gute und tiefe Beziehung zueinander haben, tue ich dir diesen sehr großen Gefallen. Es ist wirklich sehr schwer für mich – für uns alle. Ich hoffe, du weißt das zu schätzen.
Ach ja, wenn du wieder da bist, mach dir keine Sorgen um Rosalie. Nach deinen Worten und deinem Fortgang ist sie mal etwas in sich gegangen. Ich glaube sogar, dass es ihr leid tut, was sie dir gesagt hat. Aber das würde sie selbst unter Folter bestimmt niemals zugeben. Ebenso wenig, dass selbst sie Bella ein wenig vermisst. Du weißt ja wie sie ist. Also bis so bald wie möglich. Alle erwarten schon mit großer Freude deine Heimkehr. Tschüss.“

Ich wollte noch etwas sagen, aber Alice – unser kleiner Wirbelwind – hatte schon aufgelegt. Lächelnd legte ich auf und steckte mein Handy wieder weg. Laut ihren Worten, verzieh mir meine Familie alles. Ich seufzte. So eine großartige Familie hatte ich überhaupt nicht verdient. Mir wurde bewusst, dass ich sie alle vermisste – selbst Rosalie. Auch wenn sich Alice bezüglich der Sache mit Rosalie ziemlich sicher angehört hatte, war ich noch nicht ganz überzeugt. Es würde sich erst zeigen, wenn wir beide wieder aufeinander trafen. Ich würde mich ihr mit Vorsicht wieder annähern und versuchen ihre schrecklichen Worte zu verdrängen. Wenn ich daran dachte, mit welchem Abscheu sie die Worte ausgespuckt hatte, drohte ich vor Zorn zu verbrennen.

Nein, daran wollte ich jetzt nicht denken. Ich schüttelte den Kopf, um diese negativen Gedanken beiseite zu schieben. Jetzt zählte nur eins. Bella. Mich durchfuhr leichte Vorfreude, wenn ich an ihr glückliches Lächeln dachte. Sofort hoben sich mit meiner Stimmung auch meine Mundwinkel.

Ich ging zur Tür der Holzhütte, um sie zu öffnen. Vorher benutzte ich jedoch meine Gabe, um nach fremden Gedanken zu lauschen. Ich hörte nichts. Als ich hinaustrat, empfing mich gleißendes Licht der aufgehenden Sonne. Zum Glück war um mich herum nur Wald. So konnte kein Mensch meine wahre Gestalt sehen, die nur so im Sonnenlicht funkelte. Ich atmete tief ein und suchte mit meinem Geruchssinn den Geruch des Meeres. In einem winzigen Bruchteil einer Sekunde hatte ich die Luft des Ozeans in der Nase und lief durch den Wald.

Ich lief so schnell ich nur konnte, da ich es einfach nicht abwarten konnte, meine große Liebe wiederzusehen. Natürlich achtete ich darauf mich hinter, zwischen oder auf Bäumen zu verstecken, sobald ich in bewohnbareren Bereichen kam. Doch sobald keine oder kaum Gefahr bestand, dass mich jemand aufgrund meiner Geschwindigkeit sehen konnte, raste ich weiter.

Nachdem ich am Rand einer Klippe stand und das Land hinter mir gelassen hatte, sah ich den blauen Pazifischen Ozean vor mir. Schiffe waren weit und breit nicht zu sehen. So sprang ich viele Meter in die Tiefe und tauchte mit einem lauten Knall ins Wasser ein. Nun schwamm ich eine sehr, weite Strecke. War ich allein, schwamm ich oberhalb. War ein Schiff in der Nähe, bewegte ich mich unter der Oberfläche fort, auch wenn es etwas unangenehm war, weil ich so nichts mehr riechen konnte.

Auf dem Weg dorthin dachte ich natürlich nur an sie und was sie wohl gerade tat. Immer dieselben Gedanken spukten in meinem Kopf herum, bis andere aufflammten.

Was, wenn Bella nicht glücklich war?
Was, wenn meine Liebste so sehr unter der Trennung litt, wie Emmett oder – noch schlimmer – ich?

Nein, nein.

Gedanklich schüttelte ich über diesen absurden Theorien meinen Kopf. Sicherlich war dies reiner Unsinn. Bestimmt irrte ich mich und sie ging mit ihrem gewinnenden Lächeln durch die Welt. Ich wusste aus Erfahrung, dass die Zeit bei allen Menschen die Wunden heilte. Und bei Bella würde es nicht anders sein.

Als ich drei Kilometer westlich in der Nähe des Nationalparks und Tierschutzgebiets der Quileute wieder an Land kletterte, war längst der nächste Tag angebrochen. Dank meines Wesens verspürte ich keinerlei Müdigkeit, obwohl ich über 24 Stunden geschwommen sein musste. Den Rest des Weges lief ich weiter und achtete darauf, dass mich keiner sah. Natürlich achtete ich auch auf die Grenze, die das Land dieser Hunde markierte. Die wären nicht so sehr begeistert darüber, mich wieder zu sehen.

Als ich das Ortseingangsschild von Forks erreichte, schaute ich zwischen den Blättern der Bäume hindurch hinauf zur Sonne. Wenn ich deren Stellung durch die dichte graue Wolkendecke richtig deutete, war es jetzt später Vormittag. Einen kurzen Moment zögerte ich. Tief einatmend, bereitete ich mich vor. Darauf, wie glücklich sie jetzt war und darauf, dass ich sie nicht allein antreffen würde. Es würde mir wehtun, doch ich wäre glücklich, sagte ich mir wieder.

Aber wenn ich sie gleich wieder sehen würde, wäre ich dann dazu in der Lage, sie wieder zu verlassen?
Selbst wenn ich kein Teil mehr ihres Lebens sein konnte, könnte ich einfach wieder gehen?
Nein, hatte ich kurz darauf die Antwort.
Nein, ich könnte ihr dann nicht einfach den Rücken zu kehren.

Wie auch? Es war mir doch schon damals fast unmöglich gewesen, Bella zu verlassen.
Wie sollte ich es da ein zweites Mal schaffen, selbst wenn sie mich nicht mehr brauchte?

Gar nicht.

Nein, ich würde im Verborgenen bleiben und immer über sie wachen, schwor ich mir. Selbst wenn sie dachte, ich wäre nicht bei ihr. Selbst wenn sie dachte, ich liebte sie nicht, so würde ich trotz allem immer da und ihr geheimer Schutzengel sein, der auf sie aufpasste. Ich würde nur kurz zu meiner Familie gehen und ihnen berichten, wie Bellas Leben nun ohne uns verlief und sogleich hierher zurückkehren. Es würde mir zwar schwer fallen, aber die Gewissheit, wieder in die grüne Regenstadt zu kommen, würde mir über meinen Unmut hinweg helfen. Auch war ich mir sicher, dass meine Familie meinen Entschluss, nicht sofort wieder endgültig zu ihnen zurückzukehren, verstehen würde.

(Die Frage, ob ich das später wirklich tun würde, war eine andere…)

Denn hier in Forks war mein Platz, wenn auch unsichtbar. Bei ihr. Bei Bella.
Was für ein Tag wohl heute war?
Vielleicht ein Wochentag?

Ich beschloss als erstes zur Schule zu gehen. Während ich lief, atmete ich tief ein, um die vertrauten Gerüche und Geräusche diesmal bewusst wahrzunehmen. Die moosgrünen Bäume, die vom Regen duftende Luft, das Rascheln der Blätter, die vielen Stimmen der vertrauten Bewohner des kleinen Städtchens. Ach, es war schön wieder daheim zu sein.

Ein paar Meter trennten mich noch vom Schulgebäude der Forks Highschool, als ich die vertrauten Schüler- und Lehrerstimmen in meinem Kopf hören konnte. Selbst das hatte ich vermisst. Die Gedanken von Lauren, Angela, Ben, Mike, Jessica, Tyler und vielen anderen Schülern und deren Lehrern – wie Mr. Banner –, strömten nur so in meinen Kopf. Leider dachte zur Zeit keiner an die Eine, dessen Gesicht ich so gern sehen wollte – selbst wenn es im Moment nur durch die Augen von jemand anderem geschehen würde.

Themen wie Rechenaufgaben, Arbeitsblätter, Make-Up-Überlegungen, Zensuren, Jungs und Mädchen, waren gerade die mit höchster Priorität. Eben gewöhnliches Zeug. Sie saßen alle noch in den Unterrichtsräumen. Also war noch keine Mittagspause.
Hatte Bella um diese Zeit nicht immer Spanisch?
Unter anderem mit Mike Newton zusammen?

Angewidert verzog sich mein Gesicht, als ich an ihn dachte. Aber das war wenigstens ein Anhaltspunkt. Ich konzentrierte mich nur auf Newtons Stimme und sah durch seine Augen das Klassenzimmer. Er sah gerade zur Tafel und die Lehrerin Mrs. Newberry an. Er dachte gerade, dass sie für ihr Alter recht heiß aussah, bekam aber sofort ein schlechtes Gewissen, da er jetzt mit Jessica zusammen war. Ich war von seinen Gedanken angewidert und erfreut.

Angewidert, wegen seiner Fantasien und erfreut, da er nichts mit Bella zu Schaffen hatte. Schnell wechselte ich in den Kopf der Lehrerin, die gerade mit ihren Augen den ganzen Raum absuchte, um alle ihre Schüler misstrauisch beäugen zu können. Stillarbeit war gerade gefordert und sie hasste es, wenn Schüler bei so einer Aufgabe auch nur leise miteinander flüsterten. Ich hatte sie zwar nie als Lehrerin gehabt. Sie schien sehr streng und konsequent zu sein.

Durch ihre Augen konnte ich perfekt alle Schüler betrachten. Sofort sank mir mein Herz in die Magengegend. Eine lichte Schulbank stach in der Schülermenge heraus.

Ein Platz im ganzen Raum war nicht besetzt.
Ihr Platz war leer.
Bella war nicht da.

War sie krank und lag zuhause im Bett?

Oh Gott. Bella krank und blass liegend. Eine entsetzliche Vorstellung. Was tat ich jetzt noch hier?

Vielleicht lag Bella bei Charlie im Fieberschlaf und konnte eine eiskalte Haut wie meine jetzt gut gebrauchen. Wenigstens in so einer Situation konnte ich ihr geben, was sie brauchte. Ja, ich wollte – und musste – Bella helfen. Und wenn sie schlief, konnte sie mich nicht fortschicken, falls sie mich nicht bei sich haben wollte. Bei diesem Gedanken lächelte ich. Im gleichen Moment hätte ich mich dafür schlagen können.

Wie konnte ich mir nur erlauben Freude zu empfinden, wenn es meiner großen Liebe wahrscheinlich schlecht ging? 

Ich kehrte der Schule dem Rücken zu und machte mich auf dem Weg zu dem Haus der Swans. Zu dem Haus, indem Bella lebte. Einige Meter vor dem Haus stoppte ich plötzlich meine Schritte und weitete entsetzt meine Augen. Für einen Augenblick war mein Kopf leer. Dann arbeitete mein Gehirn wieder. Ich zog noch mal so intensiv wie möglich die Luft ein und wirkte noch geschockter als zuvor. Ich roch so gut wie nichts mehr von ihnen.

Weder von Bella – noch von Charlie.
Als ob… Nein, das wollte ich nicht glauben.

Mit wachsender Angst überwand ich die letzte Distanz bis zum Haus und ging zum Laubbaum, der sich gegenüber von Bellas Zimmerfenster befand. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass Charlies Polizeiwagen nicht in der Auffahrt stand. Das war kein gutes Zeichen und die Angst in mir steigerte sich. Ich kletterte den Laubbaum hoch und schaute in Bellas Zimmer hinein. Meine Augen wurden immer größer und die Angst in mir, drohte mich zu überwältigen.

Nein, das war nicht möglich!

Ich kniff die Augen fest zu und schaute erneut durch das Fenster in Bellas Raum. Doch es änderte nichts. Ich konnte es noch immer nicht glauben, was ich da sah.
Nein, nein, nein.
Mein Standort war eindeutig unzulänglich. Ich musste das Ganze aus nächster Nähe betrachten. Also sprang ich an die Hauswand zum Fenster, öffnete es  - es quietschte gewaltig, als wäre es sehr lange nicht mehr aufgemacht worden – und glitt in Bellas Zimmer hinein.

Ich zog scharf die Luft ein.

Es dauerte bestimmt einige Minuten, in denen ich meinen Kopf hin und her drehte, um jedes noch so kleinste Detail in diesem Raum aufnehmen zu können. Doch leider musste ich feststellen, dass meine neue Perspektive, die Entdeckung nicht verfälscht hatte. Mein Gesicht verzog sich vor Schmerz und einer dunklen Ahnung, als ich ein letztes Mal den Raum mit meinen scharfen Vampiraugen absuchte. Mir drohten beinahe die Beine einzuknicken, als ich alles wieder sah.

In diesem Zimmer hatte sich etwas verändert – und gleichzeitig rein gar nichts. Es war, als wäre die Zeit in diesem Zimmer einfach stehen geblieben.

Noch immer lag die Bettdecke so zurückgeschlagen auf der Matratze, wie ich es zuletzt gesehen hatte.

Bellas Kissen war noch immer mit denselben Falten und Vertiefungen verformt, die es durch ihrem Schlaf in der Nacht vom 15. zum 16. September bekommen hatte.

Noch immer lag Renees Fotoalbum neben dem Bett auf dem Boden, wo Bella es zuletzt hingelegt und ich dann die Fotos darin entfernt hatte.

Noch immer waren die gleichen Schulbücher in der gleichen Reihenfolge neben dem Bett aufgestapelt.

Noch immer lagen die gleichen blauen Socken in derselben Lage unter dem Schaukelstuhl.

Die Stellungen der Utensilien auf Bellas Schreibtisch haben sich nicht um einen winzigen Millimeter verändert.
Ebenso wenig wie der Standort des Schreibtischstuhls und des Schaukelstuhls.

Selbst die Öffnungsbreite der Schranktüre, die Bella an diesem Morgen nicht ganz geschlossen hatte, betrug noch immer 3, 45 Millimeter.

In diesem Zimmer war alles noch genauso wie es war, als ich diesen Raum und seine Besitzerin am 16. September verlassen hatte.

Es hatte sich hier rein gar nichts verändert – von kleinen Dingen abgesehen.

Alles – egal ob Gegenstände, Kleidung oder Möbel –, deren jeweilige Standorte beziehungsweise Lage hier eingefroren zu sein schien, zierte eine zentimeterdicke Staubschicht. Auch waren auch die Bodendielen davon betroffen.

Nichts wies daraufhin, dass das Fotoalbum, geschweige denn der CD-Player nach meiner Abreise jemals wieder angefasst worden waren.

Nichts wies daraufhin, dass Bella nach meiner Abreise jemals wieder in diesem Bett gelegen hatte.

Die Staubschicht war überall gleich dick und hoch. Ihr Geruch war so gut wie nicht mehr vorhanden in diesem Zimmer. Ich trat näher an Bellas Schreibtisch.

Der Monitor ihres Computers aus dem Steinzeitalter war nur so von Staub übersäht, dass es selbst Menschenaugen wahrnehmen konnten. Ich roch an dem CD-Player und schaute ihn mir aus der Nähe an, obwohl es nicht nötig war.

Nichts.

Sie schien nie nachgesehen zu haben, ob sich ihre Geburtstags-CD noch im Gerät befand. Die gleichbleibende Schicht Staub auf der gesamten Fläche war der Beweis.

Ich ging zum Fotoalbum, welches nicht bewegt wurde.

Nichts.

Die Höhe des Staubes auf dem Album war nirgends kleiner. Auch hier an diesem Geschenk war der Geruch genauso fad, wie am CD-Player.  Bella hatte nie nachgesehen, ob sich ihre eingeklebten Fotos noch im Buch befanden.

Es war, als hätte Bella nach meinem Abschied ihr Zimmer nie wieder betreten. Nicht ein einziges Mal.

Als ich das begriff, durchfuhr mich so ein heftiger Schmerz, dass ich hätte schreien können. Doch ich riss mich zusammen. Ich ging zur Bellas Zimmertür, um den Raum zu verlassen. Ich brauchte mich nicht umzudrehen. Ich wollte es auch gar nicht. Dieser Anblick war einfach zu entsetzlich, um ihn noch einmal in sich aufzunehmen. Ich würde ihn sowieso nie vergessen.

Was immer ich dachte hier vorzufinden. Damit, hätte ich nie in meiner ganzen Existenz gerechnet.

Ich öffnete die Tür und ließ diesen schrecklichen kalten, leeren Ort hinter mir, indem ich mich einst heimatlich gefühlt hatte. Ich durchsuchte, beschnüffelte und besah mir jeden Raum des Hauses. Nicht nur in Bellas Zimmer schien die Zeit angehalten zu haben.

Das ganze Innenleben des Hauses schien eingefroren zu sein. In jedem Raum, herrschte die gleiche hohe Staubschicht, wie in Bellas Zimmer. Jeder Raum sah noch genau wie am 16. September aus. Selbst Charlies Schlafzimmer. Auch er schien es seit diesem Tag nie wieder betreten zu haben. Sein Geruch war praktisch nicht mehr da, wie der seiner Tochter.

Auf der Anrichte in der Küche lag noch immer mein Zettel, den ich mit Bellas Handschrift gefüllt hatte, um eine Nachricht für Charlie zu hinterlassen. Ich roch daran.

Nichts.

Er schien nicht einmal angefasst oder bewegt worden zu sein.

Nichts hatte sich verändert in dem Haus der Swans. Nein, das war falsch. Es hatte sich sehr wohl etwas verändert. Die Bewohner dieses Hauses waren fort. Beide. Sie schienen am selben Tag diesen Ort verlassen zu haben wie ich.

Angst, Schmerz und Schock. All diese Emotionen wurden aufgrund dieser ganzen neuen – oder nicht neuen – Entdeckungen ausgelöst und drohten meinen Körper zu zerreißen. Trotzdem stand ich noch aufrecht.

Die Erkenntnis, dass dieses Haus, gleich seine beiden Bewohner verloren hatte, schmerzte sehr. Sicher, Bella war in der Zeit bestimmt wieder zu ihrer Mutter nach Florida gezogen. Wie hätte ich auch nur davon ausgehen können, dass sie hier auf mich warten würde, da ich ihr damals doch deutlich zu verstehen gegeben habe, dass ich nie wieder hierher zurückkehren würde.

Aber hätte sie dazu nicht wenigstens einmal ihr Zimmer betreten und ein paar Sachen mitnehmen müssen?
Hätte sie nicht wenigstens noch eine Nacht in ihrem Zimmer verbringen müssen?
Oder war sie gleich nach meinem Abschied etwas überstürzt nach Seattle zum Flughafen aufgebrochen?
Aber ohne Kleidung?

Nein, das wäre sehr unwahrscheinlich, oder nicht?

Wenn sie wirklich nach Florida gezogen wäre, dann durfte ihr Zimmer in diesem Haus doch nicht…so aussehen.
Aber wo war sie dann, wenn nicht dort?

Und was war mit Charlie?
Hatte er Bella begleitet, wohin immer sie auch gegangen war – und das ebenfalls ohne etwas mitzunehmen?
War es nun Florida, oder nicht?

Langsam begann ich den Verstand zu verlieren und wurde immer verzweifelter. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass Charlie Forks verlassen könnte. Hier fühlte er sich wohl. Hier hatte er seine Freunde und deren gemeinsame Angelausflüge. Ich war mir immer einhundertprozentig sicher gewesen, dass Charlie immer hier bleiben würde. Bei Bella konnte man sich nicht sein. Aber ich hätte meine Existenz darauf verwettet, dass Charlie – meine einzige und sichere konstante Verbindung zu Bella an diesem Platz – hier in Forks bis zu seinem Tod bleiben würde.

Aber Chief Swan und seine Tochter lebten nicht mehr hier. Sie schienen diesen Ort hinter sich gelassen zu haben, ohne irgendwelche Kleidung oder andere Habseligkeiten mitzunehmen. Genauso wie wir unser Haus hier in Forks hinter uns gelassen haben. Mit dem einzigen Unterschied, dass wir einiges für unseren Umzug eingepackt haben, wenn auch nicht viel. Mein Klavier, Carlisles Bücher und die ganzen Möbel waren noch im Haus vorhanden.

Immer tiefer drang der Gedanke in mein Innerstes, dass Charlie und Bella seit meinem Fortgang die Stadt sehr wahrscheinlich verlassen hatten. Mein Gedanke an eine kranke Bella hier im Bett liegend war eine Wunschvorstellung gewesen. Eine lächerliche ausgesponnene Fantasie, die mir im Gegensatz zu der Wirklichkeit mehr als kindisch vorkam.

Auf einmal verspürte ich neben dem mächtigen Schmerz noch etwas anderes. Trauer, Verzweiflung…und eine alles verzehrende Sehnsucht. So fühlte es sich also an, wenn man von Menschen, die einen wichtig waren, verlassen wurde. Nicht nur Bella – selbst Charlie hatte mich verlassen.

Ja, auch ihn liebte und respektierte ich. Er war ein sehr kluger, vorsichtiger Mann, der seine Gefühle nicht gut in Worte fassen konnte. Vor allem aber liebte ich ihn, weil er Bella liebte, wie es ein Vater nur tun konnte. Seine Tochter wusste nicht, wie tief die Tochterliebe ihres Vaters in Wahrheit ging.

Welch‘ Ironie. Erst hatte ich Bella verlassen und nun hatte sie mich vollständig verlassen, indem Charlie auch fortgegangen war. Diese Trauer, diese Sehnsucht. Es war alles so schmerzlich. Trotz allem stand ich noch immer aufrecht in der Küche der Swans, sah sie aber nicht.

Oh Liebste, hast du dich etwa auch so gefühlt, als ich dir gesagt hatte, dass alle fortgegangen waren?
Hast du auch diese schreckliche Sehnsucht nach mir – nach uns – verspürt, so wie ich jetzt?

Ich fühlte mich elend. Auch wenn ich alles viel intensiver fühlte als ein Mensch, so war doch ein Bruchteil dieser Emotionen bereits schlimm genug.

Wie hatte ich Bella das nur antun können?

Dabei wollte ich sie doch nie verletzten. Ich wollte doch nur das Beste für sie. Ein normales Menschenleben ohne Gefahren.

Wie hätte sich wohl alles entwickelt, wenn ich bei ihr geblieben wäre?

Oh Gott, ich betete nun verzweifelt, dass Bella glücklich war. Was mit mir war, war egal. Bella sollte einfach nur glücklich sein. Bitte, bitte, bitte, lass es ihr gut gehen, sagte ich mir. Doch das eingefrorene Haus sagte mir etwas ganz anderes.
Der Schmerz und die Leere in diesem Gebäude hallten förmlich von den Wänden wider.

Da kam mir ein Sprichwort in den Sinn.


[style type="italic"]Fürchte dich nicht vor Veränderungen.
Fürchte dich vor den Stillstand.[/style]


Ja genau, davor fürchtete ich mich. Denn hier an diesem Ort herrschte der Stillstand und ich graute mich vor dem Grund dafür.

Wo waren Bella und Charlie jetzt nur?
Warum hatte sich nicht eine einzige Kleinigkeit hier verändert? Abgesehen vom Staub und dem Fehlen von Charlies Auto, dessen Besitzer und meiner großen Liebe.

Ich hielt es keine Sekunde mehr aus. Ich musste endlich Gewissheit haben. Sofort. Ich holte mein Handy heraus und wählte die Nummer von Alice.

„Hi. Edward.“ Ihre Stimme war eine Mischung aus Überraschung, Freude und Misstrauen.
„Was ist los? Bist du in Forks? Wie geht’s Bella? Hast du mit ihr gesprochen? Können wir wieder…“

„Alice.“, unterbrach ich sie.
Meine Stimme klang leise, brüchig, verzweifelt.

Alice Gemütszustand änderte sich abrupt.
„Edward? Was ist mit ihr?“, wollte Alice wissen.
Ihre Stimme sprang vor Sorge eine halbe Oktave höher.

„Alice. Sieh nach ihr.“

„Sie ist also nicht in Forks?“

„Nein.“

Dann war es eine Weile still am anderen Ende der Leitung.
Wie lange wartete ich schon?
Eine Minute?
Zwei Minuten?
Eine halbe Stunde?

Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, als ich die Stimme meiner Schwester wieder hörte.

„EDWARD!“, schrie sie so laut in den Hörer, sodass ich mein Handy von meinem Ohr kurz weghalten musste.

Ihr bestürzter Tonfall gefiel mir absolut nicht. Die dunkle Ahnung, die ich schon eine Weile hatte, nahm immer mehr Gestalt an. Ich versuchte meine aufkeimende Panik zu unterdrücken, um nicht völlig verrückt zu werden. Es war jetzt wichtig, dass ich noch klar denken konnte. So gut es eben ging.

„Ich…ich…“, stotterte Alice wieder in normaler Lautstärke, doch die Panik in ihrer Stimme verschwand nicht.

„Was, was?“
Alice Panik steckte mich an.

„Ich kann sie nicht sehen.“, platzte Alice mit der Nachricht schließlich heraus.

„Wie…was…? Was soll das bedeuten, du kannst sie nicht sehen?“, hakte ich mit dumpfer Stimme nach.

Ich klang nicht panisch. Das lag wohl daran, dass ich wie betäubt war. Ich begriff nicht, was Alice mir damit sagen wollte.

„Es ist alles schwarz, Edward. Ich sehe rein gar nichts.“

Es dauerte etwas, bis mein Gehirn Alices Worte verarbeiten konnte. Alice sah Bellas Zukunft nicht mehr. Sie traf also keine Entscheidungen mehr. Weil sie nicht mehr wollte oder…weil sie nicht mehr konnte? Nein, bitte lass mich Unrecht haben. Das durfte einfach nicht sein!

„Und Charlie?“, fragte ich ruhig.
„Was ist mit seiner Zukunft?“

Äußerlich wirkte ich ruhig, aber in meinem Inneren herrschte das totale Chaos. Alice fragte mich nicht, was diese Frage sollte, doch sie schien daraus zu schließen, dass ich nicht wusste, wo Charlie sich gerade aufhielt. Ein Teil von mir hoffte, er würde auf der Polizeiwache sein. Das würde auch erklären, warum Charlies Wagen nicht in der Auffahrt stand.

Vielleicht war er arbeiten?
Aber dann hätte sich in seinem Schlafzimmer, in der Küche oder im Wohnzimmer etwas verändert haben müssen, oder?
Dann hätte doch sein Geruch in und an seinem Bett noch sehr intensiv sein müssen, nicht wahr? 

Bitte lass meine dunkle Ahnung nicht Wirklichkeit werden, flehte ich innerlich.

„Auch bei Charlies Zukunft ist alles schwarz. Edward. Was bedeutet das nur? Wo genau bist du gerade?“, schluchzte Alice sorgenvoll auf und ihre Stimme brach weg.

Sie hatte versucht, in Bellas und Charlies Zukunft zu sehen, mied jedoch meine? Selbst jetzt?
Alice konnte sich besser zurück halten als ich dachte.

Vielleicht hatte sie es aber nicht getan, weil Bellas Zukunft jetzt wichtiger war, als meine eigene. Anhand Alice Stimmlage und ihren Worten ahnte meine Familie bestimmt schon, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war, wenn ich sogar nach Charlies Zukunft fragte. Wenn Alice jetzt in meine Zukunft schauen und die ganzen Bilder sehen würde, würde sie es sofort den anderen erzählen.

Dadurch würden sie vor Sorge noch mehr durchdrehen, als ohnehin schon. Alle wären am Boden zerstört und wüssten keinen Rat. Oh nein. Sie alle würden schrecklich leiden. Außer Rosalie vielleicht. Besonders Esme wäre dafür, sofort zurück nach Forks – zurück zu mir – zu kommen. Nachdem sie sich von Alices Erzählungen beruhigt hätte, würde sie versuchen wollen mich zu trösten.

Aber ich wollte nicht, dass meine Familie hierher kam. Ich wollte nicht, dass Alice das sah, was ich mit meinen eigenen Augen gerade gesehen hatte. Sie sollte dieses leere Haus und sein erstarrtes Innenleben nicht sehen und den gleichen Schmerz empfinden wie ich, falls sie ihrer eigenen Gabe – oder eher meinen Erzählungen – misstrauten sollte und nur die richtige Wirklichkeit sie von dem Schrecken überzeugen konnte. Nein, ich wollte nicht, dass wir nach Forks zurückkehrten. Ich selbst konnte nicht eine Sekunde mehr hier – geschweige denn in unserem Haus bleiben.

„Ich bin in Charlies Haus, aber…“

Ich wollte weitersprechen, doch meine Stimme konnte keine weiteren Worte mehr herausbringen. Der Schmerz, die Trauer und Verzweiflung, die mich lähmten, waren einfach zu übermächtig. Ich konnte nicht definieren, wie meine Stimme sich gerade für Alice anhören mochte. Tot oder traurig vielleicht. Ich schüttelte den Kopf, um wieder etwas besser denken zu können.

„Bitte bleibt wo ihr seid. Ich werde sofort zu euch kommen und euch alles sagen, was ich gesehen habe. Und Alice, benutze deine Gabe nicht mehr, solange ich nicht wieder bei euch bin und ihr alles wisst. Das was du vielleicht…Es wäre…nur zu deinem Besten, glaub mir. Wenn wir alle zusammen sind, können wir das alles zusammen als Familie verarbeiten. Das wird wohl die klügste Wahl sein. Bitte Alice, tu es für mich.“

Es fiel mir wirklich sehr schwer, wieder so etwas von Alice zu verlangen, aber ich dachte nur an ihr Wohl. Denn ich musste noch etwas überprüfen. Meine Entdeckungen würden Alice so oder so zerreißen, ob sie das Meiste schon vor meiner Wiederkehr wusste oder nicht. Es würde keinen Unterschied machen. Aber wenn ich da war und alle aufklärte, konnten wir alle gemeinsam zusammenbrechen.

„Gut.“, sagte Alice leise mit tonloser Stimme nach einer Weile und legte auf.

Ich steckte mein Handy weg, ging zur Haustür und wollte diesen schrecklichen Ort endlich verlassen. Ich drehte am Türknauf, aber sie öffnete sich nicht. Es war abgeschlossen. Ich drehte mich um und verließ das leere Haus wieder durch Bellas Fenster. Leider konnte ich es nicht verhindern, dass ich auf dem Rückweg erneut alles wieder sah.

Ich sprang durch das geöffnete Fenster auf den Rasen und lief zur Frontalseite des Hauses. Tief durchatmend drehte ich mich langsam um und betrachtete sie traurig. Alles war wie immer – und doch war alles anders. Ich hatte das Gefühl, als würde das Haus auf seine zwei Bewohner warten und sie mit Freuden wieder willkommen heißen. Selbst der alte Chevy-Transporter auf der Auffahrt schien sehnsüchtig auf seine starrsinnige Fahrerin zu warten. Doch niemand wusste, ob das Haus und das alte Gefährt vergeblich auf Charlie und Bella Swan warten würden.

Ich seufzte und löste mich rückartig von diesem schrecklichen Anblick los. Fast hätte ich angewidert das Gesicht verzogen. Es war alles einfach zu schmerzhaft und absurd. Egal, wie viele Jahre ich noch auf dieser Welt wandeln sollte. In dieser Kleinstadt würde ich nie wieder leben können – es spielte keine Rolle, ob zu oder nach Bellas Lebzeiten.

Alles in Forks würde mich an Bella erinnern, die zusammen mit ihrem Vater die Stadt verlassen hatte. Alice konnte nichts sehen. Wir wussten nicht, wo sie waren oder ob sie jemals hier in dieses Haus wieder kommen würden. Nein, ich würde hier nie wieder herkommen können. Der Schmerz wäre unerträglich. Forks ohne Bella war bereits schlimm, aber nicht ausgeschlossen. Aber Forks ohne Charlie war etwas, was den Gesetzen der Natur zu widersprechen schien.

Doch bevor ich Forks – wahrscheinlich für immer? – den Rücken zukehrte, musste ich noch überprüfen, ob meine dunkle Ahnung Wirklichkeit war. Zum wohl tausendsten Mal betete ich für einen Irrtum und war heilfroh, dass Alice ihrer Gabe gerade nicht benutzte. Nein, nein, nein. Bitte, lass mich dort nichts finden, dachte ich verzweifelt, während ich mich auf dem Weg machte. Natürlich spukte noch immer die eine kleine Frage in meinem Kopf herum, die ich mir seit meinem „Erwachen“ bereits stellte. Wie viel Zeit war seit meinem Fortgang von diesem Ort vergangen?

 


Auktorialer Erzähler



Während sich Edward Anthony Masen Cullen auf dem Weg zur Ruhestätte der Toten machte, geschah andernorts etwas sehr Erstaunliches und Unerwartetes.

...und Veränderung(en)

Anmerkung des Autors:


Ein großes Dankeschön an:
Mortimer Harrison und Babara Glades.
Ihr seid die Größten. XD


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Auktorialer Erzähler




„So ein Mist. Verdammt!“, fluchte Babara Glades, nachdem sie sich im Bett herum gedreht und die Augen aufgeschlagen hatte.

Der Grund für ihre Flucherei war die Anzeige der Uhrzeit auf dem Wecker gewesen. 04.47, war in leuchtenden roten digitalen Ziffern zu erkennen. Laut genervt stöhnend erhob sie sich aus ihrem Bett und meckerte gedanklich über sich selbst. Hatte sie den Wecker etwa nicht gehört?

Barbara Glades hasste es, wenn etwas nicht nach Plan verlief. Sie brauchte Struktur und Ordnung in ihrem Leben. Der Grund dafür, ist in ihrer Kindheit zu finden. Ihre Mutter hatte schon immer viel Wert auf Ordnung und Sauberkeit gelegt. Und ganz besonders waren die Regeln einzuhalten. Den Dreck von den Schuhen abputzen und diese dann ausziehen, bevor die Wohnung betreten wurde; niemals barfuß durch die Wohnung laufen;  immer pünktlich beginnen zu speisen und den ganzen Teller leer essen, sind nur einige Beispielregeln, an die sich die kleine Babara früher zu halten hatte.

Wurden diese Regeln missachtet und dadurch die Ordnung gestört, wurde Barbara bestraft. Jedoch nicht mit körperlicher Misshandlung. Nein. Verlief etwas nicht nach Plan, wurde die kleine Babara mit Ignoranz, Missachtung und enttäuschten Blicken ihrer Mutter bestraft. Solche Blicke aus kühl wirkenden blauen Augen in einem strengen Gesicht und der dazugehörige Mangel an Aufmerksamkeit konnten für ein kleines Mädchen sehr hart sein. So hatte sie sich immer bemüht, alle Regeln ihrer Mutter zu befolgen, um von ihr die gewünschte Fürsorglichkeit zu bekommen.

Diesen Lohn bekam sie auch immer, doch Babara erschien das irgendwann nicht ausreichend genug, sodass sie über die Jahre immer größeren Ehrgeiz entwickelt hatte. Sie wurde eine der besten Schülerinnen, schloss ihre Ausbildung mit Auszeichnung ab und war in ihrem Berufsleben weiterhin erfolgreich, sodass ihre Mutter sie immer mit Stolz angesehen hatte. Dadurch hatte sich die Mutter-Tochter-Beziehung der beiden immer mehr verbessert.

Vor über drei Jahren, als Barbara ihre Mutter mal wieder besuchen wollte, fand sie sie tot im Bett liegend. Ihr Gesichtsausdruck war entspannt gewesen und ihre Lippen waren zu einem leichten Lächeln verzogen. Sie war wahrscheinlich friedlich im Schlaf gestorben und konnte nicht mehr aufwachen. Ihr Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen. Barbara hatte dieser Verlust doch sehr schwer getroffen, wovon sie selbst überrascht gewesen war. Vielleicht, weil ihre Mutter immer allein gelebt und niemanden zum Reden gehabt hatte.

Sie war immer nur für ihre Tochter und Arbeit da gewesen. Sie war Schneiderin und hatte zuhause gearbeitet. Männer hatte es im Leben von Babaras Mutter nie gegeben. Babara hatte leider keinen Vater gehabt, der sich für sie hätte einsetzen und gegen die Regeln ihrer Mutter etwas sagen können. Nur ein einziges Mal, hatte Babara sich getraut, nach ihrem Vater zu fragen.

Ihre Mutter hatte daraufhin nur geantwortet, dass sie sich lieber einen Hund zulegen sollte, da sie treuer waren und früher sterben würden. Laut ihrer Mutter waren Männer nur Gebrauchsgegenstände, die man benutzte und danach wieder zurück in die Ecke stellte.

Babara war nie mit Tieren groß geworden und auch später, als sie ihre eigenen Wege ging, hatte sich ihre Mutter keinen Hund zugelegt. Der Grund dafür lag auf der Hand, das wusste die nun jetzt 44-jährige. Hunde machten Dreck. Und das konnte ihre Mutter nicht ausstehen.

Babara hatte sich ebenso in letzter Zeit bewusst Gedanken darüber gemacht, warum ihre Mutter so eine Einstellung gegenüber Männern gehabt hatte.

War es bloß eine Nacht gewesen?
Hatte er ihre Mutter betrogen und daraufhin ihre Familie verlassen? Oder war er tödlich verunglückt?

Wenn sie heute darüber nachdachte, wünschte sie sich Antworten auf diese Fragen. Doch ihre Mutter war diesem Thema gegenüber sehr verschlossen gewesen und seit drei Jahren nicht mehr am Leben. Sie würde nie Antworten erhalten können, die sie – wie sie erkannt hatte – doch so sehr brauchte. Doch diese Sehnsucht nach Antworten auf diese Fragen hatte sich erst in ihr entwickelt, seitdem sie die junge Patientin Isabella Marie Swan kannte.


Babara Glades schüttelte über sich selbst den Kopf. Sie hatte nun keine Zeit, sich über sich selbst zu ärgern. Rasch ging sie ins Bad und machte sich so schnell wie möglich für ihren Arbeitstag fertig. Eine Stunde später stand sie fertig gekleidet und frisiert in ihren kleinen Flur, zog sich gerade ihre Jacke an und betrachtete sich ein letztes Mal in den Spiegel, bevor sie ihre Wohnung für heute verlassen würde. 

Eine 1, 68 Meter große schlanke Frau mit mittellangem blonden Haar, welches sie – wie immer – hochgesteckt trug und blauen Augen starrte ihr aus dem Spiegel entgegen. Sie rümpfte ihre kleine Nase und verzog kurz ihre schmalen zu einem Strich verzogenen Lippen.
Jeden Tag sah sie ihrer Mutter ins Gesicht. Nur, dass sie hellbraune und nicht blonde Haare besessen hatte.

Babaras Tochter Marissa, die eine schwarze Kurzhaarfrisur und dunkel wirkende grüne Augen von ihrem Vater geerbt hatte, hatte wohl recht. Babaras ständige Aufmachung wirkte sehr streng und konnte bei dem männlichen Geschlecht schon etwas einschüchternd wirken. Wenn sie ihr Aussehen mal verändern würde, wäre sie bei ihren Dates vielleicht erfolgreicher. Babara Glades hatte schon viele Dates gehabt. Sehr viele.

Seit guten vier Jahren lebte sie nun von ihrem Mann – beziehungsweise Ex-Mann – Jason Glades getrennt. Ihre Beziehung hatte einfach nicht mehr funktioniert. Sie waren an einem Punkt angekommen, an dem beide Partner erkannt hatten, dass sie einfach nicht mehr zusammen passten. Doch trotz allem hatten sich beide im Guten getrennt und Babara hatte auf die Namensänderung verzichtet.

Der Name Glades war ein Zeichen dafür, dass Jason noch immer zu ihrem Leben gehörte, wenn auch seine Rolle darin nicht mehr so groß war, wie früher. Sie hatte etwas, was sie mit Jason verband – neben der gemeinsamen Tochter natürlich. Sie fand auch, dass der Name Glades einen guten Klang hatte.

Ihr Ex-Mann Jason hatte schon vor über zwei Jahren eine neue Freundin gefunden. Babara freute sich für ihn. Sie war nur etwas neidisch auf sein  Glück, welches sie auch wollte. Ja, sie sollte es wirklich mal versuchen, ihr Aussehen zu verändern. Das Problem dabei war nur, dass sie so schrecklich unflexibel war und sich mit Veränderungen sehr schwer tat.

Sie sandte still ein ironisches Dankeschön zu ihrer Mutter gen Himmel. Denn normalerweise war es nicht geplant, dass Aussehen drastisch zu  verändern. Und das auch noch für einen Mann. Wieder dankte Babara ihrer Mutter. Sie hatte wohl ein Teil der Einstellung von ihrer Mutter gegenüber Männern übernommen.

Seufzend wandte sich Babara Glades von ihrem Spiegelbild ab und schloss den Reißverschluss ihrer Jacke. Sie nahm ihre Handtasche, verließ mit klackernden niedrigen Absatzschuhen ihre Wohnung und machte sich mit ihrem Auto auf dem Weg zum Seattle Krankenhaus.
 
In sich hinein grummelnd betrat Babara Glades um 06.10 Uhr das Krankenhaus im Zentrum von Seattle. Sie hätte schon vor 20 Minuten hier sein müssen. Aufgrund ihres Ärgers, hatte sie nur einen kühlen Morgengruß im Moment für ihre Kolleginnen übrig, als sie hindurch in die Umkleide ging. Oh, wie Babara es hasste, wenn die Ordnung gestört wurde.

Wenn diese durch eine Winzigkeit durcheinander gebracht wurde, fiel es ihr recht schwer, sich in so einer neu entwickelten Situation zurecht zu finden. Natürlich wusste sie, wie unflexibel sie war und das dies in ihrem Beruf mehr als fehl am Platz war. Meistens jedoch blieb sie von Krisensituationen verschont. Ihre nicht leicht überwindbare Unbiegsamkeit machte sie jedoch durch ihren Ehrgeiz und ihre Strebsamkeit wieder wett.

Fünf Minuten später stand sie mit ihrer Arbeitskleidung und ihren nur für sie selbst weißen Handschuhen bereit und war soweit für die Übergabe. Die anderen Schwestern bemerkten natürlich die Stimmung ihrer Kollegin und legten ihr nahe, dass so eine kleine Verspätung bei ihr nicht so schlimm sei, da sie sonst immer mehr als pünktlich war. Außerdem gäbe es ja noch andere Schwestern in der Frühschicht.

Doch Babara Glades war da ganz anderer Meinung. Gerade weil sie eigentlich nie zu spät kam, war so ein Fehltritt wie heute eine schlimme Angelegenheit. Sie konnte sich an ihre letzte Verspätung überhaupt nicht erinnern. Gab es denn eine? Nach kurzem Überlegen hatte sie ihre Antwort: Nein.
 
Nachdem Babara alles Wichtige über die Patienten auf ihrer Station wusste, begann sie ihren morgendlichen Rundgang mit zwei anderen Krankenschwestern. Nun begann die tägliche Routine, die Ordnung, die Babara zu schätzen wusste. Sie half hilfsbedürftigen Patienten beim Waschen, miss bei allen Patienten den Blutdruck, den Puls und das Fieber. Dann wurden Tabletten und Essenskarten ausgeteilt, auf denen die Essenswünsche angekreuzt wurden.

Während sie über den langen Flur entlang lief, ärgerte sie sich immer noch über ihre erstmalige Verspätung. Ihre schlechte Laune ließ sie natürlich nicht an ihre Patienten aus, sondern versteckte sie hinter einer ruhigen, kühlen und (wie immer) streng wirkenden Maske. Auch wenn Babara Glades streng wirkte, war sie jedoch nicht so. Es mag sein, dass sie zu fremden Menschen, etwas kühler aber immer freundlich und höflich war. Menschen, die sie näher kannten wussten, dass sich hinter ihrem harten Aussehen ein recht weicher Kern verbarg. Babara Glades brauchte nur eine kleine Weile, um mit ihren Mitmenschen wirklich warm zu werden. Kannte sie Leute um einiges besser, konnte sie recht aufgeschlossen sein. 

Schwester Glades klopfte an die Tür des Zimmers 232 und trat ein.

„Hallo Monty, wie geht’s dir heute?“, fragte sie mit einem breiten Lächeln einen 53 Jahre alten Mann, dessen Haar fast gänzlich grau war.

Nur an den Seiten schimmerten noch einzelne dunkelbraune Strähnen. Ihr Patient erwiderte mit einem leichten Lächeln und dunklen braunen leuchtenden Augen ihren Gruß. Die Lachfältchen um seine Augen ließen ihn jünger wirken.

„Hallo Barbie, ja mir geht es gut, wie immer.“

Das war das tägliche Morgenritual der beiden seit guten drei Monaten. Beide wussten noch genau, wie sie sich kennen gelernt hatten.



Mortimer Harrison kam damals am frühen Abend in dieses Krankenhaus von Seattle, da er über starken langanhaltenden Husten, Abgeschlagenheit und Müdigkeit klagte. Seine Hustenanfälle waren damals so stark, dass sie ihm manchmal Schmerzen in der Brust, ja sogar Atemnot verursachten. Daraufhin wurde Mortimer Harrison von den Ärzten untersucht, deren Diagnose Tuberkulose lautete. Die Bakterien hatten die Lunge bereits gefallen, doch glücklicherweise war seine Krankheit noch nicht so weit fortgeschritten, sodass eine Ansteckungsgefahr bestand.

So kam es, dass Mortimer Harrison in das Zimmer verlegt wurde, welches sich neben dem von Isabella Marie Swan befand.
Am nächsten Morgen klopfte Schwester Glades an Mortimers Tür.

„Hallo, mein Herr. Wie ich sehe, sind Sie neu hier bei uns. Ich bin Babara Glades, ihre Krankenschwester auf dieser Station. Na, dann wollen wir mal loslegen.“, hatte Babara Glades ihren neuen Patienten mit diesen Worten begrüßt und Mortimer das Blutdruckmessgerät angelegt.

Sie schloss den Klettverschluss um seinen rechten Arm an und begann die Luft zu pumpen.

„Aber, aber.“, erwiderte der gutgelaunte Mortimer leicht lächelnd.  „Das war zwar eine nette Begrüßung, nur etwas steif, finden sie nicht? Sie können ruhig etwas lockerer werden. Ich beiße schon nicht und bin ein netter Zeitgenosse. Außerdem bin ich mir sicher, dass ich eine Weile hier drin meine Zeit verbringen werde.“

Mortimer Harrison musste abbrechen, da ein neuer Husten seinen Körper schüttelte. Er fasste sich an die Brust, da ein Schmerz seinen Körper durchfuhr. Babara musste das Pumpen kurz unterbrechen.

„Wir werden uns also ziemlich oft begegnen und da fände ich es sehr gut, wenn unsere kleinen Gespräche nicht so förmlich bleiben würden.“

Mortimer Harrison wusste, dass dies schon ein etwas ungehobeltes Verhalten gegenüber einer Krankenschwester war, aber das war nun mal seine Art. Er verabscheute das Förmliche, welches Distanz zwischen die Mitmenschen brachte. Seiner Meinung nach sollten man das Siezen nur noch in Ausnahmefällen gebrachen. Nur weil man sich duzte, bedeutete das ja nicht, dass es dann an Respekt und Höflichkeit mangelte. Nur leider fragte die Welt nicht nach der Meinung von Mortimer Harrison.

Mit einem freundlichem Gesichtsausdruck und einem keinesfalls spöttischen Lächeln wagte er es.

„Ich finde, Babara klingt so ernst. Für mich sind Sie ab heute Barbie.“, legte Mortimer fest.

Babara Glades vergaß nach dem Pumpen auf die Anzeige des Messgerätes zu schauen. Dafür war sie etwas verblüfft und entsetzt über die Worte dieses Mannes. Ihr Mund stand leicht offen und ihre Augen waren geweitet. Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, war ihr erster Impuls gewesen, diesen fremden neuen Patienten für diese frechen Worte zurechtzuweisen. Doch dann dachte sie über diesen neuen Spitznamen nach.


Barbie.

Ihr kam ein Bild ihrer vierjährigen kleinen Tochter in den Sinn, die mit ihren Puppen spielte. Dabei sagte die kleine Marissa Sätze wie:

„Barbie, geh doch bitte mit dem Hund raus.“

„Ken, ich hab dich sooo lieb.“

„Barbie und Ken küssen sich.“

Bei diesem Satz führte Marissa die Puppen zusammen (es sah eher aus, als würden sie miteinander kämpfen) und machte währenddessen laute Schmatzgeräusche.


Babara hatte genau dieses Bild vor Augen und es war ihr, als könne sie die Schmatzgeräusche ihrer vierjährigen Tochter gerade genau hören. Babara Glades konnte nun nicht mehr an sich halten und fing schallend an zu lachen. Dabei ließ sie den Ball, mit dem sie die Luft gepumpt hatte los und krümmte ihren Rücken vor Lachen. Mortimer Harrison schaute amüsiert, war etwas verwirrt von dieser starken Reaktion, lachte aber mit.

Nachdem er und die Schwester sich beruhigt hatten, schaute sie ihren Patienten immer noch leicht lachend an und besah sich kurz das Krankenblatt, welches am Ende des Bettgestells hing.

„Na schön, Mister Mortimer Harrison“, sagte Babara lächelnd und schüttelte über diese absurde Situation leicht den Kopf.

Sie konnte es nicht fassen, dass dieser Mann sie bereits am ersten Tag sozusagen „um den Finger gewickelt“ und ihre kleine harte Schale gesprengt hatte. Ihr war dieser Mortimer irgendwie sympathisch und seine etwas kecke Art war mal etwas anderes. Sie hatte von einer der Nachtschwestern gehört, warum er nun hier lag. Andere Menschen, die in seiner Situation wären, würden eher Trübsal blasen. Babara Glades konnte nicht begreifen, warum sie das nun sagte, da das eigentlich nicht so ihre Art war. Der neue Patient musste sie auf eine gute Art und Weise angesteckt haben.

„Wenn Sie auf eine lockere Art bestehen, dann heißt DU ab heute für mich Monty.“, fuhr Babara lächelnd fort und zog eine Augenbraue hoch, war gespannt auf die Reaktion ihres Patienten.

„Sicher, wenn DU es so möchtest.“, lachte der 55-jährige und war sehr froh, dass seine Worte nicht falsch aufgenommen wurden.

Nebenbei fragte er sich, warum die Frau Handschuhe trug. Das war doch bei so etwas Einfachem wie Blutdruckmessen gar nicht nötig, oder? Doch was wusste er schon davon. Mortimer wollte gerade ansetzen und Barbie nach den Handschuhen fragen. Er tat es jedoch nicht, weil er erkannte, dass diese Frage vielleicht zu diesem Zeitpunkt wohl doch etwas zu intim wäre. Er würde seine Krankenschwester irgendwann danach fragen, aber sicher, ob er es denn wirklich auch tun würde, war er sich nicht.

Babara Glades trat wieder an Monty heran und begann vom Neuen die Luft zum Messen seines Blutdrucks zu pumpen, aber nicht ohne dabei zu glucksen. Am nächsten Tag war dann das neue Ritual geboren.



Am heutigen Tage wich das Ritual vom üblichen Schema ab und die Routine war erneut gebrochen. Mortimer musterte seine Krankenschwester, die er immer mal gerne neckte. Doch gerade schien Babara nicht in Stimmung für seine Scherze zu sein. Ihr breites Lächeln, mit dem sie Monty begrüßt hatte, war fast gänzlich verblasst und in einer für sie beide untypischen Stille begann Babara seinen Blutdruck zu messen.

„Alles in Ordnung. Er liegt im normalen Bereich.“, sagte Babara und entfernte das Gerät wieder.

Es klang eher beiläufig, doch Mortimer kannte Babara schon so gut, dass er den leicht ärgerlichen Unterton in ihrer Stimme bemerkt hatte.

„Was ist los?“, fragte Mortimer väterlich und sah Babara tief in die Augen.

Er schien Babara Glades mit diesem Blick regelrecht durchdringen zu können. Seufzend gab sich die Frau geschlagen. Sie wusste, dass sie Monty nichts vormachen konnte. Er kannte sie einfach zu gut. Aber sie glaubte auch, dass er einen sechsten Sinn für so etwas hatte.

„Ich bin heute das erste Mal in meinem Leben zu spät zur Arbeit gekommen. Mehr nicht.“

Mortimer nickte verstehend.
„Ach so. Ich weiß ja, dass du dich schwer tust mit Abweichungen. Aber ich will dir mal was sagen. Abweichungen bedeuten Veränderungen. Und Veränderungen bedeuten einen Bruch. Einen Bruch der Normalität. Einen Bruch der Regel. Babara, manchmal sind Veränderungen gut. Sie bringen nicht immer Schlechtes mit sich. Was wäre das für ein Leben, wenn die Monotonie nicht ab und an mal durchbrochen wird? Außerdem, wie sagt man so schön? ‚Jede Regel ist da, um gebrochen zu werden', natürlich nicht ganz wörtlich genommen."

Mortimer schaute Babara ernst in die Augen, die ‚Verstehst du, was ich meine?‘ zu sagen schienen.

Natürlich wusste Babara Glades, was ihr recht guter Freund damit sagen wollte. Eigentlich wusste sie das auch selbst. Aber es selbst wissen und es von einem anderen gesagt zu bekommen, waren zwei unterschiedliche Sachen. Babara nickte ernst und wandte sich wieder ihren Aufgaben zu. Sie beschloss sich Mortimers Worte mehr zu Herzen zu nehmen und etwas mehr Toleranz gegenüber Veränderungen zu entwickeln.     

Als die Krankenschwester Babara Glades ihre Aufgaben in Mortimer Harrisons Zimmer erledigt und ihn mit seinen Antibiotika versorgt hatte, verließ die Frau nach einer etwas betrübten Verabschiedung den Raum. Somit hatte das Morgenritual wenigstens sein Ende noch beibehalten.

Mortimer verzog das Gesicht. Seufzend schallt er sich innerlich. Er war verärgert. Verärgert über sich selbst. Erst hielt Mortimer ihr einen Vortrag über Veränderungen und deren bedingte Notwendigkeit und dann hatte er sich nicht getraut, selbst die Normalität zu durchbrechen. Erneut hatte er eine Chance versäumt, Babara Glades zu fragen, warum sie ständig und zu jeder Tageszeit Handschuhe trug. Noch nie in der ganzen Zeit, die er nun hier war, hatte er sie ohne Handschuhe gesehen. Erneut seufzend dachte er daran, was der Krankenschwester jetzt bevorstand. Mit traurigem Blick starrte Mortimer Harrison an die gegenüberliegende Wand, die ihn von Isabella Marie Swan trennte.

Er wusste schon lange über das Mädchen im anderen Zimmer Bescheid. Mortimer hatte manchmal –wenn seine  Tür soweit offen stand, dass er den Flur sehen konnte – einen Blick auf einen Mann mittleren Alters mit weißer werdenden Haar erhaschen können, der sich mit eingefallenem Rücken durch den Gang  zu schleppen schien. Je öfter Mortimer Harrison diesen Mann im Flur gesehen hatte – es war meistens so um die Mittagszeit – gewann er den Eindruck, dass diesem Mann mit der traurigen Haltung jeder Schritt quälte.

Fast drei Wochen später nach Mortimers Einlieferung hatte er sich getraut, Babara Glades nach diesem Mann zu fragen. Nach kurzem Zögern und einem traurigen Seufzen erzählte die Krankenschwester es ihrem Patienten. Der Mann mit dem schweren traurigen Gang war Charlie Swan.

Jeden Tag kam er um die Mittagszeit und am Abend hier her, um seine 18-jährige Tochter Bella Swan zu besuchen, die im Nachbarzimmer seit über einem halben Jahr im Bett schlief und einfach nicht aufwachte. Mortimer war bestürzt und geschockt über die Antwort gewesen.

Der Vater kam JEDEN TAG mittags und abends ins Krankenhaus? Wirklich jeden Tag?

Das hatte Mortimer Harrison nicht gedacht, da er Charlie Swan nicht so oft hatte sehen können. Mortimer konnte sich gar nicht vorstellen, was für Qualen dieser arme Mann wohl durchmachen musste. Er empfand großes Mitleid mit dem Vater des armen Mädchens.

Seitdem Mortimer Harrison von dem Mädchen gegenüber erfahren hatte, hoffte er jeden Tag, dass Babara Glades einmal mit guten Nachrichten zu ihm ins Zimmer kommen würde.

 
Babara Glades schloss die Tür zu Montys Zimmer und betrat gleich ohne anzuklopfen den Nachbarraum. Anzuklopfen wäre nicht nötig gewesen. Einerseits wartete sie eigentlich nie auf ein „Herein“ der Patienten und andererseits würde sie sowieso keine Antwort von der Patientin erhalten, die hier seit über acht Monaten in ihrem Bett lag.

Babara schritt in die Mitte des Raumes und betrachtete die Werte auf dem EKG-Monitor. Alles war wie gestern und die letzten Tage zuvor. Seufzend kamen Babara Mortimers Worte in den Sinn und sie wandte sich der Patientin Isabella Marie Swan zu.

Da lag sie.

Sie trug ein weißes Gewand und war in die Decke des Bettes eingehüllt. Darauf lagen ihre Arme seitlich an ihrem Körper. Ihr Gesicht wirkte entspannt. Die Augen hatte sie – wie den Mund – geschlossen. Wie zur jeder Tageszeit. Ihre Brust hob und senkte sich etwas langsam. Sie atmete etwas flacher als normalerweise, aber ruhig und leise. Es sah so aus, als würde sie schlafen.

Auf dem ersten Blick schien nichts Falsches an diesem Bild zu sein. Aber wenn man nun ein zweites Mal hinsah oder wie Babara Isabella jeden Tag seit über acht Monaten gesehen hatte, fielen einen die Merkwürdigkeiten beziehungsweise Veränderungen auf.

Das, was als aller erstes ins Auge fiel, war ihr hüftlanges, leicht welliges, weißes Haar. Nicht grau, sondern weiß. Über die Monate hatten die Haare ihre schöne kastanienbraune Farbe verloren. Keine einzige dunkle Strähne war nun mehr im Haar zu finden. Babara erinnerte sich noch sehr gut daran, wie das braune Haar des Mädchens in der Sonne einen schönen leichten Rotstich bekam. Sie sah damals so schön aus.

Das arme kleine Ding, dachte Babara Glades wehmütig bei sich.

Doch es war nicht nur das Haar von Isabella Marie Swan, das an Farbe verloren hatte.

Auch die Haut des Mädchens, die damals zur Einlieferung schon recht blass war, besaß nun eine krankhafte unmenschliche Blässe. Die Haut, die sich über die hohen Wangenknochen im Gesicht des Mädchens spannte und auch den Rest des nun dürren und knochigen Körpers umhüllte, war fast so weiß wie das Bettlaken.

Die junge 18-jährige Isabella Marie Swan wirkte so klein und unscheinbar, dass es vom Bett fast verschlungen wurde.

Das Mädchen schlief einen Schlaf, aus dem es nicht mehr erwachen konnte – oder wollte. Babara wusste keine Antwort darauf. Nur eines wusste sie. Dieses Mädchen lag im Sterben. Und nichts und niemand schien ihr helfen zu können.

„Guten Morgen, Isabella. Wie geht es dir? Schöner Tag heute, nicht wahr?“, sagte die Krankenschwester und schaute kurz durch die Fenster nach draußen.

Die Wolkendecke lichtete sich langsam immer mehr. Heute würde die Sonne vielleicht mal scheinen können.

„Was ist nur mit dir passiert?“, wollte Babara Glades leise von der schlafenden Isabella wissen, da sie bei ihrer Einlieferung keine äußeren Verletzungen vorzuweisen gehabt hatte.

Jeden Tag, wenn Babara Glades das Mädchen besuchte, sprach sie mit ihr. Ein Teil von ihr war überzeugt, dass Isabella sie hören konnte. Und wenn dem nicht so war, hoffte Babara zumindest, dass Isabella spüren konnte, dass jemand da war.

Seufzend wandte Babara Glades sich von diesem traurigen Anblick ab und bereitete alles vor, um Isabella zu waschen und ihre Kleidung zu wechseln. Babara graute sich wie jeden Tag davor. Sie musste schon viele Patienten waschen, jedoch tat sie sich mit Isabella etwas schwer.

Babara wusste, was sich unter dem Gewand von dem Mädchen befand und was auf sie zukam. Der Anblick dieses Körpers bei einer so jungen Frau setzte Babara sehr zu. Jeden Tag schien die Krankenschwester das immer weniger werdende Fett und somit die stärker hervortretende Knochenstruktur fühlen zu können. Auf dem einst schlanken Körper waren die Knochen erkennbar. Die Wirbelsäule, die Beck- und Hüftknochen, die Rippen. Das alles und mehr trat unter der Haut hervor.

Jeden Tag vor dem Waschen – wie jetzt – hatte Babara Glades Angst, dass sie diesen schwächlichen Körper mit nur einer falschen Bewegung zerbrechen könnte.

Obwohl Isabella Marie Swan intravenös mit allen notwendigen Mineralien und Vitaminen versorgt wurde, schien ihr Körper die Nahrung so gut wie möglich abstoßen zu wollen. Babara hatte den Eindruck, als wollte der Körper – also Isabella – so schnell wie möglich von hier gehen. Als ob sie keinen Sinn mehr sähe, aufzuwachen – zu leben. Doch zum Glück verarbeitete der Körper des Mädchens trotz ihrer – von Babara angenommenen – Gegenwehr so viel Nahrung, sodass er seinen Dienst nicht quittieren konnte.

Seufzend trat Babara Glades nun an Isabella heran, nachdem sie eine fertig präparierte Waschschüssel und einen Lappen bereitgestellt hatte und bereitete sich mental darauf vor, Isabellas Gewand auszuziehen. Nach dem das Waschen erledigt wäre, musste sie den Tropfbeutel wechseln.

Es war – wie jeden Tag – dieselbe Routine.


Stunden später, als Babara Glades wieder durch den Flur ging, lief sie an Isabellas Zimmer vorbei und erhaschte mal wieder einen Blick auf dieses bereits bekannte Bild von Vater und Tochter.

Charlie Swan hatte mal wieder vergessen die Tür zu schließen – wie so oft. Babara Glades konnte verstehen, warum das Schließen einer Tür für diesen Mann so unwichtig war. Sie trat leise an den Türdurchgang und nahm diese traurige Szene in sich auf.

Jedes Mal war es dieselbe Szene, die bereits zur Normalität geworden war.

Charlie Swan saß auf einem Stuhl an dem Bett von Isabella Swan. Er hielt ihre rechte Hand in seiner und wandte den Blick nicht ein einziges Mal vom Gesicht seiner Tochter ab. Er sagte kein einziges Wort.

Am Anfang hatte Babara noch Worte wie „Bella.“ und „Kleines, wach doch endlich auf. Ich bin so einsam ohne dich.“, hören können. Doch nun nach so langer Zeit verließen keine Worte mehr seinen Mund.

Charlie Swan saß händchenhaltend da und sah mit braunen verzweifelten leeren Augen auf seine Tochter hinab. Babara Glades erschütterte dieses Bild immer wieder, da ihr die Ähnlichkeiten auffielen.

Auch der Vater hatte sich in den acht Monaten, die er nun hier her kam, sehr verändert. Das Haar von Charlie Swan schien jeden Tag weißer zu werden. Das braune Haar war von sehr vielen weißen Strähnen durchzogen, was den Mann mindestens zehn Jahre älter wirken ließ. Die kränklich blasse Haut hob deutlich die dunklen Augenringe hervor, die sich scheinbar für immer unter den leeren Augen eingegraben hatten.

Der Mund war schmal und blass – wie der seiner Tochter. Die Mundwinkel waren wie immer nach unten gebogen. Wenn man Charlie Swan näher betrachtete, konnte man gut die Falten erkennen, die sich an den Mundwinkeln gebildet hatten. Da Babara Glades Charlie Swan jeden Tag seit über acht Monaten sah, konnte sie erkennen, dass auch der Vater während dieser Zeit abgenommen hatte – wenn auch nicht so extrem wie seine Tochter.

Wenn Babara Glades die beiden so sah, kamen ihr die Worte: ‚Wie die Tochter, so der Vater‘ in den Sinn – nicht umgekehrt.

Bald würde auch Charlie Swans Haar vollkommen weiß sein, wenn sich nicht etwas änderte. Wie immer, wenn die Krankenschwester dieses herzzerreißende Bild sah, kamen ihr wieder die Fragen über ihren Vater in den Sinn.

In solchen Momenten verspürte sie den Wunsch nach väterliche Liebe, Vertrautheit und Nähe. Isabella Swan hatte das, was Babara Glades als Kind nie hatte aufbauen können. Eine Vater-Tochter-Beziehung. Die 44-jährige fragte sich, ob Isabella die tiefe Liebe ihres Vaters spüren konnte. Ob sie irgendwie wusste, dass ihr Vater jeden Tag zweimal kam, um nach ihr zu sehen. Ob sie wusste, dass es Menschen gab, denen sie am Herzen lag. Denn einen gab es garantiert. Jeder würde die tiefe Liebe, die Charlie Swan für seine Tochter empfand, auf den ersten Blick erkennen.

Natürlich liebte auch die besorgte Mutter Renee Dwyer ihre Tochter Isabella, die Babara einige Male gesehen hatte. Jeden Monat kam sie mit ihrem neuen Mann – wie die Schwester annahm – namens Phil aus Florida hier her, um ihr Mädchen zu besuchen. Charlie Swan war währenddessen immer abwesend.

War die Liebe von anderen Menschen für Isabella Marie Swan nicht Grund genug, um aufzuwachen?
 


Charlie Swan saß am Bett seiner über alles geliebten Tochter und betrachtete sie traurig. Fest hielt er Bellas kalte knochige Hand in seiner großen warmen und betete in stiller Verzweiflung. Wie so oft, wenn er diesen Anblick ertragen musste, wanderten seine Gedanken zurück in die Vergangenheit.


Es war der 16. September 2005.

Charlie kam nach Hause und hatte gerade sein Auto auf der Auffahrt abgestellt. Er stieg aus und ging zur Haustür. Gerade wollte er sie aufschließen, als er ein mulmiges Gefühl in der Magengegend verspürte. Charlie gefiel das nicht. Er versuchte dieses unangenehme Gefühl zu ignorieren, welches immer stärker zu werden schien. Seufzend und verwirrt schloss er die Tür auf. Nachdem er seine Jacke ausgezogen und sie mitsamt Gürtel am Haken gehängt hatte, fiel ihm etwas auf. Er hörte keine Kochgeräusche oder roch den Duft von Bellas Essen.

„Bella?“, fragte er misstrauisch in die bedrückende Stille hinein.

Keine Antwort.

Charlie fragte sich, ob sie vielleicht oben in ihrem Zimmer war. Er ging in die Küche. Die Küche sah genauso aus, wie er sie am Morgen verlassen hatte. Es standen keine (gefüllten) Teller mit Besteck und Gläsern auf dem Tisch. Der Herd war leer. Keine gefüllten Töpfe standen darauf. Das war sehr ungewöhnlich. Immer wenn Charlie nach Hause kam, war das Essen so gut wie fertig gewesen.

Da fiel ihm ein kleiner Zettel auf der Anrichte ins Auge. Er ging zu dem Möbelstück und beugte sich hinunter, um die Worte besser lesen zu können. Dabei stützte Charlie sich mit einer Hand auf der Anrichte ab. Den Zettel berührte er nicht. Charlie las folgende Worte.


[style type="italic"]Bin mit Edward spazieren auf dem Waldweg.
Komme bald wieder.

B.[/style]


Charlie wusste nun wo seine Tochter war. Aber wie lange war es her, seitdem sie das Haus verlassen hatte? Wieder beschlich ihn dieses ungemütliche Gefühl. Charlie beugte sich zurück und ließ die Anrichte wieder los.

Er wusste nicht warum, aber dieses merkwürdige Gefühl ließ seinen Vaterinstinkt um ein Vielfaches verstärkt zum Vorschein kommen. Plötzlich machte er sich große Sorgen um sein kleines Mädchen und hoffte, dass jeden Moment die Tür aufgehen und Bella herein kommen würde. Charlie schaute sich noch einmal die Küche an und sein Blick blieb am Fenster hängen.

Es war schon recht dunkel draußen. Die dichtbewachsenen Bäume und deren Blätterdecken im Wald ließen alles noch dunkler erscheinen. Sie müsste eigentlich langsam heim kommen.

Charlie hörte das Ticken der Uhr.

Das Geräusch hörte sich für den Vater wie ein Blitzschlag in der Stille an.

Ein ohrenbetäubender Knall.

Mit jeder Sekunde wurde Chief Swan immer unruhiger. Und dieses bedrückende Gefühl in seiner Brust verstärkte sich zunehmend. Er hatte keine Ahnung, warum er so panisch und immer nervöser wurde.

War es der ungewohnte Anblick der Küche?

Aber sie war doch nur spazieren, dachte Charlie sich.
Vielleicht hatte sie einfach nur die Zeit vergessen. Das war doch annehmbar, da sie ihre ganze Zeit am liebsten nur mit Edward verbringen würde. Charlie verstand zwar nicht warum, aber seine Tochter liebte diesen Jungen abgöttisch.

Wenn Bella mit Edward im Wald war und dabei die Zeit außer Acht gelassen hatte, war es doch klar, dass nichts vorbereitet in der Küche stehen konnte. Nicht, dass das schlimm für den Polizeivater wäre. Er würde einfach eine Pizza bestellen. Sowieso fand er, dass Bella ihn zu sehr bemutterte. Oft hatte er deswegen ein schlechtes Gewissen. Charlie drehte seinen Kopf vom Fenster weg, bis er auf den Herd blickte.

Es war bestimmt nichts.

Was sollte schon sein?

Seine Bella würde gleich kommen. Sie war nur spazieren gegangen. Charlie versuchte sich zu beruhigen, indem er sich diese Worte immer wieder sagte.

Doch leider hatten sie keine beruhigende Wirkung.

Die Sorge und der Druck auf seiner Brust schienen sich mit jeder weiteren Minute zu steigern. Charlie ging ins Wohnzimmer, setzte sich auf das Sofa und schaltete den Fernseher an. Er versuche sich abzulenken, obwohl er wusste, dass es nichts brachte. Seinen Hunger hatte er vollkommen vergessen.

Nach 20 Minuten hielt es Charlie nicht mehr aus. Genervt von seiner inneren Unruhe schaltete er den Fernseher wieder ab und verließ das Wohnzimmer. Er nahm sich vor, jetzt nach draußen in den Wald zu gehen und nach Bella zu suchen. Er zog seine Jacke wieder an, band sich seinen Pistolengürtel mit geladener Waffe um und nahm eine Taschenlampe mit.

Kaum hatte er das Haus verlassen, umrundete Charlie das Gebäude und richtete den Strahl der Taschenlampe in den entfernten Wald. Er ging einige Schritte östlich des Grundstücks in den Wald hinein – das Haus war noch nicht allzu weit entfernt – und leuchtete mit der Taschenlampe geradeaus, links und rechts in die Dunkelheit.

Er war noch nicht richtig auf dem Weg. Gerade wollte er anfangen, nach seiner Tochter zu rufen, da stieß er mit seinem rechten Fuß gegen irgendetwas, als er einen neuen Schritt tun wollte. Es war wohl kein Stein. Dafür hatte es sich zu weich angefühlt. Verwirrt von dem unerwarteten Hindernis, richtete Charlie die Taschenlampe vor sich nach unten.

Überrascht weiteten sich die Augen des Polizeichefs und er keuchte erschrocken auf. Er leuchtete seiner Tochter, die sich genau vor ihm auf dem Boden befand, geradewegs in die offenen Augen.

„BELLA!?“, schrie Charlie entsetzt.

Seine Tochter reagierte nicht auf seinen lauten Schrei.
Kein plötzliches Schließen der Augen oder ein anderes Zucken.

Er ging in die Hocke und suchte mit dem Strahl seiner Taschenlampe schnell ihren Körper ab. Äußere Verletzungen fand er keine. Ihr Körper lag einfach da. Die Arme lagen locker neben dem Körper. Er richtete die Taschenlampe wieder auf Bellas Gesicht und vermied es dieses Mal, direkt in die Augen zu leuchten. Bellas Mund war geschlossen. Die Augen waren immer noch offen und schienen in den Himmel zu starren. Charlie fragte sich, warum sie nicht blinzelte oder die Augen zusammenkniff.

„Bella?“, fragte Charlie leicht verängstigt.

Wieder erfolgte keine Reaktion.

Der Anblick, der sich Charlie Swan bot, ließ ihm eine dunkle Ahnung entwickeln. So wie Bella da lag, könnte sie tot sein. Das wollte Charlie nicht glauben. Auch nicht, weil er keine Verletzungen am Kopf oder Blutflecken in der Nähe mit der Taschenlampe entdecken konnte.

Der Anblick schnürte ihm die Kehle zu und er drohte vor Angst zu ersticken. Schnell beugte Charlie sich hinab und legte seinen Kopf seitlich auf Bellas Brust, um ihren Herzschlag zu lauschen. Etwas beruhigt stieß er nach einer Weile seine angehaltene Luft wieder aus, als er ihr Herzklopfen hören konnte. Doch es klang leise und schlug nach Charlies Ansicht etwas langsam.

Seine Tochter war also noch am Leben. Aber was machte sie hier allein spät abends im Wald, fragte sich der besorgte Vater.

Wie lange lag sie hier schon so?
Wo war Edward?
Und warum reagierte Bella nicht?

Charlie dachte, dass seine Tochter sich möglicherwiese in eine Schockstarre befand. Wenn er recht haben sollte, was hatte seine Tochter denn für einen Schock verkraften müssen?

All diese Fragen spukten dem panischen Charlie Swan im Kopf herum, während er seinen Kopf wieder hob, einen Arm unter Bellas Knie, den anderen um ihren Rücken legte und seine Tochter vom Waldboden aufsammelte. Leicht schwankend unter dem Gewicht Bellas machte er sich auf dem Weg zu seinem Auto. Charlie war mehr als besorgt um sein Kind und wollte keine wertvolle Zeit verlieren. Während er Bella trug, sie schließlich dann auf dem Beifahrersitz gesetzt und angeschnallt hatte, sprach er seine Tochter immer wieder an. Nie erhielt Charlie eine Reaktion. Die Augen waren noch immer offen, aber blickten ins Nichts.

Charlie versucht trotz seiner inneren Panik Ruhe zu bewahren. Er schloss die Beifahrertür und stieg selbst ein, um ins Krankenhaus zu fahren. Auf der Fahrt dorthin beachtete Charlie nicht die Geschwindigkeitsbegrenzungen. Die waren ihm gerade herzlich egal, was angesichts seines Berufes, ein mehr als schäbiges Verhalten war.

Doch was waren schon Regeln, wenn es um das Leben seines einzigen Kindes ging?

Nach wenigen Minuten kam Charlie mit laut quietschenden Bremsen unverletzt auf dem Parkplatz vom Forks Krankenhaus an. Er stieg aus und holte seine Tochter aus dem Wagen heraus. Mit seiner kleinen Bella auf den Armen betrat er das Krankenhaus. Charlie betrachtete seine Tochter. Die Augen waren offen und doch schien sie nichts mitzubekommen. Er konnte nur sehen, wie sich Bellas Brust leicht hob und senkte. Ein Schaudern durchfuhr den ängstlichen Vater.

Sofort eilte Schwester Mary herbei. Besorgt sah sie erst Bella, dann Charlie an.

„Was ist passiert?“, fragte sie ruhig mit einem ängstlichen Unterton.

„Ich weiß es nicht.“
Charlies Stimme klang zittrig und panisch.
„Ich habe sie so auf dem Waldboden gefunden. Verletzt scheint sie nicht zu sein. Ich habe sie ein paar Mal angesprochen, aber sie hat kein einziges Mal auf mich reagiert. Mich nicht einmal angesehen oder sich bewegt. Holen Sie sofort Dr. Cullen her, bitte.“

Kurz huschte ein überraschter Ausdruck auf dem Gesicht der Schwester.
„Oh, Sie wissen es noch gar nicht?“, fragte Mary verwirrt nach.
„Dr. Cullen hat ein Angebot von einem Krankenhaus in Los Angeles bekommen und die Stelle angenommen. Er hat gestern gekündigt.“

Charlie war etwas überrascht von dieser Nachricht, doch sofort arbeitete sein Gehirn wieder und nach wenigen Sekunden war ihm alles klar.

Die Cullens waren fortgezogen. Edward musste sich heute Nachmittag von Bella verabschiedet und die Beziehung zwischen ihnen in jeder Hinsicht beendet haben. Seine Tochter würde garantiert nie wieder etwas von ihm hören. Weder durch Anrufe, noch durch Briefe.

Das war es, was Bella einen Schock versetzt haben musste. Edward Cullen hatte Bella für immer aus seinem Leben gestrichen. Er wollte nichts mehr von ihr wissen. Nie mehr.

Kurz flammte Wut in Charlie Swan auf. Er verstand nicht, wie dieser Bastard es wagen konnte. Wie er es wagen konnte, Bella so im Stich zu lassen, als wäre sie nur irgendein Mädchen.

Hatte er nicht gewusst, wie sehr seine Tochter ihn liebte?
Oder war er ein Typ, der mit den Gefühlen seiner Tochter nur gespielt hatte?

Charlie schwor sich, Edward den Schädel zu zertrümmern, sollte er ihn je wiedersehen. Die flammende Wut, die Chief Swan empfand, wurde sogleich durch die Sorge um seine Tochter verdrängt.

„Gut. Dann holen Sie Dr. Gerandy her, schnell. Ich glaube meine Tochter hat einen Schock. Außerdem ist ihr Herzschlag schwach.“, sagte Charlie mit eindringlicher Stimme und versuchte die Verzweiflung zu unterdrücken.

Die Schwester nickte und verstand. Kurz darauf kam sie mit einer Liege wieder. Wortlos legte Charlie seine Tochter darauf. Noch immer starrten die Augen offen nach oben.

Sie wirkten so leer, so tot und sahen fast schwarz aus.

Charlie zuckte bei diesem Anblick zusammen. Schwester Mary verschwand mit der Liege den Flur entlang und schob die Liege mit Bella in den Untersuchungsraum hinein. Charlie sah seiner Tochter nach, bis sie nicht mehr zu sehen war, nahm auf einem Stuhl im Flur Platz und wartete.

Er wusste nicht wie viel Zeit verging. Nervös und voller Angst und Panik griff er in seine Haare und zog daran. Den Schmerz spürte er nicht. Wie viel Zeit war bereits vergangen, fragte sich Charlie Swan.

10 Minuten oder 30 Minuten?

Die Zeit schien nur so dahin zu kriechen, während Charlie nicht einmal merkte, dass er leicht zu zittern begonnen hatte. Er hatte nicht einmal die Kraft den Kopf zu heben, um auf die Uhr zu schauen. Die Sorge um seine Tochter nahm sein ganzes Denken ein. Irgendwann war ein Geräusch, Schritte und schließlich die Stimme von Dr. Gerandy zu hören.

„Chief Swan?“, drang die Stimme des Doktors an Charlies Ohren.

Abrupt hob er den Kopf und stand in der nächsten Sekunde aufrecht.

„Was ist mit ihr? Wie geht’s meiner Tochter?“, wollte er schnell und verzweifelt wissen.

Flehend sah Charlie Dr. Gerandy an und betete für keine schlechten Nachrichten. Der ältere Herr im weißen Kittel und mit Brille sah ihn ernst und mitleidig an. Das war kein gutes Zeichen, verstand Charlie sofort.

„Also. Wie Sie schon richtig vermutet haben, hat ihre Tochter einen schweren Schock erlitten. Dadurch kam es zu einer Störung bei der Sauerstoffaufnahme, sodass die Blutversorgung des Gehirns seitdem eingeschränkt ist. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass sie einen leichten Schlaganfall erlitten hat. “, erklärte der Doktor.

Charlie war kurz davor, den Mann über dem Mund zu fahren. Er verstand nicht viel von diesem ärztlichen Gefasel.

„Ja, und was bedeutet das?“, fragte Charlie drängend mit ärgerlichem Unterton.

Nach einem Seufzen erlöste Dr. Gerandy den Vater von seiner Unwissenheit.

„Ihre Tochter liegt im Koma. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass sich ihre Tochter in einem sehr tiefen und schweren Koma befindet, da jegliche Reaktionen ihres Körpers ausfallen – selbst auf Schmerz. Es erfolgen keine Reflexe der Augenpupillen oder andere Reaktionen des Körpers. Es tut mir sehr leid.“, schloss Dr. Gerandy mit einer Mischung aus Mitgefühl und Distanz.

Tröstend legte er Chief Swan eine Hand auf die Schulter. Charlie merkte das nicht. Er bekam für einen Moment überhaupt nichts mehr mit. Gar nichts. Sein Kopf war nach den erschütternden Worten des Doktors kurz wie leergefegt. Langsam begann sein Gehirn wieder zu arbeiten.

Im Koma.

Seine Tochter schlief und würde morgen nicht einfach so wieder aufwachen und in die Schule gehen. Bella schlief einen sehr schweren und tiefen Schlaf, der bestimmt einige Zeit dauern würde.

Der Schock, den seine Kleine ertragen musste – oder wahrscheinlich immer noch ertrug – muss wirklich sehr schwer (gewesen) sein. So schwer, dass ihr Körper sich zur Ruhe setzen musste.

Charlie blinzelte ein paar Mal, um wieder in der Wirklichkeit zu landen. Er sah, wie ihn Doktor Gerandy über seine Gläser hinweg besorgt musterte.

„Wann wird sie wieder aufwachen?“

Unterbewusst wusste Charlie, dass die Frage niemand beantworten konnte, doch er konnte nicht anders. Er musste seinen Schmerz, seine Verzweiflung nach außen bringen. Würde er dies nicht tun, müsste er schreiend explodieren. Dr. Gerandy nahm die Hand von Charlies Schulter während er ihn voller Mitgefühl ansah.

„Ich kann diese Frage leider nicht beantworten. Niemand kann das. Es kann einige Tage oder mehrere Jahre dauern. Das liegt einzig und allein in der Hand ihrer Tochter. Sie selbst muss den Willen und die Kraft besitzen, wieder aufzuwachen. Ich möchte Sie gerne ins Krankenhaus von Seattle überweisen. Ihre Tochter atmet zwar noch selbstständig. Auch ihr Herz schlägt – wenn auch etwas langsam. Aber es wäre durchaus möglich, das die Spontanatmung aussetzen kann, was einen Hirntod zur Folge hätte.“

Charlie keuchte erschrocken auf, seine Augen weiteten sich entsetzt und sein Gesicht wurde so weiß wie die Wand im Flur.

„Falls dieser Fall eintreten sollte, wäre es besser, wenn sich ihre Tochter im Krankenhaus von Seattle befindet. Sie sind dort besser ausgerüstet als wir hier und besitzen zudem mehr Räumlichkeiten.“, fuhr der Doktor mit ruhiger sachlicher Stimme fort.

Charlie immer noch leicht geschockt, nickte benommen.

„Gut. Ich werde sofort die Verlegung nach Seattle veranlassen.“, verabschiedete sich Doktor Gerandy mit diesen Worten, drehte sich um und ging.

Für einen Moment stand Charlie einfach nur wie erstarrt da und versuchte das ganze Ausmaß der Situation zu begreifen.

Koma.
Tiefschlaf.
Spontanbeatmung.
Hirntod.
Verlegung nach Seattle.

Nach ganzen zwei Minuten rührte er sich und es kam wieder etwas Leben in den armen Polizeivater. Er wusste ganz genau, was er jetzt zu tun hatte.

Ab diesem Zeitpunkt in seinem Leben bis heute  - acht Monate später – handelte Charlie Swan nur noch. Er dachte so gut wie gar nicht mehr darüber nach, was er eigentlich tat. Er erledigte einfach seine Aufgaben ohne groß zu überlegen oder zu zögern. Charlie Swan funktionierte ab dem 16. September wie eine Maschine. Eine Maschine, die kein Herz besaß und so gut wie keine Gefühle offenbaren konnte.

Charlies erster Impuls war es, seine Tochter zu sehen, doch das war in diesem Moment nicht sehr gut. Wenn er Bella jetzt sehen konnte, würde er sich seinem Schmerz hingeben und nicht klar denken können. Und das konnte er sich jetzt nicht leisten. Der Vater hatte nun viel wichtigere Dinge zu tun.

Denn eines wusste er.

Würde seine Tochter nach Seattle gebracht werden würde er ihr folgen. Es kam für ihn überhaupt nicht infrage noch länger als nötig in Forks zu bleiben. Gleich morgen früh würde er sich nach Seattle versetzen lassen. Mit diesem Vorsatz verließ Charlie Swan das Krankenhaus.

Wenn er später beziehungsweise jetzt daran zurückdachte, war vieles in einem dichten Nebel versunken. Er konnte sich nicht mehr so ganz genau daran erinnern, wie und was er alles getan und gesagt hatte. Es war alles verschwommen.

Er wusste noch, dass er vom Krankenhaus aus nach Hause gefahren war, um die Koffer für seinen nicht geplanten Umzug zu packen. An der Haustür angekommen, versuchte er den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Das wollte Charlie jedoch nicht gelingen, da seine Hand, in der er den Schlüssel hielt, zu stark zitterte.

Er hob den Kopf und sah das Türblatt an. Und mit einem Mal kam das bedrückende Gefühl wieder mit aller Macht zurück, welches er hatte, seitdem er nach Hause gekommen war. Der Schock war beim Anblick des leeren Hauses etwas abgeklungen und der Schmerz und die Angst begannen seinen Kopf zu zerfressen. Die Maschine Charlie Swan drohte funktionsunfähig zu werden. Die Gefühle, die in ihm aufstiegen verhinderten, dass er klar denken konnte. Jedenfalls so klar wie möglich.

Charlie Swan wurde nach einigen Sekunden klar, dass er dieses Haus unter gar keinen Umständen nie wieder alleine und ohne seine Bella betreten konnte. Der Schmerz würde ihn umbringen und er hatte Angst, dass er dann nicht mehr herausfinden würde. Weder aus seinem Schmerz, noch aus dem leeren Gebäude.

Er legte keinen Wert auf seine Kleidung, die sich im Haus befand.
Er legte keinen Wert auf das Telefon in der Küche.

Renee konnte er auch von einer Telefonzelle anrufen. Wenn sie davon erfuhr, wird sie am Boden zerstört sein. Das wusste Charlie Swan nur zu genau. Charlie holte tief Luft und versuchte sein Zittern und seine schnelle Atmung unter Kontrolle zu bringen. Konzentration, sagte er sich immer wieder. Für den Schmerz hätte er später noch genug Zeit.

Nachdem er sich so gut wie möglich beruhigt hatte, steckte er seinen Schlüssel wieder ein, stieg in seinen Wagen und fuhr ohne einen Blick zurückzuwerfen vom Grundstück davon.

Alles, was danach geschah, war wie in einem Traum.

Zum Glück hatte Charlie Swan sein Portemonnaie mit allen wichtigen Papieren und Karten dabei. Ebenso wie seine Uniform und seine Waffe mit Gürtel. Charlie fuhr in die Stadt. Dort ging er in eine Telefonzelle und versuchte Renee zu erreichen. Leider erfolglos. Sie war gerade mit ihrer Schulklasse auf einen Ausflug und es würde noch zwei Tage dauern, bis sie wieder zu erreichen war. Das wusste Charlie jedoch nicht. Phils Nummer besaß Charlie nicht.

Seufzend gab er es auf und arbeitete den nächsten Punkt auf seiner Liste ab. Jetzt – da er vom Haus des Schmerzes und der Leere fort war – funktionierte die Maschine Charlie Swan fast perfekt. Es ließ sich nicht ganz vermeiden, dass er einen schmerzhaften Stich in der Brust verspürte. Aber immerhin konnte er ziemlich klar denken. Als nächstes ging Bellas Vater zu einem Hotel und mietete sich dort ein Zimmer, um dort die Nacht zu verbringen.

Während Charlie Swan versuchte in dieser Nacht Schlaf zu finden – was ihm nicht gelang – wurde seine Tochter Bella Swan in einem Krankenwagen nach Seattle ins Krankenhaus transportiert und dort nach den Untersuchungen ins Zimmer 233 verlegt.

Am nächsten Morgen arbeite die Maschine Charlie Swan trotz Übermüdung wieder auf Hochtouren. Er ging zur Bank, löste sein Konto auf und ließ sich sein gesamtes Geld, was sich darauf befand, auszahlen. Danach fuhr er mit seinem Noch-Dienstwagen zur Polizeidienstelle. Dort quittierte er seinen Dienst, gab seinen Dienstwagen mit Schlüssel, seine Waffe und Marke ab und stellte einen Antrag auf eine schnellstmögliche Versetzung nach Seattle.

Die wurde akzeptiert, auch wenn er keinen Tauschpartner hatte. Charlies Versetzung ging recht schnell – auch ohne Tauschpartner – und er konnte in wenigen Tagen bereits seine neue Stelle antreten. Doch aufgrund der bewilligten und schnellen Versetzung ohne einen Tausch, konnte Charlie Swan seinen Dienstgrad als Chief nicht behalten. Er würde als Assistent des Chiefs im Polizei-Hauptquartier von Seattle einsteigen.

Doch so etwas störte Charlie nicht im Geringsten. Er hoffte bloß, dass alles klappte und relativ schnell von statten gehen würde. Charlie wunderte sich kurz über sich selbst, weil er einfach ohne zu überlegen gleich seine Marke und Waffe abgegeben hatte, obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wissen konnte, ob einer Versetzung überhaupt zugestimmt werden würde. Charlie Swan hatte wirklich Glück gehabt.

Die nächsten Tage für Charlie Swan waren fast gänzlich im Nebel verschwunden.

Er wusste nur noch, dass er sich neue Kleidung und einen Gebrauchtwagen kaufte. Sobald er meinte in Forks alles erledigt zu haben und er offiziell bestätigt bekam, dass ihm seine neue Dienststelle in Seattle sicher war, fuhr er nach Seattle. In Seattle machte er sich sofort auf die Suche nach einer kleinen Wohnung beziehungsweise einem Zimmer. Er würde nicht viel brauchen und seine neuen Habseligkeiten – was nicht viel war – würden nicht viel Platz einnehmen.

Auch dieses Mal hatte Charlie Glück und bekam in einem Haus, indem sich mehrere Wohnungen befanden, ein billiges Nachbarzimmer. Der 33-jährige blonde Mann hatte seinen neuen Mitbewohner sofort akzeptiert, als er in seine toten und verzweifelten braunen Augen sah. In Charlies neuem Zimmer gab es nur einen Schrank, einen kleinen Nachttisch und einen Schreibtisch mit Stuhl. Für den verzweifelten Vater genügte es.

Als er sein neues Zimmer fertig inspiziert und seine Sachen eingeräumt hatte, kaufte er sich eine Matratze mit Kissen und Decke und brachte alles in seinen Raum hinein. Dann machte sich Charlie auf dem Weg zur Bank und ließ sich dort ein neues Konto einrichten.

Nachdem dies endlich erledigt war, gestattete Charlie sich seinem Schmerz hinzugeben und ins Krankenhaus zu fahren, welches nicht allzu weit von seiner neuen Wohnung und Arbeitsstelle entfernt lag.

15 Minuten später stand er vor dem Zimmer 233.

Charlie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie viele Tage es her war, seitdem er seine Tochter gesehen hatte. Einen kurzen Moment kam ihm der Gedanke, was für ein schlechter Vater er doch war. Während seine Tochter in der Dunkelheit gefangen war, erledigte er Dinge wie zur Bank gehen oder sich ein Zimmer mieten.

Er hätte bei dem Transport in dieses Krankenhaus und danach bei seiner Tochter bleiben und für sie da sein sollen. Das hatte er aber nicht getan. Charlie Swan bekam ein furchtbar schlechtes Gewissen deswegen.

Doch dann rief er sich wieder in Erinnerung, dass er all das für seinen Umzug nach Seattle hatte tun müssen, um so nahe wie möglich bei Bella zu sein. Alle diese Sachen hatte er doch nur für sie getan. Und diese Erkenntnis ließ sich etwas besser fühlen. So ein schlechter Vater konnte er doch gar nicht sein, wenn er alles für Bella tun würde.

Machte dies alles nicht einen guten Vater aus?

Charlie konnte nun nicht mehr länger warten. Die Sehnsucht und Sorge überwältigten ihn mit solch einer Macht, dass er sich diesmal in diesem Moment nicht dagegen wehren konnte. Charlie wollte die Klinke runter drücken, doch seine Hand zitterte zu sehr dafür. Nach einigen Sekunden hatte sich Charlie soweit beruhigt, dass er die Tür aufmachen und das Krankenzimmer betreten konnte.

Da lag seine Bella zugedeckt in einem Krankenhausbett.

Sie trug ein weißes Nachthemd, die Hände lagen zusammen gefaltet auf der Bettdecke. Das musste das Krankenhauspersonal gemacht haben. Die Augen mussten von eine der Schwestern oder von einem Arzt geschlossen worden sein. Charlie war froh, dass er nicht mehr in diese schwarzen toten Löcher blicken musste. Der Anblick dieser leeren Augen hätte seinen inneren Schmerz noch verdoppelt.

Bella war mit einem Infusionsschlauch an den Unterarm verbunden, sodass die durchsichtige Flüssigkeit aus dem Tropfbeutel, an den Bella hing, in ihren Körper gelangen konnte. Mit einem Clip an einem ihrer Finger war Bella Swan an einem EKG-Monitor gebunden, der die Parameter, wie Puls- und Herzfrequenz aufzeigte. Ein ständiges monotones Piepen durchbrach die Totenstille im Raum.

Noch relativ gefasst, nahm sich Charlie einen Stuhl, der im Zimmer stand und schob ihn zu Bellas Bett heran. Während Charlie das Gesicht seiner Tochter betrachtete, setzte er sich. Ihr Gesicht sah entspannt aus, doch es schien etwas blasser geworden zu sein. Auch die Lippen hatten an Farbe verloren. Charlie entfaltete ihre Hände und nahm die rechte Hand in seine warme. Ihre Hand fühlte sich für Charlie sehr kalt an.

Die Hand seiner Tochter haltend, wandte er sich wieder dem Gesicht seiner Tochter zu. Irgendwann verschwamm die Sicht vor Charlies Augen und etwas Nasses tropfte auf die Bettdecke.

„Komm zurück.“, wisperte Charlie leise mit brüchiger Stimme, bevor er seine Fassung verlor und bitterlich zu weinen und zu schluchzen begann.

Da der besorgte Vater vergessen hatte die Tür zu schließen, hörten viele die verzweifelten Laute Charlie Swans.

Die Krankenschwester Babara Glades war eine von ihnen.


Was Charlie Swan sonst noch die Tage tat, bevor er zur seiner neuen Arbeit ging, konnte er nicht sagen. Er wusste nicht einmal mehr, ob er Renee damals noch in Forks oder erst in Seattle erreicht hatte. Irgendwann hatte es jedenfalls geklappt. Renee hatte fürchterlich geweint und konnte sich gar nicht mehr beruhigen, während Charlie ihr alles mit ruhiger, emotionsloser Stimme erzählt hatte. Er war wie betäubt während des Telefonates gewesen.


So verging Monat für Monat und Charlie Swan lief wie ein geschmeidiges Uhrwerk. Gewissenhaft und fehlerlos verrichtete er seine neuen Aufgaben im Polizeihauptquartier von Seattle.

Die Maschine Charlie Swan war seit seiner neuen Arbeit nur auf die wichtigsten Dinge programmiert:

Aufstehen.
Waschen und Anziehen.
Arbeiten.
Essen und Trinken.
Bella besuchen.
Kleidung in den Waschsalon bringen.
Schlafen gehen.


Zu mehr war er nicht fähig. Er handelte nur noch, ohne wirklich dabei zu denken. So gut wie alles was er tat, ging automatisch. An viele Tätigkeiten seines Arbeitstages konnte er sich nicht mehr erinnern, wenn er abends zu Bella ins Krankenhaus ging. Er hatte es einfach vergessen. Es war sowieso unwichtig. Die Gefühle, die Charlie Swan empfand, ließ er manchmal zu, aber nur wenn er zu Bett ging. Der verzweifelte Vater empfand rasende Wut.

Rasende Wut auf Edward Cullen, da er Bella in so eine missliche Lage gebracht hatte.
Rasende Wut auf Bella, die ununterbrochen schlief und einfach nicht aufwachen wollte, egal wie viel Zeit verging oder wie oft er sie immer besuchte. Tag für Tag, Monat für Monat verging. Aber Bella Swan reagierte nicht.
Und Charlie Swan empfand rasende Wut auf sich selbst, weil er auf Bella wütend war, obwohl sie doch eigentlich nichts für ihren Zustand konnte.

Die Wut wurde von der Verzweiflung, Trauer und Ungewissheit abgelöst.

Den Tag über verbarg Charlie Swan diese Emotionen hinter einer großen gähnenden Leere in sich selbst. Sie war wie ein Schutzwall für ihn. Würde dieser zerstört werden, würde dass seine Routine stören beziehungsweise ganz zunichtemachen.

Charlie Swans neue Kollegen und auch sein Chef machten sich Sorgen um ihren Neuzugang. Nach einer Weile hatten sie alle von seiner Situation erfahren. Doch natürlich sprachen sie ihn nicht drauf an. Sie alle versuchten den ehrgeizigen, strebsamen und doch so toten leeren Mann abzulenken.

Sie versuchten ihn immer wieder einzuladen. Sei es zu einer Geburtstagsfeier oder zu einem Abend in die Bar. Doch Charlie Swan hatte den jeweiligen nur mit seinen leeren Augen angesehen und immer abgelehnt. Nach drei Monaten hatten es alle mehr oder weniger aufgegeben. Sie alle konnten nur zusehen, wie der Assistent des Chiefs in seiner Leere und Schmerz versank und sich sozial einigelte. Nur die Arbeit schien in ihm etwas Leben zu wecken. Wenn man es denn so bezeichnen konnte.

Über die Monate fielen den Kollegen die Veränderungen auf. Das Haar, die Lippen und die Haut verloren an Farbe, tiefe Augenringe bildeten sich und die Wangenknochen waren deutlicher zu sehen. 

Und so verging die Zeit weiter und weiter.



Ein Piepen ließ Charlie aufschrecken. Er zuckte zusammen und blinzelte ein paar Mal. Nun waren seine Gedanken wieder in der Gegenwart angekommen. Er legte die Hands Bellas, die er festgehalten hatte, wieder neben ihrem Körper. Er holte seinen Pager am Gürtel hervor und schaute darauf. Seufzend steckte er ihn wieder weg.

Charlie musste gehen.
Die Arbeit verlangte nach ihm.

Er stand auf und sah noch einmal seine Tochter an. Es war erschreckend zu sehen, wie dünn sie in den acht Monaten geworden war. Charlie drehte sich um und ging zur Tür. Schwester Glades, die noch immer am Durchgang stand, musste dem Vater Platz machen, sodass er den Raum verlassen konnte. Charlie sah sie nicht an, wunderte sich nicht mal, warum sie dort stand. Die Leere hatte wieder Besitz von ihm ergriffen und die gefühllose Maschine in ihm war erneut im Betrieb.


Babara Glades sah Charlie Swan nach, bis er um die Ecke gebogen und verschwunden war. Sie betrat das Zimmer von Isabella Marie Swan und schloss die Tür. Sie ging an das Bett heran und betrachtete das schlafende Gesicht, das sie inzwischen besser kannte als ihr eigenes. Als Babara Glades gerade den verzweifelten leeren Blick des Vaters gesehen hatte – wieder mal –, stieg Wut in ihr auf. Und diese Wut musste sie nun an Isabella richten und rauslassen, ob das Mädchen sie nun hören konnte oder nicht. Die Krankenschwester musste das jetzt tun, da sie sonst ihre weitere Arbeit am heutigen Tage nicht mehr so sicher wie sonst ausführen konnte.

Die Schwester setzte sich auf den Stuhl, wo zuvor Charlie Swan gesessen hatte und holte tief Luft.

„So junge Dame. Jetzt hör mir mal zu!“, begann Babara Glades und richtete dieselben Worte an Isabella, die auch ihre eigene Tochter zu hören bekam, wenn sie (früher) etwas angestellt hatte.

„Findest du nicht, du hast langsam genug geschlafen? Meinst du nicht, es ist an der Zeit, deine Eltern von ihrem Leid zu erlösen? Sie werden daran noch zugrunde gehen, wenn du nichts tust.“, zischte die Krankenschwester wütend, versuchte aber nicht zu laut zu werden.


Das Schicksal des Mädchens ging Babara Glades sehr nah.

Der eine Grund war der, dass sie selbst eine Tochter hatte, die zwei Jahre älter als Isabella war. Wenn sie sich vorstellte, dass Marissa dort im Bett lag…

Der Schmerz würde sie zerreißen. Nein, sie wollte unter gar keinen Umständen mit Charlie Swan, Renee und Phil Dwyer tauschen. So etwas wünschte sie keinem einzigen Elternpaar. Das einzige Kind im Koma liegend und selbst nichts tun zu können. Das musste schrecklich für die Familienangehörigen sein.

Der zweite Grund war, dass Isabella einen liebenden Vater hatte, der alles für sie tun würde. Wie sehr wünschte Babara sich, dass es auch in ihrem Leben einen Mann mit so starken väterlichen Gefühlen für sie gab. Dafür beneidete Babara dieses Mädchen und auch ihre eigene Tochter Marissa. Ihr Ex-Mann Jason würde bestimmt ebenso so leiden, wenn er in der Situation von Charlie Swan wäre.

Eben dies war das schlagende Argument, welches die Krankenschwester in dem Fall von Isabella Marie Swan zu emotional werden ließ. Die gewisse Distanz, die das Personal zu den Patienten wahren musste, existierte in diesem Moment nicht mehr.

Babara Glades wünschte sich so sehr, dass Isabella wieder die Augen aufschlug. Sie wollte den Schmerz und die Leere in den Augen des einsamen Vaters nicht mehr sehen. Babara wollte, dass Charlie Swan seine Tochter wieder bekam, sodass er wieder lächeln konnte. Sie wollte, dass Isabella durch ihren Zustand nicht das zerstörte, was sie selbst nie hatte – nie haben konnte.

Ein tiefes inniges Band zwischen Vater und Tochter.

Isabella sollte wieder aufwachen, um unter anderem diese Beziehung wieder ausleben zu können. Isabella sollte für Babara das auskosten, was die 44-lährige Krankenschwester selbst nicht (mehr) konnte. Isabella sollte das Privileg mit ihrem Vater Charlie Swan aufgewachsen zu sein, nicht einfach wegwerfen. Das Babara sich irrte, konnte sie ja nicht wissen.

Der Wunsch der Krankenschwester wurde von Sekunde zu Sekunde immer intensiver. Er wurde so stark, dass Babara auf ihre rechte Hand schaute und an Mortimers Worte von heute Morgen dachte. Die Worte von Mortimer Harrison gaben der Schwester den entscheidenden Anstoß und nach kurzem Zögern zog sie den Handschuh schließlich aus.

Dann streckte Babara Glades ihren rechten Arm aus und umschloss mit ihrer Hand fest die von Isabella.


Für die 44-jährige Krankenschwester war dieser Augenblick
besonders.

Sie hatte schon seit vielen Jahren keine Patienten mehr mit ihren nackten Händen berührt. Bei allem was sie tat – und sei es nur ein Thermometer in einen Mund zu stecken – trug Babara Glades immer Handschuhe. Sie zog sie morgens vor dem Rundgang an und zog sie wieder aus, wenn ihr Dienst zu Ende war.

Babara Glades war die einzige Krankenschwester im gesamten Krankenhaus, die man nie ohne Handschuhe sah. Das hatte natürlich einen bestimmten Grund.

Vor Jahren – als sie ihre Ausbildung begonnen hatte – und mit Patienten in Kontakt kam, zuckten diese vor ihren Berührungen zurück. Sie alle sagten, dass Babaras Hände zu kalt wären und dies unangenehm sei.

Natürlich wusste Babara, dass ihre Hände kühler waren, als bei anderen Menschen. Manchmal fragte sie sich noch heute, ob ihre Hände überhaupt richtig durchblutet werden. Es musste wohl so sein, denn sie ließen sich immer einwandfrei bewegen. Damals hätte die junge Babara sich niemals träumen lassen, dass so eine Kleinigkeit einmal zum Problem werden würde.

Doch Babara Glades wusste sich damals schnell zu helfen und zog einfach ein Paar Handschuhe über ihre Hände, um die Kälte zu mildern. Als sie diese trug, stieß sie bei den Patienten (fast) nicht mehr auf Ablehnung und konnte ihre Aufgaben wieder erfüllen. Als sie später nach Beendigung ihrer Ausbildung nach Seattle kam, ging Babara Glades kein Risiko mehr ein. Gleich an ihrem ersten Arbeitstag zog sie Handschuhe an, da sie keine Lust auf eine Wiederholung hatte. Die Patienten hatten sich nie beklagt und auch nie danach gefragt, warum sie denn immer Handschuhe trug.

Wer sollte sich auch schon dafür interessieren?

Die Sache mit den Handschuhen hatte immer gut funktioniert, also hatte Babara Glades nie einen Grund gesehen, sie während der Arbeitszeit abzulegen.

Jedenfalls bis zu diesem Moment.

Babara Glades wollte alles versuchen, Isabella Marie Swan zum Aufwachen zu bewegen. Vielleicht würde das Mädchen auf irgendeine Art und Weise auf die ungewohnt kalte Temperatur reagieren, dachte sich die Krankenschwester.

Vielleicht regte sich gerade etwas in diesem Moment in ihrem Inneren?

Babara hoffte es sehr.

Sie drückte Bellas Hand, die sich für sie nicht so kühl wie ihre eigene anfühlte. Oder bildete sich das Babara nur ein? Sicher war sie sich nicht. Isabellas Körper zeigte keine Reaktion. Das wäre ja auch zu schön gewesen.

Als Babara ihren Monolog nun fortführte, wurde ihre Stimme leiser und brüchig. Der Zorn wurde von Verzweiflung und leichte Traurigkeit abgelöst.

„Warum willst du nicht aufwachen, Isabella? Was hindert dich daran, aus der Dunkelheit zu fliehen? Spürst du denn nicht die Liebe um dich herum? Spürst du nicht die warme Hand deines Vaters? Jeden Tag kommt er her um deine Hand zu halten und wartet sehnsüchtig darauf, dass du deine Augen endlich wieder aufschlägst. Du hast so einen tollen Vater, der dich liebt und sich um dich sorgt.“


Babara wollte gerade sagen, dass ihre Mutter genauso für sie
empfindet. Allerdings hatte Babara Renee Dwyer nur sechs oder sieben Mal in der ganzen Zeit gesehen. Sie kam mit ihrem zweiten Mann nur einmal im Monat zu Besuch. Die Krankenschwester fragte sich, warum das wohl so war. Dafür, dass diese Mutter ihre Tochter liebte – man sah es ihr deutlich an – ließ sie sich hier nicht oft blicken. Das fand die Krankenschwester dann doch etwas seltsam und taktlos.

Doch was wusste sie schon über diese Frau?

Vielleicht konnte sie diesen schrecklichen Anblick ihres Kindes nicht so oft und zu lange ertragen? Wenn dem so war, dann hatte der Vater Charlie Swan eindeutig die stärkeren Nerven. Sie wusste ja nicht, dass Renee und Phil Dwyer jedes Mal von Florida hier her nach Seattle flogen.

Babara wurde bewusst, dass sie viel zu viel nach dachte. Sie wollte nicht noch länger zögern und entschied sich, weiterzusprechen.


„Deine Mutter Renee macht ebenfalls schwere Zeiten wegen dir durch, auch wenn sie nicht so oft hier ist. Glaub mir. Du hast Eltern, denen du wichtig bist. Die Liebe eines Vaters und einer Mutter ist etwas sehr Kostbares und nicht etwas Selbstverständliches. Nimm sie an und gebe ihnen ihren Frieden wieder zurück. Du musst wissen, dass es welche gibt, die auf deine Rückkehr warten. Die wollen, dass du wieder aufwachst. Bitte Bella, komm wieder zu uns zurück.“


Babara Glades hatte zum Schluss extra Isabellas Kosenamen verwendet, da sie hoffte, es würde etwas in ihr auslösen. Das „zu uns“ im letzten Satz war der Schwester im Affekt herausgerutscht. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie das gesagt hatte. Sie hatte es einfach getan. Seufzend drückte Babara Glades noch einmal Isabellas Hand und legte sie dann auf dem Bett wieder ab. Dann stand sie vom Stuhl auf, zog wieder den Handschuh über, verließ das Zimmer und schloss die Tür.

Babara Glades wusste nicht, dass sie mit ihrer Theorie Recht behalten sollte. Denn in Isabellas Inneren hatte sich zum ersten Mal seit acht Monaten etwas geregt, seit sie mit der nackten Hand der Krankenschwester in Kontakt gekommen war.



Bella Swan war schon sehr lange in der Dunkelheit gefangen. Wie lange, das wusste sie nicht. Dort in der Finsternis dachte sie unentwegt an Edward Cullen und seine Familie. Während sie diese Erinnerungen in sich hervorrief, verspürte sie einen kleinen Stich des Schmerzes, Verlustes, der Verzweiflung und Sehnsucht.

In den ersten zwei Wochen, die Bella Swan im Dunklen mit den Erinnerungen verbrachte, war der Stich noch klein und erträglich. Doch je mehr Zeit verging und je öfter sich dieselben Erinnerungen wieder und wieder wie in einer Endlosschleife wiederholten, desto größer wurde der Stich. Von Tag zu Tag wuchs der Stich des Schmerzes in minimalen Schritten immer weiter heran.

Bella musste einsehen, dass sich ihr Unterbewusstsein geirrt hatte. Die Dunkelheit konnte nur eine gewisse Zeit den Schmerz sehr gut dämpfen. Ganz langsam verlor der Schutzwall der Dunkelheit seine Stabilität und sie spürte den Schmerz immer deutlicher – auch wenn dieser Vorgang sehr langsam voran schritt. Und obwohl die Qualen in Bellas Innerem zu steigen schienen, so fand sie doch die Kraft sie zu ertragen. Bella Swan wollte lieber für immer bis zu ihrem Tod den bittersüßen Schmerz der Erinnerungen ertragen, als in die harte grausame Realität zurückzukehren, in der sie niemand brauchte oder liebte.

Gar niemand.

Dieser Schmerz wäre viel entsetzlicher und unmöglich zu ertragen. Auch war Bella Swan sich sicher, dass sie draußen in der Wirklichkeit keine einzige Erinnerung an die Vergangenheit hervorrufen könnte, ohne den Schmerz um eine weitere Unendlichkeit zu erhöhen. Lieber ging die 18-jährige auf eine schmerzliche, aber doch recht friedliche Art und Weise in der Dunkelheit zugrunde, als auf eine grausame, qualvolle Variante in der wirklichen Welt.

Egal wie schwach der Schutzwall noch werden würde. Die Dunkelheit würde sie immer vor einem noch viel größerem Schmerz schützen können.

Ein weiterer Grund, warum Bella Swan nicht fort wollte war, dass sie nicht allein war. Ihr Unterbewusstsein war ebenfalls in der Dunkelheit. Es umgab das Bewusstsein und war mit der Dunkelheit verschmolzen. Das Unterbewusstsein und die Dunkelheit waren eins und ein Teil vom anderen, weil beide aus dem tiefsten Inneren von Bella Swan entsprangen. Bella Swan konnte ihr Unterbewusstsein nicht sehen, aber hören und spüren.

Nach langer, langer Zeit passierte etwas.

Ein abrupter Ruck erschütterte Isabella Marie Swans Innerstes, sodass sie es sogar in der tiefen schwarzen Finsternis spüren konnte. Die Intensität des Druckes wurde zwar durch die Dunkelheit geschwächt, dennoch wurde sie ein wenig aus den bittersüßen Schmerz gerissen.

Doch was die Endlosschleife der Erinnerungen wirklich stoppte – und sie somit zum ersten Mal aus ihren traumähnlichen Zustand befreite – war dieses neue ungewohnte und doch so bekannte Gefühl, was Bella Swan erst nach dem Druck im Nichts nun wirklich wahrnehmen konnte.

Es war merkwürdig.

Seit sie in der Dunkelheit gefangen war, hatte sie außer dem Schmerz nur Leere verspürt.

Sonst nichts.

Und plötzlich konnte Bella Swan noch etwas anderes fühlen. Etwas Bekanntes.
Etwas, dass ihr sehr vertraut war.
Etwas, was sich wunderbar in die Erinnerungen einfügen konnte.

Bella Swan brauchte eine Weile, ehe sie das Wort gefunden hatte, welches dieses Gefühl am besten beschreiben konnte.

Kälte.

Dieses Gefühl war es, das in die Erinnerungen passte. Dieses Gefühl hatte sie auch immer gespürt, wenn sie IHN berührt hatte. Bella Swan spürte einen sehr schmerzhaften intensiven Stich. Der Schmerz löste eine neue Emotion aus, die Bella Swan ewig nicht mehr gefühlt hatte.

Angst.

Die plötzlich aufgetauchte Kälte löste Schmerz in ihr aus, der wiederum Angst auslöste. Die Auswirkungen dieser Kettenreaktion ließen Bella Swan in der Dunkelheit panisch werden und sie erhob zum ersten Mal, seit sie hier drinnen versunken war, wieder ihre Stimme.

Was ist los?

„Ich weiß es nicht“, hörte sie ihr Unterbewusstsein in der Dunkelheit flüstern.

Ich weiß nicht, wie mir gerade geschieht. Ich habe solche Angst. Diese neuen Gefühle sind zu viel für mich. Es ist unerträglich, dass auszuhalten. Was geht hier nur vor?

Ich kann nachsehen, wenn du willst.

Ja, bitte tu das.


Bella Swan nahm den Ratschlag ihres Unterbewusstseins nur zu gern an. Denn Bella Swan wusste, dass sie nicht die Kraft aufbringen konnte, die Dunkelheit jetzt zu verlassen.

Wenn dieser Schmerz, der durch die Kälte ausgelöst wurde, schon in der Dunkelheit so stark war, wie stark würde sie ihn dann außerhalb spüren? Bella Swan konnte es schon jetzt nur mit Mühe und Not aushalten.

Wie hatte dieses eine bestimmte Gefühl es nur geschafft, den Schutzwall der Dunkelheit vollkommen zu durchbrechen?

Vielleicht, weil es im Zusammenhang mit den Erinnerungen stand. Bella verspürte so etwas wie Hass auf dieses Gefühl. Wäre es doch nie bis zu ihr durchgedrungen. Dann könnte sie noch immer in diesem bittersüßen Schmerz gefangen sein und die Erinnerungen abrufen, das plötzlich nicht mehr möglich erschien.

So sehr sie es auch versuchte, die Kälte verhinderte, dass sie wieder in den traumähnlichen Zustand zurückkehren konnte. Verdammt. Wann würde diese elende Kälte verschwinden und somit dieser neue und alte Schmerz wieder vergehen? Der Schmerz, den Bella Swan nur durch die Erinnerungen aushalten musste, war für sie viel leichter und besser zu ertragen, als der jetzige. Verzweifelt fragte sie sich erneut, was nur gerade geschah. Sie hatte das Gefühl, dass die Welt plötzlich Kopf stand.

Während der bewusste Teil von Isabella Marie Swan in der Dunkelheit blieb, trat der unterbewusste aus der Dunkelheit hinaus. So konnte Bella Swans Unterbewusstseins Worte von einer ihm unbekannten Stimme hören.


„Warum willst du nicht aufwachen, Isabella? Was hindert dich daran, aus der Dunkelheit zu fliehen? Spürst du denn nicht die Liebe um dich herum? Spürst du nicht die warme Hand deines Vaters? Jeden Tag kommt er her um deine Hand zu halten und wartet sehnsüchtig darauf, dass du deine Augen endlich wieder aufschlägst. Du hast so einen tollen Vater, der dich liebt und sich um dich sorgt. Deine Mutter Renee macht ebenfalls schwere Zeiten wegen dir durch, auch wenn sie nicht so oft hier ist. Glaub mir. Du hast Eltern, denen du wichtig bist. Die Liebe eines Vaters und einer Mutter ist etwas sehr Kostbares und nicht etwas Selbstverständliches. Nimm sie an und gebe ihnen ihren Frieden wieder zurück. Du musst wissen, dass es welche gibt, die auf deine Rückkehr warten. Die wollen, dass du wieder aufwachst. Bitte Bella, komm wieder zu uns zurück.“


Nach diesen Worten spürte das Unterbewusstsein einen mächtigen Druck, der die Kraft eines Erdbebens zu haben schien. Auch Bella in der Finsternis musste es – wenn auch geschwächt – gespürt haben. Dann war die Kälte verschwunden. Verwirrt von den Worten kehrte der unterbewusste Teil von Isabella Marie Swan in die Dunkelheit zurück und verschmolz augenblicklich wieder mit ihr.

Bella Swan war in der Dunkelheit und hielt noch immer diesen schrecklichen Schmerz aus, als sie wieder einen Ruck spürte. Dann war die Kälte verschwunden und der neue Schmerz war endlich fort. Die Angst hatte sich ebenso in Luft aufgelöst.
Erleichtert atmete Bella durch.

Sie war froh, dass nun der bereits bekannte erträglichere Schmerz langsam wieder zurückkehrte. Doch irgendwie wollte es ihr nicht gelingen, die dazugehörigen Erinnerungen hervorzuholen. Dafür lagen diese neuen Emotionen und Empfindungen noch nicht lang genug zurück. So empfand dies Bella Swan in der Dunkelheit jedenfalls. Auch brauchte sie den anderen Teil ihres Selbst, um wieder in den Traumzustand zu gelangen.

„Ich bin wieder da. Hör zu, ich muss dir etwas erzählen.“, hörte sie ihr Unterbewusstsein wispern.


Es ist nicht mehr wichtig. Es ist doch alles wieder so wie vorher. Du brauchst es mir nicht zu erzählen. Es wäre nur verschwendete Zeit, die wir doch viel besser mit den Erinnerungen verbringen können.

Es ist wohl sehr wichtig. Sei still und hör mir zu.

Und so berichtete das Unterbewusstsein dem Bewusstsein von der fremden Stimme, die es gehört hatte. Sie gab auch den genauen Laut der Worte dieser Stimme wieder. Auch teilte das Unterbewusstsein dem Bewusstsein die Vermutung mit, dass diese Kälte, die beide gespürt hatten, die Berührung der Person gewesen sein musste, zu der diese Stimme gehörte.

Der bewusste Teil von Isabella Marie Swan war mehr als geschockt von dieser Erzählung.

Ihr Vater kam jeden Tag zu ihr und wartete sehnsüchtig auf ihr Erwachen?
Charlie sollte sich um sie sorgen?
Selbst Renee – die Phil an ihrer Seite hatte – war verzweifelt?
Sie soll ihren Eltern wichtig sein?
Beide sollen auf sie warten unglücklich sein?

Wenn das Bewusstsein dieser Stimme glauben sollte, dann hörte es sich ja so an, als ob…ihre Eltern ihre Tochter lieben würden.

Bedeutete das etwa, dass ihre Existenz doch nicht bedeutungslos war? Bella Swan war verwirrt, verzweifelt und wusste weder ein noch aus. Sie hatte das Gefühl von diesen Worten ihres Unterbewusstseins und ihren jetzigen Überlegungen erschlagen zu werden.

Ihr ganzes neues Weltbild, welches sie zu akzeptieren gelernt hatte, bekam langsam mehr und mehr Risse. Ihr kam ein neuer Gedanke, der sie beinahe den Verstand verlieren ließ. Wenn das alles der Wahrheit entsprach, dann war das Meiste, was ihr Unterbewusstsein ihr damals im Wald offenbart hatte, falsch. Somit war ihr Rückzug in die Dunkelheit die ganze Zeit über unbegründet und mehr als unlogisch gewesen.

Es gab Menschen, die sie liebten und brauchten. Und sie hatte sie einfach im Stich und mit ihrem Schmerz allein gelassen. Bella Swan hatte genau dasselbe mit ihren Eltern gemacht, was ER mit ihr einst gemacht hatte. Sie war nicht besser als ER gewesen.

Als dem Bewusstsein wieder Edward in den Sinn kam, fielen ihr wieder die letzten Worte ein, die die Stimme gesagt haben soll.

„Bitte Bella, komm wieder zu uns zurück.“

Bella wusste von ihrem Unterbewusstsein, dass es nicht die Stimme von Charlie oder Renee gewesen sein konnte. Wie auch, sonst wären es andere Worte gewesen. Das Bewusstsein fragte sich, wer da mit ihr – und ihrem Unterbewusstsein – gesprochen hatte. Und die Tatsache, dass diese Person auch noch kalte Hände haben musste, ließ ihre Unruhe nicht im Mindesten kleiner werden.

Kalte Hände.

Ihre Gedanken trieben weiter, bis Bella einen neuen Schock erlitt und ihre Verzweiflung und Verwirrung noch größer wurden.

Konnte es wirklich sein, dass einer von den Cullens da gewesen war?

Nur sie haben doch so kalte Hände. Eine andere Erklärung wollte dem Bewusstsein nicht einfallen. Außerdem würde dazu der letzte Satz passen.

Aber warum würden die Cullens wollen, dass sie wieder aufwachte? Warum sollte überhaupt einer der Cullens kommen und nach ihr sehen?
War sie ihnen nicht egal?
Oder sollte es etwa auch möglich sein, dass sich ihr Unterbewusstsein hinsichtlich der Cullens ebenfalls geirrt hatte?

Denn das würde bedeuten, dass sie auch den Cullens etwas bedeute – wenn auch nicht allen. Dann wäre es vielleicht ebenso möglich, dass…Edward sein Versprechen, nie wieder zurückzukehren, gebrochen hatte. Wie bereits sein anderes.

Bella Swans Bewusstsein hatte das Gefühl, es müsse vor Schmerz, Verzweiflung und Verwirrung explodieren. Diese letzten Gedanken ließen das neue Weltbild, welches das Bewusstsein erlangt hatte, bedrohlich wackeln, bis es drohte zusammenzufallen. Die Angst, die Trümmer seiner Denkweise könnten auf ihn einstürzen, raubte dem Bewusstsein den Atem. Es durchlitt gerade eine Krise, die nicht schlimmer hätte sein können.

Das konnte nicht möglich sein, dachte der bewusste Teil von Bella Swan. Es konnte doch auf einmal nicht alles falsch sein.

Sollten die ganzen Erkenntnisse, die es erlangt hatte, alle unwahr sein?

Denn das würde bedeuten, dass das Schlafen legen in jeder Hinsicht sinnlos gewesen war. Zeit, die sie mehr oder weniger verschwendet hatte, während andere Qualen erleiden mussten, die sie durch ihren Egoismus verursacht hatte.

Nein, nein. Das KANN einfach alles nicht falsch sein.

Edward durfte dieses Versprechen nicht gebrochen haben.
Unter gar keinen Umständen.

Bella Swan flehte jetzt förmlich, dass die Zeit in der Dunkelheit nicht vollkommen sinnlos gewesen war. 

Bellas Weltbild, also ihr starker Glaube an die Gleichgültigkeit der Menschen, die sie liebte und an die Sinnlosigkeit ihrer eigenen Existenz, war stark erschüttert.

Aber das konnte und wollte sie nicht zulassen, weil es das einzige gewesen war, woran sie sich die ganze Zeit geklammert hatte. Ihr Glaube war etwas, was ihr eine gewisse Stabilität und Normalität gegeben hatte.

Das Bewusstsein konnte nicht einfach aus der Dunkelheit treten und wieder aufwachen, nur weil es was gespürt hatte und Worte erzählt bekam. Bella Swan konnte nicht einfach wieder anfangen zu leben, nach allem, was geschehen war und worüber sie sich Gedanken gemacht hatte.

Das Bewusstsein wusste nicht, wie es nach seinem Erwachen weiter gehen würde, sollte sich sein Glaube in jeder Hinsicht als falsch herausstellen. Wenn das, woran es sich geklammert und gehalten hatte, wenn dieses Gerüst seine Stabilität verlor, dann würde es aus mit Bella Swan sein.

Es würde nichts mehr von ihr übrig bleiben, da sie sonst nichts mehr hätte, was ihr auf der Erde Halt geben könnte. Selbst Edwards Liebe würde nicht genügen, da die Angst, er könne Bella wieder verlassen, immer da sein würde. Immer. Jeden Tag.

Ohne irgendeinen Halt würde der Geist  - also die beiden Teile von Bella Swan – im Körper wirklich einfach verschwinden.

Von all dem war der bewusste Teil von Bella Swan überzeugt. Es würde nur ein Körper zurück bleiben, der nichts in sich trug. Weder einen bewussten, noch einen unterbewussten Teil. Nicht ein kleiner Teil vom Selbst würde dann in der Dunkelheit zu finden sein. Es würde nur eine Hülle mit leerem Inhalt zurück bleiben.

Allein diese Vorstellung löste einen unsagbar starken Schmerz in Bella Swan – dem Bewusstsein – aus. Das wollte sie unter gar keinen Umständen geschehen lassen, obwohl sie eigentlich selbst nicht wusste, warum sie dieser Ansicht war.

Dann wanderten ihre Gedanken wieder zurück zu Charlie und Renee. Was, wenn nicht alles, sondern nur ein Teil des Weltbildes falsch war? Wenn wenigstens ihre Eltern sie brauchten? Und vor allem liebten? Wenn das wirklich wahr sein sollte, dann wollte sie aufwachen. Wenn nicht für sich selbst, dann wenigstens für ihre Eltern.

Doch da war noch immer die Angst.

Einerseits, weil sie befürchtete, ihre gesamte neue Denkweise erwiese sich als fehlerhaft. Das würde sie zerstören.

Andererseits, weil ein Teil in ihr den Worten der Stimme misstraute.

Was war, wenn sie doch kein Glück und keine Liebe in den Augen ihrer Eltern sehen würde?
Würde sie dann einfach wieder in die Dunkelheit zurückkehren können oder wäre das nicht mehr möglich?

Selbstverständlich war der starke Schmerz des Verlustes, den sie empfinden würde, wenn sie wieder aufwachte, auch  ein Teil ihrer Angst. Natürlich unter Annahme, dass sie…Edward nie mehr wiedersehen würde.

Das Bewusstsein haderte mit sich und fragte sich immer wieder, ob es beschließen soll aufzuwachen, oder nicht. In ihm herrschten viele widersprüchliche Gefühle. Zum einen, war da die Angst vor Enttäuschung und vor der Wahrheit. Zum anderen, die möglichen Schulgefühle und das Wissen, den Eltern (und anderen) möglicherweise Leid zugefügt zu haben.

Bella Swan war so unsicher und wie lange sie auch überlegte, sie kam zu keiner Entscheidung. Doch irgendwann kam ihr eine Idee und sie begann zu sprechen.

„Ich habe Angst vor der Wirklichkeit und davor, was mich dort erwartet. Auf welche Wahrheiten ich stoßen werde. Ich fürchte mich davor zu erfahren, welche Erkenntnisse sich als falsch und welche sich als wahr erwiesen haben. Auch wüsste ich nicht, wie ich reagieren soll, sollte ER mir wirklich wieder gegenüber stehen. Ich…kann nicht aufwachen und…Bitte, gibt es nicht eine Möglichkeit, wie ich aufwachen kann, ohne die Dunkelheit verlassen zu müssen?“, fragte das Bewusstsein mit nicht zu großer Hoffnung.

Ja, die gibt es. Ich kann in die Wirklichkeit gehen, während du hier in Sicherheit bliebst und von der Außenwelt so wenig wie möglich mitbekommst.

Aber wie soll das denn gehen? Wir sind doch eins.

Ich kann mich gänzlich von dir lösen und so die Kontrolle über den Körper bekommen. Ich gehe durch die Welt und finde das heraus, was du wissen willst. Wenn ich etwas herausfinde und der Meinung wäre, du solltest es erfahren, werde ich es sagen. Ich kann auch für den Rest deiner Lebenszeit die Kontrolle behalten, sollten nur Charlie und Renee aufgrund deiner Entscheidung unglücklich sein. So machst du sie wieder glücklich und musst selbst nicht in der Wirklichkeit unglücklich werden. Du besitzt nämlich allein die Kraft, hier in der Dunkelheit die Erinnerungen und den dazugehörigen Schmerz freizusetzen. Du brauchst mich dafür eigentlich nicht. Das wurde dir nur nie bewusst, weil du immer Angst vor dem Alleinsein hast.

Das klang für Bella alles sehr vielversprechend und sie war froh, dass sie die Erinnerungen auch allein hervorrufen konnte.

Das klingt alles recht gut. Ich bin damit einverstanden. Wie löst du dich jetzt eigentlich von mir?


Das wir uns trennen, liegt allein in deiner Macht. Du musst es wollen, dass ich ein greifbareres Objekt werde und so deinen Körper in Besitz nehmen kann. Nur als Stimme, die dich berät, kann ich das nicht. Du musst mich sozusagen neu erschaffen.

Das ist alles? Ich muss mir nur wünschen, dass du für mich übernimmst?

Das ist alles.

So schloss Bella Swan in der Dunkelheit die Augen und konzentrierte sich. Mehr und mehr nahm die Dunkelheit eine Form an. Aus ihr entwickelte sich ein Ebenbild von Bella Swan. Das Unterbewusstsein, das vorher nur eine eher unterdrückte Stimme und mit der Dunkelheit verschmolzen gewesen war, war nun zu einer Handlungsinstanz geworden. Bella Swan öffnete die Augen wieder und sah ihr Ebenbild in der Dunkelheit. Das Ebenbild lächelte und so wusste Bella, dass sie alles richtig gemacht hatte. 

Eins muss ich dir noch sagen.

Was denn?

Wenn ich jetzt hinaustrete und in der Außenwelt die Kontrolle über den Körper habe, wirst du diejenige sein, die unterdrückt wird.

Das habe ich mir schon gedacht.

Da ist noch etwas.

Wenn ich wieder in die Realität zurückkehre und mich dort nachts schlafen lege, ist es gut möglich, dass du zum Vorschein kommst. Du musst wissen, dieser Schlaf, in den du dich noch befindest, unterscheidet sich von der gewöhnlichen Nachtruhe. Natürlich kannst du auch am Tage die Kontrolle über deinen Körper zurückerlangen, solltest du dich entscheiden, die Dunkelheit zu verlassen.

Den ersten Teil habe ich nicht verstanden, Was soll das bedeuten, ich komme zum Vorschein, wenn du schläfst?

Das bedeutet, dass im Schlaf für gewöhnlich der unterbewusste Teil eines Menschen die Oberhand gewinnt. Und da ich als handelnde Person die Kontrolle über deinen – beziehungswiese unseren – Körper habe, bist du dann, wie ich bereits sagte, der unterdrückte, der unterbewusste Teil. Obwohl du natürlich nicht WIRKLICH als Unterbewusstsein wirkst. Verstehst du, was ich sagen will?

Ich glaube schon.

Bella wollte noch etwas fragen, was ihr sehr wichtig war, doch dann war sie sich nicht sicher, ob sie die Antwort hören wollte. Also schwieg sie lieber.

„Gibt es noch etwas?“, fragte die neue Handlungsinstanz, da sie merkte, das Bella etwas auf dem Herzen hatte.

Bella stellte eine andere Frage.

Auch wenn ich in der Dunkelheit allein sein werde, bist du doch trotzdem irgendwie da, oder?

Du kennst die Antwort.

Bella deutete das als ein Ja.

Das wäre dann alles. Also…viel Glück. Und…lebe…weiter…für die…anderen. Finde es heraus.

„Das werde ich.“, schwor die Handlungsinstanz.
„Und falls du irgendwelche Fragen hast oder etwas von mir möchtest, dann zögere nicht, es mir zu sagen."

Bella dachte einen Moment lang über diese Worte nach.

„Vielleicht komme ich darauf noch zurück." antwortete sie.

Die erschaffene Handlungsinstanz nickte, drehte sich um und ging eine Schritte. Sie zögerte, stoppte und drehte sich wieder zu Bella um. Sie wollte etwas sagen, ließ es dann doch bleiben, schüttelte nur den Kopf.

Sie wandte sich wieder von Bella ab und trat aus der Dunkelheit hinaus. Ein letztes Mal sah sie zurück und erbklickte den Eingang des schwarzen Nichts vor sich. Nach einigen Sekunden wandte sich die Handlungsinstanz seufzend wieder davon ab und ging auf einen kleinen Lichtpunkt zu, der mit jedem Schritt größer und größer wurde.

„Bis bald“, flüsterte der Teil, der in der Dunkelheit zurück blieb.


Und so geschah das Erstaunliche und Unerwartete am späten Vormittag des 24. Mais 2006.

Zehn Minuten, nachdem die Krankenschwester Babara Glades das Zimmer verlassen hatte, öffnete Isabella Marie Swan nach über acht Monaten langsam und blinzelnd ihre toten schwarzen Augen. Niemand wohnte dem Wunder bei. Und noch hatte niemand eine Ahnung, dass die Person, die soeben erwacht war, nicht die Bella Swan war, die man kannte. 

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Boah, mir brennen die FingerXD

Und, was sagt ihr zu den neuen Charakteren? (Und Bella?)XD
Haut fleizig in die Tasten XD
Bis zum nächsten Mal.

Zwei Familien kehren heim

 

Auktorialer Erzähler

 

 

Das aus dem Schlaf aufgewachte Mädchen starrte an die weiße Decke. Nach einigen Sekunden, versuchte die junge Frau ihren Kopf langsam hin- und her zu drehen. Es gelang ihr. Die schwarzen Augenpupillen bewegten sich, suchten den ganzen Raum ab. Sie war in einem steril eingerichteten Krankenzimmer.

Links waren zum einen, ein Ständer mit einem Tropfbeutel, und zum anderen ein Fenster, durch dessen Glas ein paar Sonnenstrahlen ins Zimmer drangen. Geradezu war ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, daneben ein kleiner Schrank. Rechts sah das Mädchen zwei Türen, die sich diagonal schräg gegenüber einige Meter entfernt befanden. Die eine – mit dem schmaleren Türblatt – führte ins Badezimmer. Die andere Tür war das Ziel der Patientin. Sie wusste, dies war die Tür zum Verlassen dieses Raumes.

Als sie meinte, alles im Raum gesehen zu haben, wurde ihr bewusst, dass niemand hier war.

Sie war allein.
Ganz allein.

Aber wirklich überrascht, war sie über diese Tatsache nicht. Die Patientin hob nun ganz vorsichtig ihren Kopf, richtete ihre Augen nach unten und konnte die weiße Decke sehen, die ihren Körper verhüllte. Links und rechts neben ihren Körper, konnte sie ihre Arme erkennen. Verwirrt runzelte die junge Frau ihre Stirn und hob ganz vorsichtig ihre beiden Arme an und brachte sie näher an ihr Gesicht.

Bella drehte ihre Arme hin und her, betrachtete alles genau, als würde sie sie zum Mal ansehen. Und das stimmte sogar. Bella sog alle Veränderungen in sich auf.

Die blass-weiße Haut der schmalen Arme und Hände, die Knochen, die sie zeigten. Bella wusste, dass sie darüber eigentlich entsetzt oder erschüttert sein sollte, doch das war sie nicht im Geringsten. Im Gegenteil. Eigentlich hatte sie schon so etwas geahnt, ja sogar erwartet.

Die bittersüßen Qualen, die sich der Teil in der Dunkelheit teilweise selbst auferlegt hatte, wirkten sich eben auch auf den Körper aus. Auch sah Bella den Schlauch an ihren linken Unterarm und folgte ihm mit den Augen. Der Schlauch war mit dem Tropfbeutel verbunden, der mit einer transparenten Flüssigkeit gefüllt war. Die ganze Zeit über, während Bella all das registriert hatte, war das monotone Piepen der Apparatur zu hören.

Bella drehte ihren Kopf ganz nach rechts und sah den EKG-Monitor und seine Verbindung mit ihrem Zeigefinger der rechten Hand durch einen Clip. Bella schloss die Augen, legte ihre Arme mit den Handflächen nach unten an ihrem Körper zurück, atmete ein paar Mal tief durch, und tat es. Langsam, mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, richtete sie ihren Oberkörper auf. Dabei musste sie sich auf ihre Arme und Hände abstützen, da es ihr sonst misslungen wäre.

Nachdem Bella aufrecht – auf ihren gut ausgestreckten Armen abgestützt – im Bett saß, atmete sie etwas schwerer. Diese kleine Bewegung, war für sie schon etwas anstrengend. Das war auch nicht verwunderlich, da das Mädchen in der Zeit des Liegens seine Muskeln nicht gebraucht und sich so viel Gewebe abgebaut hatte. Obwohl sich Bella dieser Tatsache bewusst war, dachte sie nicht daran, aufzugeben. Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen.

30 Sekunden später, als der Atem sich wieder normalisiert hatte, nutzte sie ihre Willenskraft erneut. Sie hob einen Arm und schlug die Decke zurück. Sie sah, dass sie eine Art weißes Gewand trug. Sogleich danach brachte sie ihren Arm wieder in eine stützende Position. Bella Swan bereitete sich innerlich vor, begann erst ganz leicht ihre Beine zu bewegen – bis sie jeden einzelnen Zeh spüren konnte –, um sie dann allmählich nach links gleiten zu lassen, sodass die Füße schließlich fast den Boden berührten.

Bella befand sich nun in einer schrägen Lage auf dem Bett sitzend und ihren Armen fiel es schwer, diese Position lange zu halten. Bevor ihre zwei Stützen einknicken würden, hob sie den rechten Arm an, bewegte ihn in linker Richtung und setzte ihn wieder ab. Die rechte Hand war nun so gut wie an der Bettkante. Gleich darauf brachte sie ihren Körper in eine gerade Position und schob sich etwas nach vorne. Nun berührten Bellas nackte Füße den Boden und sie konnte sie richtig aufsetzen.

Sie sah, dass auch ihre Füße noch weißer und schmaler geworden waren. Die Unterschenkel, die sie zur Hälfte sehen konnte, waren nicht viel anders. Sie musste wirklich einiges an Gewicht verloren haben. Bella Swan hob wieder ihren Kopf nach links und sah den Ständer mit dem Tropfbeutel. Er war nahe genug, dass sie mit ihrem linken Arm danach greifen konnte.

Bella umklammerte das Gestell, wartete einige Sekunden, bis sie sicher war, dass sie den notwendigen Halt hatte. Dann versuchte sie ihr Glück und erhob sich ganz langsam, bis sie aufrecht stand. Gleich im nächsten Moment schwankte Bella etwas, da die Muskeln ihrer Beine noch schwach ausgeprägt waren. Sie hatte Angst, ihr drohten die Beine einzuknicken und umklammerte das Gestell so fest, dass ihre Hand zitterte und die Knöchel noch stärker hervortraten. Dadurch bewegte Bella ungewollt die Rollen des Ständers und er wackelte leicht hin und her.

Zur Sicherheit riss Bella ihren rechten Arm herum und hielt sich ebenso mit der rechten Hand am Tropfständer fest, der sich durch den plötzlichen Druck ein Stück nach links bewegte. Die Rollen des Ständers wurden gestoppt, als er sogleich gegen das Bett stieß. Die Bewegung des Gestells war so klein, dass Bellas Beine gar nicht wegknicken konnten. Das Zittern der Beine hörte nach wenigen Sekunden auf und Bellas schneller gewordene Atmung beruhigte sich wieder.

Als Bella sich sicher genug fühlte, nahm sie ihre rechte Hand vom Gestell fort und ließ ihren Arm neben ihrem Körper hängen. Endlich wagte sie - mit dem Tropfständer – den ersten richtigen Schritt. Kurz darauf wurde die Zimmertür aufgerissen. Erschrocken durch das plötzliche Geräusch, zuckte Bella Swan zusammen und blickte einer geschockten Krankenschwester ins Gesicht.



Dadurch, dass Isabella Marie Swan ihren rechten Arm zur Hilfe genommen hatte, um ihren Halt zu sichern, hatte sich der Clip endgültig vom Zeigefinger gelöst. Die Apparatur konnte so nun nichts mehr empfangen und aufzeichnen. Das monotone Piepen hatte sich in einen langgezogenen nie endenden Ton verwandelt.

Laut der Apparatur, wäre sie jetzt tot.

Den Ton – beziehungsweise seine Änderung – hatte das gerade erwachte Mädchen ausgeblendet. Dazu war sie viel zu konzentriert auf die Koordination ihrer Bewegungsabläufe und das Zittern ihrer Beine gewesen. Durch das Aussetzen des EKG-Monitors wurde ein Alarm ausgelöst, der über dem Flur der Station zu hören war.

Die Krankenschwester Babara Glades schreckte auf. Sie war gerade in der Küche, um die Tabletts mit dem Mittagessen vorzubereiten. Sie hörte augenblicklich mit ihrer Arbeit auf und rannte aus dem Raum und den Flur entlang. Als sie auf der Höhe des Empfangstresens war, warf sie ihrer Kollegin dahinter einen Blick zu. Babara Glades musste nichts sagen.

Ihre Kollegin antwortete sogleich im lauten leicht panischen Tonfall: „Zimmer 233!“

Babaras Augen wurden groß und sie beschleunigte ihre Bewegungen, die sie nicht einen Moment lang unterbrochen hatte. Sie flehte, dass sie nicht zu spät kam. Warum traf es gerade sie? Gerade heute hatte die Krankenschwester das Mädchen geradezu angefleht, aufzuwachen.

Und jetzt soll wahrscheinlich ihr Herz ausgesetzt haben?

Nein, Herr im Himmel, bitte nicht, dachte Babara. War die gut gemeinte Berührung der Krankenschwester womöglich der Grund dafür? Wenn ja, dann würde sie es sich nie im Leben verzeihen können.

Nie.

Isabella Swan dürfte noch nicht sterben. Sie war doch noch so jung. Und was sollte dann aus ihren Eltern werden? Aus ihrem Vater? Charlie Swan würde das mit Sicherheit nicht verkraften können. Babara würde übel bei der Vorstellung, wenn Charlie Swan vom Tod seiner Tochter erführe.

Mit diesem entsetzlichen Gedanken riss Babara Glades die Tür des Zimmers 233 auf, und erstarrte. Was die 44-jährige dort sah, konnte sie einige Sekunden lang gar nicht begreifen – nicht mal erfassen. Erst nach einer Weile, schien ihr Gehirn ganz langsam das Bild zu registrieren und anzufangen, es zu verarbeiten.

Bella Swan stand aufrecht auf den Beinen an ihrem Bett, in der linken Hand den Tropfständer festhaltend, während der rechte Arm an ihrem mageren Körper hinunter hing. Sie war noch immer mit dem Tropfbeutel verbunden. Schwarze Augen starrten der Schwester direkt ins Gesicht. Die Patientin wirkte erschrocken und verwirrt durch das plötzliche Auftauchen von Babara Glades. Die Augen des Mädchens waren etwas geweitet, schienen beinahe aus den Augenhöhlen springen zu wollen.

Das knochige Gesicht verstärkte diesen Eindruck noch mehr.
Es dauerte eine weitere kleine Weile, ehe die Krankenschwester die Bedeutung dieses Bildes begriffen hatte.
Isabella Swan lag nicht mehr im Bett. Bella stand auf den Beinen. Ihre Augen waren offen. Bella war wach. Isabella Marie Swan war nach acht Monaten endlich wieder aufgewacht.

Bella hatte sich von dem kleinen Schock schneller erholt, als die Krankenschwester. Mit ihrem blonden hochgesteckten Haar wirkte sie etwas streng, fand Bella. Noch immer starrten sie blaue Augen entsetzt an. Kein Wunder.

Bella Swan sah bestimmt nicht wie das blühende Leben aus, obwohl sie das eigentlich gar nicht beurteilen konnte. Sie hatte ihr neues Spiegelbild noch gar nicht gesehen. Bella Swan holte tief Luft, öffnete ihren Mund, wollte sie fragen, wer sie denn war, doch irgendwie gelang es ihr nicht, die Worte vernünftig zu artikulieren. Es hörte sich eher wie ein Lallen eines Babys an. Ein leises kratziges Lallen. Sie hatte ein raues und trockenes Gefühl im Inneren des Halses. Verwirrt runzelte das Mädchen die Stirn.

Konnte sie etwa keine vernünftigen Worte mehr rausbringen? Hatte sie etwa das Sprechen verlernt?


Als Babara Glades seltsame Töne aus dem Mund von Isabella Marie Swan hörte, löste sie das aus ihrer Starre. Nach ein paar Mal blinzeln, konnte sie wieder reagieren. Einen kurzen Moment blickte sie noch in diese merkwürdigen schwarzen Augen, die vermutlich Verwirrung spiegelten. Doch sicher war sich die Krankenschwester nicht. Diese schwarzen Löcher schienen unlesbar für sie zu sein. Das erste was sie tat war, den EKG-Monitor auszuschalten, um diesen nervigen Ton abzustellen, den sie jetzt erst wieder wahrnahm.


Gerade als Babara Glades die Maschine abgeschaltet hatte, hörte sie die Stimme ihrer Kollegin, die auf dem Weg zur Tür war. Schwester Hannah Clark wunderte sich, dass Babara längst nicht wieder zurückgekehrt und/oder geschrien hatte, wie die Situation der Patientin denn im Moment genau aussah. Vielleicht waren ja die Defibrillatoren defekt und es mussten andere geholt werden. Oder sie brauchte Medikamente – die sie gerade nicht griffbereit hatte oder haben konnte –, weil die Reanimation bisher erfolglos blieb.

Gut, das erstere war doch etwas unrealistisch, aber Hannah Clark zog immer alle Möglichkeiten in Betracht. Sie war ein wenig verärgert über sich selbst, denn sie hätte schon früher nachsehen müssen, aber sie hatte sich wohl etwas zu sehr darauf verlassen, dass sie schon eine Rückmeldung von ihrer Kollegin erhalten würde. Das war in den meisten Fällen so gewesen, wenn eine Zweitschwester oder der Doktor nicht sofort vor Ort waren. Hannah war in dem Moment – als es Alarm geschlagen hatte – gerade dabei gewesen, die Medikamente eines Patienten richtig zu dosieren und sie in einem Tropfbeutel zu geben. Und das erforderte höchste Konzentration und brauchte eine Weile.

Hannah Clark schämte sich. Sie war bestimmt wieder zu konzentriert gewesen, dass sie den Alarm erst gar nicht richtig für voll genommen hatte. Das Dosieren von Medikamenten war eben auch eine wichtige Aufgabe.

Noch leicht verärgert, aber durch die Panik in der Stimme verborgen, rief sie: „Babara, was ist los? Brauchst du Hilfe beim Defibrillator oder Medikamente? Und warum ist…“

Als Hannah Clark diese Worte ausgesprochen hatte, war sie an der Tür angekommen und erstarrte ebenfalls, als sie die Szene in sich aufnahm.

„Es ist alles in Ordnung. Geh und ruf sofort ihren Vater an. JETZT!“, hörte Hannah die Stimme ihrer Kollegin.

Sie drehte ihren Kopf zu Babara Glades und sah noch immer leicht verdattert aus. Nach einem automatischen Nicken verließ Hannah Clark den Raum.


Babara Glades ging nun zu Bella hinüber, umrundete das Bett und betrachtete sie. An der rechten Hand konnte die Schwester keinen Clip entdecken. Ihr wurde klar, warum der Alarm ausgelöst wurde. Die 44-jährige Frau lachte leise auf und schüttelte den Kopf.

„Erst gar nicht mehr aufwachen wollen und dann komm‘ ich daher, halte dir eine kleine Standpauke und lass dich meine kalte Hand spüren. Und schwupps, nicht mal 15 Minuten später schlägst du die Augen auf und stehst auf.“

Babara Glades betrachtete ihre Patientin mit einer Mischung aus Verwirrung, Bewunderung und Belustigung. Sie war erstaunt darüber, dass Isabella Marie Swan schon recht sicher auf den Beinen stehen konnte. Normalerweise hätte sie beim Versuch Aufzustehen, gleich darauf zusammen brechen müssen. Ihre Muskeln haben sich in der Ruhezeit doch sehr zurückgebildet.

Entweder war das ein kleines medizinisches Wunder – was die Frau etwas bezweifelte – oder dieses Mädchen hatte einen sehr starken eisernen Willen entwickelt. Woher der denn so plötzlich kam, war Babara schleierhaft. Sie fragte sich, ob der Wille so stark werden konnte, dass er sogar die Grenzen der noch schwachen Muskeln überschreiten ließ. Das wäre vielleicht denkbar. Hieß es denn nicht: „Wenn du es nur willst, kannst du alles schaffen“?


Während sich Babara Glades darüber Gedanken machte, gingen Isabella Marie Swan ganz andere Sachen durch den Kopf, der ganz langsam wieder zu arbeiten begann.

Zwei Herzschläge später hatte sie die Worte der Frau und deren Bedeutung begriffen. Sie war diejenige gewesen, die diese Worte gesprochen und sie berührt hatte. Es war die etwas kältere Berührung eines Menschen gewesen, welche sie dazu gebracht hatte, aufzuwachen. Es war nie ein Vampir an ihrem Bett gewesen, der wollte, dass sie zurückkam.

Natürlich nicht.

Die gewisse Vampirfamilie – kein einziges Mitglied davon – liebte sie ja schließlich nicht. Nein, in diesem Punkt hatte sich die neue Handlungsinstanz nicht geirrt. Aber sollte sie es ihrem Teil, der in der Dunkelheit war, wirklich sagen? Nach einem kurzen Moment des Überlegens entschied sich Bella Swan doch dafür – auch wenn es ihr sehr schwer fiel.

Auch wenn sie nicht wusste, was geschehen und wie ihr Teil tief in ihr auf diese Nachricht reagieren würde. Würde er es schweigend hinnehmen oder würde der Schmerz und die Verzweiflung so stark in ihm heranwachsen, dass der Teil ihres Selbst schließlich herausbrach? Sie wusste, dass dieser eine Teil in ihr sehr zerrissen und unsicher war. Es wäre eigentlich sehr fatal, ihm die Wahrheit – schon jetzt – zu sagen. Einerseits hätte Isabella Marie Swan dadurch nicht gänzlich ihre Stabilität des neuen Glaubens verloren.

Was würde das für Auswirkungen auf ihren Geist (und Körper) haben?
Aber hatte der Teil in ihr nicht die Wahrheit verdient?
War das nicht die Aufgabe der neuen Handlungsinstanz?

Auf der anderen Seite waren da noch die Gefühle, die der eine Teil in der Dunkelheit noch immer für Edward Cullen und seine Familie hatte. Erneut zu hören, wie wenig sich die große wahre Liebe um einen scherte, war sicherlich alles andere als gut. Aufgrund der komplizierten und schwierigen Situation, seufzte das erwachte Mädchen frustriert auf, horchte aber dennoch in sich hinein. Sie betete, dass der Körper und der Geist die Folgen dieser Entscheidung überleben würden.

Bella, kannst du mich hören?

Keine Antwort.

Die neue Handlungsinstanz beschloss es einfach zu sagen, ohne lange um den heißen Brei herum zu reden. Es war doch auch besser, ein Pflaster mit einem Ruck abzureißen, als es langsam zu tun.

Die Kälte, die wir gespürt haben, kam von einer der Krankenschwestern. Es war wahrscheinlich nie ein Vampir hier. Ich habe mich hinsichtlich der Cullens wohl doch nicht geirrt. Sie warten nicht auf dich. Es tut mir leid.

Innerlich die Luft anhaltend und gespannt wartete Isabella Swan auf eine Antwort von ihrem Teil in der Dunkelheit.

Nichts geschah.
Keine Reaktion.

Die neue Handlungsinstanz spürte keinerlei Emotionen. Keinen Schmerz. Keine Verzweiflung. Diese Nachricht schien den Teil in der Dunkelheit nicht an die Oberfläche zu reißen. Doch dann spürte die Handlungsinstanz etwas. Ein dumpfes, schwaches Gefühl im Magen. Mehr nicht.

Der Teil in der Dunkelheit antwortete nicht.

Die Handlungsinstanz fragte sich, warum Bella Swan – der Teil in der Dunkelheit – nicht antwortete. Sie hatte die Nachricht aber ganz sicher vernommen, das war sicher.

Aber warum war die Reaktion nicht stärker ausgefallen?
Hätte der Körper nicht beispielsweise anfangen sollen zu zittern oder ähnliches?
Hätte Isabella Marie Swan nicht einen innerlichen – oder äußerlich erkennbaren – Wutausbruch haben müssen?

Die Handlungsinstanz war ratlos aber andererseits auch froh, dass keine schweren Folgen geschehen sind. Vielleicht hatte Bella Swan im Inneren schon so etwas geahnt und relativ gefasst auf diese Nachricht reagiert? Die Handlungsinstanz konnte keine zufriedenstellende Erklärung finden.

„Was ist?“, hörte sie die Krankenschwester fragen, die verwirrt und sorgenvoll aussah.

Bella Swan holte tief Luft, sammelte sich einige Sekunden und konzentrierte sich mit aller Macht auf ihre Worte. Sie betete, dass es diesmal klappte.

„H…Hoen Sie…meien…Vadder bidde her.“, brachte Bella Swan unter größter Anstrengung heraus.

Sie musste es sagen, da ihr dies sehr am Herzen lag. Natürlich wusste sie eigentlich, dass die Krankenschwester dies bereits veranlasst hatte.
Die Krankenschwester lächelte sie stolz an und ein Funkeln trat in ihre Augen.

„Er wird jeden Moment hier sein.“

Gut, die Krankenschwester hatte sie verstanden. Isabella Swan nickte, wandte sich von ihr ab und starrte auf ihre Füße. Wieder ihre ganze Konzentration aufbringend und mit leicht zitternden Beinen, machte sie – mit dem Tropfständer – einen weiteren Schritt. Bella Swan konnte ein leises „Wirklich erstaunlich.“ hören, als sich ein Arm stützend um ihre Taille legte.

Die Krankenschwester nicht ansehend, wagte sie sich weiter vorwärts. Bella Swan wollte nicht in das Gesicht der Frau sehen, die ihr bestimmt dann raten würde, aufzuhören und sich wieder hinzulegen. Doch die gerade erwachte Patientin dachte nicht daran. Sie hatte schließlich lange genug geschlafen. Denn sie hatte das Ziel, zurück nach Hause zu kommen. Und nicht nur sie war dieser Meinung.


Babara Glades wollte Isabellas Gehversuche eigentlich unterbinden, da sie trotz ihres starken Willens, recht schwach wirkte. Aber sie konnte einfach nichts dagegen sagen und half ihr lieber. Unterbewusst wusste sie, dass sie eigentlich falsch handelte.

Aber ihre Freude war einfach so groß. Sie hätte es in die Welt hinausschreien können, dass sie höchstwahrscheinlich dafür verantwortlich war, dass Charlie Swan sein Glück wieder hatte. Ein breites Lächeln erhellte ihr Gesicht, was Bella nicht sah, da sie sich völlig auf ihre Füße konzentrierte. Heute würde sie Monty endlich die gute Nachricht überbringen können. Mortimer Harrison hatte recht gehabt. Einen Bruch in der Regularität zu haben, muss nicht unbedingt gleich schlecht sein. Babara Glades stellte sich Montys glückliches, aber auch leicht überhebliches Lächeln vor und schmunzelte.


Charlie Swan saß an seinem Schreibtisch und tippte seit er wieder zurück im Police Appartement war, auf der Tastatur herum. Er schrieb gerade einen Polizeibericht über einen Unfall, der gestern geschehen war. Während er auf den Monitor starrte, füllten immer mehr Worte das Blatt. Er stieß seufzend einen verärgerten Laut aus, da er sich gerade vertippt hatte. Im gleichen Moment fragte sich der Assistent des Chiefs, warum er sich überhaupt über so etwas Banales aufregte. Es musste wohl mit dem gerade frischen Besuch im Krankenhaus zu tun haben.

Sein Finger schwebte über der Löschtaste, als ein Klingeln ihn aufschrecken ließ. Sein Finger zuckte, betätigte die Taste aber nicht. Charlie wandte sich vom Bildschirm ab nach rechts. Verwirrt runzelte er die Stirn. Welches Telefon klingelte denn da? Seines konnte es nicht sein, denn das Telefon vor ihm auf dem Schreibtisch stand still und blinkte auch nicht. Wieder dieses Klingeln. Aber da war noch etwas anderes.

Ein…Vibrieren!?

Charlie Swan riss die Augen auf und keuchte überrascht. Es war sein Handy, das in der Hosentasche klingelte und vibrierte. Das Vibrieren schien er nicht eher wahrgenommen zu haben, da er zu konzentriert gewesen war. Und sein Klingelton vom Handy war nichts Außergewöhnliches. Als würde Charlie Swans Leben davon abhängen, holte er schnell sein Handy aus der Hosentasche. Seine Hände zitterten, als er es endlich hatte, so aufgeregt war er. Charlie Swan wusste, dass ihn nur vier Kontakte über diese Nummer anrufen würden.

Harry Clearwater, Billy Black, seine Ex-Frau…und das Krankenhaus. (Eventuell noch sein Mitbewohner, was aber mehr als selten geschah.)

Es war Mittwoch Vormittag. Warum sollten ihn Harry, Billy oder Renee während der Arbeitszeit auch anrufen? Das war eher unwahrscheinlich, dachte Charlie Swan. Also konnte es nur DER Anruf sein, auf den er schon seit über acht Monaten wartete. Ganz sicher war er sich dann aber irgendwie doch nicht, aber er hoffte es sehr. Nach kurzen Zögern und dem vierten Klingeln betätigte er mit zittrigem Zeigefinger den Anrufknopf und hielt sich das Gerät ans Ohr.

„Hallo?“ Charlie Swans Stimme klang unsicher und zitterte. Er räusperte sich.
„Hier Charlies Swan am Apparat.“, sagte er klar und deutlich.

„Guten Tag, Mr. Swan. Hier spricht Hannah Clark aus dem Seattle Swedish Medical Center. Ich rufe an um ihnen mitzuteilen, dass ihre Tochter Isabella soeben aus dem Koma erwacht ist.“, erklang eine weiblich freundlich klingende Stimme an anderem Ende der Leitung.

Stille.

Die Worte erreichten den Vater zwar, doch er war nicht imstande, diese auch zu verarbeiten. Er merkte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich und sein Mund leicht offen stand.
Nach 10 Sekunden ellenlangen Schweigens hörte Charlie Swan sich tonlos sagen.

„Vielen Dank für ihren Anruf.“

Er legte auf und legte seinen Arm auf dem Tisch. Er starrte auf dem Bildschirm, obwohl er ihn nicht sah. Charlie Swan starrte eine halbe Minute vor sich hin, bis er langsam begriff, was gerade passiert war. Immer und immer wieder spulte er die Worte der Frau in seinem Kopf ab. Einmal. Zweimal. Dreimal.

Plötzlich machte es in Charlie Swans Kopf Klick und in ihm herrschte ein wilder Aufruhr, der sogleich nach außen gelangte. Mit weit aufgerissenen Augen, sprang er vom Stuhl auf, sodass er etwas nach hinten schlitterte und umkippte. Durch den Krach waren alle Augen auf Charlie Swan gerichtet. So eine gewaltige Reaktion sahen seine Mitarbeiter zum ersten Mal bei ihm. Es musste ihnen wohl wie ein achtes Weltwunder vorkommen.

Das nahm der Vater nicht wahr.

Was kümmerten ihn schon die Blicke der anderen?

Nur sie zählte jetzt. Seine Tochter.

Charlie Swan war wie in einem Rausch und dachte nicht wirklich über seine Handlungen nach. Nur sein Ziel – das Zimmer 233 im Swedish Medical Center – hatte er vor Augen. Er steckte sein Handy weg, rannte durch den Raum, an seinen erstaunt und ängstlich blickenden Mitarbeitern vorbei, um zu seinem Schrank zu gelangen. Dort angekommen schloss er auf, schnappte sich seine Jacke und rannte los. Er rannte – ja flüchtete förmlich aus dem Gebäude – als sei der Teufel hinter ihm her.

Er hechtete zum Wagen und fuhr alles andere als ordentlich vom Parkplatz. Das Quietschen der Reifen war wie ein Donnerschlag für Charlies Ohren. Er fuhr so schnell, weil er natürlich seine ERWACHTE Tochter sehen wollte. Er wollte in seine Augen sehen, die ihn liebevoll und fürsorglich ansahen, wie sie es immer getan hatten. Der andere Grund für Charlies Hektik war der, dass er Angst hatte, Bella könne sogleich wieder ins Koma fallen, bevor er überhaupt angekommen war.

Einem Teil von ihm war klar, dass dies vielleicht etwas übertrieben wäre. Aber was wusste Charlie Swan von medizinischen Sachen und von den Gefühlen seiner Tochter?

Auch wenn sich Vater und Tochter sehr ähnlich waren, reagierten beide doch unterschiedlich auf eine Trennung. Beide waren beständig, doch Bella schien den Schmerz viel intensiver zu spüren und anders damit umzugehen, als andere in ihrer Situation. Der Vater hatte damals zwar auch sehr unter der Trennung von Renee gelitten, doch er konnte sich wieder aufrappeln und sein Leben nach einer gewissen Zeit wieder normal fortführen. Er war nicht ins Koma gefallen.

Welcher Mensch würde überhaupt ins Koma fallen, „nur“ weil der Partner mit einem schlussgemacht hat?

Wohl keiner.

Doch Charlie wusste schon immer, dass seine Bella etwas anders war, als andere Mädchen. Sie war eine Klasse für sich. Mädchen gingen gerne shoppen und kauften sich Kleider und Schuhe.
Bella nicht.
Mädchen trugen gerne Schmuck und Make-Up.
Nicht so Bella.
Alle Mädchen träumten von einer großen Hochzeit in Weiß und standen gerne im Mittelpunkt.

Charlie war sich auch in diesem Punkt fast sicher, dass dies nicht auf seine Tochter zutraf. Sie würde bestimmt nicht so eine große Veranstaltung wollen. Sie regte sich ja schon über Geschenke und ihrem Geburtstag auf.

Bella Swan war einfach anders als andere, das wusste Charlie nur zu gut. Darum wusste er auch, dass die Zeit nach dem Aufwachen nicht leicht für seine Tochter werden würde. Denn sie würde nicht so einfach ihr altes Leben wieder aufnehmen können. Ganz sicher nicht. Vor dem was möglicherweise bald kommen würde, graulte sich Charlie bereits.

Diesen Gedanken schob er allerdings jetzt weit weg, denn nun wollte er erst einmal sein Mädchen sehen. Über die Zukunft konnte er sich Gedanken machen, wenn es soweit war. Nach guten drei Minuten kam Charlie Swan quietschend am Krankenhausgebäude an und stürmte hinein. Er beachtete gar nicht die Schwestern auf dem Weg zum Zimmer 233. Charlie Swan sprintete den Flur entlang, seinem Ziel immer näher kommend. Er sah, dass die Türe offen stand und hörte eine Stimme. Etwas schwerer atmend kam er an der Tür zum Stehen und sah sein persönliches Wunder.

Seine Tochter saß am oberen Bettende anliegend aufrecht im Bett und starrte ihn an. Die blonde Schwester, die er kannte, saß nahe am Ende des Bettes und massierte gerade Bellas linken Fuß. Sie war es wohl, die eben noch zu Bella gesprochen hatte. Auch Babara Glades sah den Vater kurz an, lächelte freundlich und machte sich wieder an die Arbeit, Bellas Muskeln zu stimulieren.

Charlie Swan trat in den Raum hinein und an das Bett heran. Seine Augen lagen nur kurz auf der der Krankenschwester. Eingehend musterte er seine Tochter, als sähe er sie zum ersten Mal. Sie saß auf der Bettdecke, am Bettende angelehnt, dazwischen befand sich das Kissen.

Er sah in ein schmales weißes Gesicht, welches vom weißen Haar umrahmt wurde und scheinbar immer größer werdenden schwarzen Augen. Ja, sie waren richtig schwarz. Nicht braun. Diese neuen Augen hatten die Anziehungskraft eines schwarzen Lochs. Die neue Farbe der Augen fiel einem sofort auf, da Bella vollkommen weiß war. Sehr blasse Haut, verhüllt von einem weißen Gewand, welches bis zur Hälfte der dünnen Unterschenkel reichte.

Charlie Swan nahm die ganze Gestalt seiner Tochter in sich auf, blickte wieder in diese Augen, die ihm bekannt und doch so fremd waren.

Dieses Schwarz…

Ein eiskalter Schauer lief dem Vater dem Rücken hinunter und er musste schlucken. Er musste versuchen, das ganze Gefühlschaos in ihm irgendwie zu ordnen.

Charlie Swan empfand Freude, da seine Tochter wieder aufgewacht war und sie ihn ansah. Erleichterung, da sich seine etwas unsinnige Befürchtung nicht bewahrheitet hatte. Aber es war doch die Angst in dem Polizisten, die überwog.

Angst vor diesen schwarzen Augen, die ausdrucksstark und doch so leer wirkten.

Sie vermittelten Charlie Swan den Eindruck, als stünde er einer bekannten und doch fremden Person gegenüber. Er konnte den Blick seiner Tochter Bella nicht deuten. Der Assistent des Chiefs von Seattle hatte auch Angst vor dem Unbekannten. Angst vor dem, was noch kommen würde. Angst vor der neuen Bella.

Denn Charlie Swan hatte schon von Leuten, die im Koma lagen gehört, dass sie nach dem Aufwachen nicht mehr dieselben wie vorher waren. Sie bekamen einen völlig neuen Blick für Dinge, welche für andere nur gewöhnlich waren, wussten alles mehr zu schätzen. Manche entdeckten ihren Glauben zu Gott, da ihnen ein „neues“ Leben geschenkt wurde, eine zweite Chance. Charlie war sich sicher, dass Bella sich verändert hatte. Und vor dieser noch ungewissen – garantiert eher negativen – Veränderung fürchtete der Vater sich.

Seine Tochter musste bestimmt einen eher schlechten Wandel durchzogen haben, wenn man ihre Situation berücksichtigte. Bella Swan war noch immer das 18-jährige Mädchen, dessen erste Liebe ihr das Herz gebrochen hatte. Sie hatte für über acht Monate ausgesetzt. Wahrscheinlich war sie gar nicht richtig in der Lage, alles zu verarbeiten, sich mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen. Um den Verlust zu trauern. Ja, die nächste Zeit würde schwierig für Bella Swan werden, dachte ihr Vater traurig.

Aber dieser Blick.

So…undurchdringlich. So…tot. So gleichgültig?

Charlie Swan konnte es nicht wirklich definieren.
Müsste seine Tochter nicht eher weinen? Weinen wegen IHM, oder weil sie ihrem Vater so viel Kummer bereitet hatte – wenn auch nicht absichtlich?
Vielleicht hatte sie aber alles noch nicht wirklich begreifen können. Dass sie ins Koma gefallen und eben erst wieder aufgewacht ist?

Ja, das war wohl die wahrscheinlichste Erklärung für Bellas mangelnde Empathie.

Was Bella Swan gerade an Emotionen zu fehlen schien, hatte Charlie Swan gerade in diesem Moment zu genüge in sich. Während sich der Polizeivater über all dies Gedanken gemacht hatte, wurde ihm die Wahrheit langsam immer klarer – wirklich bewusst.

Seine Tochter war wieder aufgewacht.

Die ganzen wirren Gefühle in ihm wurden zu viel für seinen Körper. Er brauchte dringend ein Ventil, da Charlie Swan sonst explodieren würde. Der Kloß in seinem Hals löste und der Druck auf seiner Brust verringerte sich, als Charlie einen Weg gefunden hatte, endlich seine Gefühle nach außen dringen zu lassen. Charlie Swan blinzelte und schluckte. Seine braunen Augen wurden glasig und feucht, bis sich Tränen gebildet hatten, die sich ihren Weg über die Wangen bahnten. Bellas Vater schluchzte auf und begann leicht zu zittern, während die Tränen unaufhörlich weiter flossen.

In diesem Augenblick durchlebte Charlie Swan den größten Gefühlsausbruch seines gesamten Lebens. Unterbewusst war er ein wenig überrascht über sich selbst, da das ein sehr untypisches Verhalten für ihn war.

Er war noch nie gut darin gewesen, seine Gefühle zu zeigen – und dann auch noch so stark. Ihm war es ja schon peinlich gewesen, das Lob, die große Dankbarkeit und Freude von seiner Tochter anzunehmen, als er ihr damals den alten Chevy-Transporter geschenkt hatte. Diese Begeisterung von Bella war ihm bereits zu viel gewesen, sodass er rot vor Scham geworden war.

Und nun heulte er wie ein kleiner Junge, der sich einfach nicht beruhigen lassen wollte.

Das eigenartigste war: Es war ihm absolut nicht peinlich, das man ihn so sah.

Nicht im Mindesten.

Charlie Swan blinzelte. Dann riss er praktisch den schwachen Körper seiner Tochter an seine Brust, schlang seine Arme um sie und vergrub das Gesicht an ihrem Hals. Aufgrund dieser unerwarteten Handlung war seine Tochter kurz zusammen gezuckt, hatte sich jedoch sogleich wieder entspannt. Ihr Vater hatte dies bemerkt und dachte, dass dies daran lag, weil er das sonst SO in dieser Art noch nie getan hatte. Charlie Swan umklammerte Bella Swan praktisch, hielt sie verzweifelt fest und weinte und zitterte scheinbar endlos dabei.

Immer wieder drangen herzzerreißende Schluchzer aus seiner Kehle und er atmete etwas schwer. Der Polizeivater konnte und wollte auch gar nicht aufhören zu weinen.

Warum auch?

Er hatte gerade sein persönliches Wunder erlebt. Außerdem hatte er das Gefühl, als müsse er sich richtig ausweinen, da er sonst an seiner Trauer und an seinen (noch nicht ausgebrochenen) Tränen ersticken würde. Es waren einige Minuten vergangen, als Charlies Zittern, seine Schluchzer und Tränen abebbten und er sich langsam wieder beruhigt hatte. Doch Loslassen wollte er Bella noch lange nicht.



Die ganze Szene war von der Krankenschwester Babara Glades beobachtet worden. Sie hatte aufgehört Bellas Muskeln zu stimulieren, bevor der überglückliche Vater seine Tochter in eine sehr stürmische Umarmung gezogen hatte. Babara wollte den Vater noch mahnen, vorsichtig zu sein und Bella nicht zu verletzen, aber dann würde sie sich ja bemerkbar machen.

Die 44-jährige hatte diesen enormen Gefühlsausbruch mit angesehen und freute sich für die beiden. Besonders für den Vater. Doch nun runzelte sie verwirrt die Stirn. Isabella Swan hatte während der ganzen Zeit kein einziges Wort gesagt, geschweige denn überhaupt einen Laut von sich gegeben. Ja, sie schien nicht im Mindesten etwas von Trauer zum Ausdruck gebracht zu haben. Auch dieses Zusammenzucken, welches Babara Glades gesehen hatte, empfand sie als merkwürdig. Aber nicht so merkwürdig, wie diese schwarzen, unlesbaren Augen. Die Krankenschwester spürte, dass dies nur der Anfang eines sehr schweren Weges für die beiden war…



Nachdem Charlie Swan seine Tochter aus seiner Umklammerung frei gegeben hatte, hielt er sie eine Armeslänge an den Schultern von sich und sah ihr in die Augen. Diese schwarzen, tiefen, leeren Augen.

Bella lächelte, doch es war falsch. Nicht im Sinne von boshaft. Nein, das Lächeln – oder die Grimasse – hatte keinen Ausdruck, ebenso wie die Augen. Sie hatte genauso gut die Lippen wieder zu einem Strich verziehen können – das Ergebnis wäre dasselbe. Das Lächeln was Bella lächelte war kein ehrliches Lächeln. In ihren Augen war kein winziger Funken zu erkennen.

Charlie dachte sich, dass Bella nur seinetwegen lächelte, um ihn zu beruhigen. Das wäre typisch für seine Tochter. Natürlich konnte sie sich noch nicht wirklich freuen. Sie hatte ja Edward Cullen verloren. Obwohl Charlies Herz bei diesem kläglichen Versuch eines Lächelns schmerzte, schaffte er es, seine Mundwinkel etwas nach oben zu ziehen. Endlich gelang es Charlie Swan die ersten Worte an seine Tochter zu richten.

„Willkommen zurück, Kleines. Wie geht’s dir?“

Charlies Erleichterung war mehr als deutlich zu hören, aber auch der leicht besorgte Unterton.

Bella versuchte etwas breiter zu lächeln – vergebens. Sie holte tief Luft und sah sehr konzentriert aus.

„Mir…g…geht…es…g…g…gut.“, brachte sie bruchstückhaft und etwas schwer verständlich heraus.

Charlies Augen verengten sich, runzelte verwirrt die Stirn und lehnte Bella wieder ans obere Bettende. Danach ließ Charlie ganz von seiner Tochter ab und wandte seinen Kopf zu der Krankenschwester, die sich noch immer im Raum befand. Sie saß noch immer am Ende des Bettes.
Nach einem kurzen Blick beantwortete Babara Glades Charlies unausgesprochene Frage.


„Ihre Tochter lag sehr lange Zeit im Koma. Leider erwacht man daraus nicht ohne irgendwelche Hirnschäden davon zu tragen.“

Charlie Swans Augen weiteten sich, doch die Schwester sprach unbeirrt weiter.

„Wobei ihre Tochter in diesen Fall mehr als großes Glück zu haben scheint. Nur ihr Sprachzentrum scheint leicht beschädigt zu sein. Sie kann sich noch nicht richtig ausdrücken, aber alles verstehen und begreifen, was man ihr sagt. Mehr Schäden scheint sie nicht davon getragen zu haben. Das ist allein schon sehr ungewöhnlich, da erstens die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass ein Patient nach sechs Monaten wieder aus dem Koma erwacht und zweitens Isabellas Hirnschäden viel gravierender sein müssten. Himmel, vor kurzem stand sie aufrecht und ist durch den Raum gelaufen und das ob…“

Charlie hob die Hand und unterbrach Babara.

„Woh…woh…Sekunde. Sie wollen mir sagen, dass meine Tochter kurz nach dem Aufwachen einfach so aus dem Bett gestiegen um herum gelaufen ist?“, fragte er zweifelnd, ungläubig und doch hoffnungsvoll.

Er hob eine Augenbraue und wartete gespannt auf die Antwort.

Die Krankenschwester lachte kurz auf.

„Äh…naja…nicht ganz.“, widersprach sie.
„Sie kann aufrecht stehen und langsam Schritt für Schritt voran gehen, allerdings noch nicht ohne Hilfsmittel. Glauben Sie mir. Ich war ja selbst mehr als überrascht, als sie mit dem Tropfständer haltend an ihrem Bett stand und vor meinen Augen ihre ersten Schritte machte. Mit leicht zitternden Beinen, aber ohne zusammenzubrechen. Und genau das ist ja das Merkwürdige. Ihre Muskeln haben sich nach so langer Zeit der Ruhe stark zurückgebildet, sodass sie eigentlich nicht mal aufrecht stehen können sollte. Ich weiß nicht, wie das möglich ist. Ich denke, dass sie einen sehr starken Willen hat, um dies zu schaffen. Oder vielleicht liegt es auch teilweise daran, dass die Muskeln ja nicht allzu viel tragen müssen. Sie ist ja sehr dünn, wie sie wissen. Aber trotz allem muss ich muss schon sagen, dass ihre Tochter ein kleines Wunder ist.“


Mit offenem Mund und großen Augen hatte Charlie Swan der Erklärung von Miss Glades gelauscht. Nachdem er alles verstanden und verarbeitet hatte, breitete sich ein Schmunzeln auf seinem Gesicht aus.

„Ja, meine Bells war schon immer ein kleiner Dickkopf gewesen. Wenn sie erst einmal eine Entscheidung getroffen hat, dann zieht sie diese auch durch und ist von nichts und niemandem davon abzubringen.“, sagte Charlie eher zu sich selbst, doch Babara Glades hatte seine Worte gehört und konnte nichts dagegen tun, dass sich ihre Mundwinkel leicht hoben.

„D…Daaad.“, hörte Charlie die Stimme seiner Tochter, die etwas brüchig und leise klang.

Schlagartig wandte er seinen Kopf wieder zu Bella und nahm ihre Hand.

„Was…was ist mein Schatz? Sag mir, was du willst.“

Charlies Stimme überschlug sich vor Freude, die Stimme seiner Tochter zu hören.

Bellas schwarze Augen sahen Charlie mit einem Blick an, denn er seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Soweit er sich erinnern konnte, hatte ihn nur eine einzige Frau in seinem Leben SO angesehen. Seine Mutter Helen Swan.

Sie ist zusammen mit ihrem Mann Geoffrey vor über 14 Jahren gestorben – als Bella vier Jahre alt war. Diesen Blick den Charlie Swan jetzt sah, hatte er besonders als kleinen Jungen oft zu sehen bekommen. Immer wenn er etwas getan hatte, was er nicht tun sollte oder seine Mutter sein Verhalten aus anderen Gründen nicht gut hieß, bekam er immer diesen Blick.

Diesen strengen, bösen Blick mit leicht zusammengekniffenen Augen, der zu sagen schien: „Wiedersprich mir nicht und tu was ich dir sage. Keine Wiederrede, sonst passiert was.“

Charlie musste schlucken und fühlte sich in dem Moment wieder wie mit acht Jahren, als er eine sehr kostbare Vase zerbrochen hatte. Damals hatte er diesen Blick von seiner Mutter bekommen, die daraufhin nur „Ab in dein Zimmer. SOFORT!“, gezischt hatte.

Da war der kleine Charlie ängstlich und so schnell er konnte vor seiner Mutter geflohen.

Nie im Leben hätte Charlie Swan gedacht, dass er diesen Blick je wiedersehen würde.
Tja, da schien die Enkeltochter auch was von der Großmutter geerbt zu haben.
Sehr überraschend.

Wieder musste Charlie Swan schlucken und wartete ängstlich auf die Worte seiner Tochter. In dem Moment fragte ein Teil von ihm in sich, seit wann sie denn die Rollen getauscht hatten.

„Bri…Bri…ng mich scho…fort h…hier ra…us. Ich will…nasch…Ha…Hau…sse. Zschu…rü…ck nach…Forksch.“, hörte er leise, gebrochen und doch gefährlich zischend.

Obwohl Charlie Swan wusste, dass es unvernünftig war. Obwohl er wusste, dass es besser wäre, wenn Bella noch hier bleiben würde, so hörte er sich dennoch sagen: „Natürlich.“


Bellas Blick veränderte sich. Als sie diese Worte vernommen hatte, wurde ihr Blick weicher und Charlie glaubte ein kurzes Aufflackern in ihren Augen gesehen zu haben. Auch lächelte sie. Und diesmal, wirkte es fast echt.

Im nächsten Moment fragte Charlie Swan sich, wie er nur so etwas versprechen konnte. Gut, laut der Krankenschwester konnte sie relativ gut laufen, wenn auch nicht ohne Hilfe, aber trotzdem.

Sie war doch gerade erst aufgewacht und schon sollte er sie nach Hause bringen?
Wäre das nicht mehr als verantwortungslos?

Natürlich wäre es das.

Aber ein Teil von Charlie strebte auch nach dem Wunsch seiner Bella. Er wollte nicht mehr länger in Seattle bleiben. Er sehnte sich wieder nach dem Leben in Forks. Nach seinem Zuhause. Nach ihrem Zuhause. Er vermisste das kleine Polizeiamt, vermisste seine alten Aufgaben, ja sogar seine Kollegen. Der niedere Lohn war ihm egal.

Ja, er würde noch heute mit Bella nach Forks zurückkehren – mit Bella. Forks war seine Heimat, die er nur wegen Bella verlassen musste. Und da sie auch dorthin zurück wollte, stand seine Entscheidung fest. Ja, auch er war ein Sturkopf.

Als hätte Gott ihm ein Zeichen gegeben, kam gerade der Arzt in das Zimmer, um nach seiner Patientin zu sehen. Charlie küsste Bellas Hand, legte sie auf die Bettdecke und wandte sich dem Arzt zu. Und so machte sich Charlie Swan ans Werk, mit dem Arzt ein sehr anstrengendes Gespräch zu führen…


Später am Abend saß Charlie Swan saß in seinem „neuen“ Wagen und hatte gerade das Orteingangsschild von Forks erreicht. Er war wieder nach Hause gekommen. Aber nicht allein. Er wandte seinen Kopf nach rechts und schaute auf das dürre Mädchen neben ihm, das jetzt Schuhe und eine dicke Jacke trug. Bella saß neben ihm auf dem Beifahrersitz und starrte tief in Gedanken versunken aus dem Fenster.

Ein kleines Lächeln erschien auf seinem Gesicht und in seinen Augen war ein Funkeln zu erkennen, welches man schon seit Ewigkeiten nicht mehr bei ihm gesehen hatte. Wieder auf die Straße schauend, versuchte er weiterzuverarbeiten, was in den letzten Stunden alles passiert war.

Nach einem sehr langem Gespräch mit dem Arzt, vielen Gehversuchen von Bella und mehreren Beteuerungen, dass Charlie Swan sich um seine Tochter schon kümmern würde, konnten endlich die Entlassungspapiere unterschrieben werden. Natürlich nicht ohne die Bedenken des Arztes, der zum tausensten Mal von einer vorzeitigen Entlassung abgeraten hatte.

Charlie erinnerte sich mit einem Grinsen daran, als Bella vor den Augen des Arztes sich an den Tropfständer geklammert hatte, aufgestanden und fast ohne Zittern langsame Schritte gemacht hatte. Charlie war immer neben ihr gewesen, bereit um sie zu stützen, doch sie hatte seine Hilfe gar nicht nötig gehabt.

Dem Arzt waren beinahe die Augen aus dem Kopf gefallen, während er: „Ach du heilige Scheiße!“ gerufen hatte.

Der Arzt konnte keinerlei Erklärung für dieses Phänomen finden und war erst mal sprachlos gewesen.

Nachdem die Entlassungspapiere unterzeichnet waren, wurden Charlie Swan noch ein Rezept für Medikamente und ein Ernährungsplan für Bella überreicht. Ebenso eine Tüte mit Bellas Kleidung und Schuhen. Der Schlüssel ihres Transporters war ebenfalls darunter. Nach weiteren Gehversuchen seiner Tochter, die jedes Mal besser wurden, einer herzlichen Umarmung und einen schönen Abschiedsgruß von der Krankenschwester Babara Glades, konnten Isabella Swan und ihr Vater gemeinsam das Krankenhaus in die bewölkte trockene Freiheit verlassen.

Davor zog sie über ihr Krankenhausgewand – was sie behalten durfte – etwas beschwerlich einen Pullover und ihre Jacke darüber. Socken und Schuhe durften selbstverständlich auch nicht fehlen. Wobei Bella bei dieser Angelegenheit die Hilfe ihres Vaters gebraucht hatte.

Nie machte Bella einen Schritt alleine.

Immer wurde sie von ihren Vater gestützt, der ihr gerne zur Hilfe kam. Und Bella nahm diese Hilfe an. Mit ihm an seiner Seite konnte sie sicher einen Fuß nach dem anderen setzen und so die Strecke vom Krankenhaus bis zum Auto ohne große Probleme schaffen. Ihre Beine wurden immer sicherer und kräftiger. Sie atmete etwas schwer, als sie am Auto angekommen waren, aber ansonsten ging es Bella gut. Er half Bella ins Auto, stieg dann selber ein und erledigte die notwendigsten Sachen.

Charlie Swan fuhr zu seiner Wohnung, kündigte diese ohne große Schwierigkeiten und holte seine Sachen, während Bella im Auto auf ihn wartete. Die Matratze samt Kissen und Decke hatte er in seinem Zimmer gelassen. Dann ging es weiter zum Police Appartement.

Dort angekommen kündigte Charlie Swan fristlos seinen Dienst – was erstaunlicherweise gut aufgenommen wurde – gab seinen Wagen, seine Waffe und seine Marke ab und griff zu einem Telefon. Er telefonierte mit der Polizeidienstelle in Forks, erklärte seine Situation und fragte nach seiner alten Stelle, die er sofort wieder antreten könne, wenn er wollte. Der Form halber stellte er einen Antrag, der sofort bewilligt wurde, nachdem ihm seine Stelle in Forks wieder sicher war. Nach vielen Abschiedsworten seiner Kollegen und seines ehemaligem Chiefs, kehrte Charlie Swan dem Police Appartement in Seattle dem Rücken zu.

Draußen holte er Bella aus dem Dienstwagen, dirigierte sie zu seinem neuen Gefährt und setzte sie dort erneut hinein. Seine und Bellas Sachen folgten dem Umzug. Ein letztes Mal betrat er seine Arbeitsstelle und gab die Schlüssel ab. Nachdem dies erledigt war, machten die beiden noch einen Abstecher zur Apotheke, um Bellas Medikamente zu holen. Einen kleinen schnellen Einkauf für das Notwenigste erledigte Charlie Swan ebenso. Danach machten sich die beiden auf dem Weg nach Hause.

Kaum waren sie losgefahren, hörte Isabella ihre Stimme.



Bitte Charlie, dass er zu einem Kunstgeschäft fahren soll.


Wozu?


Das wirst du schon noch sehen.


Geht es dir gut? Du hast vorhin nicht geantwortet.

Es geht mir gut, soweit es mir eben möglich ist. Ich war irgendwie auf diese Möglichkeit vorbereitet gewesen, habe mir darüber Gedanken gemacht und eine Idee entwickelt, wie ich vielleicht den Schmerz rauslassen kann, ohne dass dabei der Körper noch zu weiterem Schaden kommt. Ich habe ja schon mitbekommen, dass es ihm alles andere als gut geht. Obwohl ich durch dich nicht einmal weiß, wie ich überhaupt richtig aussehe.

Stimmt. Bis jetzt hatte Bella noch kein einziges Mal in einen Spiegel gesehen. Auch nicht, als sie noch im Krankenhaus gewesen waren.

Außerdem würde es mich auch auf irgendeine Weise glücklich machen. Also, frag ihn einfach.


Sie waren noch nicht lange unterwegs – hatten noch nicht Seattle hinter sich gelassen – als Bella Charlie ansprach. Ihre Worte wurden immer etwas deutlicher, ihre Stimme allmählich kräftiger.

„K…Können…wir…an einem Kunst…geschääft anhal…ten?“, fragte sie.

Charlie runzelte verblüfft die Stirn, nickte aber. Es dauerte nicht lang und sie hatten ein entsprechendes Geschäft gefunden. Charlie fuhr auf einen Parkplatz, stieg aus, um seiner Tochter zu helfen. Beide gemeinsam – Bella stützend – betraten sie den Laden. Sie wurden von einem freundlichen Mann hinter der Theke begrüßt.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte der Ladenbesitzer freundlich, nachdem er bemerkt hatte, wie sich Charlie Swans Tochter suchend umgesehen hatte.

Bella reagierte nicht auf seine Worte. Charlie fand dieses Verhalten merkwürdig, schob es aber darauf, dass sie den Mann mit ihren Sprachschwierigkeiten nicht verschrecken wollte. Vielleicht war es ihr peinlich.

„Danke. Wir schauen uns erst einmal um.“, antwortete Charlie Swan.

Charlies linker Arm war frei. Er schnappte sich einen Korb und ließ sich von Bella wortlos quer durch den Laden „ziehen“. In ihren schwarzen Augen lag ein Funkeln und beinahe begierig suchte sie das ganze Sortiment im Laden ab.

Charlie Swan wunderte sich über das Verhalten seiner Tochter. Soweit er wusste, waren ihre künstlerischen Fähigkeiten nicht allzu schlecht. Aber das sich Bella so sehr für das Malen und Zeichnen interessierte, war ihm neu. Das war wohl eine Veränderung. Charlie Swan war zwar leicht verwirrt, wollte aber nichts sagen, da er sich über das Funkeln in ihren schwarzen Augen sehr freute. Dadurch strahlte sie wieder Leben aus, fand ihr Vater.

Wann immer Bella etwas sah, was sie wollte, nahm sie es sich und legte es in den Korb. Oder sie zeigte mit dem Finger darauf, falls sie nicht daran kam und Charlie es für sie in den Korb tat. Nach einiger Zeit kamen beide an der Kasse wieder an und der Mann nahm stirnrunzelnd und etwas verwirrt den vollen Korb entgegen, dem Charlie Swan ihm hinhielt. Eine Menge Utensilien kamen zum Vorschein. Viele Pinsel und Farbpaletten, mehrere Farbkästen verschiedener Art, mehrere Tuben Ölfarben, Aquarellfarben, Deckweiß, Bleistifte mit verschiedenen Stärken und ein Skizzenblock.

Charlie merkte, dass sich Bella eher auf das Malen spezialisiert hatte. Nur warum sie keine großen Zeichenblöcke eingepackt hatte, verstand er nicht so recht. Wollte sie nur auf so kleiner Fläche malen? Er wollte sie darauf ansprechen, besann sich dann doch aber eines Besseren. Dies war die Sache seiner Tochter und er wollte ihr in nichts reinreden. Wenn sie noch etwas brauchen sollte, müsste sie es nur sagen.

Nachdem alle Preise in die Kasse eingegeben worden waren, zückte Charlie seine Kreditkarte. Es wurde zwar gerade eine Menge Geld ausgegeben, doch das kümmerte Charlie Swan überhaupt nicht. Er hatte in seinem alten Job in dieser Stadt gut verdient und sich selbst nie etwas gegönnt. Warum auch? Er hatte also viel mehr Geld als früher zur Verfügung, das endlich mal benutzt werden konnte. Und das alles für seinen größten Schatz, der viel wertvoller als alles Geld dieser Erde ist.

Der Mann hinter der Theke bedankte sich für den Einkauf und verabschiedete sich von Charlie Swan, jedoch nicht ohne einen besorgten Blick auf das Mädchen zu werfen, welches ihn mit diesen schwarzen Augen anstarrte.

Charlie Swan sagte, dass er zuerst seine Tochter zum Auto bringen und dann die ganzen Sachen holen würde, die sich in zwei großen Tüten befanden. Der Mann nickte und sah stirnrunzelnd zu, wie beide zusammen langsam den Laden verließen. Er fragte sich, was das Mädchen wohl hatte.


Während der ganzen Zeit, während Charlie und Bella Swan im Laden gewesen waren, hatte sie kein einziges Wort gesagt.

Nachdem die neu erworbenen Sachen (und Bella) im Auto verstaut waren, stieg Charlie in den Wagen. Lächeln fuhr er los. Froh, endlich die Stadt (fürs erste) hinter sich lassen zu können. Während der über dreistündigen Fahrt fragte Bella ihren Vater nach allem, was geschehen war. Charlie beantwortete all ihre Fragen mit einer manchmal traurigen, manchmal tonlosen Stimme. Bella hatte ihn kein einziges Mal unterbrochen, nur zugehört. Nachdem der Gesprächsstoff aufgebraucht war, hingen beide ihren Gedanken nach und genossen das angenehme Schweigen.

So verging die Zeit bis Charlie und Bella schließlich Forks und letztendlich ihr altes Zuhause erreicht hatten. Charlie fuhr auf die Auffahrt und hielt direkt neben dem Transporter an. Er stoppte den Motor und sah zu seiner Tochter hinüber, die ihren Transporter ansah.

„Bella? Alles in Ordnung?“, fragte Charlie besorgt.

„Sicher.“, antwortete sie leicht nuschelnd und lächelte dieses leere Lächeln.

„Dann komm.“, meinte Charlie aufmunternd und stieg aus dem Wagen.

Er öffnete die Beifahrertür, half seiner Bella aus dem Auto und ging mit ihr gemeinsam zur Haustür. Dort angekommen entfernte Charlie kurz den Arm um Bellas Taille, um den Schlüssel aus der Hosentasche herauszuholen und die Tür aufzuschließen. Diesmal zitterte seine Hand nicht. Nachdem die Tür offen war und Charlie sie aufstieß, legte er wieder seinen Arm um Bella, die sich die ganze Zeit an Charlies Schulter abgestützt hatte. Er betrat zusammen mit Bella die verstaubte Wohnung und schaltete das Licht an.

„Willkommen zuhause.“, sagte Charlie, nachdem er Bella zum Sofa dirigiert und sie sich darauf gesetzt hatte.

„Danke.“

„Ich hole nur die ganzen Sachen aus dem Auto, dann bin ich wieder da.“, sagte Charlie.

„Okay.“ Bella nickte
.
Bald kam er mit allen Tüten und Taschen wieder, stellte diese alle im Flur ab und kehrte zu Bella zurück.

„Soll ich deine Sachen nach oben in dein Zimmer bringen?“

„Nein!“, widersprach Bella zu schnell und etwas zu laut.

Charlie Swan runzelte die Stirn. Er verstand diese Reaktion nicht.

Bella räusperte sich und lächelte leer.

„I…Isch meine, die ganschen Sach…en könneeen erst mal hi…ier unten stehen bleiben. Ich möschte schowieso nischt nach oben in mein Zschimmer. Du verschte…ehst sicher, warum.“, brachte Bella schwer heraus und klang sehr traurig.

„Oh!“
Charlie verstand.
„Du möchtest also auf dem Sofa schlafen?“

Bella nickte und gähnte.

Charlie lachte leise glücklich auf.

„Du scheinst trotz allem sehr müde zu sein, Dornröschen. Wie wär’s wenn wir uns schlafen legen? Ich bin ehrlich gesagt, auch ziemlich müde.“

Bella nickte wieder.

Nach kurzem Zögern fiel Charlie etwas ein.

„Aber du solltest doch noch lieber etwas essen.“, meinte Charlie besorgt und betrachtete ihren Körper, der in ihren eigenen Sachen zu verschwinden schien.

Bella schüttelte den Kopf.

„Isch…h…habbe w…w…wir…klich k…kkeinen Hung…er. M…morgen werde i…ich etw…was es…sen. Wersproschen.“

Seufzend gab Charlie nach, wenn auch widerwillig.

„Aber deine Medikamente wirst du heute noch nehmen, junges Fräulein.“, mahnte er halb ernst und zeigte mit dem Finger auf sie.

Er versuchte Bella mit dem gleichen Blick anzusehen, den er von ihr im Krankenhaus bekommen hatte. Charlie Swan war sich sicher, dass es nicht gelungen war, denn leere schwarze Augen in einem unbeeindruckten Gesicht starrten ihn an.

„Gute…Id…dee. Hilfscht d…du mir nosch v…vor…her…auf d…die…Tschoil…let…te zschu gehen?“

„Sicher, Kleines.“, antwortete Charlie und lächelte väterlich.

Er half Bella dabei ihre Schuhe und Jacke auszuzuziehen und entledigte sich dann seinen eigenen Sachen. Dann machte sich Bella zusammen mit ihrem Vater auf dem Weg die Treppe hinauf zum Bad. Ohne zu stolpern hatten sie ihr Ziel erreicht. Charlie Swan merkte, dass seine Tochter immer sicherer wurde. Sie würde seine Hilfe bestimmt nicht mehr sehr lange brauchen. Er fragte sich, woher sie nur die Kraft für all dies nahm. Er wusste, dass alles sehr anstrengend für sie war, denn sie atmete etwas schwer, als sie die Badezimmertür erreicht hatten.

Während des Weges hatte Charlie seine Tochter genauestens beobachtet, wie sie stur geradeaus und nach unten auf ihre Füße geschaut hatte. Sie sah immer sehr konzentriert aus, wie bei all ihren Gehversuchen. Er wettete, dass Bella nicht einmal wahrnahm, dass er sie beobachtete, so konzentriert wie sie war. Entwickelte sich diese ganze Kraft aus ihrem starken Willen heraus?

Ja, Charlie Swan musste der Krankenschwester durchaus recht geben.

Beide betraten gemeinsam das Bad. Charlie klappte den Deckel der Toilette hoch und setzte Bella ganz vorsichtig darauf ab. Um noch mehr Sicherheit zu haben stützte sich Bella mit einer Hand an der Wand ab. Als sie auf der Toilette saß, schauten Vater und Tochter sich in die Augen.

Charlie schlug sich innerlich an die Stirn und schalt sich einen Dummkopf. Diese Aktion war völlig unsinnig, da Bella vorher schon ihren Slip hätte runterziehen müssen. Charlie errötete bei dem Gedanken. Bei so etwas wollte er seiner erwachsenen Tochter nun wirklich nicht gerne helfen.

„Ähm…Meinst du, du kommst jetzt allein zu recht?“, stotterte Charlie und fühlte sich sehr unwohl in seiner Haut, während die Röte in seinem Gesicht noch einen Ton dunkler wurde.

„Natürlich.“, antwortete Bella emotionslos.

„Ich warte draußen. Wenn was ist, schrei einfach.“, antwortete Charlie und verließ erleichtert aufatmend das Badezimmer.

Er war wirklich mehr als froh, dieser unangenehmen Situation entkommen worden zu sein. Er schloss mit einem letzten Blick auf seine Tochter die Tür, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und wartete. Er hörte Keuchgeräusche. Nach einigen Minuten die Spüle. Dann ein Ächzen und Schritte. Ging Bella etwa allein? Eine Schranktür wurde geöffnet, dann vernahm Charlie ein Rascheln.

„Ch…Charlie.“, hörte er leise und etwas kratzig aus dem Badezimmer rufen.

Als Charlie Swan die Tür aufmachte, stand Bella am Waschbecken. Wie war sie bloß dahin gekommen, fragte sich ihr Vater. Nach kurzem Überlegen hatte er seine Antwort. Sie musste sich am Griff der Glastür von der Dusche festgehalten haben. Tja, anscheinend wurde seine Hilfe sehr bald nicht mehr gebraucht. Bella stützte sich mit einer Hand am Waschbecken ab, die leicht zitterte. In der anderen Hand, hielt sie eine offene Packung. Über dem Waschbecken stand eine verspiegelte Tür offen. Das war es also gewesen. Bella hatte im Medikamenten Schrank irgendetwas gesucht.

„Was hast du da?“, fragte Charlie und trat in den Raum hinein.

Charlie besah sich die Tabletten, deren Verpackung Bella in der Hand hielt.

Alprazolam.
Schlaftabletten, die schon seit Jahren darin lagen.

„Das sind Schlaftabletten. Warum solltest gerade DU die denn brauchen?“, fragte Charlie ungläubig und musterte seine Tochter misstrauisch mit hochgezogener Augenbraue.

„Nein, nein. Nischt wür mich. F…für d…disch.“, erwiderte Bella mit einem sorgenvollen Lächeln, doch ihre schwarzen Augen blieben tot.

„Für mich?“

„Ja. D…du hast mir dosch erz…zählt, dass d..ddu die letschten M…monate übber nicht me…ehr rischtig durchschlaffen k…k…konntest – wasch m…man dir auch so ansieht. Also da…da…daschte i…ich, ein bis…schen H…Hilfe könnte n…nischt…schaden.“, meinte Bella mit ihrer noch fehlerhaften Ausdrucksweise.

Die Idee fand Charlie Swan eigentlich gar nicht so schlecht. Warum war er nicht darauf gekommen? Das hätte ihm die letzten Monate vielleicht etwas erleichtern können. Andererseits war das möglicherweise auch ganz gut so, wie es gekommen ist. Hätte er damals in Seattle angefangen Tabletten zu schlucken, wäre er garantiert abhängig von dem Zeug geworden.

Aber ein oder zwei Mal nach so langer Zeit konnten ja nicht schaden, oder?

Charlie konnte sich nicht mehr erinnern, wann er zuletzt die Schlaftabletten eingenommen hatte. Vielleicht war es wieder zu einer Phase gewesen, in der die Sehnsucht nach Renee mal wieder etwas stärker geworden war und er sich nicht anders zu helfen gewusst hatte.

„Wieso nicht.“, gab Charlie seufzend nach und seine Stimme klang noch leicht wehmütig vom letzten Gedanken.

Charlie trat ganz ans Waschbecken heran, nahm Bella die Verpackung aus der Hand und holte zwei Tabletten für sich heraus. Dann legte er die Verpackung samt Inhalt wieder in das Schränkchen zurück und schloss die Tür. Währenddessen füllte Bella einen Becher mit Wasser. Diesen reichte sie Charlie, den er annahm. Charlie legte seine andere Hand – auf der sich die Tabletten befanden – auf den Mund legte kurz seinen Kopf in den Nacken und stürzte das Wasser hinterher, sodass er die Tabletten besser schlucken konnte. Nachdem er fertig war, stellte er den Becher wieder ab.

„Na komm, Kleines. Ich muss mich gleich hinlegen, da die Tabletten so in 20 Minuten gleich wirken werden.“, informierte Charlie seine Tochter, die daraufhin leicht lächelte.

Charlie Swan verließ wieder Bella stützend das Badezimmer. Auf das Waschen und Zähneputzen verzichteten die beiden heute. Wieder unten angekommen, brachte Charlie seine Tochter zum Sofa, holte Kissen und Decke und bereitete Bellas Bett für die Nacht vor.

Als alles fertig war, brachte er die Tüte mit den Einkäufen und Bellas Medikamenten in die Küche. Dort holte er die Tablettenpackungen und die Zettel von der Apotheke aus der Tüte heraus. Auf dem Zettel stand alles drauf. Welche Tabletten wann, wie oft und welche Menge eingenommen werden musste. Die meisten dieser Namen konnte Charlie nicht einmal aussprechen und er fragte sich, ob es wirklich so gut war, seine Tochter mit Medikamenten vollzustopfen. Aber der Apotheker hatte ihm erklärt, dass das alles harmlos sei. Einige seien beispielsweise gegen Eisen-und Magnesiummangel.
Charlie pustete die Luft aus und machte sich daran, Bellas Abenddosis zusammenzustellen.

Drei Minuten später kam Charlie mit einem Glas Wasser und fünf Tabletten in verschiedenen Farben und Formen zu Bella ins Wohnzimmer zurück, die noch immer auf dem Sofa saß, so wie er sie verlassen hatte.

Wortlos nahm das dürre Mädchen die Tabletten und das Glas Wasser entgegen und betrachtete kurz die Pillen eingehend. Bella nahm eine Tablette in den Mund und spülte diese mit einem Schluck Wasser hinunter. Diesen Vorgang wiederholte sie viermal und gab Charlie das leere Glas Wasser zurück. Er stellte das Glas auf dem Wohnzimmertisch ab. Bella legte sich auf dem Sofa hin und ihr Vater deckte sie zu.

„Gute Nacht, Bells.“, sagte Charlie lächelnd.

„Nacht, Dad.“, entgegnete Bella leise und gähnte.

Charlie lächelte und machte das angeschaltete Licht im Wohnzimmer aus. Dann ging er in die Küche und beeilte sich, noch die Tüte mit den Einkäufen zu entleeren, bevor er einschlafen konnte. Kurze Zeit später waren die wenigen Lebensmittel im Kühlschrank verstaut und Charlie Swan war noch immer wach. Er müsste morgen wohl Einkaufen fahren.

Hier kam wieder seine innere Maschine zum Vorschein, die die Aufgaben ohne groß nachzudenken erledigte. Charlie spürte, dass es noch eine Zeit lang dauern würde, diese Maschine in sich abzustellen. Seine Gedanken gingen wieder zu dem morgigen Einkauf zurück und er beschloss Bella morgen zu fragen, ob sie mitkommen wolle. Wenn sie es sich zutraute, könnte sie ja mit durch den Laden gehen.

Instinktiv wusste Charlie, dass Bella es tun würde. Es kam ihm vor, als zwang Bella ihren Körper mit allen Mitteln wieder zu funktionieren. So, als müsste sie etwas Lebenswichtiges erledigen. Was das wohl sein konnte? Ob das gut oder schlecht war, konnte Charlie nicht wirklich sagen. Sicherlich war das heute alles etwas anstrengend für seine Tochter gewesen. Jedoch hatte er nicht den Eindruck gehabt, als hätte sie ihren Körper überlastet. Sie war ja schließlich fast nie ohne Hilfe unterwegs gewesen.

Bevor Charlie Swan immer noch leicht in Gedanken versunken die Treppe zu seinem Schlafzimmer hoch ging, sprach er seine Tochter ein letztes Mal an.

„Wenn du irgendetwas hast, dann schrei einfach.“, erinnerte er Bella wieder. Er wusste nicht, was er sonst sagen sollte.

Seine Stimme verklang in der Dunkelheit. Eine Antwort erhielt Charlie Swan zwar nicht, doch er wusste, dass Bella Swan ihn gehört hatte. Halb glücklich, halb sorgenvoll seufzend, bestieg er den Weg der Treppe hinauf, um zu seinem Schlafzimmer hinaufzugehen. Er gähnte, während die Treppe unter seinen schweren Schritten leicht knarrte.

Ihm – oder seine innere Maschine – fiel ein, dass sie Renee noch gar nicht angerufen hatten. Naja, das konnte auch noch bis morgen warten, dachte Charlie, als er die Tür zu seinem Schlafzimmer öffnete. Er merkte bereits jetzt, wie ihn die Müdigkeit – verstärkt durch die Tabletten – langsam übermannte.

Isabella Swan hatte natürlich die letzten Worte ihres Vaters gehört. Nachdem sie sicher war, das Charlie Swan in seinem Schlafzimmer war, spuckte sie ihre letzte Tablette wieder aus, die sie sich in den Mund gesteckt, aber nicht hinunter geschluckt hatte.

Die Tablette hatte sie ganz hinten in der linken Backe verwahrt und versucht, dass sie so wenig wie möglich Kontakt mit dem Wasser bekam. Es war ihr gut gelungen. Die Tablette verschwand in einer Ritze des Sofas. Es war eine Schlaftablette gewesen. Bella Swan hatte ihren Vater im Bad genau beobachtet, wie er die Tabletten aus der Plastikverpackung herausgebrochen hatte. Und die Tablette, die sie zu sich nehmen sollte, sah der von Charlie sehr ähnlich.

Nachdem ihr dies klar geworden war, wollte sie diese Pille unter gar keinen Umständen schlucken, da sie Bella gehindert hätte. Und eines wusste sie - beide. Nämlich, dass sie in der Nacht alles andere als (tief und ruhig) schlafen würde. Das bedeutete, ein Teil würde vielleicht irgendwie schlafen, aber nicht der andere. Denn dieser hatte einiges vor. Auch wenn ihr Vorhaben sich als schwierig und zeitaufwendig herausstellen würde, würde sie ihren Plan durchziehen. Es war ja schließlich nicht umsonst dafür gesorgt worden, dass Charlie die Tabletten genommen hatte.

Das mussten beide einfach tun. Sie konnten einfach nicht anders. Sie hatten keine Wahl. Denn das was sie vorhatte, lag bieden sehr am Herzen.



In Dillingham herrschte große Aufregung. Genauer gesagt, in dem Haus, in dem eine gewisse Vampirfamilie wohnte. Die sechs Bewohner konnten nur sehr schwer ihre Ungeduld, Nervosität und Sorge verstecken.

Ein gewisser Carlisle Cullen versuchte es mit Arbeit. Seine Frau war in Gedanken mit dem Umdekorieren des Wohnzimmers beschäftigt, während sie Blumen in eine Vase steckte.
Die blonde Schönheit lackierte sich die Fingernägel auf dem Sofa im Wohnzimmer und betrachtete ihr Werk mit einem grimmigen Gesichtsausdruck. Der Grund für ihren Gemütszustand lag jedoch nicht an der Farbe.

Neben ihr saß ein zu groß geratener Junge, der bärenhaft wirkte. Emmett spielte gerade PlayStation, hatte jedoch nicht so viel Spaß wie sonst dabei. Mit einem sehr untypisch ernsten Blick starrte er auf den Bildschirm und drückte automatisch die entsprechenden Knöpfe. Er musste sich ermahnen vorsichtig zu sein, sonst würde das der sechste Controller sein, den er zerstörte. Der ruhige und in sich gekehrte blonde Mann neben den kleinen großen Jungen schaute ebenfalls auf dem Bildschirm. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und zitterten.

Jasper hatte es wirklich nicht leicht mit all den Gefühlen, die er neben seinen eigenen noch spüren musste. Am schlimmsten war jedoch die kleine Elfe, die Jasper in den Wahnsinn trieb. Doch das sagte er ihr selbstverständlich nicht.

Alice Cullen lief in Vampirgeschwindigkeit ständig in dem Wohnzimmer hin und her und konnte sich einfach nicht dazu bewegen lassen, sich einmal für fünf Minuten ruhig hinzusetzten. Dafür war sie viel zu aufgewühlt und hibbelig. Am liebsten hätte sie an ihren Fingernägeln geknabbert und sich die Haare ausgerissen. Da beides jedoch nicht mehr nachwachsen würde, würde das dann wohl nicht sehr schön aussehen. Alice Cullen machte sich mehr Sorgen als die anderen, da sie Edward versprochen hatte, ihre Gabe nicht zu benutzen, bis er wieder da war.

Warum hatte sie sich noch einmal dafür entschieden?

Jetzt bereute Alice diesen Entschluss. Oh ja, sie bereute ihn sehr. Neben Sorge und den anderen Gefühlen, empfand sie etwas, was der Rest der Familie nicht tat. Alice war wütend. Wütend, weil Edward so lange brauchte, um zu ihnen zurückzukehren.

Seit ihrem Telefonat waren schon 26 Stunden, 12 Minuten und 54 Sekunden vergangen.

Edward hatte sich seitdem auch nicht wieder gemeldet. Alice fragte sich, ob er irgendwo eingeschlafen war. Gut, das war nicht mehr möglich. Aber es konnte sein, dass er wieder in eine Starre gefallen war, warum auch immer. Eine andere Erklärung fand Alice Cullen nicht. Oder ließ ihr Bruder absichtlich so viel Zeit, um das Gespräch mit seiner Familie hinauszuzögern?

Sollte dies der Fall sein, dann hatte er definitiv keine guten Nachrichten in petto. Die Sorge und der Zorn, den sie für Edward Cullen empfand, stritten in ihrem Inneren.

°Edward Anthony Masen Cullen, wenn du in den nächsten 20 Minuten nicht kommst, dann spüre ich dich auf und mache dich zum Mädchen.°, dachte die zierliche kleine Alice zähneknirschend.

Als wurden Alice‘ Gebete erhört, hörte die gesamte Familie 13 Minuten und 02 Sekunden später Schritte und konnten einen vertrauten Geruch wahrnehmen. Als alle dies registriert haben, wurden sämtliche Tätigkeiten unterbrochen.

Carlisle ließ alles stehen und liegen, kam aus seinem Arbeitszimmer hinaus und fand sich im Wohnzimmer bei den anderen ein. Emmett schaltete die Spielkonsole und den Fernseher aus, Rosalie stellte den zugedrehten Nagellack beiseite, während Esme es sich im Sessel bequem machte. Die Mutter hatte Angst, dass sie sonst auch wie Alice hin und her laufen würde. Alice hörte auch hin und her zu laufen, ging zu ihrem Ehemann und setzte sich mit dem Rücken zu ihm auf seinem Schoß, während Jasper die Arme um sie legte und ihr einen Kuss auf den Hals drückte.

Die Spannung im Haus so dick, dass man sie hätte greifen und zerschneiden konnte. Kaum zwei Minuten später kam das siebente Mitglied der Familie Cullen herein und trat ins Wohnzimmer, wo die anderen schon sehnsüchtig auf ihn warteten. Als die Familie Edwards Erscheinung in sich aufgenommen hatten, rissen alle entsetzt die Augen auf und zogen scharf die Luft ein.

Esme sprang aus dem Sessel und nahm ihren Sohn in die Arme, den sie seit Monaten nicht mehr gesehen hatte. Automatisch erwiderte Edward die Umarmung. Beide sagten nichts. Bald löste sich Edward aus der Umarmung seiner Mutter, die ihn nochmals besorgt musterte.

Ihr erster Sohn wirkte etwas dürr, obwohl dies unmöglich war. Edwards Kleidung war dreckig und ziemlich zerrissen. Seine Haut war um zwei Nuancen blasser als normalerweise. Seine Augen waren tiefschwarz und so leer und ohne Hoffnung, dass dieser Anblick Esme einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Edwards Lippen waren zu einem schmalen Strich verzogen. Man hatte den Eindruck, als sei der gesamte Ausdruck für immer in seinem Gesicht eingemeißelt. So wie er dastand, strahlte Edwards gekrümmte Haltung nur eins aus. Tiefe Traurigkeit.

Esme Cullen trat zurück. Einerseits, um ihren Sohn etwas Freiraum zu geben. Andererseits, um sich in die trostspendende Umarmung ihre Mannes zu schmiegen. Wieder blickte sie Edward ins Gesicht, konnte diesmal allerdings ihr trockenes Schluchzen nicht verbergen. Endlich wurde die erdrückende Stille im Hause Cullen gebrochen.

„Hallo Familie.“
Edwards Stimme klang den anderen fremd. Sie war kraft- und tonlos. Ohne Leben.

„Hallo, mein Sohn. Wir freuen uns, das du wieder da bist.“, erwiderte Carlisle mit seiner ruhigen Stimme.

Seine Sorge war ihm nicht anzuhören. Nur seine Gedanken verrieten ihn, die Edward aber nicht las. Er hatte alles ausgeblendet. Er sah keinen Sinn mehr darin, seine Gabe zu benutzen. Im Moment jedenfalls nicht. Selbst wenn er die Gedanken der anderen jetzt lesen wollte, so fehlte ihm die Kraft dazu. Es klang zwar absurd, aber Edward Cullen war völlig ausgelaugt.

Edward nickte zur Erwiderung auf Carlisles Worte nur und seufzte unglücklich. Keiner wusste so recht, was und wie er nun etwas sagen sollte.

Keiner außer Alice, deren Geduldsfaden in diesem Augenblick platzte.

„Verdammt, Edward. Nun sag schon. Was hast du herausgefunden?“, hatte Alice so laut gezischt, dass Edward zusammen gezuckt war.

Carlisle warf ihr einen warnenden Blick zu, während Jasper eine Hand auf Alice‘ Oberschenkel legte, um seine Frau zu beruhigen.
Hinterher schämte sie sich für ihren Ausbruch, da sie ihren Bruder nicht noch mehr verletzen wollte. Er sah alles andere als gut aus. Aber diese Ungewissheit drohte sie von innen her aufzufressen.

Emmett erging es ähnlich wie Alice. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, Edward anzuspringen, wenn er nicht bald mit dem Reden anfangen würde.

Rosalie wusste nicht so recht, was sie von Edward und seinem Auftauchen halten sollte. Sie betrachtete ihren Bruder mit einer Mischung aus Sorge und Misstrauen. Schuld kam auch noch hinzu, als Rosalie wieder die Worte einfielen, die sie zu Edward gesagt hatte. So wie ihr Bruder aussah, hatte er nichts Erfreuliches zu berichten. Rosalie merkte, dass sie auch Sorge für jemand anderen empfand.

Nämlich für Bella.

Denn wenn sie unglücklich war, war es ihr Bruder ebenso. Und das war etwas, was Rosalie niemals wollte, auch wenn ihre Beziehung zu Edward etwas unterkühlt war. Eigentlich war sie das schon immer gewesen. Ob Rosalie nun wollte oder nicht. Langsam musste sie einsehen, dass Bella Swan zur Familie gehörte. Und erstaunlicherweise fand sie diesen Gedanken nicht mehr ganz so schrecklich wie früher.

Auch wenn die blonde Schönheit den Neid in sich nicht ganz verdrängen konnte, da Bella wieder mal im Mittelpunkt stand. Das gefiel Rosalie nicht. Sie wollte, dass sich die ganze Welt um sie drehte. Doch ihre innere Stimme flüsterte ihr zu, dass ihr Verhalten mehr als kindisch ist. Und eigentlich wusste Rosalie das auch. Carlisle, Esme und Jasper waren natürlich ebenso neugierig, hatten aber wie die anderen der Familie ein ungutes Gefühl.

Edward holte tief Luft, bevor er mit tonloser Stimme zu erzählen begann. Niemand unterbrach ihn, während sich die Gesichter seiner Familie vor Entsetzen, Schock und Trauer verzogen. Selbst Rosalies. Jasper wäre am liebsten aus dem Haus gestürmt, da er von Edwards negativen Gefühlen in seinem Inneren überrollt wurde. Doch Jasper Whitlock Hale riss sich zusammen und brachte seine ganze Selbstbeherrschung auf, um seine Füße still zu halten.

„Ich bin nach Forks zu Charlies Haus gegangen. Das erste was mir auffiel war, das Charlies Wagen nicht auf der Auffahrt stand. Zuerst habe ich mir nichts dabei gedacht, bis…bis ich durch Bellas Fenster in ihr Zimmer geklettert bin.“

Edward schloss gequält die Augen und holte zitternd Luft, musste sich sammeln, bevor er fortfahren konnte. Er ballte seine Hände zu Fäusten und grub seine Fingernägel in die Handflächen. Der kleine Schmerz reichte jedoch nicht in Entferntesten aus, um die Qual in seinem Inneren zu dämpfen. Seine Stimme war jedoch nicht anzuhören, wie sehr Edward litt. Sie behielt den ruhigen und toten Klang bei.

„In ihrem Zimmer ist alles so, wie ich es am 16. September verlassen habe. Nichts hat sich verändert. Alles ist noch an seinem Platz wie damals, nur dass die ganzen Sachen mit einer dicken Staubschicht überzogen sind. Ihr Geruch ist im Raum so gut wie verschwunden. Und soweit ich das beurteilen kann, hat sie nach meinem Abschied ihr Zimmer oder das Haus kein einziges Mal betreten oder gar eine Nacht darin verbracht.“

Erneut schnappte Edward nach Luft und drückte noch stärker seine Fingernägel in die Haut.

„Das Schlimme dabei ist, dass nicht nur in Bellas Zimmer die Zeit stehen blieb. Das ganze Innenleben des Hauses ist erstarrt. Jeder Raum war von Staub übersäht und unverändert. Selbst Charlies Schlafzimmer. Also kam ich zu dem Schluss, dass auch er das Haus seit diesem Tag nicht mehr betreten hatte. Als ich dich angerufen habe Alice, und du mir sagtest, dass du sie nicht sehen kannst, da…da habe ich eine dunkle Ahnung gehabt. Da bin ich von diesem schrecklichen Anblick geflohen. Eigentlich wollte ich sofort aus Forks abhauen, aber ich musste noch meine Vermutung überprüfen. Also bin ich mit größter Mühe und Überwindung zum Friedhof gegangen, um nach ihren Gräbern zu suchen. Denn es war für mich die einfachste und logischste Erklärung, dass du Charlie und Bella nicht sehen konntest, weil sie tot sind.
Ich habe mir jeden Grabstein angeschaut. Allerdings fand ich keinen Charlie und keine Isabella Swan. Ich…ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Ich wusste nicht, was ich jetzt tun sollte. Wusste nicht, was ich empfinden sollte. Es hat Ewigkeiten gedauert, bis ich diese ganzen Tatsachen wenigstens etwas verarbeiten konnte. Es war und ist sehr schwer für mich. Auch hatte ich Angst vor diesem Gespräch. Darum bin ich jetzt erst hier. Es…es tut mir leid, dass ich euch habe warten lassen.“, schloss Edward seine längste Rede seit langer Zeit.

Edward Cullen starrte mit gleichgültiger Miene in die weit aufgerissenen Augen seiner Familie. Einige Minuten sagte niemand etwas. Sie alle mussten erst einmal diese neuen Informationen verdauen. Emmett war der erste, der seine Stimme erhob.

„Sag mal, wie blöd bist du eigentlich?“, zischte Emmett gefährlich leise.

Edward zuckte zusammen, da er von der Wut in seiner Stimme überrascht war und sie nicht so recht verstand.

„Du bist also einfach abgehauen, nachdem du NICHT ihre Grabsteine gefunden hast?“, fragte er ungläubig.

Edward wusste, es war eine rhetorische Frage, nickte aber dennoch, nachdem er schlucken musste. Emmetts Muskeln waren angespannt und seine Sehnen traten hervor. Er war zwar nicht in Kampfstellung gegangen, doch er schien kurz davor zu sein, Edward anzuspringen.

„Oh, man!“, rief Emmett aus und knallte seine Handfläche an die Stirn.
„Und du bist nicht mal auf die Idee gekommen zur Schule zu gehen?“

Emmett wollte fortfahren, doch Edward unterbrach ihn schnell mit emotionsloser Stimme.

„Da war ich bevor ich zu Charlies Haus ging. Sie war aber nicht da.“, erwiderte er.

„Ja und? Nur weil sie nicht in der Schule oder seit Monaten zuhause war, bedeutet das ja nicht, dass sie mit Charlie nicht mehr in Forks ist. Vielleicht liegt sie krank in einem Hotelzimmer oder im Krankenhaus. Was weiß ich? Du hättest sich ja mal umsehen können, anstatt gleich den Schwanz einzuziehen und zu flüchten. Bist du zum Weichei mutiert, oder was?“

„Emmett! Es reicht.“, tadelte Esme ihn bestürzt.
„Denk doch mal daran, was er uns alles erzählt hat. Es muss sehr schrecklich für ihn gewesen sein, dass alles zu sehen. Er war einfach verzweifelt und ratlos.“

„NEIN!“, schrie Emmett aufgebracht und stampfte wie ein kleiner Junge mit dem Fuß auf den Boden auf.
„Er war FEIGE! Mag ja sein, dass es nicht schön war, was der werte Herr vorgefunden hat.“, ächzte er wutentbrannt und starrte seinen Bruder mit hasserfüllten Blick an.

„Aber nachdem du ihre Gräber NICHT gefunden hast, hättest du mehr Informationen einholen müssen. Du hättest dich umsehen und die Bewohner von Forks befragen können. Denn soweit ich weiß, ist man nicht zwangsläufig tot, wenn kein Grab vorhanden ist. Diese Hoffnung, dass sie noch am Leben sind oder die Ungewissheit hätten dich antreiben und nicht in die Flucht schlagen müssen.“

Emmett deutete mit dem Finger auf Edward, als er seine ersten zwei Sätze sprach.

„DU hättest alles daran setzen müssen sie zu finden oder herauszufinden, was mit ihnen passiert ist, nachdem du nichts gefunden hast. DU hättest wenigstens versuchen können, sie in Forks zu suchen. Aber du Feigling hast nichts getan. Wo ist denn deine ganze Kraft geblieben, hä Edward? Wo ist die ganze Kraft hin, die du damals hattest, als du uns mit allen Mitteln davon überzeugt hast, Forks zu verlassen, obwohl wir das alle nicht wollten? Ganz besonders Alice und ich. Hm, wo ist sie Edward?“, fragte der Bär provozierend mit zusammengekniffenen Augen.

Edwards Gesicht wurde noch etwas blasser, während seine weit aufgerissenen Augen auf Emmett fixiert waren. Edward war geschockt, wie der Rest der Familie. So wütend hatten die Cullens den kleinen großen Bärenmann noch nie erlebt. Er war sonst immer der Spaßvogel in der Familie gewesen. Das Wort „Ernst“ hatte es in Emmett Cullens Wortschatz nie gegeben. Jedenfalls bis er seine kleine Schwester zurücklassen musste.

Emmett wartete – wie die anderen – gespannt auf Edwards Reaktion und merkte wie er sich langsam wieder beruhigte. Jasper half ihm dabei und er ließ es zu. Er wollte die Familie nicht noch mehr zerstören und ein kleiner Teil in ihm bereute seinen Wutausbruch. Aber eben nur ein kleiner Teil.

Zwei Minuten herrschte eisige Stille im Raum, während Edward Emmetts Worte immer wieder in seinem Kopf wiederholte. Er kam zu dem Entschluss, dass die Worte seines Bruders völlig gerechtfertigt und wahr waren. Warum hatte er nicht nach Bella und Charlie gesucht. Ja, es wenigstens probiert? Er wusste darauf selbst keine Antwort. Er war einfach geflohen, weil er dem Schmerz entkommen wollte. Emmett hatte Recht. Er war ein Feigling.

„Ich…ich…weiß nicht…warum ich nichts getan habe. Der Schmerz war einfach zu übermächtig für mich. Du hast mit allem recht, Emmett. Mit Allem.“

Edwards Stimme klang brüchig und war von Schmerz durchzogen.
„Es tut mir leid.“

Emmett atmete aus und nickte ihm zu, warf seinen Bruder einen entschuldigenden Blick zu. Esme, die das Leiden ihres Sohnes nicht länger mit ansehen konnte, nahm ihn erneut in die Arme. Dieses Mal krallte sich Edward förmlich an sie fest und genoss diese Umarmung sehr. Leicht wiegte Esme Edward in ihren Armen hin und her, während beide leise vor sich hin schluchzen, ohne Tränen zu weinen.

Rosalie sah ihren Mann mit einer Mischung aus Stolz und Erstaunen an, nahm seine Hand, drückte sie und lächelte. Emmett konnte nur zaghaft das Lächeln erwidern, da er sich noch immer für seinen Wutanfall leicht schämte. Es war teilweise wirklich nicht in Ordnung, wie Emmett reagiert hatte. Er konnte sich gar nicht vorstellen, wie Edward sich wohl fühlen musste. Und er würde auch nie seinen Platz einnehmen wollen.

Jasper betrachtete Emmett verblüfft, aber mit einem leicht tadelndem Blick, da das kein schöner Willkommensgruß für Edward und seine Gefühle gewesen waren, auch wenn es wahre Worte waren, die ausgesprochen wurden.

Carlisle lächelte Emmett ganz leicht zu, doch seine Augen sagten was anderes, wie: „Hättest du es ihm nicht schonender beibringen können?"

Alice grinste ihren Bärenbruder an. Es war so ein ungewohntes Bild, dass Emmett und Jasper die Augen aufrissen. Die ganze Familie hatte die kleine Alice Cullen seit über acht Monaten nicht mehr lächeln oder grinsen sehen. Alice fand Emmetts kleine Willkommensrede für Edward klasse.

Gut, es war zwar hart für ihn gewesen.

Aber es hieß doch: „Die Wahrheit tut weh."

Und wie man gesehen hatte, stimmte dieses Sprichwort. Alice war der Meinung da er die Wut verdient hatte. Hätte Emmett es nicht erledigt, wäre Alice für ihn eingesprungen und hätte Edward zur Schnecke gemacht. Es war wirklich sehr erfrischend gewesen zu sehen, wie – und vor allem – dass Emmett ausrasten konnte.

Nach einigen Minuten lösten sich Mutter und Sohn voneinander. Edward konnte sogar seine Mutter sogar ein kleines dankbares Lächeln schenken, was sie sehr freute.

„So. Genug geweint. An die Arbeit. Ich…“ – Edward schaute in die Gesichter seiner Familie – „Nein, WIR haben was zu tun.“, sprach Edward mit ernster Miene, aber mit einem Funkeln in den Augen, was alle glücklich stimmte.

Sie hatten wieder eine Aufgabe. Selbst Rosalie wollte mithelfen. Die Familie hatte wieder etwas zu tun und Edwards Leben bekam wieder einen Sinn. Er merkte, wie sich leichte Hoffnung in ihm ausbreitete, die er aber sofort unterdrückte. Er wollte sich die größtmögliche Enttäuschung ersparen. Außerdem brauchte er erst Gewissheit – irgendwie. Darum sprach er Alice an.

„Kannst du Bella oder Charlie sehen?“

Alice hörte den leicht hoffnungsvollen Unterton in der Stimme ihres Bruders, den er zu verbergen versuchte.

Ja, sie konnte ja wieder ihre Gabe benutzen, fiel Alice wieder ein und stieß ein kurzes erleichtertes Lachen aus. Die anderen Münder im Raum erhoben sich bei diesem Geräusch etwas. Zu lange waren in diesem Haus die Lachgeräusche verklungen. Alice fragte sich, warum sie nicht gleich versucht hatte in die Zukunft zu sehen, als Edward das Haus betreten hatte. Die Antwort war klar. Sie war zu sehr von Edwards Erzählungen gefesselt gewesen – ganz zu schweigen von Emmetts Wutattacke –, als dass sie sich auf die Zukunft hätte konzentrieren können. Alice schloss für ganze drei Minuten die Augen, bevor sie sie wieder öffnete. Sie wollte Edward und ihrer Familie eine sicherere Antwort geben können. Jedenfalls so sicher wie möglich.

„Bella kann ich leider immer noch nicht sehen. Aber bei Charlie habe ich ein Bild. Es ist aber sehr verschwommen, nicht richtig greifbar. Sehr merkwürdig. Es sind überall schwarze Flecken. Er…ja…ich glaube er geht einkaufen. Och, es ist so schwer zu erkennen. So, als ob er nicht wüsste was er tut, oder nicht wirklich darüber nachdenkt, was er tut. Mhh, ja es sieht so aus…als wäre das der Laden in Forks. Ja…ja ja, es ist definitiv Forks. Ich bin mir sicher. Naja, also ziemlich sicher.“

Die kleine Elfe hatte während ihrer Voraussage verärgert die Stirn gerunzelt und mit unsicherer und leicht wütender Stimme geantwortet. Alice Cullen konnte es nicht leiden, wenn sie die Zukunft nicht kannte. Sie fühlte sich dann so nutzlos und normal (und blind).

„Also wenn Charlie in Forks ist, dann wird es Bella bestimmt auch sein.“, sagte Alice sehr überzeugend, fast trotzig.

„Und wie kommst du darauf, wenn du sie nicht sehen kannst?“, fragte Edward zweifelnd und das Funkeln in seinen Augen wurde etwas weniger.

Auch spürte er einen Stich in der Brust, als er die Worte ausgesprochen hatte. Bloß keine Hoffnung machen, sagte er sich. Aber auch er musste anerkennen, dass es doch etwas Gutes zu bedeuten hatte, wenn Alice wenigstens Charlie sehen konnte, oder?

„Weibliche Intuition.“, schnaubte Alice daraufhin nur und sah Edward mit ihrem Widersprich-mir-nicht-Blick an.

Carlisle Cullen klatschte daraufhin in die Hände, sodass alle von diesem unerwarteten Geräusch zusammen fuhren und alle Augen auf ihn gerichtet waren.

„Na dann auf meine Lieben. Wir haben einen Umzug zu planen“, sprach Carlisle geschäftsmäßig und lächelte aufmunternd in die Runde.

Er hoffte so sehr, dass Alice Instinkt sich als richtig erwies. Wenn nicht, dann hätte das schwere Folgen, über die er jetzt nicht nachdenken wollte.

„Wahr gesprochen, Dad.“, grinste Emmett ihn an.

Jetzt sah er wieder wie der kleine Junge aus, den die Cullens kannten.

„Endlich wieder nach Hause.“, sagte Rosalie seufzend und klang erleichtert.

„Da hast du recht, Liebes.“, meinte Esme.

Jasper Whitlock Hale stand da und schmunzelte über die plötzliche Änderung seiner Familie. Und das aufgrund eines speziellen Menschenmädchens. Es war schon erstaunlich wie sehr Bella Swan die Gefühle der Vampirfamilie beeinflussen konnte, ohne dass es ihr jemals bewusst gewesen ist. Und Jasper hieß diese Veränderung der Emotionen willkommen und freute sich auf die Heimkehr. Sehr sogar.


So machte sich die Familie Cullen an die Arbeit. Zimmer und Räume wurden ausgeräumt. Alle möglichen Sachen wurden (wieder) in Umzugskartons gesteckt, die dann in mehrere Autos transportiert wurden. Mehrere Koffer wurden gepackt und ebenfalls in die Autos verfrachtet – wobei Alice natürlich die meisten hatte. Edward hatte dagegen am wenigsten mitzunehmen. Er verstand nicht, warum Alice so viel Kleidung mitnahm, da sie in Forks noch mehr als genügend hatte und außerdem bestimmt bald wieder auf Einkaufstour gehen würde. Jedenfalls machte sie den Eindruck dafür. Rosalie machte Alice hinsichtlich der Koffer ganz schon Konkurrenz.

Carlisle Cullen fuhr ins Krankenhaus, um seine Stelle dort zu kündigen, was seine Kollegen sehr schade fanden, da er ein exzellenter Arzt war. Dann fuhr das Familienoberhaupt die Schule an, um seine vier Kinder dort abzumelden.

Als alles erledigt, jeder noch einmal auf die Jagd gegangen war und die Familie die ganzen Sachen beisammen hatte, fuhren sie mit drei von sieben Autos los in Richtung Heimat. Die Autofahrt dahin verlief ereignislos, da niemand sprach. Nur Jasper hatte zu tun, da er Emmetts, Alice‘ und Edwards Nervosität unter Kontrolle bringen musste. Mit seiner eigenen hatte er auch zu kämpfen.

Es war bereits finstere Nacht und der Vollmond schien hell, als die Cullens in die Auffahrt fuhren, die zu ihrem Haus in Forks führte. Emmett schaute auf die Uhr im Auto, die 23. 34 Uhr anzeigte. Sobald alle drei Wagen in der großen Garage nebeneinander zum Stillstand gekommen waren, schlüpfte Alice aus dem Auto und wollte gerade zum bekannten, wohlfühlenden Gebäude rennen, als sie inne hielt.

Still und langsam ging sie die wenigen Schritte aus der Garage hinaus. Sie betrachtete ihre Umgebung und atmete tief ein. Das Feld, welches wieder durch hohe Farnen und Sträucher ungepflegt aussah, war in helles Mondlicht getaucht, sodass Alice einen langen schwarzen Schatten auf das Grundstück warf. Das Haus, wurde ebenfalls vom Mond beleuchtet. Ruhig und friedlich stand es da und schien auf jemanden zu warten.

Auf den ersten Blick schien sich nichts verändert zu haben. Doch da waren diese fremden und bekannten Gerüche, die auf etwas anderes hin deuteten. Wieder atmete Alice tief ein, versuchte diese ganzen Gerüche zu identifizieren. Sie rümpfte die Nase, als sie nach und nach die Gerüche zuordnen konnte.

Es stank nach Abgase und nach verbranntem Reifengummi auf dem Feld. Ja, sie konnte „Reifenspuren“ ausmachen.

Aber da waren noch andere Düfte, die eine Spur vom Feld ins Haus hatten. Wieder rümpfte Alice die Nase.

War…das Farbe?
Gott, stank das widerlich.
Es mussten verschieden Arten von Farben sein, da sich die Gerüche mal mehr, mal weniger voneinander unterschieden, dachte Alice.

Aber unter dem vielen Farbgestank roch sie einen sehr angenehmen blumigen Duft, den Alice immer und überall wieder erkennen würde.

Bella Swan war also hier gewesen?
War sie gerade im Haus?

Alice war wie paralysiert von diesem Gedanken und konnte sich nicht bewegen. Sie starrte mit offenem Mund und großen Augen zur Eingangstür des Hauses, indem sie Bella vermutete.

Natürlich waren inzwischen auch die anderen Mitglieder der Familie Cullen aus ihren Autos ausgestiegen und hatten die Gerüche ebenso gemerkt. Sobald Edward Cullen dieselben Schlüsse wie Alice gezogen hatte – seine Gabe hatte er nicht benutzt – rannte er ins Haus. Die anderen folgten ihm. Alice war die letzte, die im Wohnzimmer ankam, in das sich alle versammelt hatten. Sie wunderte sich etwas, warum alle an die weiße Wand starrten, die direkt gegenüber der Haustür war.

Die Wand war nun allerdings nicht mehr weiß. Auf der weißen glatten Oberfläche hatte jemand mit verschiedenen Farben gemalt. Ein ganz bestimmter jemand, wie man am frischen Duft erkannte, der im gesamten Haus zu riechen war.

Bella war gerade dabei Gesichter zu malen, wie es schien. An der Wand waren sieben unterschiedlich große Köpfe zu erkennen, die alle eine etwas andere Form besaßen. Die Hautfarbe für die Gesichter war menschenuntypisch. Sie war sehr weiß mit einem Hauch von Beige und vielleicht orange.

Mehr war noch nicht gemalt worden.

Haare, Augen, Nase, Mund, der Hals und der Rest der Körper fehlten noch. Man konnte riechen, dass die Farbe noch sehr frisch war. Vielleicht war sie geradeso trocken geworden.

Alle Bewohner hatten eine ziemlich genaue Vorstellung, wen Bella Swan dabei war zu malen.

Die Vampire konnten aber noch woanders relativ frische Farbe riechen und folgten alle der Spur die Treppe hinauf nach oben.


Edward Cullen drehte sich der Magen um, als sich seine Befürchtung bestätigte. Der Geruch der frischen Farbe kam aus SEINEM Zimmer. Edward, der voran ging, musste erst schwer schlucken, bevor er in der Lage war, die Zimmertür zu öffnen. Tief durchatmend schloss er seine Augen und trat in den Raum hinein. Die anderen seiner Familie folgten ihm.

Er hörte Zisch – und Keuchgeräusche, als Edward sein Gesicht zur Farbwand drehte – der Geruch war dort am stärksten – und öffnete ängstlich seine Augen. Seine Augen weiteten sich voller Entsetzen, als er das schöne und gleichzeitig schreckliche Gemälde in sich aufnahm

Der Hintergrund war komplett mit schwarzer Farbe gefüllt.

Darauf hatte Bella Swan haargenau jenen Gesichtsausdruck von Edward Cullen auf seiner Zimmerwand verewigt, mit dem er Bella angesehen hatte, als er die Worte: „Bella, ich möchte dich nicht dabei haben.", ausgesprochen hatte.

Sein Mund war eine harte Linie. Seine Augen waren goldgelb, tief und doch gefroren. Sie strahlten keine Liebe aus, waren emotionslos und gleichgültig. Es war das Gesicht einer Totenmaske, die Bella Swan mit viel Detail und Akribie gemalt hatte. In den verwuschelten braunen Haar auf Edwards Kopf waren Strähnen roter Farbe zu erkennen, die seinen speziellen Bronzeton erzeugten. Dasselbe traf auf die gemalten Augenbrauen zu.

Das Gesicht des Grauens hatte hier einen Hals und die Schultern waren angedeutet worden. Ebenso Edwards Jacke, die er damals getragen hatte. Es war ein perfektes Selbstporträt, so detailliert, dass es auf dem ersten Blick wie ein Foto wirkte.

Doch das war nicht das Schlimmste, was Edward und den anderen so einen Schock versetzte. Es waren die Worte, die mit roter Farbe untereinander neben dem Gesicht geschrieben worden waren.
Mit jedem Wort, das Edward Cullen las, brach sein totes Herz mehr und mehr.



Es ist besser, wenn wir nicht befreundet sind.

Was kann ich dafür, dass du ein außergewöhnlich unaufmerksamer Mensch bist?

Ab jetzt mache ich nur noch, was ich will, und lass den Dingen ihren Lauf.

Das wird immer komplizierter.

Du bist anders als alle Menschen, die ich je kennengelernt habe. Du faszinierst mich.

Als ob du dich gegen mich wehren könntest.

Ich hätte schon längst weggehen sollen.

Du kamst mir vor wie eine Art Dämon, der aus meiner persönlichen Hölle aufgestiegen ist, um mich zu ruinieren.

… aber ich schämte mich meiner Schwäche zu sehr, um es ihnen zu erzählen.

Wer warst du denn schon?

…dass ich uns tatsächlich in Gefahr gebracht, dass ich mich dir ausgeliefert hatte - ausgerechnet dir! Als hätte ich nicht schon genug Gründe gehabt, dich zu töten.

Wie wär's mit ein bisschen Vertrauen, Bella?

Das ist gar kein Vergleich.

Sie sind glücklich, dass ich glücklich bin.

Bella, ich möchte dich nicht dabeihaben.

... ich bin es leid…

Du bist nicht gut für mich, Bella.

Ich werde nicht zurückkehren.

Sie sind alle fort.


Das waren alles Worte, die Edward einst zu seiner großen Liebe gesagt hatte. Und die Meisten davon waren schlecht und grausam. Einige waren auch Lügen. Lügen, die Bella noch immer glaubte. Ein Schmerz ging durch seine Brust, als er sich vorstellte, wie Bella diese Worte an die Wand geschrieben hatte.
Wie hatte er Bella nur so etwas antun können?

Aus dem Bild schloss er, dass Bella alles andere als glücklich war. Er wollte sie doch nur beschützen, davor bewahren, verletzt zu werden. Und letztendlich war er selbst, der sie verletzt hatte. Und das in dem höchsten Maße, wie es einem nur möglich war. Denn die körperlichen Wunden waren nichts gegen die seelischen.

Niemand wusste das besser als Edward Cullen.

Er war das größte Monster von allen. Er war sich sicher, dass Bella ihm nicht so schnell verzeihen würde. Doch er würde nichts unversucht lassen. Er würde um sie kämpfen, wenn auch nur die geringste für ihn Chance bestünde. Edward Cullen hatte seine große Liebe verletzt. Viel mehr, als er je vermutet hätte. Dies war wieder ein Beweis dafür, dass Bella doch anders war als andere Menschen.

Denn welcher Mensch litt nach über acht Monaten noch immer unter den Verlust einer Liebe?
Wohl keiner.

Als Edward Cullen das bewusst wurde, wie falsch er mit seiner Entscheidung gelegen hatte, hatte er das Gefühl, sein Herz würde implodieren. Ein herzzerreißender Schluchzer drang aus seiner Kehle und seine Beine zitterten.

Wie lange war das wohl her, seit Bella die Wand bemalt hatte? Zwei Tage vielleicht?

Plötzlich wurden Edwards Gedanken (und die der anderen) durch Geräusche im Untergeschoss gestört. Edward blinzelte und lauschte. Wie die anderen Cullens war er zu abgelenkt von dem Portrait und den Worten gewesen. Schritte waren zu hören. Sehr leise zarte langsame Schritte. Edward runzelte die Stirn. Ihm war nicht bewusst, dass ein Mensch einen so leisen Gang haben konnte. Ein Mensch hätte diese Schritte fast nicht hören können. Dann drang ihr Duft in seine Nase (und in die anderen).

Bella war im Haus. Bella war wirklich im Haus.
Edwards Herz machte einen Sprung. Dann kam ihm der Gedanke, dass sie alle wohl sehr von dem Bild vereinnahmt gewesen sein mussten, wenn sie sogar den Transporter überhört hatten, mit dem Bella Swan sicherlich gekommen war. Und warum hatte das Alice nicht kommen sehen? Wie viele Minuten hatten sich Edward und die anderen das Bild wohl angesehen?

Bellas etwas schweres flaches Atmen war zu hören. Das Rascheln von Tüten war zu vernehmen. Sie trug irgendetwas. Laut den Geräuschen stellte sie die Tüten auf den Boden ab. Dann kramte sie wohl in den Tüten nach etwas.

Warum kam Bella mitten in der Nacht hierher?

Auf diese Frage fanden die Cullens eine Antwort, obwohl sie sich alle noch im Zimmer befanden. Edward drehte sich mit einem leichten Glühen in seinen goldenen Augen zu den anderen um und sah jedem in die Augen. Die anderen nickten und folgten Edward leise und vorsichtig aus dem Zimmer hinaus.

Carlisle warf Edward einen mahnenden Blick zu.

°Sei vorsichtig, mein Sohn. Wir wissen nicht, was uns erwartet.°, hörte Edward die Stimme seines Vaters.

Alice hatte einen freudigen und frustrierten Gesichtsausdruck, da sie sich wunderte, warum alles schwarz war. Sie zischte leise, während Jasper sie beruhigend an der Hand nahm.
Als die Vampire unten angekommen waren, rissen sie ihre Augen weit auf und erbleichten. Sie standen im Wohnzimmer – in dem das Licht angeschaltet worden war – und sahen Bella dabei zu, wie sie alles für das Malen vorbereitete.

Sie holte Tuben und eine Farbpalette aus den Tüten heraus, die neben ihr standen. Dann füllte sie eine kleine Menge verschiedener Farbtöne in die Einbuchtungen in die Palette. Nachdem alle Tuben wieder zugeschraubt und wieder in den Tüten verschwunden waren und Bella einen entsprechenden Pinsel zur Hand hatte, war sie bereit, ihr Kunstwerk fortzusetzen. Sie tauchte den Pinsel in eine Farbe und setzte die Spitze an die Wand an, bereit, das erste Gesicht zu füllen.

Während Bella zielstrebig arbeitete und rein gar nichts von der Anwesenheit ihrer Beobachter mitbekam, mussten diese gerade damit fertig werden, den größten Schock ihrer Existenz zu verarbeiten.

Die Vampire erblickten ein dürres blasses Mädchen – in einem weißen Gewand – mit fahlweißer Haut, aus der nicht nur die Wangenknochen deutlich hervor traten. Die Lippen waren schmal, blutleer und rissig. Sie bildeten eine harte Linie.

Die Augen des Mädchens waren nicht schokoladenbraun, sondern schwarz. Schwarz, wie die Leere und die Finsternis. Tot und Ausdrucklos schauten sie auf die Wand vor sich. Das Gesicht wurde von Bellas länger gewordenen Haar umrahmt, welches keine einzige braune Strähne mehr besaß. Es war vollkommen weiß, war glanzlos, ohne Fülle und hing schlaff herunter.

Dünne zerbrechliche Hände hielten den Pinsel und die Palette. Auch konnten die Cullens die dünnen knochigen Unterschenkel und die nackten, nassen und leicht dreckigen Füßen sehen. Bella Swans gesamte – noch zerbrechlichere wirkende – Erscheinung war ein Anblick des Jammers. Trauer,
Hoffnungslosigkeit und Leere strahlte das Mädchen aus, das ungestört und eifrig die Wand bemalte.

Sie wirkte wie ein Vampir mit ihrer blassen Haut und ihren schwarzen Augen. Als hätte sie Durst nach Blut. Doch sie war kein Vampir. Sie war ein Mensch, welcher unvorstellbar litt und dessen Lieblingsfarbe Braun ihren Körper wohl verlassen hatte.

Nach einigen Minuten, als die Cullens den ersten Schock überwunden hatten, riss Edward sich zusammen. Er schluckte seine Angst und den Schmerz hinunter, versuchte nicht zusammenzubrechen und sich gar nicht vorzustellen, wie dünn ihr Körper wirklich aussehen musste. Er räusperte sich leise und sprach Bella mit flüsternder und gebrochener Stimme an.

„Bella?“

Keine Reaktion.

Sie hörte nicht auf, den Pinsel zu bewegen und drehte auch nicht den Kopf in seine Richtung. Diese schwarzen Augen waren das Schlimmste für Edward an ihrer gesamten Gestalt. Ein leichtes kurzes Zittern könnte er nicht unterdrücken. Er versuchte es erneut, sprach diesmal etwas lauter und kräftiger.

„Bella?“

Wieder nichts. Edward verstand es nicht. Die Angst und die Verzweiflung in ihm wuchs und er unterdrückte nur mit Mühe ein Schluchzen.

„Edward, Stopp.“, zischte Carlisle ihm warnend zu.

Leicht verwirrt, verzweifelt und ratlos wandte er sich seinem Vater zu.

„Sprich nicht laut. Am besten tue gar nichts. Lass Bella einfach machen. Ich…ich glaube, dass sie schlafwandelt.“, meinte Carlisle betrübt und betrachtete das Mädchen, welches völlig in einer anderen Welt zu sein schien.

Edward nickte traurig und wandte sich wieder seinem Engel zu. Seinem Engel, der so leer und traurig wirkte. Er befürchtete, seinen Engel gebrochen zu haben.

Hatte er sie durch sein Verhalten zerstört?
Hatte er sie für immer verloren?
Gott, er betete, dass es noch nicht zu spät für sie war.

„Es tut mir leid.“, flüsterte Edward voller Schmerz und sah weiter mit seiner Familie dabei zu, wie Bella Swan die Wand mit Farbe füllte.

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Ja, ich weiß, dass es etwas (sehr) unrealitisch ist, dass jemand der acht Monate im Koma lag, gleich wieder laufen kann (geschweige denn Auto fahren - die Straße war nachts übrigens sehr leer und sie fuhr sehr langsam).

Mein Vater musste nur 10 Tage das Bett hüten und konnte nicht mal aufrecht stehen.

Schieben wir es einfach auf den eisernen Willen der starrköpfigen Bella. Sie ist eben schon immer außergewöhnlich gewesen. Eben ein kleiner Freak XD
Wie wärs mit Reviews? *lieb guck*

Eine kleine Berührung

Auktorialer Erzähler



Bella Swan bemalte bis kurz nach halb vier Uhr früh die Wand im Wohnzimmer, während ihr die Cullens in einem großen Abstand stumm mit entsetzten und traurigen - und doch irgendwie schrecklich faszinierten – Blicken dabei zusahen.

Bella hatte wie bei ihrem ersten Kunstwerk relativ schnell und doch sehr präzise gearbeitet, ohne sich von der Vampirfamilie stören zu lassen, die sie nie wahrgenommen hatte.

In den letzten Stunden waren vier der Gesichter so gut wie fertig geworden. Hals, Ohren und Haare besaßen sie ebenfalls. Es wären bestimmt noch die anderen Gesichter fertig geworden, wenn sich Bella Swan nicht so viel Zeit mit den Augen und den Haaren gelassen hätte. Besonders an diesen zwei Bestandteilen war die Liebe zum Detail sehr deutlich zu erkennen.

Die Gesichter von Jasper, Rosalie, Carlisle und Emmett waren nun auf der Wand zu sehen. Ihre goldgelben Augen strahlten so hell, so lebendig von der Wand und sahen ihre Beobachter mit solch einer Glückseligkeit an, dass es den Cullens den Atem verschlug. Die Münder der vier Mitglieder waren unterschiedlich gemalt worden. Jasper und Rosalie lächelten ein glückliches Lächeln. Wobei Jaspers etwas verhaltener wirkte als Rosalies. Carlisles Lächeln war offener und man konnte seine weißen Zähne sehen. Emmetts Mund war breit und am weitesten geöffnet und auch seine Zähne waren zu sehen. Wenn man Emmetts Gesicht im Ganzen betrachtete, sah man ihn glücklich und schallend über etwas lachen. Wie früher, wenn er einen witzigen Kommentar abgegeben oder sich über die Tollpatschigkeit seiner kleinen Schwester amüsiert hatte.

Während Bella bei dem Gesicht von Emmett noch seine Augenbrauen etwas verbesserte, sahen die Cullens sich die vier Gesichter an der Wand an.

Alle waren beeindruckt, wie wahrheitsgetreu das dürre blasse Mädchen mit dem weißen Haar die Familie – der Teil, der zu sehen war – gemalt hatte.


Esme Cullen war sehr bestürzt über Bellas Handlung – doch noch mehr über ihr Aussehen. So dürr, so blass. Und diese schwarzen Augen. So leer und traurig. Die Schuldgefühle und die Trauer drohten die Mutter zu überwältigen, als sie ihre menschliche Tochter so sah. Am liebsten hätte sie all ihre unterdrückten Schluchzer herausgelassen und Bella in ihre Arme gerissen. Das traute sie sich allerdings nicht, da sie immer an die Worte ihres Mannes denken musste.

Bella sollte schlafwandeln und dabei so perfekte Bilder malen können?

Was hatte Bella alles durchmachen müssen, fragte sich Esme. Wie tief musste ihre Trauer und Sehnsucht gehen, wenn Bella nicht einmal mehr im Schlaf davor Ruhe bekam, sondern diese auch noch in der Ruhephase ihres Körpers auf diese Art und Weise auslebte? Eins wusste Esme Cullen. Ihrer Tochter ging es gar nicht gut und sie war unglücklich. Sehr sogar. Forks zu verlassen – Bella zu verlassen – war das Falscheste, was sie je getan hatte. Die Vampirin bereute es nun sehr, auf Edward gehört zu haben, mit der Familie mitgegangen zu sein und ihre Tochter im Stich gelassen zu haben.

Aber was hätte Esme Cullen damals tun sollen?

Sie konnte Edwards Beweggründe nachvollziehen und ihn verstehen. Sie konnte auf der einen Seite nicht in Forks bleiben, da sie dafür sorgen musste, dass die Familie zusammen blieb und nicht weiter zerbrach. Ihr hatte es damals das Herz gebrochen ein Kind verloren zu haben. Deshalb wollte sie es auf gar keinen Fall dazu kommen lassen, weitere zu verlieren. Darum MUSSTE sie ihrer Familie einfach folgen.

Und wie hätte sie ohne Carlisle weiter leben können, der ebenso darum kämpfte wie sie, die Familie intakt zu halten?

Und auch hatte sie ebenso wie Edward die leise Hoffnung gehabt, dass Bella über ihren Verlust hinweg kommen und wieder glücklich werden würde. Doch das war leider nicht geschehen. Und wenn Esme Bella nun betrachtete, kam ihr der Gedanke, dass dies wohl niemals geschehen würde oder geschehen wäre. Esme fühlte sich wie die schlechteste Mutter der Welt, da sie ihre Tochter allein gelassen hatte. Sich nicht einmal von ihr verabschiedet hatte. Diese Bedingung – die sie wie alle anderen von Edward akzeptiert hatte – hatte Esme schon damals nicht verstanden. Und heute tat sie es auch – oder noch immer – nicht.

°Es tut mir so leid, Liebes.°, sprach Esme immer wieder in ihren Kopf.


Emmett Cullen wollte am liebsten die ganze Zeit weinen wie ein kleiner Junge, während er Bella Swan dabei betrachtete, wie sie malte. Voller Trauer und Schmerz besah er sich ihre magere Gestalt. Doch er empfand auch Wut. Wut gegenüber Edward, weil sie alle wegen ihm weggezogen waren und gegenüber sich selbst, weil er letztendlich mitgegangen war. Und nun sahen Emmett Cullen und seine Familie die Konsequenzen von Edwards Entscheidung und all ihrem Handeln.

Emmett machte sich große Vorwürfe.

Er wollte nicht gehen, hatte sich mit Händen und Füßen gewehrt – dennoch hatte er es getan. Emmett hatte seine menschliche kleine Schwester einfach zurück gelassen ohne ein Wort des Abschieds. Dabei hätte er es damals so gern getan, wenn er sie schon verlassen sollte. Es war Emmett Cullen wie ein inneres Bedürfnis vorgekommen. Eine Notwendigkeit. Er hatte sogar seine Frau angefahren, weil sie es für unsinnig empfunden hatte. Und genau jetzt fragte er sich, warum er sich damals nicht von Bella verabschiedet hatte.

Warum hatte er auch in diesem Punkt auf Edward gehört? Warum nur?

Hätte Edward sich ihm in den Weg gestellt, um seinen Abschied zu verhindern, hätte Emmett Edward einfach aus dem Weg schaffen können. Edward war zwar schneller, Emmett war jedoch stärker.

Also warum hatte sich Emmett damals nicht einfach über Edwards Entscheidung hinweg gesetzt?

Emmett wollte sich am liebsten selbst für seine Dummheit ohrfeigen. Die Schuld, die er bei Bellas Anblick empfand, drohte ihn zu umklammern und er dachte, dass er der schlechteste große Bruder auf der gesamten Welt war. Er war nicht für sie dagewesen. Er hatte nicht auf sie aufgepasst. Er hatte sie wie Edward verlassen. Er war nicht viel besser als sein Bruder.

Emmett betrachtete wehmütig sein gemaltes Gesicht an der Wand und seufzte leise. Wie es ihn selbst anlachte, ja regelrecht anstrahlte. So hatte er seit dem 13. September letzten Jahres nicht mehr ausgesehen. Die Fröhlichkeit, die ihm abhandengekommen war, hatte Bella Swan auf der Wand verewigen können. Emmett kam es vor, als hätte sie sein einst frohes Gemüt auf- und eingefangen, was er in diesem Haus – in Forks – verloren hatte, um es dann wieder dem Haus zurückgegeben, das es wiederrum Emmett selbst zurück geben sollte. Dass das Gesicht ihn daran erinnern sollte, was es bedeutete glücklich zu sein.

Emmett hatte das Gefühl, als wollte Bella ihm durch das Bild helfen. Ihm dabei helfen wieder zu seinem wahren Ich zurückzufinden. Vielleicht war es so. Oder vielleicht drehte Emmett vor Kummer, Wut und Verzweiflung langsam durch. Selbst wenn er sich einreden wollte, dass seine Gedanken schon richtig waren, konnte nur die Künstlerin des Bildes selbst ihm dabei helfen, wieder wie auf dem Bild zu lachen.

Denn sie war es gewesen, die sein Leben bunter und fröhlicher gemacht hatte. Nur seine kleine Bella konnte ihm sein Lachen gänzlich wieder zurückgeben. Emmett wollte nichts lieber als das. Er wollte wieder lachen und Witze reißen können. Er wollte wieder Bella die Schamesröte ins Gesicht treiben können, die sie wohl schon vor sehr langer Zeit verloren hatte, so blass wie sie war. Er wollte sich wieder darüber amüsieren können, wie Bella durchs Leben stolperte – natürlich nicht im spöttischen Sinne.

Emmett hatte – seit er Bella zu schätzen wusste – ihre Tollpatschigkeit als lustig, süß und irgendwie liebenswert empfunden. Doch wenn er sich jetzt Bellas knochige Beine und Füße ansah, war daran nichts mehr lustig, süß und liebenswert. Die Vorstellung, dass sie jetzt auf ihrem Rückweg oder irgendwo anders stolpern könnte, verursachte Emmett Magenkrämpfe.

Angst und Panik – bis hin zu leichter Hysterie – überkam den Bärenmann bei dem bloßen Gedanken daran. Emmett stellte sich vor, wie Bella sich bei einem Sturz die Haut aufschürfte oder sich so sehr verletzte, dass ein Teil des blanken Knochens zu sehen war. Dieser könnte angeknackst oder sogar gebrochen sein. Emmett wusste nicht, ob diese Vorstellungen nahe an der Realität waren. Selbst wenn nicht, für ihn waren seine Gedankengänge real, wenn er sich Bellas dürren Körper anschaute. Diese Angst und Panik, die sich in Emmett Cullen aufzubauen drohten, sorgten dafür, dass sein Beschützerinstinkt in ihm stärker war, als jemals zuvor.

Diese ganze Situation, Bellas Kunstwerke und seine Gedanken machten Emmett um ein Vielfaches stärker bewusst, dass Bella einfach zu ihnen – zu dieser Familie – gehörte, ob es seine Frau nun wollte oder nicht. Wenn sich Rosalie dagegen stellen würde, dann würde er sich gegen sie stellen. Und das hatte er noch nie ihn seinem Leben getan – außer vielleicht vor über acht Monaten. Emmett schwor sich in diesem Moment, alles dafür zu tun, um Bella wieder glücklich zu machen. Denn erst wenn sie wieder glücklich war, war er es auch wieder. Außerdem würde es ihm eine wahre Freude sein gegenüber Edward handgreiflich zu werden, sollte er wieder aus Forks flüchten. Denn das würde Emmett nie im Leben zu lassen.


Alice Cullen war geschockt von dem Anblick, den ihre beste Freundin ihr bot. So blass und dürr. Und vor allem so weiß. Und so schwarz.

Was mag mit Bella nur geschehen sein?
Warum waren ihre Augen so schwarz wie die Nacht?
So tief und doch so leer und ausdruckslos?
Wohin war das Leuchten in ihnen verschwunden?

Und ihr Haar.
Wo war das schöne füllige und glanzvolle braune Haar, das so wunderbar zu Bellas Augen passte?
Zu ihren braunen Augen wohlgemerkt.

Jetzt bildeten Bellas schwarze Augen einen Kontrast zu all dem Weiß an ihr. Zu der Haut, zu der Kleidung, zu den Haaren. Alice hatte den Eindruck vor einem (menschlichen) Vampir mit wahnsinnig durstigen Blick zu stehen. Nur das etwas schwache aber regelmäßige Klopfen ihres Herzens und ihr Blutgeruch belehrte sie eines Besseren. Bella wirkte auf sie wie ein Zombie oder ein Geist, der umherwandelte, weil er einfach keinen Frieden finden konnte.

Wie auch?

Der innere Frieden hatte sie verlassen. Und um wenigstens so etwas wie inneren Frieden wiederzuerlangen, malte Bella diesen in Form von sieben Personen, die hier in diesem Haus gelebt hatten. Die Personen, die ihr einst Glück und inneren Frieden gegeben und sie dann eiskalt fallen gelassen hatten. Alice‘ Herz brach bei ihren Gedanken.

Wie schlecht musste es ihrer Schwester gehen, wenn der Schlaf nun nicht mehr ausreichte, um ihr diesen inneren Frieden zu geben – soweit es jedenfalls möglich ist?

°Oh, Edward. Ist es das was du erreichen wolltest? Wenn du sie brechen wolltest, dann hast du es hiermit geschafft.°, dachte Alice Cullen traurig.

Für Alice Cullen sah es jedenfalls danach aus. Sie hatte gewusst, dass Bella sehr unter der Trennung leiden würde – wie es Edward tat. Schließlich wurden hier Seelenverwandte entzweit. Und Bella war schon immer anders gewesen. Daher war es für sie nur logisch, dass Bella nach weniger Zeit nicht einfach vergessen und ihr Leben fortführen würde, als wäre nie etwas gewesen.

Ja, Alice Cullen war darauf vorbereitet gewesen Bella in einem schlechten Zustand anzutreffen. Aber mit diesem Anblick hätte sie nie in ihrer Existenz gerechnet. Er überstieg all ihre Vorstellungen. Bella war von Kummer, Verzweiflung und Sehnsucht so zerfressen, dass sie in ein tiefes Loch gefallen war und es nicht mehr aus eigener Kraft hinaus schaffte – oder nicht mehr hinaus wollte. Ihre Sehnsucht ging so weit, dass sie sogar nachts nicht vor ihr sicher war. Bella gab ihrer Sehnsucht nach, weil sie vermutlich keine Kraft mehr hatte dagegen anzukämpfen – oder es nicht wollte –, und ließ sie und ihren Schmerz durch diese Bilder heraus.

Bella wollte bestimmt durch diese Bilder verhindern, dass sie die Cullens vergaß. Sie wollte sie nicht vergessen. Sie wollte Edward nicht vergessen, den sie immer noch liebte. Davon war Alice überzeugt. Das Bild oben in Edwards Zimmer konnte auch auf etwas anderes hindeuten, doch wenn Alice in Bellas Augen und auf die lächelnden Gesichter an der Wand sah, dann war der Sachverhalt für die kleine Elfe geklärt.

Bella Swan hielt noch nach über acht Monaten krampfhaft an der Vergangenheit fest und wäre wahrscheinlich nie in der Lage sie (ganz) loszulassen. Von wegen Bella würde schon vergessen und darüber hinweg kommen. Du hast dich getäuscht Edward, dachte Alice halb traurig, halb wütend.

Warum hatte Edward nicht auf Alice gehört?

Schließlich kannte sie Bella (fast) so gut wie er. Sie wusste, wie tief die Gefühle von Bella für Edward waren, auch ohne Jaspers Gabe zu besitzen.

Aber andersherum, warum hatte Alice nicht auf sich selbst gehört?
Warum war sie nicht schon viel früher nach Forks aufgebrochen, um nach Bella zu sehen?
Warum war sie dann nicht mit einem entsprechenden Beweis zu Edward gegangen, um ihm die grausame Wahrheit zu präsentieren?
Warum hatte sie es nicht getan?

Eine Antwort wusste sie darauf selbst nicht.

Und diese Tatsache erschütterte Alice Cullen sehr. Während sie wusste, dass Bella litt, hatte sie nichts unternommen. Gar nichts. Sie schimpfte sich selbst als die schrecklichste Schwester und Freundin auf der ganzen Welt.

Denn welche Schwester ließ eine andere so sehr im Stich?

Wieder fragte sie sich, warum sie in allen Punkten auf Edward gehört und sich sogar nicht von Bella verabschiedet hatte. Ach ja, weil der Trottel ja mein Bruder ist, fiel Alice Cullen wieder ein. Ein weiterer Grund war, dass sie zu diesem Zeitpunkt mit Jasper in Alaska gewesen war, um ihm beizustehen, da es ihm damals sehr schlecht gegangen war. Die Ereignisse an Bellas Geburtstag machten ihn sehr schwer zu schaffen – auch heute noch. Das wusste Alice.

Also hätte Alice sich nicht von Bella verabschieden können. Aber nachdem es ihrem Mann etwas besser gegangen war, hätte sie sofort aufbrechen müssen. Doch Alice Cullen hatte es nicht getan. Am liebsten wäre sie jetzt zu Emmett gegangen und hätte sich für ihr Nicht-Handeln freiwillig von ihm verprügeln lassen, nachdem ihr all dies klar geworden war. Aber das würde nichts ändern. Es würde nichts an der Vergangenheit oder an Bellas Zukunft ändern. Alice ballte in stiller Verzweiflung und Wut ihre kleinen Hände zu Fäusten.

°Ich war damals nicht für dich da, Schwesterherz. Aber ab heute werde ich es immer für dich sein. Versprochen Bella°, dachte Alice, während sie sich immer noch im Hinterkopf fragte, warum sie Bella nicht sehen konnte.

Für den jetzigen Zeitraum hatte Alice eine Erklärung. Bella Swan schlafwandelte. Sie malte im Schlaf, tat dies also nicht bewusst. Sie traf keine bewusste Entscheidung, also konnte Alice auch nicht sehen, was sie als nächstes tun würde.

Doch was war damals als Alice mit Edward telefoniert hatte?

Damals hatte sie sogar Charlie nicht sehen können. Oder vor wenigen Stunden in Dillingham.

Warum war bei Bella alles schwarz, während sie Charlie – wenn auch nur durch einen Schleier – schemenhaft erkennen konnte?

Er hatte in der Vision irgendwie anders ausgesehen. Aber Alice hatte nicht so viel erkennen können, da die schwarzen Flecke einfach zu groß gewesen waren. Sie hatte viel weiß gesehen, das wusste sie.

Warum war das alles so, wie es eben war?
Bedeutete das etwa, dass Charlie tagsüber keine richtigen Entscheidungen mehr traf, wie es Bella jetzt tat?

Wenn ja, erklärte das immer noch nicht, warum sie Bella GAR NICHT sehen konnte.
Hätte Alice sie in der Version vor kurzem nicht auch bruchstückhaft sehen müssen?

Diese Ungewissheit und Zweifel an ihrer Fähigkeit nagten sehr stark an der kleinen Elfe.


Rosalie Hale musterte Bella eingehend und empfand etwas, was sie eigentlich so gut wie nie empfand.

Reue.

Als sie Bellas trostlose Gestalt vor Augen hatte spürte sie genau diesen Stich in ihrer Brust, der schwer auf ihr lastete. Rosalie begriff endlich voll und ganz, dass Bella Swan nicht nur irgendein Menschenmädchen war. Sie war anders als andere Menschen und das nicht nur, weil sie sich auf einen Vampir und gleichzeitig seiner Familie eingelassen hatte.

Das was sie so besonders machte, waren die Tiefe ihrer Gefühle, die sie für Menschen empfinden konnte, welche sie liebte. Denn Rosalie wusste ganz genau, dass kein normaler Mensch nach so langer Zeit noch so sehr an ihrem Freund hing. Und nicht nur an den Freund. Auch an seiner Familie. Bella hing an alle Mitglieder der Familie.

Selbst an Rosalie, die ihr nichts weiter als Verachtung und Eifersucht entgegen gebracht hatte. Vielleicht auch ein kleines bisschen Hass, weil sich die ganze Welt nur noch um Bella drehte, seit Edward sie mit nach Hause gebracht hatte. Ja, Bella schien sogar Rosalie Hale zu vermissen. Das konnte Rosalie an ihrem Portrait erkennen, das Bella an die Wand gemalt hatte.

Das makellose Gesicht mit den goldblonden langen Haaren und den dazu passenden Augen, strahlten solch eine Schön- und Reinheit aus. Ihr Lächeln war ein ehrliches, glückliches Lächeln. In dem Gesicht war nichts Hinterhältiges, Wütendes oder Selbstgefälliges zu erkennen.

Gar nichts.

An der Wand war das Gesicht einer frohen jungen Frau zu sehen, die alles hatte. Rosalie Hale fragte sich, wie Bella das malen konnte. Denn diesen Blick hatte sie Bella oder jemand anderem in ihrem Beisein nicht geschenkt. So hatte sie ausgesehen, bevor Bella in das Leben der Vampire getreten war. Bevor ihr Bruder seine wahre Liebe in einem Menschenmädchen gefunden hatte.

Rosalie Hale verstand es nicht.

Sie verstand nicht, warum Bella nachts im Schlaf malte. Na gut, das konnte sie sich eigentlich schon denken.

Aber was die blonde Schönheit wirklich nicht begriff, war die Tatsache, dass Bella gerade SIE malte.

SIE vermisste.
SIE, zu der Bella doch eigentlich gar keine Beziehung hatte aufbauen können, da Rosalie ihr nie eine Chance gegeben hatte.

Und wenn Bella gerade SIE malte, warum war sie dann so schön auf der Wand verewigt worden?

Bella hatte sogar ihr Gesicht und ihr Haar mit dünnen weißen Pinselstrichen hauchzart umrandet, sodass sie sich von den anderen Gesichtern abhob. Als wollte Bella damit zeigen, wie schön Rosalie Hale wirklich war. Wie sehr sie von innen heraus strahlte. Dann fielen ihr wieder die Worte ein, die Edward zu ihr gesagt hatte.


„Weißt du, äußerlich magst du eine blonde Schönheit sein, aber im Inneren bist du in meinen Augen einfach nur kaltherzig, selbstsüchtig und widerwärtig.“


Edwards Worte hallten in Rosalies Kopf nach, während sie ihr wunderschönes Portrait und dann das dürre Mädchen mit den schwarzen leeren Augen betrachtete. Zu der Reue, die sie empfand kam die Schuld hinzu. Nicht, weil sie Bella verlassen hatte. Sie waren ja nie wirklich Freundinnen geworden. Sie empfand so, weil sie immer so schlecht von Bella gedacht und geredet hatte.

Rosalies Magen verkrampfte sich und sie fühlte sich so schlecht, dass sie dachte, sie müsse sich übergeben. Edward hatte Recht gehabt mit seinen Worten. Rosalie war in ihrem Inneren kaltherzig, selbstsüchtig und widerwärtig. Sie hatte einem 17-jährigen Mädchen, das sich ausgerechnet in einem Vampir verlieben musste, nur negative Gefühle entgegen gebracht, obwohl sie nichts getan hatte, um diese Missgunst zu verdienen.

Und nun, als Rosalie Hale Bella so sah – mit schwarzen Augen, weißer Haut und weißem Haar – bereute sie. Sie bereute, dass sie es nicht einmal versucht hatte, nett zu Bella zu sein. Sie bereute ihre kindische Denkweise, alles müsse sich nur um die wunderschöne Rosalie Hale drehen. Auch bereute sie ihre Eifersucht gegenüber Bella, weil Edward sich für sie interessiert, Rosalie ihn aber völlig kalt gelassen hatte.

Nur eines bereute Rosalie Hale nicht.
Nämlich dass sie nach wie vor neidisch auf Bellas Menschlichkeit war.

Aber wenn Rosalie Bella jetzt so musterte, war von der Menschlichkeit nicht mehr viel übrig. Die Trennung hatte sie ausgelaugt und all ihre Kräfte fast gänzlich aufgebraucht. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst.

Was sie wohl alles hatte durchleiden müssen, während dieser Zeit?

Niemals hätte Rosalie gedacht, dass Bella so leiden würde. Dass überhaupt ein Mensch so leiden konnte. Naja, wenn Rosalie ehrlich war, hatte sie nie einen einzigen Gedanken an Bella verschwendet. Doch jetzt sah sie Sache ganz anders aus. Ja, Rosalie machte sich sorgen um Bella. Auch wenn die blonde Schönheit es nicht sah – jedenfalls noch nicht – so liebte ein ganz kleiner Teil in ihr dieses menschliche Mädchen. Denn Bellas Aussehen und ihre Bilder machten Rosalie deutlich, wie sehr dieses Mädchen bereits zur Familie gehörte. Schon immer gehört hatte.

Und das störte die blonde Schönheit jetzt nicht mal kein bisschen mehr, da sie jetzt – da sie all dies gesehen hatte – Bella als vollwertiges und unersetzbares Familienmitglied ansah. Und wieder fragte Rosalie Hale sich, warum Bella sie SO aus ihrem Gedächtnis heraus malte.

Warum hob sie gerade ihr Gesicht hervor?
Warum hatte Bella ihrem Gesicht keine hässliche Fratze verpasst?

Das hätte Rosalie an Bellas Stelle gemacht, wären die Rollen vertauscht gewesen. Rosalie hatte Bella die ganze Zeit nur Schlechtes gewünscht beziehungsweise offenbart.

Also warum wurde sie SO von dem Menschenmädchen gemalt?

Rosalie dachte lange darüber nach, konnte sich aber beim besten Willen keinen Reim darauf machen. Sie verstand Bella einfach nicht. Nur eine mögliche Erklärung war Rosalie dazu eingefallen, welche sie allerdings nicht als richtig und gut befand.

Was, wenn Bella Rosalie tatsächlich so sah?

Als reine und wunderschöne Frau?
Oder malte sie sie so, weil sie eifersüchtig auf Rosalies Aussehen war?

Wie gesagt, die mögliche Erklärung gefiel Rosalie Hale nicht besonders. Außerdem war Bella auch wunderschön, musste Rosalie zugeben.
Sie war nicht hässlich.
Das war sie nie. Selbst jetzt nicht.

Sie strahlte eine unheimliche, irgendwie düstere und traurige Schönheit aus, so wie sie dastand und Emmetts Augenbrauen bemalte – ein gebrochener leerer Engel, dessen Licht aus ihm gewichen war. Dieser Anblick versetzte Rosalie einen schmerzhaften Stich. Sie nahm sich vor, so gut es eben ging Bella zu helfen und ab sofort netter zu ihr zu sein. Das heißt, wenn sie – wie alle anderen – eine Chance bei Bella bekommen würde.


Jasper Cullen war ebenso erschüttert über Bella Swans Anblick wie seine Frau. Zum tausendsten Mal sagte er sich, dass alles seine Schuld gewesen war. Hätte er damals besser aufgepasst, wäre dieser Unglücksfall an Bellas Geburtstag nie geschehen, Edward hätte sie nie verlassen und sie wäre jetzt nicht in dieser schrecklichen Situation.

Das Wissen, dass er es war, der all dies in Gang gesetzt hatte, erschlug den blonden Mann innerlich. Bella Swan war mehr als unglücklich, das sah man ihr sofort an. Selbst einem begriffsstutzigen Menschen würde dies nicht entgehen. Jasper schaute Bella in diese schwarzen leeren Augen und musste schlucken.

Der Anblick war zu viel für ihn. Der Schmerz war einfach zu übermächtig und er wollte am liebsten so schnell wie möglich das Haus verlassen.

Doch es war nicht Bellas Schmerz, der Jaspers Knie leicht zittern ließ.

Es war sein eigener gepaart mit einem großen Haufen Schuldgefühle. Es waren seine Gefühle, die ihn – neben den anderen – am Meisten lähmten. Doch dann runzelte Jasper verwirrt die Stirn. Sein Blick blieb wieder an Bellas Gesicht, an ihren Augen und ihrem Mund hängen. Er kniff leicht die Augen zusammen und konzentrierte sich. Jasper hatte schon das Gefühl auf irgendeine Art und Weise in Bellas Körper zu sein, doch so sehr er seine Fühler auch ausstreckte, so könnte er nichts finden.

Überhaupt nichts.

In Bella Swans Körper war kein einziges Gefühl zu erspüren. Nicht mal ein Fünkchen von einer Emotion. Keine Angst, keine Verzweiflung, keine Trauer, keinen Hass.
Nur Leere.
Tiefe, schwarze, gähnende Leere.
In ihrem Körper herrschte genau das, was ihre Augen widerspiegelten.
Nämlich nichts.

Jasper Whitlock Hale fragte sich, warum das wohl so war. Gut, laut Carlisle „schlief“ sie und war in einem Traumzustand. Aber das war keine Erklärung für das Fehlen ihrer Gefühle. Denn selbst wenn man träumte, fühlte man. Denn in Träumen verarbeitete man die Erlebnisse eines oder von mehreren Tagen. Der Mensch fühlte immer etwas – egal ob er wach war oder schlief.

Aber Bella zeigte Jasper gerade, dass dies nicht immer zutraf. Und die Tatsache, dass Bella nichts fühlte, ließ eine Emotion in seinem Inneren sehr, sehr viel stärker werden.

Angst.

Angst um Bella. Die Schuld war Jasper bereits genug. Seine Reue – und die der anderen – war ihm bereits genug, denn er hätte sich auch gern von seiner Schwester mit den reinen, guten und starken Gefühlen verabschiedet – er liebte sie auch.

Doch nun überlagerte die Angst, die zuerst große Sorge gewesen war, alles andere in Jaspers Körper. Verzweifelt fragte sich der Mann mit den blonden Locken, wie viel Schmerz Bella wirklich durchleiden musste, um schließlich in der Lage sein zu können, überhaupt nichts mehr zu fühlen.

Was hatte Bella Swan alles durchlebt?
Hatte sie vor dieser Leere noch andere Emotionen gespürt? Trauer, Verzweiflung und Sehnsucht?

Da war sich der Empath sehr sicher.
Bellas leicht gekrümmte Körperhaltung, ihre sonstige Erscheinung und ihre Bilder sprachen sehr deutlich.

Doch gehörten Wut und Hass ebenfalls zu den früheren Emotionen?
Würde Jasper nur nachts diese Leere spüren, wenn ihr Unterbewusstsein die Kontrolle übernahm?
Oder würde Bella auch tagsüber in dieser Leere gefangen sein?

Er hoffte sehr, dass er sich irrte. Denn wenn dies der Fall sein sollte, schien Edward Bella wirklich gebrochen zu haben.

Und wer weiß wie hoch dann die Chance war, die zersplitterten Teile einer zerstörten Seele wieder zusammenzufügen?
Wenn es eine Chance denn überhaupt gab?

°Bitte lass mich dir helfen, Bella. Bitte lass es noch nicht zu spät für dich sein.°, dachte Jasper Whitlock Hale verzweifelt.


Carlisle Cullen nahm jedes Detail von Bellas Erscheinung in sich auf. Die ungesund blasse Haut, die sich um viele, viele Knochen ihres Körpers spannte, ihr schmaler blutleerer Mund, diese schwarzen leeren Augen und ihr weißes Haar. Auf den ersten Blick erkannte Carlisle Cullen, dass es Bella Swan schlecht ging. Sehr, sehr schlecht.

Ihr Körper war so dürr, so schwach, dass sich der Familienvater wunderte, wie sie so lange stehen konnte, ohne zusammen zu brechen. Ja, überhaupt stehen konnte. Ihre Muskeln waren sehr schwach. Bella Swan war nur noch Haut und Knochen. Sie hatte sehr stark abgenommen und litt unter Mangelernährung. Carlisle graute die Vorstellung, Bella in Unterwäsche zu sehen. Ihr Körper musste schrecklich dünn sein.

Bella Swan hatte die Trennung eindeutig nicht gut verkraftet – wer tat so etwas schon – und hatte sie bis heute nicht überwunden. Darauf deuteten auch ihre Bilder hin. Die Augen, die einst so warm und voller flüssiger brauner Schokolade waren, waren nun stumpf, glanzlos, leer und schwarz. Dazu ihr weißes Haar. Carlisle lief ein eiskalter Schauer über den Rücken.

Diese zwei Merkmale von Bellas Körper machten nur allzu deutlich, wie tief Bella in ihrem Schmerz versunken war und es höchstwahrscheinlich auch blieb, sollte sich nichts ändern. Bella Augen hatten ihr Strahlen, ihr Leuchten verloren und – ebenso wie die Haare – ihre braune Farbe. Die Haare waren ausgeblichen. Carlisle erkannte sofort, dass sie nicht gefärbt worden waren. Das würde auch nicht zu Bella passen, dachte er. Nein, die Strähnen ihrer Haarpracht waren weiß, weil Bellas Kummer viel tiefer ging, als normal.

Carlisle hatte in seiner Laufbahn als Arzt schon viele Mütter und Väter gesehen, dessen Haarfarbe und deren Leuchten in ihren Augen verblasste, wenn sie wochenlang um das Leben ihres Kindes oder um das eines anderen Familienmitglieds bangen mussten. Die Angst, der Kummer und der Stress waren einfach zu viel und so schwerwiegend für den Körper, dass er einfach aufhörte Melanin, also Farbstoff für die Haare, zu produzieren.

Das Bellas Körper so sehr unter Mitleidenschaft gezogen wurde, nur weil sie sich alle von ihr getrennt hatten, schockten Carlisle sehr. Das hätte er nie gedacht. Er hatte zwar geahnt, dass Bella leiden würde, jedoch nicht in diesem Ausmaß. Bellas Erscheinung und ihre Bilder machten deutlich, wie tief Bellas Gefühle zu Edward und seiner Familie wirklich gingen – und das nach der für einen Menschen langen Zeit.

Ein schmerzhafter Stich durchfuhr Carlisles Brust und er verzog das Gesicht. Aber was war schon sein Schmerz gegenüber dem von Edward oder Bella selbst?
Sehr wenig, glaubte der Vampirschöpfer.

Welchen schrecklichen Schmerz musste seine geliebte Tochter wohl (immer noch) aushalten?
Wie tief und schwer musste er wohl sein?
Wie kam Jasper damit zurecht? Ob es ihm gut ging?

Natürlich nicht, dazu musste man ihm nicht mal ins Gesicht schauen. Carlisle Cullen empfand schreckliche Schuldgefühle, weil er seine Tochter – die er genauso intensiv wie seine anderen Kinder liebte – einfach ohne ein Wort fallen gelassen hatte. Er war ein schrecklicher Vater. Den was für ein Vater würde so etwas jemals tun?


Edward Cullen fühlte alles. Selbsthass, Trauer, Angst, Verzweiflung, Wut, Schuld, Reue, einen kleinen winzigen Hauch von Glück – Bella war ja nicht (körperlich) tot –, aber gleichzeitig nichts.

Für die Gedanken der anderen gab es in seinem Kopf einfach keinen Platz mehr.

Er wunderte sich, warum er noch nicht zusammen gebrochen war. Dieser Anblick von seinem gebrochenen Engel war einfach zu viel für ihn. So blass, so dünn, so leer. Diese weißen Haare. Diese schwarzen Augen. So leer. So ohne Leben – wie er selbst.

Edward zuckte zusammen.

Bella litt sehr unter ihrer Trennung. Sie schien in ihrem Schmerz gefangen zu sein und nicht mehr daraus zu kommen, das schloss Edward aus der gesamten grauenhaften Situation und den Gemälden im Huas. Und schuld daran war nur er. Er ganz allein. Edward Cullen wollte sich am liebsten selbst zerfleischen und sich alle Organe rausreißen, wenn er Bella damit helfen könnte. Doch das würde nichts ändern. Weder für sie, noch für ihn und seinen inneren Qualen, die die körperlichen bei Weitem überstiegen. Während er Bella beobachtete – wie er es die ganze Zeit bereits mit einigem Abstand getan hatte – kamen Edward Bellas Worte wieder in den Sinn.


„Du bist das Beste in meinem Leben.“

„Hör auf! Es geht hier um meine Seele, nicht wahr? Carlisle hat mir alles erzählt, aber das ist mir egal, Edward. Es ist mir egal! Du kannst meine Seele haben. Ohne dich will ich sie nicht - du besitzt sie schon längst!“

„Nein. Tu das nicht.“


Doch Edward hatte es trotz Bellas Flehen getan und sie verlassen. Und nun sah er, was er damit erreicht hatte.

Nichts.
Nichts Gutes jedenfalls.
Er befürchtete zum Mörder geworden zu sein.
Zum Mörder ihrer Seele.

Sein Herz zog sich bei diesem Gedanken zusammen. Das hatte er doch nie gewollt. Gerade er wollte sie doch retten. Vor der Dunkelheit. Vor seiner Welt. Vor IHM selbst. Doch Edward Cullen hatte sie alles andere als gerettet. Er hatte Bella blutend und allein zurück gelassen.

Er dachte, dass es das Beste für sie wäre, weil er die Menschen kannte. Die Menschen würden schnell vergessen. Das hatte er durch seine Fähigkeit gelernt. Doch Bella hatte anders reagiert als andere Menschen. Immer schon.
Wie konnte er nur so blind und arrogant sein, fragte er sich.

War er durch seine Fähigkeit und seine daraus folgende Selbstgefälligkeit so geblendet gewesen, dass er die Wahrheit nicht erkannt hatte – oder gar erkennen wollte?
Wer hatte ihm überhaupt das Recht dazu gegeben, einfach über Bellas Kopf hinweg zu entscheiden – sie noch nicht einmal nach ihrer Meinung zu fragen?

Ach ja, seine ach so tolle 100-jährige Lebenserfahrung.

Jene Erfahrung, die Edward aus den richtigen Gründen die falscheste Entscheidung seines Lebens treffen ließ.

Warum hatte er nicht gesehen, dass Bellas Worte nicht nur einfach Worte gewesen waren?

Wenn sie gesagt hatte, sie liebte ihn, dann stimmte das.
Wenn sie sagte, ihm gehöre ihre Seele bereits, dann entsprach das der Wahrheit.

Bellas Worte hatten immer viel mehr Gewicht gehabt, als das von anderen Menschen. Den Beweis musste man nur in ihren Augen suchen. Und die bedingungslose Liebe und das Vertrauen, das sie ihm ständig entgegen gebracht hatte, waren immer deutlich zu erkennen gewesen.

Doch jetzt war davon in der Leere ihrer Augen nichts mehr zu finden. Auch keine Trauer oder Wut oder Hass.

Bella Swan war einfach leer.

Ein schmerzhafter Stich durchbohrte sein Herz, als er in ihre Augen schaute.

°Oh Bella, meine Liebste. Das habe ich alles nicht gewollt. Dafür liebe ich dich doch viel zu sehr. Ich wollte doch immer nur das Beste für dich. Ich hoffe, dass du mir eine Chance geben wirst, dir meine Liebe zu beweisen und dich zurück zu gewinnen. Ich bete, dass du mir verzeihen kannst. Irgendwann. Doch vor allem, lass mich dir helfen. Bitte lass mich dich retten, um dich aus deiner – nein unserer – Hölle zu befreien. Bitte lass es nicht zu spät für dich sein.°, dachte Edward niedergeschlagen.

Er ließ seinen – hoffentlich nicht gebrochenen – Engel nicht aus den Augen, der immer noch an Emmetts Augenbrauen herum malte, während er weiterhin von seinen Gefühlen erschlagen wurde. Immer und immer wieder. Er hoffte, dass Bella ihn nicht (zu sehr) hasste, obwohl sie jedes Recht dazu hatte.
 
 

                                                   Edwards POV
 



Es war kurz nach halb vier Uhr morgens als Bella aufhörte zu malen. Sie ging mit dem Pinsel und der Palette ins Badezimmer, spülte beide Utensilien im Waschbecken unter Wasser ab, trocknete beides mit Handtüchern ab und kam wieder ins Wohnzimmer zurück. Schweigend hatten wir alle im Wohnzimmer stehend das ganze Szenario mit angesehen und mit angehört. Ihre schwarzen Augen waren leer – wie die ganze Zeit über –, als sah Bella nicht wirklich, wo sie hin ging.

Carlisle hatte Recht.

Mein trauriger Engel schien wirklich schlaf zu wandeln.
Wie schlecht musste es ihr gehen, wenn sie nicht einmal eine normale Nachtruhe haben kann?

Eine eiskalte Hand griff nach meinem Herzen und drückte es fest zusammen. Es tat so weh sie so zu sehen. Und alles war meine Schuld.

Wie hatte sie die letzten Monate nur überlebt?

Sie war so dünn und so blass geworden.

Wann hatte sie zuletzt etwas gegessen?
Hatte sie mir nicht versprochen auf sich aufzupassen?

Ich hatte darauf gebaut, dass Bella ihr Versprechen halten würde.
Wie konnte sie es nur brechen?

Die kurze Wut, die ich auf Bella empfand, verschwand so schnell wieder, wie sie auch gekommen war. Ich hatte kein Recht, wütend auf Bella zu sein. Ich hatte mein Versprechen schließlich auch nicht halten können. Nicht eine Sekunde lang. Für Bella war es nie so gewesen, als hätte es mich nie gegeben – und so würde es auch nie sein. Das sah ich nun – wenn auch viel zu spät – ein. Ich fragte mich, wann und wie ich wohl für meine Sünden bestraft werden würde. Denn Bellas Anblick war erst der Anfang gewesen. Das wusste ich ganz genau.

Bella ging gerade in die Hocke, legte Pinsel und Palette wieder in die Tüte und richtete sich wieder auf. Sie klemmte sich eine weiße – nicht mehr braune – Haarsträhne hinter das Ohr und drehte sich in unsere Richtung. Ich runzelte die Stirn, da ich dachte, sie würde die Tüten wieder mitnehmen. Das war anscheinend ein Irrtum. Wie so vieles, wenn es um Bella ging.

Bellas leere schwarze Augen waren auf die Tür gerichtet. Sie würde also an uns vorbei laufen. Mir wurde gerade bewusst, dass ihre Augen nicht einmal bewusst in unsere Richtung geschaut hatten. Aber wie sollten sie auch, dachte ich. Bella schlafwandelte.

Bella machte die ersten zwei kleinen Schritte mit ihrem ungewohnt neuen leisen Gang in Richtung Tür, als sie plötzlich stoppte und ihre Bewegungen einstellte. Doch sie waren nicht die einzigen. Auch ihr Atem stockte kurz, ebenso kurz ihr Herzschlag, der die ganze Zeit über etwas schwach aber kontinuierlich gewesen war. Bella blinzelte, doch ihre Mimik änderte sich nicht.

Ahnte sie etwa, dass jemand hier war?
Dass wir hier waren?

Bellas Kopf drehte sich sehr langsam und vorsichtig erst nach rechts und nach ein paar Sekunden nach links, bis sie uns direkt im Blickfeld hatte. Es war, als würde sie uns mit ihren schwarzen Augen direkt ansehen. Stumm, ausdrucklos und mit geschlossenem Mund betrachtete Bella uns durch ihre leeren Augen. Sie sah uns zwar an, jedoch durch uns hindurch, als wären wir nicht da – jedenfalls nicht für sie. Das war der Beweis, dass Bella nicht wirklich wach war.

Ihr Unterbewusstsein schien irgendwie zu spüren, dass sie in ihrem „Traum“ nicht mehr alleine war, jedoch konnte sie nicht erkennen, wer es war. Ich wagte nicht zu atmen oder den Blick von Bella zu nehmen, während sie uns für einige Sekunden genauestens zu mustern schien.

Dann ruckartig fing sie zu laufen an – nein zu rennen traf es eher –, während sie ihren leeren Blick wieder in die Richtung der Haustüre zuwandte. Ich bildete mir ein, ein kurzes Flackern in Bellas Augen gesehen zu haben. Doch es geschah zu schnell, als das ich es hätte deuten können. Bella kam nicht weit. Ihre dünnen Beine fingen nach den zweiten schnellen Schritt gefährlich zu zittern an und gerade als sie den vierten Schritt gemacht hatte, knickten ihre Beine ein.

Sie war kurz davor, vornüber zu kippen und das konnte ich nicht zulassen. Trotz Carlisles Warnung, die er vor einigen Stunden ausgesprochen hatte, eilte ich zu ihr, während die anderen erschrocken leise aufkeuchten. Bevor Bella auf den Boden aufschlagen konnte – wer weiß wie stark sie verletzt worden wäre bei dem dünnen Körper – griff ich nach ihren Arm, zog sie schnell hoch und hielt sie aufrecht.

Zwei Gedanken schossen mir durch den Körper. Der erste war, wie schön es war, sie wieder zu berühren. Der zweite, wie dürr und kalt sich ihr Arm anfühlte. Wie ein dünner Ast eines Baumes. Erschreckend. Ich müsste in Zukunft noch viel vorsichtiger mit ihr umgehen als früher. Sie war jetzt noch zerbrechlicher geworden.

Da ein Teil von mir damit schon gerechnet hatte, war mein Griff nicht zu fest. Als ich Bella aufrecht hielt, stockte ihr wieder der Atem, doch ihr Mund war immer noch geschlossen. Ihr Herz setzte kurz aus. Wie vorhin, als sie zu spüren schien, dass sie nicht allein war.

Spürte sie jetzt auch, dass ihr jemand den Arm festhielt?

Natürlich tat sie das.

Bellas Blick war auf den Boden gerichtet, den sie beinahe berührt hätte. Ich wollte sie gerade leise ansprechen, als Carlisles Gedanken mich davon ablenken.

°Edward, lass sie SOFORT los und komm wieder her.°

Carlsiles dringlicher Tonfall schreckte mich auf und ich tat sofort wie mir geheißen, auch wenn es mir schwer fiel.

Bella drehte langsam ihren Kopf wieder nach oben und starrte auf ihren Arm. Ihre leeren Augen fixierten genau die Stelle, die ich berührt hatte. Vorsichtig hob sie ihre andere Hand und strich langsam und vorsichtig über die Stelle.

Darauf folgte etwas, womit niemand von uns gerechnet hatte.

Bella umklammerte mit ihrer Hand die berührte Stelle ihres anderen Armes fest, öffnete zum ersten Mal ihren Mund und stieß einen lauten gellenden Schrei aus, während ihre Augen noch immer die berührte Stelle an ihrem Arm fixierten.

Bellas Schrei war so laut und überraschend, dass wir alle zusammen zuckten und ich mir sogar meine Ohren zuhalten musste, so schrecklich hörte es sich an.

Es war kein Wutschrei, den Bella ausstieß, weil ich sie angefasst hatte. Nein. Dieser Schrei war eine Mischung aus Angst und seelischem Schmerz.

Diese Laute aus Bellas Mund waren so viel schlimmer als damals, als James sie gebissen hatte.

Bella schrie und schrie.

Endlos kam es mir vor, während in ihren schwarzen Augen die Leere entwich und durch nackte Panik ersetzt hatte. Sie hatte große Angst, die wir Vampire sogar riechen konnten.

Hatte sie etwa Angst, weil ich sie angefasst hatte?

Aber sie sollte doch keine Angst vor mir haben.
Ich hatte ihr doch nur helfen wollen.
Wieder griff die eiskalte Hand nach meinem Herzen und ich verzog schmerzerfüllt das Gesicht.

Würde sie durch ihren Schrei wieder richtig aufwachen?
Aber wäre das für einen Schlafwandler nicht gefährlich?
Könnte Bella nicht dadurch in einen Schock verfallen?

Während ich mich all das fragte und mir gleichzeitig die Ohren zu hielt, brach Jasper hinter mir zusammen. Er fiel auf die Knie und hatte mit gequälter Miene die Hände auf die Ohren gelegt.

°Zu viel Schmerz. Zu viel Schmerz. So große Angst. Gott, wie hält sie das nur aus? Erst spüre ich gar nichts bei ihr und nachdem Edward sie berührt hat, spüre ich zu viel. Einfach zu viel. Gott, bitte lass es aufhören. Bitte, lass es aufhören.°, hörte ich Jasper flehend in meinem Kopf, während sich Alice zu ihm hinunter kniete und ihn etwas umständlich umarmte, versuchte Jasper Trost zu spenden.

Mit seiner Meinung war Jasper jedoch nicht allein. Wir alle wollten, dass es wieder aufhörte.

Besonders ich.

Bella schrie immer noch, als würde sie bei lebendigem Leib verbrennen. Carlisle wollte gerade auf sie zugehen, um sie irgendwie zu beruhigen, als Bella plötzlich aufhörte.

Fast zeitglich wurde die Panik in ihren Augen wieder durch die Leere abgelöst, während sie ihren Schrei einstellte und wieder ihren Mund schloss. Ihre Augen hatten ihren Arm nicht ein einziges Mal, während sie schrie, verlassen.

Der Schrei hatte nur fünfeinhalb Sekunden gedauert, was mir wie eine Ewigkeit vorgekommen war.

Sobald Bella wieder ruhig war, nahm Jasper die Hände von den Ohren und richtete sich gemeinsam mit Alice wieder auf, die sofort seine Hand in ihre nahm. Jasper atmete schwer und beruhigend aus.

°Jetzt ist wieder alles weg. Bella fühlt wieder rein gar nichts. Sie ist wieder leer. Wie vorhin. Merkwürdig. Wie kann das sein? Wie kann sie von jetzt auf gleich alle ihre Gefühle einfach so abstellen?°, fragte sich Jasper.

Auch ich stellte mir diese Frage und betrachte – wie die anderen meiner Familie – sorgenvoll Bella, die gerade ihren Kopf und den Blick von ihrem Arm hob. Ihre andere Hand ließ die berührte Stelle los, die sie festgehalten hatte und hing samt ihrem dazugehörigen Arm an der anderen Seite ihres Körpers. Ihr leerer Blick streifte uns. Wieder betrachtete sie uns stumm und wieder schien sie durch uns hindurch zu sehen.

°Merkwürdig. Bella scheint noch immer in ihrem traumähnlichen Zustand gefangen zu sein. Ich hätte damit gerechnet, dass sie durch ihren eigenen Schrei wieder aufwacht. Aber vielleicht ist es ganz gut so, dass es nicht so gekommen ist.°, dachte Carlisle.

Bella war wohl doch nicht aufgewacht. Nach ein paar Sekunden löste sie ihren schwarzen Blick von uns, richtete ihn wieder zur Haustüre und machte sich langsam und Schritt für Schritt auf dem Weg zu ihr. Diesmal zitterten Bellas Beine nicht. Wieder fiel mir auf, dass sie dabei sehr leise – zu leise – für einen Menschen ging. Ihre nackten Füße ließen kein lautes Patschen auf dem Linoleum-Boden hören.

Stumm und noch mit leichtem Entsetzten sahen wir ihr dabei zu, wie sie das Haus verließ. Auf dem Weg dorthin wandte Bella sich uns nicht mehr zu. Als sie draußen stand und die Türe hinter sich geschlossen hatte, hielt sie kurz inne. Sie drehte ihren Kopf zurück, sah kurz mit ihrem leeren schwarzen Blick in das Innere des Hauses – jedoch an uns vorbei –, wandte sich seufzend wieder um und stieg weiter die Treppen hinab zu ihrem Transporter.

Nach 15 Schritten war sie bei ihrem Auto angekommen, stieg ein, schaltete den Motor an und fuhr langsam davon. Während der dröhnende Motor des Autos immer leiser wurde, blinzelte ich einmal und sah meine Familie an. Sie alle wirkten geschockt, verzweifelt und etwas ratlos. Ich fragte mich, was dazu führte, dass Bella so auf mich reagiert hatte – wenn auch nur unterbewusst.

Oh Bella, was habe ich dir nur mit meinem dümmlichen Verhalten angetan?

Noch immer schien Bellas Schrei in meinem Inneren widerzuhallen und eiskalte Schauer liefen meinen Rücken hinunter.

 

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Tag der Veröffentlichung: 07.09.2013

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